Sonntag, 26. November 2017

1977 – Television bis Dead Boys - Das CBGB's in seiner Blüte

New York war und ist die Welt (Sub-)Kultur Hauptstadt. Das manifestierte sich Mitte der Siebziger Jahre in einem kleinen Club mit dem Kürzel CBGB's (der volle Name lautet überigens CBGB's OMFUG - steht für Country – Bluegrass and Blues Club - Other Music For Uplifting Gourmandizers) und dieser Club wurde entgegen seinem Namen zur Keimzelle des Punk in den USA. So einfach. Das CBGB's selber existierte schon seit 1973 – aber ab ca '75 versammelten sich dort Musiker einer alternativen Szene (Siehe Review Television...), eine Szene, die mit den Hippies nichts zu tun hatte – eine Szene mit Musikern, die sich mitunter bewusst kleideten wie die Penner auf der Strasse – und deren pekuniäre Lage wohl oft auch nicht mehr hergab. Diese „Punks“ waren das, was die Hippies in den Sechzigern waren - Gegenkultur eben - und das CBGB war ihr Fillmore. Patti Smith, The Ramones und auch die anderen hier unten vertretenen Bands haben schon ein bis zwei Jahre zuvor ihre musikalischen Statements auf Singles oder mit einem Debütalbum gemacht, aber bei einigen der wichtigsten Vertreter dieser Szene sind die ersten LP's erst im Jahr '77 erschienen. Ich vermute, dass die Singles und ersten Alben der Ramones und Patti Smith's auch im von Punk erschütterten England gehört wurden – und dort auf offene Ohren trafen. Die Aufzählung der Namen dieser CBGB's Bands jedenfalls liest sich wie ein Who's Who der Geschichte der alternativen Musik – Television, The Ramones, Talking Heads, Heartbreakers und Richard Hell, aber auch Bands und Musiker wie The Plasmatics, Lou Reed, Jim Carol, Dead Boys, Sonic Youth, Mink Deville, B-52’s - sie alle kreisen um diesen Club - und die Liste der Namen derer, die sie beeinflusst haben, wäre noch länger, die Namen noch illustrer...... Im Unterschied zum Punk in England gaben diese New Yorker Bands eher ein künstlerisches und nur unterschwellig an die Gesellschaft gerichtetes Statement ab – während die britischen Bands oft weit deutlicher ihren Unwillen gegenüber den herrschenden politischen Klassen - und den musikalischen Zuständen zeigten. Punk aus den USA ist oft ganz anders als Punk aus dem United Kingdom/Europa. Aber lies weiter...

Television

Marquee Moon


(Elektra, 1977)

Als zwei gerade mal Zwanzigjährige Jugendliche die Bowery in New York heruntergehen, sehen sie wie gerade das neue Schild für den “Country Bluegrass and Blues.”- Club aufgehängt wird. Sie sprechen den Manager an und behaupten, Country sei genau die Musik, die sie spielen. Sie bekommen einen Gig.... und werden in kürzester Zeit zur Hausband des bald legendären CBGB: Des Clubs, der sich mit ihnen und der Szene, die sich um sie herum bildet, zur Brutstätte für Literatur und Kunst in der aufblühenden New Yorker Punkszene entwickelt. Televisions Debüt Marquee Moon ist in all den Jahren seitdem ein zeitloses Stück Musik geblieben, mit den beiden vorgenannten Alben der Briten Sex Pistols und The Clash ist es DAS wichtigste Stück Musik des Jahres '77. Television entwickelten ihre Songs aus einem bluesfreien aber dennoch psychedelischen Sound, interpretierten ihn für ihre Zwecke und schufen so einen eigenen musikalischer Kosmos, mit sich umschlingenden Gitarrenlinein, seltsam leidenschaftslosem Gesang und existentialistischen Lyrics. Aber dieses Album nur zu beschreiben ist wenig sinnvoll, es ist eine Hörerfahrung, die man selber machen muß, um die Rockmusik am Ende der 70er zu verstehen. Und zugleich gibt es bis heute wenige bis gar keine Bands die etwas vergleichbares dieser Art schafften. Tracks wie der Titelsong oder „See No Evil“ sind zeitloser Post Punk und psychedelischer Gitarrenrock in Einem – und somit doch eigentlich garnicht das, was wir uns unter Punk vorstellen ? Kein Wunder, war das, was in New York Punk hieß, doch weit mehr „Kunst“, als die „proletarischeren" Klänge aus Old Britan, Marquee Moon IST Punk, nur eben in der New Yorker Version - aber vor Allem: Es ist ein komplettes Album ohne eine einzige schwache Minute.




Heartbreakers

L.A.M.F.


(Track, 1977)

Die Heartbreakers könnte man musikalisch als eine Band bezeichnen, die besonders typisch für die Musik und die personellen Hintergründe im CBGB's steht. Sie haben einen Sound zwischen dreckigem Rock'n'Roll, 60ies Pop, Punk und Chaos, ihre Geschichte beginnt mit dem Aufeinandertreffen der beiden Ex-New York Dolls Johnny Thunders (g, voc) und Jerry Nolan (dr) mit Richard Hell, dem ersten Bassisten von Television. Letzterer versucht nach einiger Zeit das Zepter an sich zu reissen (zuviele Ego's in einer Band...), worauf Thunders und Nolan die Band verlassen - und den zweiten Gitarristen Walter Lure und den Bandnamen mitnehmen. Darauf gründet Hell seine neue Band The Voidoids und macht ein formidables Album (siehe unten) während die Heartbreakers dem Angebot ihres britischen Freundes und Sex Pistols Managers Malcolm McLaren zu einer Support Tour der Pistols nach England folgen. Die Tour bricht im Chaos zusammen, Thunders legt sich eine massive Heroin-Sucht zu, die Band versumpft ziemlich und hat kaum noch das Geld zur Rückkehr nach New York, aber ihr Manager verschafft ihnen ein paar (gelungene) Auftritte und damit einen Vertrag beim englischen The Who-Label Track Records - sowie die Produktion des Debütalbums L.A.M.F. (soll heissen Like a Motherfucker). Die Aufnahmen verlaufen noch ganz ok, vielleicht etwas chaotisch, aber dann zerstreiten sich Thunders und Nolan, jedes Bandmitglied mixt das Album nach eigenen Vorstellungen – und am Ende kommt ein Album mit etlichen gelungenen Songs aber mit dumpfem Sound in die Läden und wird entsprechend bedauert bis verrissen. Inzwischen gibt es optimierte Fassungen der Songs auf den Reissues – und man kann sich vorstellen, dass L.A.M.F. - in NY unter anderen Bedingungen aufgenommen – zu den ganz großen Alben seiner Art und Szene gehören könnte. Songs wie „Born to Lose“, „It's Not Enough“ oder „Let Go“ haben eine schmutzige Glorie, die selbst der schlechteste Mix nicht dämpfen kann. So aber brach die Band auseinander, Nolan kam bei der anschliessenden Tour als Miet-Bassist mit, aber die Luft war 'raus. L.A.M.F. Kann man jetzt aber wunderbar anhören. Immerhin.



