Montag, 11. Juli 2016

1968 - Der Prager Frühling und Kennedy's und King's Ermordung - Beatles bis The Band

Man denkt an 1968 immer im Zusammenhang mit weltweiten Studentenprotesten. Vom Prager Frühling über Mexico City bis Boston, von Berlin über Warschau bis Paris, überall gehen junge Menschen gegen die Politik der etablierten Mächte auf die Straße. Der Vietnam-Krieg wird immer mehr zum Albtraum, bei der sog. Tet Offensive der Vietnamesen werden Saigon und Huey stark zerstört, zwar scheitert der Angriff, aber die USA müssen erkennen, dass sie diesen Krieg nicht gewinnen können. Im Ort My Lai kommt es zum Massaker an 500 Zivilisten, die Armee vertuscht das zunächst, aber 1969 wird es publik. In Nigeria tobt weiterhin der Biafra-Konflikt – und die Bilder der gequälten Menschen gehen um die Welt. Der Begriff „Biafra-Kind“ wird sprichwörtlich. Der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King und Robert Kennedy werden ermordet, der erste bemannte Flug um den Mond findet statt, die sog. Hongkong-Grippe fordert weltweit bis zu 1 Millionen Todesopfer. Bei Erdbeben im Iran und auf der Insel Celebes kommen fast 90.000 Menschen ums Leben. Der Film 2001 – A Space Odyssee kommt ins Kino. Radiohead-Sänger Thom Yorke und Mike Patton (Faith No More etc.) werden geboren, Johnny Cash kehrt nach 8-jähriger Abstinenz auf die Bühne zurück. 1968 ist musikalisch vergleichbar mit dem Vorjahr. Es wird eines der interessantesten Jahre der Dekade, denn etliche Bands geben den Soundtrack zu den Protesten der jungen Generation: Das Triumvirat aus Beatles / Stones / Hendrix veröffentlicht Klassiker der Rockmusik. Die Saat der Psychedelik aus den Vorjahren geht auf und findet Gehör bei den jungen Menschen, die Drogen und Musik als Einheit betrachten. Ob Folk (Incredible String Band), Soul (Sly & the Family Stone), brasilianische Popmusik (Os Mutantes), Country Rock (Byrds) oder New Orleans (Dr. John) – der letztjährige Sommer der Liebe trägt reiche Ernte ein. Auch Elvis meldet sich wieder und auch Bands, die sich nicht an blumiger Psychedelik orientieren, veröffentlichen einflussreiche Alben (The Band, Velvet Underground) Die Anzahl an sehr guten Alben sprengt den Rahmen, und die hier unten versammeltern 10 Alben könnten leicht von 10 anderen vertreten werden. Für mich ist 1968 wegen der vielen Klassiker das „typischste“ 60er-Jahr. Und – was für ein Wunder - viele der hier unten genannten Alben sind auch kommerziell erfolgreich. Es gibt natürlich auch 1968 ein paar mehr oder weniger namhafte, die ich mit Nicht-Achtung strafe: Tom Jones hat viel Erfolg, hat aber meiner Meinung nach hauptsächlich eine laute Stimme, und den Bubblegum Pop der Lemon Pipers finde ich ein bisschen zu banal. Grundsätzlich aber ist es faszinierend zu sehen, wie deckungsgleich künstlerischer Anspruch und kommerzieller Erfolg sich in den Charts abbildet.....

The Beatles

s/t (White Album)


(Apple, 1968)