Richard Hell & The Voidoids

Blank Generation


(Sire, 1977)

Dieses mag ein etwas weniger bekanntes Album des New Yorker Punk sein – aber es ist in Allem eine Art Querschnitt der Musik aus der Szene um's CBGB's. Richard Hell (eigentlich Richard Meyers aus Kentucky – der Arme) war bei Television, hat die Heartbreakers (mit)begründet, um dann wie oben beschrieben ihr Auseinanderbrechen zu bewirken, er hat aber auch den Kleidungs- und Frisurstil des Punk begründet, indem er dem da noch in NY ansässigen Malcolm McLaren Sicherheitsnadel und mit Zuckerwasser verwilderte Frisuren gezeigt hat, er ist eher Literat als Bassist (die Frisur hat er sich angeblich beim literarischen Vorbild Rimbaud abgeschaut...), er hat personality galore, und er ist als Texter und Songwriter durchaus fähig, wenn er im richtigen Moment die richtigen Leute um sich hat – wie man am ersten Album seiner neu fromierten Voidoids hören kann. Blank Generation liegt exakt zwischen Television, Talking Heads und den Heartbreakers, Gitarrist Robert Quine - den Hell im Buchladen kennengelernt hat - macht den Twin-Guitars von Television zusammen mit Ivan Julian Konkurrenz, Hell's hämische Vocals, seine Texte zwischen Wut und Obszönität tauchen die Songs wieder in die Punk Suppe, die Vorbilder Stooges und MC5 werden mit entsprechender Reduktion zitiert, aber in Songs wie „Another World“ ist auch der Kunst-Gedanke der New Yorker Szene deutlich erkennbar. Mit Marc Bell hat er den späteren Drummer (dann Marky Ramone) der Ramones dabei und mit dem zweiten Gitarristen Ivan Julian hat er einen Partner für's Songwriting, mit dem Songperlen wie „Liar's Beware“ gelingen. Bekanntester Song auf Blank Generation ist das schön oszöne „Love Comes in Spurts“ - Punk in Reinform, aber das Album schwebt irgendwie zwischen Prä- und Post Punk, sitzt zwischen den Stühlen und ist zugleich nicht ganz so ausserhalb aller Kategorien wie etwa Marquee Moon. Das mag ein Grund für den geringeren Stellenwert von Blank Generation sein – und das ist natürlich ungerecht. Hinderlich für breiteren Erfolg der Voidoids war aber sicher auch die Tatsache, dass es wegen Hell's Drogenkonsum fünf Jahre bis zum nächsten (nicht ganz so tollen) Album dauern sollte – da war Punk schon lange vorbei. Danach konzentrierte Hell sich komplett auf die Literatur.




The Ramones

Leave Home


(Sire, 1977)



The Ramones

Rocket To Russia


(Sire, 1977)



... noch mehr New York und CBGB's ... Das erste Album der Ramones (vom Vorjahr...) ist einer DER Klassiker der Rockmusik. Simpel, eingängig, rasant, Perfektion in Pop. Und sie hatten mit ihrer Musik schnell ein hungriges, junges Publikum erreicht, hatten ihren Bekanntheitsgrad über die Grenzen von New York hinaus erweitert und nahmen nun – mit deutlich höherem Budget und mit mehr künstlerischer Freiheit More of the Same auf. Tatsächlich gehörten die 14 Songs auf ihrem Zweitling Leave Home allesamt schon vor dem Debüt zu ihrem Live-Repertoire, haben die gleichen schlagwortartigen Titel, die man so liebt („Gimme Gimme Shock Treatment“), Da wird der Wunsch geäußert, zum Killer zuwerden („Glad to see you go“) da ist alles von Kriegs- und Horrorfilmen beeinflusst. Der Song „Carbona Not Glue“ wurde zunächst von der Plattenfirma gestrichen, da er deren Meinung nach „die Inhalation von Dämpfen zum Drogenkonsum verherrlicht“ - was natürlich stimmt – nur wäre „verherrlichen“ da der falsche Ausdruck. Das Cover – nun in Farbe und nicht zur Ikone geworden - die Produktion durch den „sechsten Ramone“ Ed Stasium, der sie in den folgenden Jahren begleiten soll, all das mag die naiven Wildheit des Debütalbums vermissen lassen, was eben dazu führt, dass es als weniger epochal gilt als The Ramones oder der noch im selben Jahr aufgenommene dritte Streich: DAS ist das Album, das sich Manche vielleicht als Nachfolder des Debüt's erhofft hatten. Rocket to Russia sieht auch in der Covergestaltung so aus wie die Fortsetzung von The Ramones. Und teilweise wird die Klasse des Debüt's übertroffen: Die Produktion - wieder von Ed Stasium - ist kraftvoller, Gitarrist Johnny Ramone hatte „God Save the Queen“ von den Pistols gehört - und verlangt, dass die neue LP besser klingen soll, als die der Kopisten und Konkurrenten aus Great Britain. Zumal die Ramones nun als Songschreiber auf der Höhe ihrer Kunst sind: Es beginnt mit dem absurd-fröhlich hirnlosen „Cretin Hop“, da ist der Surf Punk von „Rockaway Beach“ - natürlich angelehnt an die Musik von Bands wie den Thrashmen – die wiederum mit „Surfin' Bird“ gecovert werden. Das zweite Cover auf dem Album ist der Klassiker „Do You Wanna Dance“ - und mit der Außenseiterstory „Sheena is a Punk Rocker“ und dem selbsterklärenden „Teenage Lobotomy“ sind zwei Klasssiker der Band dabei. Und es gibt nun sogar so etwas wie „Balladen“ - wobei das Tempo des Albums nach wie vor rasant ist. Rocket to Russia ist ohne Zweifel der Höhepunkt einer Trilogie von Klassikern des Punk – und Blaupause für den Punk etlicher US Bands der folgenden Jahre (siehe Bad Religion). Diese drei LP's plus das nachfolgende Album enthalten Alles, was man über die Ramones wissen muß (Man kann antürlich auch das Live-Album dazu zählen, nur ich mag es nicht so sehr...)