Mag sein, dass ich jetzt einigen Fans als Miesmacher erscheine, aber ich finde, was das sogenannte White Album der Beatles so reizvoll und einzigartig macht, ist zugleich seine größte Schwäche: Die Uneinheitlichkeit. Jeder Song auf diesem Doppelalbum ist die Darstellung der Fähigkeiten eines der vier zu diesem Zeitpunkt schon als „Rockstars“ zu bezeichnenden Protagonisten der Beatles. Es mag frustrierend sein, dass die Band sich inzwischen so eindeutig auseinander entwickelte, aber man hatte sie auch nie zuvor so selbstreflektierend und zugleich ironisch gesehen. Tatsache ist, das Ringo Starr die Band während der Aufnahmen kurz verließ, aber auf Bitten der anderen drei Mitglieder wieder zurückkehrte. Sowohl Yoko Ono als auch Harrisons Frau Patti Boyd machen mit, ebenso Eric Clapton, der ein Gitarrensolo zu Harrisons bis dato bestem Song für die Band - „While My Guitar Gently Weeps“ - beisteuerte. Dann ist „Back in the U.S.S.R“ als Botschaft an die Beach Boys, da ist die Blooze-Parodie „Yer Blues“, die man nur als Satire verstehen kann, Lennon schrieb mit „Julia“ und „Dear Prudence“ zwei seiner schönsten Balladen; es gibt die Musique Concrète Collage "Revolution No. 9“; möglicherweise sinnlos – oder vielleicht hohe Kunst ? Der Kult um die Beatles wird mit „Glass Onion“ gefeiert, „Cry Baby Cry“ klingt nach Syd Barrett. Und sogar McCartney's Songs sind besser als alles was er vorher gemacht hatte: Da ist der Music Hall Klopfer „Honey Pie“ oder der Proto-Metal von „Helter Skelter“ und vor Allem der wunderbare Baroque-Folk von „Blackbird“, einer seiner besten Songs, gewidmet übrigens schwarzen Bürgerrechtlerinnen in den USA,. Und auch das etwas alberne „Piggies“ hat eine tolle Melodie. Wie man sieht (und hört), das ganze ist ein buntes Potpourrie, aber das Werk einer Truppe von Freunden ist es nicht. Dafür bekam der Fan optisch etwas geboten: Die Covergestaltung vom Pop-Art Künstler George Hamilton, die so revolutionär war, wie die Aufnahmetechnik und das Konzept eines Doppel-Albums mit Fotos und Textbeilagen. Nur: Das White Album zeigt auch in Zeitlupe wie sich die größte Band der Welt auflöst. Ein bisschen Trauer war also schon angebracht

Velvet Underground

White Light/White Heat


(Verve, 1968)


Das Debut von Velvet Underground war ja schon schwere Kost gewesen, meilenweit am Publikumsgeschmack vorbei, aber White Light/White Heat (eine Anspielung auf den Speed-Rausch) ist noch ungenießbarer. VU hatten die Chanteuse Nico in die Wüste geschickt und sich von Andy Warhol verabschiedet - dessen Rat keine Kompromisse einzugehen allerdings beherzigten sie nun mit noch größerer Kosequenz als auf dem Debut. Lou Reed und John Cale arbeiteten das letzte Mal zusammen und wenn die kreative Spannung zwischen diesen beiden doch recht unterschiedlichen Charakteren das Herz des Debuts zum schlagen gebracht hatte, dann zerfetzt diese Spannung hier die Eingeweide. Aber Velvet Underground war eine Band, die einem Monster durchaus eine dunkle Schönheit entlocken konnte. Unter all den White Noise Ausbrüchen, übersteuerten Bässen, kreischenden Violas, primitiven Drums und abgeklärten Vocals lauert dunkle Schönheit und auch Melodie. Da wird lustvoll experimentiert (Der 17-minütige Titelsong auf der zweiten Seite der LP ist ein Meilenstein des Experimentellen Rock), da gibt es mit „Here She Comes Now“ noch einen fast radiotauglichen Song, da sind seltsame erotische Unterströmungen, und da ist sogar Humor, -auch wenn man ihn suchen muß. White Light/White Heat ist vordergründig natürlich hässlicher, und auch schlechter produziert als das Debut, und es erreichte gerade mal zwei Wochen lang die hintersten Plätze der US Top 200 (...immerhin !! ) Aber es ist in seiner konsequenten Anti-Ästhetik noch innovativer und aufregender als das inzwischen natürlich im Kanon der Rock-Historie verankerte Debut.

The Jimi Hendrix Experience

Electric Ladyland


(Track, 1968)

Jimi Hendrix mag gerne als bester Gitarrist aller Zeiten bezeichnet werde, aber bei genauem Hinsehen sind es weniger seine instrumentalen Fähigkeiten die seinen Ruhm begründen, als vielmehr sein Talent als Showman, als Innovativer Gitarrist und als Visionär des psychedelischen Rock. Mit seinem Debut hatte er der Musik der Mitt-Sechziger eine neue Richtung gegeben, Axis: Bols as Love war nur noch eine Ergänzung des Debuts aber mit seinem dritten Album wollte er seinen geliebten futuristisch / psychedelischen Blues in neue Dimensionen katapultieren. Electric Ladyland wurde zunächst in London in Angriff genommen, dann ins New Yorker Plant Studio verlegt, das Hendrix gleich für mehrere Monate blockbuchte - was dann die Kosten für das ambitionierte Doppelalbum in schwindelnde Höhen trieb. Es sollte sein letztes Album mit der Experience - und durchaus auch sein vollkommenstes Studioalbum werden, mit Cosmic-Blues wie „Voodoo Chile“, mit dem ambitionierten „1983... (A Merman i Should Turn to Be)“, das perfekt den Geist seiner Zeit – und besser noch, den Spirit Hendrix`zu dieser Zeit einfängt. Das folgende „Moon, Turn the Tides...“ bleibt mit Ambienthaften Klängen in diesem Vibe genau wie das ineinanderfließend folgende „Still Raining..., bei dem Hendrix seine Gitarre nur noch wie ein träumendes Kind vor sich hinmurmeln lässt. Und natürlich muß man auch seine Version von Dylan's „All Along the Watchtower“ nennen, welche diesem so sehr gefiel, dass er den Song ab da nur noch in diesem Arrangement spielte. Andererseits sind auf dem Dopplealbum auch ein paar sehr in ihrer Zeit gefangene Tracks wie etwa „Long Hot Summer Night“ oder „Rainy Day, Dream Away“ Aber geschenkt: Hendrix war auf seine schludrige Weise Perfektionist – so sehr, dass er sich bald in der Trio-Besetzung der Experience eingeengt fühlte und diese auflöste – andererseits war er bald von den seinerzeit offenbar obligatorischen Drogen so sehr gezeichnet, dass er seine Visionen vermutlich voller Frustration in Acid-Rauch aufgehen sah. Es gibt die Spekulationen, was aus ihm geworden wäre, wäre er nicht knapp zwei Jahre später nach einem Mix aus Alkohol und Tabletten im Schlaf an Erbrochenem erstickt. Ich glaube, er wäre entweder – ähnlich wie Clapton – irgendwann nur noch als Sebst-Plagiat unterwegs gewesen, oder er wäre - ähnlich wie Sly Stone - einer dieser Musiker, die nur noch als verlorenes Drogenopfer wahrgenommen werden. Electric Ladyland bleibt allerdings völlig zu Recht ein glorreiches Symbol seiner Zeit – mit einem Cover übrigens, das Hendrix selber überhaupt nicht gefallen hat: Er bevorzugte die Version - 

 

 


mit seinem Konterfeit auf dem Cover und fand die nackten Ladies unpassend... kaum zu Glauben

The Kinks

Are The Village Green Perservation Society


(Pye, 1968)


Lange Zeit galt Davies‘ Konzept-Album nicht viel, mittlerweile gibt es The Village Green Perservation Society als 3-CD-Edition. Damals war es der erste große Fehlschlag der Kinks, die ja zuvor mit brillianten Singles zu den großen britischen Bands aufgeschlossen hatten. Mit dem auf diesem Album garnicht enthaltenen „Days“ endete die Phase der Hits. Davies entwarf ein Vorstadt-Idyll, das an seine Herkunft aus Muswell Hill angelehnt ist. Bedauern und zugleich Sentiment über den Verfall eines fiktiven „Good Old England“ gaben die Grundstimmung vor, und waren vor allem das Storyboard für wunderbar skizzierte Figuren. Die Songs verdanken mehr der Tradition von Noel Coward als der Rock-Musik. Erst viel später wurde Ray Davies, etwa mit dem Film „Absolute Beginners“ als Chronist des britischen Kleinbürgertums gefeiert, aber hier sind alle Charaktere schon angelegt – liebevoll und friedlich – in einem England das es so nie gegeben hat, in dem der Tee immer um 5 Uhr serviert wird. Die Musik dazu war fein durcharrangiert, wenn auch mit dem immer etwas dünnen Sound der Kinks, bei dem im Idealfall eben das Wenige mehr ist. Den Trend der Zeit allerdings bediente er damit nicht – hier gab es keinen „Street Fighting Man“ und niemand war „Dazed and Confused“. Das Album ist auf eine sehr britische Art altmodisch und zugleich zeitlos, was letztlich die Klasse von The Village Green.. ausmacht. Es klingt manchmal ein bisschen wie ein Solo-Album von Ray Davies und heute auch wie eine Art Best Of Kopplung, weil viele der Songs so schlüssig sind und gleichzeitig klingen, als sollte man sie schon ewig kennen. Und darin ist es natürlich typisch für die Kinks.