Talking Heads

Talking Heads: 77


(Sire, 1977)

Auch am Debüt der Talking Heads kann man die stilistische Breite der Bands aus dem Umfeld des CBGB's erkennen. Chris Frantz (dr), Tina Weymouth (b) und David Byrne (voc, g) gründen die Band '75 während ihres Kunst-Studiums und ergänzen sie 1977 um dem Ex-Modern Lovers Gitarristen (und Architekturstudenten) Jerry Harrison. Ihre Optik bei den Auftritten ist das Gegenteil von prätentiös oder rebellisch – sie sehen so „normal“ aus, dass das eindeutig Programm ist – und ihre Musik ist so reduziert und nackt, wie man es bisher nicht kannte.. Dazu haben sie mit David Byrne einen Sänger, der so seltsam autistisch wirkt, dessen Stimme doch eigentlich Singen nicht erlauben sollte und dessen Auftreten manchmal so ausserirdisch wirkt, dass es schmerzt - und dessen Lyrics so fremd, gar beängstigend sind... dass eine solche Musik sich wohl nur im Kunst-Umfeld des CBGB's entwickeln kann. Nach der komischerweise erfolgreichen Single „Psycho Killer“ (Das Thema in den US-Charts?) und nach etlichen gelungenen Auftritten nehmen die Talking Heads ihr Debüt Talking Heads: 77 unter der Ägide des erfahrenen Soul- Produzenten Tony Bongiovi auf (...Ja - der ist mit dem überflüssigen 90er Hardrock Posterboy Jon Bon Jovi verwandt und hat dessen Karriere mit zu verschulden...), aber hier macht er alles richtig. Er lässt die Talking Heads reduziert klingen, er betont die Rhythmik, er lässt Byrne's Stimme kippen und gibt der Band die Freiheit ihre durchaus pop-tauglichen Melodien mit all den Haken und Verschiebungen zu versehen, die das Album von jedem Verdacht befreit, zu nah am Pop gebaut zu sein. Der Opener „Uh Oh, Love Comes to Town“ hat Calypso-Anklänge, wird aber im Verlauf völlig verdreht. „New Feeling“ könnte ebenso berechtigt ein Hit sein wie der Stampfer „Psycho Killer“, „Don't Worry About the Government“ hat eine wunderbar poppige Melodie - und wieder Lyrics, die jeden Gedanken an Kommerz verbieten. Talking Heads: 77 ist noch nicht von dem perkussiven Dauerfeuer durchschossen, das die Band mit Brian Eno ab dem nächsten Album entwickelt, aber es zeigt, dass hier verdammt kluge Köpfe Musik machen. Es ist ein Startpunkt, der überall hätte hinführen können – es wäre immer eine interessante Richtung gewesen.



Mink DeVille

s/t (Cabretta)


(EMI, 1977)



Die hier mit ihren Alben vorgestellten Bands aus dem CBGB's sind zweifellos Vorreiter oder Ikonen des Punk, aber in diesem Club gibt es zu dieser Zeit auch ein paar Gestalten, die wirklich schwer zu der Vorstellung passen, die wir heute von „Punk“ haben. Die Band Mink DeVille um den in NY aufgewachsenen Exzentriker Willy DeVille (eigentlich William Paul Borsey) klingt schon auf ihrem Debüt nur entfernt nach Punk, waren aber von '75 bis '77 Hausband im Club und verkehrten ganz zweifelsohne als Kollegen unter Kollegen – sie machten eben (wie alle anderen – ganz nebenbei) ihr eigenes Ding. Das bestand in diesem Falle aus einer Musik, die bestimmt wird von DeVille's dreckiger Soul-Stimme und von Songs, die sich im Umfeld von 50ies-Soul, R&B, Blues und Rock bewegen, die zwar durchaus auch reduziert sind, aber zugleich auf etwas schmierige Weise „distinguiert“ klingen. Als Produzent konnte für das nur in den USA Cabretta genannte Album (in Europa ohne Titel...) Phil Spector-Schüler und Jagger/Stones Freund Jack Nitzsche gewonnen werden, die famose Single „Spanish Stroll“ kam im United Kingdom in die Charts, die Auftritte der Band konnten an guten Abenden glorreich sein: Mit einem in Zuhälter-Klamotten gekleideten Willy DeVille, einem großartigen Frontmann der gerne eine Leopardenfell-Gitarre spielte und den harten Kerl mit weichem Kern mimte, mit Bläsern und einer tighten Band, mit Stories direkt aus einer verraucheten Bar, waren sie ein optisches und akustisches Erlebnis. Und sie hatten eben auch die entsprechenden Songs. Mick Jagger war von „Mixed Up, Shook Up“ begeistert, eine Ballade wie der Album-Closer „Party Girl“ zeigt die Band in voller Pracht... Mag sein, dass diese Musik mit der Vorstellung, die wir von Punk haben, nichts zu tun hat – aber dass das CBGB's nicht auf ungestüme Wildheit und 'rausgerotzte Songs reduziert ist, dürfte klar sein. Um Musik zu beschreiben, die da schon eher dem Klischee entspricht, muss man sich.....



Dead Boys

Young Loud And Snotty


(Sire, 1977)



... Young Loud and Snotty von den Dead Boys anhören. Die entsprechen schon eher dem Klischeebild von Punk – optisch wie musikalisch. Die Dead Boys entstehen in Cleveland aus der Asche der Prä-Punk Institution Rocket From the Tombs - deren Archiv-Alben großartig sind und deren Sänger David Thomas '77 mit Pere Ubu eine der Speerspitzen des Post-Punk gegründet hat. Cheetah Chrome, Gitarrist der Rockets, gründet mit dem Sänger Stiv Bators zunächst in Cleveland Frankenstein, die sich dann in Dead Boys umbenennen, auf Anraten von DeeDee Ramone nach New York umsiedeln und im CBGB's bald für Furore sorgen. Musikalisch wurde die Kraft der Rockets mitgenommen, deren experimentelle Noise-Elemente über Bord geworfen und noch ein zusätzlicher Schuss Garage-Rock hinzugefügt. Und die Dead Boys halfen dabei, den Look und Sound des „Punk“ zu definieren, sie waren mit ihrer unverfälschen Agressivität genauso typisch – und genauso gut – wie die Sex Pistols – hatten aber nicht deren Erfolg – so sind die USA eben... Das von den Rockets mitgebrachte „Sonic Reducer“ ist eine prächtige Punk-Hymne die nur zu unbekannt geblieben ist, Songs wie „All This and More“ und „What Love is“ sind voller Teenage Angst, Kraft und Häme, durchzogen von einer ernsthafteren Wut als die zynischen Pamphlete der Pistols. Cheetah Chrome's Gitarrensalven lassen an den Stooges-Gitarristen Ron Asheton denken und Stiv Bator's Howls klingen nach dem Irrsinn und der Verlorenheit, die Johnny Rotten nie erlebt haben dürfte. Seltsamerweise gelten die Dead Boys als eine Punk-Band der zweiten Stunde – als Nachahmer also... Das sind sie definitiv nicht, sie sind eine rohe, kraftvolle Rock'n'Roll Band, die den Punk mit geprägt hat, und Young Loud and Snotty ist genau das, was der Titel verspricht.




Und sonst so?



Wie immer – Dieser Artikel bezieht sich auf EIN Jahr - und natürlich sind die definitiven Alben aus dem Umfeld der (Punk)-Szene im CBGB über mehrere Jahre verteilt. Müsste ich also die soundsoviel besten Alben aus dieser Szene in der formativen Zeit Ende der Siebziger blablabla... dann würde ich zu den hier reviewten noch folgende empfehlen:

Patti Smith – Horses (1975)

The Dictators – Go Girl Crazy! (1975)

The Ramones – s/t (1976)

Suicide – s/t (1977)... welches ich im „Hauptartikel“ über das Jahr '77 reviewt habe... http://derkleinerockhaus.blogspot.de/2017/11/1977-sex-pistols-bis-kraftwerk.html

Blondie – Plastic Letters (1978)

Blondie – Parallel Lines (1978)

Talking Heads – More Songs About Building and Food (1978)

und die Compilation No New York (1978), welche die avantgardistische No Wave Bands Contortions, D.N.A., Teenage Jesus & the Jerks und Mars versammelt.

Und dann treiben sich in dieser Zeit auch noch Bands wie The Cramps, The Feelies, The Fleshtones, Bad Brains etc... in und um diesen Club herum - und im kommenden Jahrzehnt weitet sich der Einfluss dieser Szene über die ganze Welt aus. Also: Das hier ist nur ein Schlaglicht auf eine extrem heterogene Szene.


Das CBGB's übrigens blieb bis in die Achtziger Schmelztiegel und Kreißsaal für neue Musik – und wurde zuschlechterletzt 2006 wegen immer höherer Mietkosten in der inzwischen gentrifizierten Lower East Side geschlossen... Kapitalismus eben.




Donnerstag, 2. November 2017

1977 - Der Deutsche Herbst und Elvis' Tod - Sex Pistols bis Kraftwerk

Jimmy Carter wird 39. Präsident der Vereinigten Staaten, in Deutschland sind die Links-Terroristen der Roten Armee Fraktion extrem aktiv - Arbeigeberpräsident Schleyer wird entführt und ermordet, Deutsche Bank Vorstandschef Jürgen Ponto wird ermordet, in Stammheim bringen sich inhaftierte Mitglieder der RAF um, das Passagier-Flugzeug „Landshut“ wird entführt und von der Sondereinheit der Bundeswehr GSG 9 gestürmt. All das nennt man später den „Deutschen Herbst“. Derweil finden in Spanien erstmals seit 41 Jahren demokratische Wahlen statt. Der Blockbuster„Star Wars“ kommt ins Kino, der Boxerfilm „Rocky“ mit Sylvester Stallone bekommt einen Oscar und die Disco-Schnulze „Saturday Night Fever“ wird uraufgeführt. Am 16. August stirbt mit Elvis Presley der Urknall-Erzeuger des Rock'n'Roll an einer Überdosis Pillen. Auch Marc Bolan (T.Rex) stirbt und Ronnie Van Zant und Steve Gaines von Lynyrd Skynyrd kommen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, bei dem auch die anderen Bandmitglieder schwer verletzt werden, woraufhin die Band sich auflöst. Musikalisch ist 1977 ein ungemein interessantes Jahr. Etablierte Bands der 70er wie ELO oder Supertramp machen kommerziell recht erfolgreiche Platten, aber vor allem veröffentlichen jetzt all die großen Bands des „Punk“ - nach den epochalen Singles - ihre Debüt-Alben. Die Sex Pistols, The Clash, The Damned aus dem United Kingdom, in den USA – genauer in New York - The Ramones, Television, die Talking Heads - alles was später mal Rang und Namen hat macht nun Longplayer. David Bowie und Iggy Pop sind in Berlin und haben den richtigen Riecher für die Musik zur (kommenden) Zeit, Reggae beginnt im Gleichschritt mit Punk seinen kommerziellen Siegeszug, aber auch in anderen Genres wie Country und Folk gibt es interessante Veröffentlichungen, die jedoch von Punk noch wenig beeinflusst scheinen. Punk ist jedenfalls der frische Wind in die stagnierende Entwicklung der Rockmusik - wobei man sich erinnern sollte: Die Masse der Musikhörenden bemerken das zunächst noch nicht. Sie hängen noch an Althergebrachtem – wie zum Beispile am aufgeblähten Bombast von Meat Loaf's Bat out of Hell, das hiermit seine einzige Erwähnung finden soll, oder an den Primitivstampfern von Ram Jam, oder dem süsslichen Schmalz der ondulierten Softrocker Styx. Vergessen wir das Alles und kümmern wir uns um Wichtiges und Bleibendes wie....