Rolling Stones

Beggars Banquet


(Decca, 1968) 
 

Im Jahr zuvor hattten die Stones sich dem herrschenden Trend Psychedelik mit Their Satanic Majesties Request angepasst – mit durchwachsenem Ergebnis (und auch wenn das Album bis heute seine Liebhaber hat...), aber anscheinend hatten sie keine Lust mehr, sich anzubiedern, und machten nun wieder das, was sie am besten konnten – sie nahmen den Blues und schoben ihn wieder in ihr Universum. Beggars Banquet ist eine Rückkehr zu alter Stärke und mehr – es ist die Ausformulierung all dessen, was sie davor gemacht hatten. Dabei waren die Voraussetzungen scheinbar nicht ideal: Brian Jones' Drogensucht war außer Kontrolle, er erschien nur noch dann und wann zu den Sessions und seine Parts sind nur noch hier und da auf dem Album verstreut. Dafür übernahm Keith Richards nun um so mehr Verantwortung – und er und Mick Jagger schrieben nun große Songs im Akkord. Da sind Anlehnungen an den guten alten Delta-Blues bei „Salt of the Earth“, bei „No Expectations“ und da gibt es das Cover von Robert Wilkins „Prodigal Son, da sind die vom Hank Williams Liebhaber Keith Richards eingeführten Country-Elemente bei „Dear Doctor etwa, die bekanntesten Stücke sind wohl der Opener „Sympathy for the Devil“ mit Dschungel-Drums und feinen Gitarren-Riffs, da ist „Street Fighting Man“, ihr Kommentar zur Jugendrevolte, da ist der düstere „Stray Cat Blues“ - das Album ist voller ikonografischer Riffs und gilt zu Recht als eines ihrer Besten. Die Veröffentlichung des im Frühjahr erstmalig mit Produzent Jimmy Miller aufgenommenen Albums allerdings verschob sich bis in den Dezember – bis kurz nach dem Erscheinen des Weissen Albums der Beatles. 

Die Plattenfirma akzeptierte das „unanständige“ Toilettenwand-Cover nicht und letztlich entschied man sich dann für das Cover mit dem altmodischen Schriftzug auf hellem Grund. (...eigentlich zählt ja nur, was drin ist, aber trotzdem...) und mit Beggars Banquet begann nun eine fünf Jahre währende Kreativperiode der Stones, in der es Klassiker regelrecht hageln würde.

Van Morrison

Astral Weeks


(Warners, 1968)

Van Morrison war nach dem Tod seines bisherigen Label-Chefs Bert Berns frei zu tun was er wollte, bekam einen Vertrag bei Warner und nahm in New York in nur zwei Tagen mit Jazz-Musikern aus dem Umfeld von Eric Dolphy und Charlie Mingus dieses einzigartige Album auf. Er spielte den Musikern seine Songs auf der Gitarre vor und ließ ihnen dann freie Hand. Die Songs auf Astral Weeks mit ihrer Mischung aus Folk, Jazz, Blues und Klassik gehören zum Besten, was Van Morrison je aufnehmen sollte, ihre poetische Komplexität und musikalische Freiheit ließen die Kritiker in Lobeshymnen ausbrechen – der kommerzielle Erfolg jedoch blieb aus. Und natürlich haben ellenlange, erzählerische Songs wie „Madam George“ oder „Cyprus Avenue“ bei aller melodischen Feinheit kein „Hitpotential“, aber da ist zum Beispiel „Sweet Thing“, das zum Live-Favoriten wurde, oder das nachträglich mit Orchesterbegleitung aufgepimpte „The Way Young Lovers Do“, das wegen seiner brennenden Intensität vielleicht zu schwere Kost für irgendwelche Charts ist. Astral Weeks existiert als singuläres Phänomen, es enthält keine Antworten, eröffnet nur Fragen, bietet keine Lösungen, nur Vorschläge, aber es öffnete im Nachhinein Türen für hunderte Künstler. Die Einzigartigkeit und subtile Schönheit dieses Albums wurde später noch höchstens von einer handvoll anderer Alben erreicht – auch Van Morrison bewegte sich danach meist auf öfter begangenen Pfaden, höchstens seine Alben Veedon Fleece und Common One sind nahezu so far out wie dieses. Astral Weeks klingt als wäre es schon 100 Jahre alt - oder als würde es erst in 100 Jahren gemacht werden. Einmal im Leben sollte man es gehört haben.