Sex Pistols

Never Mind The Bollocks – Here's The Sex Pistols


(Virgin, 1977)


Das Debütalbum der Sex Pistols ist definitiv eine der wichtigsten Veröffentlichungen des Jahres '77 - der Siebziger - der Rockmusik insgesamt... oder ? ...denn es ist zugleich ein perfektes Beispiel für den „Ausverkauf“ von Idealen. Es gibt keine Platte, die vom Songmaterial bis zum Coverdesign so sehr für die in diesem Jahr losbrechende Vereinfachung gegen die aufgeblähten Rockismen der Siebziger steht, wie Never Mind the Bollocks.. - und die gleichzeitig so wenig mit dem Gedanken, der hinter dem Begriff „Punk“ steht, zu tun hat. Denn Never Mind.... ist in Wahrheit nicht mehr als eine billige Best Of Kopplung der bahnbrechenden Singles der Sex Pistols, und wer die Musik dieser Band erst mit der wohlfeilen LP kennenlernte, hatte alles Wichtige verpasst. Sie hatten im Jahr zuvor das gesamte Establishment, Politiker, die Queen und die Musikindustrie verprellt, alles nach dem genialen Masterplan des Impressarios Malcolm McLaren, sie sprachen allen Unterprivilegierten und Wütenden aus der Seele, inspirierten mit ihren Live-Shows und ihrer aufs notwendigste reduzierten Musik hunderte von Musikern - und machten dann mit der Veröffentlichung dieses Albums – übrigens Monate nach den Alben der anderen Protagonisten des Punk erschienen - noch mal schnell das große Geld, ehe die Band implodierte. Aber irgendwie kann es ja auch egal sein, dieses Prinzip, dass man von Anfang an dabei gewesen sein muss um „echt“ zu sein, hat schließlich auch eine große Arroganz, und wer 1976 nicht gerade der entsprechenden Generation angehörte, kommt naturgemäß zu spät - und bei aller Häme muß man anerkennen, dass in Ermanglung der Singles diese LP mit Songs wie „Holidays in the Sun, „Anarchy in the UK“, „God Save the Queen“ etc unersetzlich ist. Vielleicht also in kleinen Portionen hören, oder zur Erhöhung der Coolness irgendwie die Singles erwerben. 

Sex Pistols - Anarchy In The UK 


The Clash

s/t


(CBS, 1977 )

Streng genommen ist das Debüt von The Clash (das übrigens Monate vor Never Mind the Bollocks erschien...) ihre einzige richtige „Punk“- LP, und es ist sicher ein klassisches und zugleich eines der wichtigsten Alben des Punk. The Clash hatten die Energie, den „Leftism“, den Willen zur Revolution, den man sich heute – im Nachhinein und mit verklärtem Blick - beim Begriff Punk vorstellt, und erfüllten somit etliche Klischees. Allerdings teilten sie nicht den selbstzerstörerischen Zynismus der Pistols. Noch wichtiger – und zugleich untypisch für Punk – war, dass sie im Gegensatz zur allgemeinen Vorstellung mehr als nur drei Akkorde drauf hatten - was wiederum Basis ihrer weiteren Karriere sein sollte. Auf The Clash allerdings spielen sie vor Allem erst einmal hart, schnell, präzise, simpel und mit ungeheurer Energie. Mit einer Energie, die durch die dünne (Nicht-) Produktion und den unwillentlich reduzierten Sound nur um so deutlicher wird. Mit Sänger Joe Strummer und Gitarrist Mick Jones hatten sie gleich zwei hervorragende Songwriter die auch in dieser frühen Phase schon mit anderen Stilarten experimentierten. Da ist zum Beispiel jetzt schon Reggae (die Cover Version von Junior Murvins „Police & Thieves“), dessen Einfluss auf dem nächsten Album schon sehr viel deutlicher werden sollte aber natürlich stehen insbesondere Songs wie „Remote Control“, „White Riot“ oder „London's Burning“ mit ihrer Rohheit und Energie exemplarisch für den Punk Im Jahr 1977 – dem Jahr mithin, in dem die Bands dieser Klasse ihre Debüt-Alben auf den Markt warfen. Aber tatsächlich ist The Clash weit mehr als nur Punk – unabhängig von allen Moden höre ich auf dem Album einfach zeitlose, kraftvolle Rockmusik. 

The Clash - White Riot  

The Damned

Damned, Damned, Damned


(Stiff Rec., 1977)

Klassischer“ Punk: The Damned waren die erste Punk-Band mit einem Plattenvertrag, die erste mit einer (erfolgreichen) Single und ihr Debüt war die erste LP ihrer Art. Sie wollten nicht die Welt verändern wie The Clash und sie negierten nicht die Gesellschaft wie die Sex Pistols – sie wollten Spaß. Dass Nick Lowe sie produzierte, ist eine nette Beigabe, ihr Punk hat viel mit dem Rock'n'Roll der Stooges gemein - und mit Power Pop, der die Beatles kennt und die Stones und den Pub-Rock der letzten Jahre. Aber The Damned sind Young, Loud, and Sloppy, gehören einer jüngeren Generation an. Der Mann mit den Songs war Gitarrist Brian James und auf dem Debut gibt es PowerPop/ Punk Klassiker wie „Neat Neat Neat“, die Single „New Rose“ und „Fan Club“. Die Band spielt schnell und hart und Rat Scabies prügelt sich mit seinen Drums und Cymbals die Seele aus dem Leib - und die Art in der Dave Vanian sein „bawrnnn to keeel" rausgröhlt ist unbezahlbar. Damned Damned Damned hat die Zeit erstaunlich gut überstanden und The Damned haben auch danach noch einige erwähnenswerte Alben gemacht und damit gezeigt, dass sie mehr drauf hatten als nur einen kurzlebigen Trend zu bedienen. Bands wie Green Day oder Blink 182 haben ihnen definitiv eine Menge zu verdanken

The Damned - Born to Kill 

Wire

Pink Flag


(Harvest, 1977)