The Zombies

Odessey & Oracle


(CBS, 1968)

Im Kanon der '68er Alben ist dieses immer wieder eines der ganz hoch bewerteten - und doch ist es zugleich eines der am wenigsten bekannten... Was meiner Meinung nach verschiedene Gründe hat: Zur Zeit der Veröffentlichung von Odessey & Oracle existierte die Band nicht mehr, der Hit dieses Albums - „Time of the Season“ - war mit den vorherigen, beat-informierten und an den britischen Vorbildern orientierten Singles kaum zu vergleichen und bei den Bandmitgliedern war nach den Aufnahmen zu Odessey & Oracle die Luft raus – also gab es keine Live-Promotion. Auch die Plattenfirma war wohl vom Erfolg der Single zu diesem Album so überrascht, dass sie die Band nicht weiter ermutigen konnte oder wollte, ihre Karriere fortzusetzen. Zu den Aufnahmen hatte nur ein kleines Budget zur Verfügung gestanden, aber die Zombies hatten wohl vorgehabt, ein letztes Zeichen ihrer Klasse zu geben, und dazu die Trends der Stunde in ihren Sound einfließen zu lassen. Dass es sich bei ihnen um eine Kombination äußerst talentierter Musiker handelte, hatten die Vorjahre schon gezeigt: Colin Blunstones weiche Stimme, immer in perfekter Harmonie mit denen seiner Mitstreiter, Rod Argents jazzige Keyboards, und dazu auf diesem Album nun eine Hinwendung zum Baroque-Pop, mit Songs, die doch eigentlich für eine komplette Karriere hätten reichen müssen. Das ist das Erstaunliche an diesem Album: Neben dem majestätischen Über-Hit, der bis heute seine Wirkung tut, wurden Songs wie „Brief Candles“, das nostalgische „Beechwood Park“ oder das melodramatische „Maybe After He's Gone“ kriminell ignoriert. Das Album ist ein zeitloses Meisterwerk herbstlicher Popmusik, die Band hatte ihr Ende vor Augen, und diese Melancholie floß in die Atmosphäre ein. Mag sein, dass Odessey & Oracle genau deswegen seinerzeit so wenige Hörer fand, es war vielleicht etwas ZU melancholisch, inzwischen hat das Album einen Kult-Status, zu dem auch der bewusst falsch geschriebene Albumtitel beiträgt... aber ein Kultstatus ist eigentlich viel zu wenig – es ist ein Meisterstück, das gleichberechtigt neben (nur zum Beispiel...) dem Weissen Album der Beatles stehen sollte.

Os Mutantes

s/t


(Polydor, 1968)