Punk war eigentlich sofort Geschichte. In New York waren die Bands aus dem CBGB's teilweise schon seit Jahren aktiv - Patti Smith hatte ihr Debut schon '75 gehabt und die Ramones hatten schon '76 alles gesagt, was ihnen einfallen sollte – in UK hatten die Pistols mit ihrem Debüt ihr ganzes Pulver verschossen und auch The Clash hatten die Songs ihres Debüts nur noch aufnehmen müssen. Eigentlich sollte es dann wohl nicht verwundern, dass es schon eine Band wie Wire gab. Eine, die Punk dekonstruierte. Ihr Debüt Pink Flag ist eine der eigenständigsten Platten des Genres – wenn man sie denn in dieses Genre packen will. Schon mit dem Kurzwellen-Signal Basslauf des Openers „Reuters“ wird einerseits die Simplizität von Punk heraufbeschworen, wenn dann aber die atonalen Gitarrenchords einsetzen und die Stimme von Sänger Colin Newman erklingt, die viel zu wenig nach Rotz und Häme für Punk klingt, wird klar, dass Pink Flag eben mehr ist als nur ein weiteres Punk Album. Man muß heute vermutlich klarstellen, dass das Klischee vom saufenden, gröhlenden Misanthropen mit Iro und Bierdose mit Punk Nichts zu tun hat. Punk mag „proletarisch“ sein, aber grundsätzlich steht er in meinen Augen für die sehr uneitle Haltung des „Jeder kann Alles was er will“ - auch ohne irgendeine formale Ausbildung. So nenne ich das Album eine Prog-Rock Suite in 35 Minuten, bestehend aus minimalistischen und eben nicht virtuosen Songschnipseln. Tatsächlich ist die Mehrzahl der Stücke unter zwei Minuten lang, Zeit für die Wiederholung eines Refrains lassen die vier Musiker nicht, jedes Stück ist in Lyrics, Instrumenten und Melodie vollkommen ökonomisch. Man könnte Pink Flag auch eine extreme, intellektuelle Variante des „Cartoon-Punk“ der Ramones bezeichnen - egal was man dazu sagt: Dieses Debüt und die beiden folgenden Alben gehören mit zum Besten, was aus dem kurzen Erblühen des Punk entstand.

WIRE - Reuters 


The Stranglerrs

Stranglers IV - Rattus Norvegicus


(EMI, 1977)



The Stranglers

No More Heroes


(EMI, 1977)

Die Stranglers werden von denjenigen, die Sparten brauchen, dem Punk zugeordnet - was aber eigentlich falsch ist: Sie waren schon seit `74 aktiv – also bevor Punk aus New York nach England importiert wurde, ihre Musik klingt häufig - wenn man genau hinhört - eher nach progressivem Rock als nach Punk. Ein schmutziger Prog-Rock zugegeben, und wahrscheinlich ist es nur ihre Haltung – der zynische Sexismus den sie zu dieser Zeit nach außen trugen und die bewusste political incorrectness - die sie in den Topf fallen ließ, in dem sie ihren Stil zusammenkochten. Natürlich hatten sie tatsächlich einen reduzierten, dünnen Sound, aber der wird getragen von einem an die Doors erinnernden Hammond-Organ , und die Songs haben eine grimmige und bedrohliche Aggressivität, die zum Bandnamen passt. Heute sind die Kategorien unwichtig geworden. 1977 aber spielten sie mit den anderen Protagonisten eines neuen Sounds bei den selben Konzerten vor dem selben Publikum, und auch wenn Songs wie der Closer des Debut-Albums „Down in the Sewer“ mit mehr als sieben Minuten Länge und diversen Tempowechseln für Punk untypisch ist, oder wenn die Band bei „Princess of the Streets“ das Tempo stark verlangsamt, oder wenn der Opener und etliche andere Stücke nicht vom simplen Grundgerüst Gitarre/Bass/ Drums getragen werden - in seiner Misoygnie und Misanthropie ist Rattus Norvegicus dann doch irgendwie Punk – was auf den Nachfolger No More Heroes noch mehr zutrifft: Hier gaben die Stranglers die zuvor noch eventuell vorhandene Zurückhaltung bezüglich geschmackloser textlicher Aussagen vollends auf. Auf „Dagenham Dave“ wird ohne großes Bedauern vom Selbstmord eines Fans berichtet, „Bring on the Nubiles“ ist offen sexistisch, auf „I Feel Like a Wog“ ätzen sie (immerhin) über Rassismus, kurz: Sie machten ihrem Namen alle Ehre – und die Empörung des Establishments war natürlich mit einkalkuliert. Die Musik dazu wurde aggressiver - und zugleich poppiger. Einige der Stücke waren schon ein paar Monate zuvor für das Debüt aufgenommen worden, hatten da aber – vielleicht eben weil sie „kommerzieller“ waren - keinen Platz gefunden. Nun zeigte die Band, dass sich Wut und Popmusik tatsächlich verbinden lassen. Die Frage, ob sie „Punk“ seien, werden sie sich sowieso nicht gestellt haben, und die Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit dürfte sie eher zum Lachen gebracht haben. Dafür bekommt man mit No More Heroes eine Vorstellung von der Art Musik, die nach Punk kommen kann, die dessen Reduziertheit übernimmt aber nicht einfach nur blind und besoffen vor sich hin wütet. 

 The Stranglers - Princess of the Streets

 The Stranglers - I Feel Like a Wog

Suicide

s/t


(Red Star, 1977)

1977 – und mit diesem Jahr das Ende des Punk und der Beginn all dessen, was man Post-Punk nennen wird - mag ein passendes Jahr für das Erscheinen des Debütalbums des Duos Suicide sein, aber tatsächlich wühlte die Musik der beiden New Yorker Extremisten Alan Vega und Martin Rev den Unterdrund schon seit Beginn der Siebziger auf. Sänger Alan Vega fühlte sich inspiriert von Elvis und von den selbstzerstörerischen Shows der Stooges Ende der Sechziger, Instrumentalist Martin Rev bediente zur „Untermalung“ des Gesangs ein schrottiges Hammond Organ mit ein paar Effektgeräten sowie ein simples Rhythmusgerät – und damit bekamen die beiden ein paar Auftritte im Mercer Arts Center. Meist gingen die Shows nach ein paar Minuten in den Buh-Rufen des Publikums unter – aber Rev und Vega fanden das - siehe oben – wohl nicht störend und machten unverdrossen weiter.... mit Publikumsbeschimpfung. Bald traten sie im berühmten CBGB's neben den aufstrebenden Punk-Bands auf, das kleine Label Red Star gab ihnen einen Plattenvertrag und in vier Tagen wurden die jahrelang erprobten Tracks in NY aufgenommen. Der Produzent hatte zuvor mit diversen Reggae-Acts gearbeitet und nutzte seine Erfahrungen mit Dub und Echo dazu, Songs wie „Ghostrider“, „Frankie Teardrop“ oder „Che“ in eine bis dato unbekannte Minimal-Dub-Elektronik mit Gene Vincent Gesangsparts zu übersetzen. Suicide klang wie nichts zuvor – und klingt bis heute wie nichts danach. Bands wie Joy Division, The Jesus an Mary Chain, Ministry oder Nine Inch Nails sind sicher schwer beeinflusst, aber die Musik auf diesem Album ist letztlich unkopierbar geblieben, weil ihre Primitivität nicht gestellt ist, weil das Wissen, dass hier etwas ganz Neues und Unerhörtes entsteht aus allen Tönen zu kriechen scheint. Man stelle sich eine desillusioniertere, von den Geistern des Rock'n'Roll besessene Version der Velvet Underground mit elektronischen Sounds vor – und auch das wird Suicide nicht gerecht... Wie so viele Alben ausserhalb normaler Kategorien ist die Anzahl der namhaften Bewunderer groß (von Springsteen bis Peaches), die derjenigen, die es nie gehört haben aber noch größer. Also...

Suicide - Frankie Teardrop 


Und Was geschah sonst ?


Aber natürlich gibt es nicht nur all die feinen Alben aus der Punk-Ecke – eigentlich ist Punk im Jahr 1977 sowieso schon durch den Sell-Out der Sex Pistols mit ihrer Never Mind the Bollocks Compilation und nach der Veröffentlichung einer ganzen Reihe von LP's implodiert... denn Punk ist eigentlich eine Musik, die sich durch das 7'' Format definiert. Zu dieser Zeit gibt es noch klare Positionen unter Musikinteressierten – man hört entweder Punk - oder andere Musik wie die von Pink Floyd und Yes... oder Queen oder das Electric Light Orchestra oder Fleetwood Mac... (deren Rumours eigentlich auch hier hin gehören könnte) oder man hört sogar Meat Loaf oder Disco (Donna Summer – aber die definiert sich auch durch ihre Singles) oder Boney M undsoweiter. Und es gibt Musik am Rande aller Stile, die fatastisch ist (dafür steht hier Suicide, aber da gibt auch Throbbing Gristle z.B....). Und auch etliche schon länger etablierte Künstler entwickeln  mehr oder weniger unberührt vom aktuellen Trend ihre Musik. So gibt es 1977 neben den Longplayern des Punk auch so wunderbare Alben wie :..

Pink Floyd

Animals


(EMI, 1977)

Als Animals 1977 erschien, waren seit dem mega- erfolgreichen Vorgänger Wish You Were Here nicht einfach nur zwei Jahre vergangen: Es hatte der erwähnte Umbruch in der populären Musik stattgefunden. Punk hatte wieder daran erinnert, dass Rock'n'Roll wild, revolutionär, simpel sein konnte, und damit weit mehr Kraft transportieren, weit mehr Spaß machen konnte als vergeistigte Hippie-Musik oder komplexe Instrumental-Epen von hoch über den Massen schwebenden Superstars. Und Superstars waren die vier Musiker von Pink Floyd inzwischen, dazu auch noch solche, die aus der Hippie-Tradition stammten, deren Musik im Vergleich zum Punk weit weniger unmittelbar erschien. Aber Pink Floyd hatten ja Roger Waters – auch damals schon der ewige Zweifler, derjenige, den der Status als Superstar eher mit Unwillen und Abscheu erfüllte. Und er war der unangefochtene Kopf der Band – zumindest war er der Kopf hinter der Entscheidung ein finsteres und für Pink Floyd regelrecht spartanisches Album wie Animals zu machen. Ein Album, das sich offen an George Orwell's dystopische Fabel Animal Farm anlehnt, diese aber nicht nur einfach in musikalische Form gießt, sondern deren Elemente für eigene Gesellschaftskritik nutzt. Hier sind die „Pigs“ die heuchlerischen Moralaposteln, die „Dogs“ die Ausbeuter und die „Sheep“ die breite Masse, die unter beiden zu leiden hat. Und so einfach wie dieses System ist das musikalische Prinzip. Auch Animals hat ein melodisches Thema, das sich durch das ganze Album zieht, das nicht so sehr von Synthesizern getragen wird, als vielmehr von David Gilmour's Gitarrensounds. Die musikalische Stimmung ist düster und spartanisch – heute würde man sagen Pink Floyd klingen, als wollten sie Post-Punk spielen - es gibt drei den jeweiligen Tieren zugeordnete Stücke voller für Pink Floyd typischer Effekte und Sounds (z.B. Vocoder-Sounds mit der Gitarre) und ein kurzes akustisches Intro und Outro. Animals enthielt keine Hits, es ist ein unbequemes Album, eines das für alte Hippies erschreckend nihilistisch klingt  und es galt den Fans der Band seinerzeit als Rückschritt im Vergleich zu den Vorgängern. Das wird heute anders bewertet, Animals ist zwar düsterer als die „Hit-Alben“ der Band, aber es ist überraschend zeitlos geblieben – sogar besser geworden. Die Musiker spielten es auf der darauffolgenden Tour – und dann nie mehr, denn danach kam The Wall und dann der Zusammenbruch der Band. 