Das erste Album von Os Mutantes muss man heute sicher wegen der vergleichsweise obskuren Herkunft (Brasilien) und der Zeit, die seit seinem Erscheinen vergangen ist, genauer beschreiben. Das heißt vergleichen mit dem, was aus 1968 noch bekannt ist. Also: Man stelle sich die psychedelischen Songs der Beatles mit portugiesischen Lyrics vor, gesungen von einer Frau, ergänzt um Bossa Nova und Samba-Rhythmen sowie um all das, was amerikanische Psychedelik spannend machte – also um Heavy Psych, um verqueren Folk und Musique Concrete. Und man muss dazu bedenken, dass Os Mutantes sich mit dieser heute vergleichsweise „unpolitisch“ klingenden Musik im von Militärs regierten Brasilien in große Gefahr begaben – tasächlich in Gefahr um Leib und Leben – nicht umsonst mußte Inspirator und Kollege Caetano Veloso zur selben Zeit ins Londoner Exil fliehen. Und der politische Hintergrund, vor dem dieses Album steht. mag noch so bedrückend sein. Das Debut der beiden Baptista Brüder und ihrer Sängerin Rita Lee klingt zu keiner Zeit düster oder lebensunfroh, im Gegenteil, es sprudeln die Ideen genauso munter wie die Melodien, man sieht regelrecht, wie das Trio auf der Nase der Soldaten und Polizisten herumtanzt. Und die erfreuliche Respektlosigkeit ist noch nicht Alles: Die Songs, der Ideenreichtum und die Experimentierlust, die in jedem Song zum Ausdruck kommen, machen das Album zu einem der ganz großen Psychedelik-Pop Alben seiner Zeit. Natürlich war Os Mutantes seinerzeit wegen seiner Subversivität nur ein bescheidener Erfolg vergönnt, man darf nicht vergessen, dass es auch in Brasilien genug Konservative gab, denen die Ideen von Love and Peace eine Greuel waren – und die hatten seinerzeit das Sagen. Aber die mutigeren und interessierten Kreise in Brasilien hatten eine Inspiration, die noch lange gelten würde. Nicht dass es auf Os Mutantes Hits hagelt. Aber es ist voller gewagter Ideen und strotzt vor Inspiration, Lebensfreude und Lust an der Musik. Kein Wunder, dass in den Neunzigern etliche namhafte Künstler aus dem Independent Bereich der USA und Englands das Album loben sollten. Und ich weiss es ja nicht – aber ich vermute Animal Collective haben dieses Album im Studio.

Miles Davis

Nefertiti


(CBS, 1968)




Miles Davis

Miles in the Sky


(Columbia, 1968)

Jazz schien Ende der Sechziger Jahre ans Ende der Innovation gelangt zu sein. Coltrane tot, die Free-Jazz-Szene zwar revolutionär und spannend, aber inzwischen auch weit weg von den Massen – nur Miles Davis hatte offenbar ein Rezept, den HardBop soweit zu modernisieren, dass er den Appetit eines neuen Publikums anregen konnte. Dazu hatte er sein sogenanntes „zweites Quintet“ neben sich, bestehend aus den Musikern, die ihm auf seinem Weg folgen würden. '68 veröffentlicht er zunächst mit Nefertiti, das letzte akustische Album dieser Phase – ein Album, auf dem er anscheinend die Idee verfolgt, das Rhythmusgespann aus Tony Williams (dr), Ron Carter (b) nach vorne zu stellen, Wayne Shorters Saxophon und seine Trompete sanft darüber schweben zu lassen und den Keyboarder Herbie Hancock als Vermittler dazwischen spielen zu lassen – was den eigenartigen Effekt erzeugt, dass die wundersame Schönheit der Kompositionen über dem rasanten Rhythmus Untergrund regelrecht irritiert. Das mag sich anstrengend anhören, aber insbesondere das Titelstück und das gleichfalls von Wayne Shorter komponierte „Fall“ klingen zwar ratslos, sind zugleich aber von überraschender Schönheit. Shorter entpuppte sich hier endgültig nicht nur als phänomenaler Saxophonist, sondern vor Allem als großer Komponist. Und Miles lässt seine Musiker immer wieder frei über die Themen improvisieren – ab und zu gleiten sie ab in die Atonalität, aber immer finden sie den Weg zurück in die Bahnen des PostBop und des Blues. Zwei Tage vor den Aufnahmen zu „Fall“. „Riot“ und „Pinocchio“ war John Coltrane gestorben, und Davis und seine Begleiter, die Coltrane kannten und bewunderten, werden seine Musik und vor Allem seinen kreativen Spirit im Sinn gehabt haben.Nefertiti kann man als das Album an der Schwelle zum Fusion-Jazz bezeichnen – und Miles in the Sky ist dann das Album, das den Weg zum Fusion-Jazz betritt. Es ist weit weniger bekannt – und anerkannt – als seine Nachfolger – eben weil der Schritt zum elektrifizierten Jazz noch nicht komplett gegangen ist – aber hier ist auf der Wayne Shorter Komposition „Paraphernalia“ erstmals mit George Benson ein elektrischer Gitarrist an vorderster Front dabei und auch Bassist Ron Carter setzt nun den elektrischen Bass verstärkt ein. Die erste Seite des Albums zeigt, wo der Weg hinführen soll, Tony Williams spielt Funk-Grooves, Herbie Hancock sein E-Piano, die Musik ist dicht und spannend – und darüber schweben Shorter und Davis noch im PostBop Modus. Noch ist das System also nicht austariert, noch klingt die Musik interessant, aber unentschieden und die Reife von In a Silent Way ist ganz einfach noch nicht erreicht. Auf der zweiten Seite der LP wenden sie sich wieder stärker dem PostBop zu, aber Tony Williams' „Black Comedy“ ist eine sehr fremde Form des PostBop, der Drummer versucht sein dynamisches und unvorhesehbares Spiel in einen Song zu übersetzen, und bei Davis' „Country Son“ löst sich die Musik in freie Improvisation auf. Schon der sehr eigene Ansatz auf Nefertiti wurde auch als „Free Bop“ bezeichnet – hier passt der Begriff noch besser. Miles in the Sky (...der Titel angeblich eine Anspielung auf „Lucy in the Sky with Diamonds“ von den Beatles...) ist ein transitional album, und als solches ein extrem interessantes – und Miles Davis machte zu jener Zeit kein einziges schlechtes Album.

The Band

Music From Big Pink


(Capitol, 1968)


Aufgenommen im Keller ihres - in der Tat rosafarbenen- Hauses in Woodstock, war Music From Big Pink nominal ein Debüt Album, faktisch nur eine Etappe in der Geschichte einer Gruppe, die bereits Ronnie Hawkins als “The Hawks” begleitet hatte, dann mit Bob Dylan tourte ,seine Elektrifizierung mit initiierte und mit his Bobness die legendären Basement Tapes im selben Zeitraum ein spielte, in dem sie dieses Album aufnahmen. Hier firmierten sie nun erstmals eigenständig als “The Band” - und machten gleich insbesondere auf andere Künstler einen gewaltigen Eindruck. Keiner hatte eine solche LP erwartet, selbst wenn sie von der Band des großen Dylan kam (der nach dem dubiosen Motorradunfall von 1966 nur ein paar Auftritte und ansonsten Country-Musik aufgenommen hatte) Aber diese Verquickung von uraltem Folk, Country und Rock im Bandgefüge war zu Zeiten von Psychedelic und Acid revolutionär und klang zugleich so alt wie das Alte Testament. Robbie Robertsons “The Weight” - seither oft gecovert - ist der herausragende Song, aber natürlich sind da noch andere Titel, die den Zuhörer weitertragen: Da ist der von Dylan und Schlagzeuger Richard Manuel geschrieben Opener „Tears of Rage“. Gemeinsam mit Bassist Rick Danko trägt Dylan auch zu „This Wheel's on Fire“ bei und spendet sein „I Shall Be Released“ als Closer – Dylan als Klammer sozusagen. Ungemein kraftvoll – und fast wieder Rockmusik - das ebenfalls von Robertson geschrieben „Chest Fever“. Noch ist The Band eine Gruppe Gleichberechtigter – zumal alle Musiker sich bei den Credits und an den Instrumenten abwechseln. Die Lockerheit bei den Sessions, der nicht vorhandene „kommerzielle“ Druck und zugleich die Entschlossenheit, eine Art neue „alte“ Musik zu schaffen, ist dem ganzen Album anzuhören. Noch mag das Spielverständnis nicht das Niveau erreicht haben, welches die folgende LP- The Band - zum um ein paar Grade besseren Werk machen sollte, aber andererseits ist Music from Big Pink noch eine frische Begeisterung und Neugier anzumerken, die deutlich zeigt, dass den Musikern bewusst war, dass sie sozusagen „altes Land“ neu betraten. Es ist eines der Alben, die den Begriff Americana in den kommenden Jahrzehnten via Inspiration definieren würden.

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