Pink Floyd - Pigs 

John Martyn

One World


(Island, 1977)

Ob John Martyn Punk mitbekommen hat ? Da bin ich mir sicher – und ich kann mir sogar vorstellen, dass er für die Rückkehr zu den Ursprüngen des Rock'n'Roll Sympathien hatte. Aber mit ihm und seiner Musik hatte das eher wenig zu tun. Er ging seinen eigenen Weg – kam vom Folk, integrierte Jazz und hatte in den Jahren vor One World daraus seine völlig eigene Stimme entwickelt. Nach Sunday's Child ('75) ging er erst einmal nicht mehr ins Studio und stoppte auch noch das Touren - er war ausgebrannt und wollte Distanz zum Musik-Business und seinen Verpflichtungen. So ging er auf Anraten seines Label-Bosses Chris Blackwell nach Jamaika, um dort frische Energie zu tanken, und ein paar dieser „Reggae-Musiker“ kennenzulernen. Dass er mit Lee „Scratch“ Perry hervorragend klar kam, ist kaum verwunderlich – seine Gitarrensounds waren schon früh durch Echo-Geräte gewandert, die tiefen Rhythmen der jamaikanischen Musik dürften ihm gefallen haben – also nahm er an diversen Sessions teil, und nahm dann im Sommer '77 in England ein neues Album in Angriff. Und auf One World sind die Dub-Einflüsse deutlich zu hören - Da ist das mit Lee Perry geschrieben „Big Muff“, und das betäubende „Small Hours“ und natürlich der Titeltrack. Aber Martyn war sich durchaus noch seiner Folk-Einflüsse bewusst. Erstaunlicherweise paarte er die auf diesem Album mit regelrecht poppigem Songwriting. Songs wie „Couldn't Love You More," "Smiling Stranger", oder "Certain Surprise“ verbinden all seine Einflüsse und die neu gefundene Freude an Soundexperimenten mit regelrechter Melodieseligkeit. Man merkt bei One World, dass Chris Blackwell voll hinter Martyn's neuen Ideen stand. Der produzierte das Album und dazu kam ein Cast von ganz famosen Begleitern – Danny Thompson und Dave Pegg aus dem Folk-Umfeld, aber auch Steve Winwood und Morris Pert und Bassist Hansford Rowe. Und aus Jamaika hatte er den Trombonisten Rico Rodriguez mitgebracht, der das elegante „Certain Surprise“ mit einem Solo verfeinerte. One World ist völlig entspannt, bietet erstaunliche und organische Sound-Experimente mit Martyn's besten Songs zusammen. Es ist für mich sein bestes Album. Und auch bei ihm gilt – das will was heißen.

John Martyn - Couldn't Love You More 

Dennis Wilson

Pacific Ocean Blue


(Caribou, 1977)

In der Story der Beach Boys ist der zweite Wilson-Bruder Dennis eine vielleicht noch tragischere Figur als Brian – der ja immerhin noch lebendig ist. Dennis war der Schöne, der Coole, der Surfer (der Einzige nebenbei...), er hatte sich an den Drum-Stuhl gesetzt, weil kein anderes Instrument mehr frei war (und wurde im Studio in der Regel von Session Cracks ersetzt) und hatte die raue, gebrochene Stimme im Vokal-Verbund . In den Siebzigern, als die Beach Boys aus den Charts verschwanden und höchstens noch als Erinnerung lebten, war er auf Droge und hatte eine dubiose Beziehung zu Charles Manson und seiner mörderischen Family. Aber er entpuppte sich in dieser Phase, in der Mastermind Brian nur noch selten pässlich war, als veritabler Komponist. Insbesondere zum späten Klassiker Sunflower trug er einige wundervolle Songs bei, aber dass er ein komplettes Solo-Album zustande bringen würde war dann doch überraschend. Mit Hilfe etlicher Musiker aus dem Umfeld der Beach Boys-Tour Band packte der ungeschulte Musiker einige seiner besten Songs auf dem ersten Solo-Album eines Beach Boys zusammen – und überraschte Alle mit der Qualität und vor Allem Atmosphäre seiner Songs. Mag sein, dass Wilson's tragische Geschichte – er ertrank 1983 mit Alkohol und Drogen im Blut - den Blick auf Pacific Ocean Blue verklärt, aber Songs wie der „River Song“, „Moonshine“ oder „Rainbows“ sind Soft-Rock mit einer Tiefe, mit einer glühenden spätsommerlichen Atmosphäre, die einzigartig ist. Pacific Ocean Blue könnte nicht von den Beach Boys sein, die Befürchtung, dass er mit seinen Songs für die Boys sein Pulver verschossen hatte, war unbegründet. Dennis Wilsons Stimme ist völlig eigen, das Album ist nicht experimentell oder gar avantgardistisch, es ist das Album eines Musikers, der nichts beweisen will – oder gar muss – der seine Stimme als Komponist gerade gefunden hat, der zumindest insofern in sich ruht, als er genau das macht, was er gerade tun will. Es ist genau so, wie man es von dem Gesicht auf dem Cover erwartet. Danach wollte er noch ein zweites Album titels Bambu machen, aber die Drogen ließen seine Karriere immer mehr absaufen. Inzwischen gibt es die Doppel CD mit Pacific Ocean Blue + den Bambu-Sessions in sommerlicher Perfektion. 

Dennis Wilson - Moonshine 

Kraftwerk

Trans-Europa Express


(Kling Klang, 1977)



Über die Musik in diesem Jahre zu reden, ohne Kraftwerk zu erwähnen, wäre ein sträfliches Versäumnis. Natürlich hatten sie mit Punk nichts zu tun: Zum Einen war Trans-Europa Express schon ihr sechstes Studioalbum, zum Anderen kamen sie aus einer ganz anderen musikalischen Ecke, war ihre Musik konzeptuell, konstruiert und zu dieser Zeit auch in höchstem Maße experimentell. Der Einfluss der Düsseldorfer allerdings auf David Bowie (siehe unten), auf New Wave (= Post-Punk), auf die Musik der kommenden Jahre bis heute, kann nicht überschätzt werden. Sie hatten mit dem 74er Album Autobahn und dann mit dem rein elektronischen Übergangsalbum Radio-Aktivität (1976) schon Alles vorbereitet, was sie auf diesem - ihrem zugänglichsten und archetypischsten Album - nun ausformulierten. Die vielleicht noch an „Krautrock“ gemahnende monotone Rhythmik, einfache Synthesizer-Melodien, die wie Werbeslogans im Ohr haften bleiben, nüchterne, manchmal verfremdete und ebenso sloganhafte Vocals, die eine futuristische Kälte vermitteln, die dennoch nie feindselig wirkt. Es ist der Sound einer Metropole, die vor technischem Leben summt. Fenster von Wolkenkratzern leuchten blau, Straßenlichter funkeln, Menschen und Maschinen leben in friedlicher Gleichförmigkeit. Noch lassen die Songs die Tanzbarkeit kommender Alben vermissen, dafür ist der „Song“ hier noch wichtiger. „Spiegelsaal“, „Schaufensterpuppen“, „Europa Endlos“ als Fortsetzung von „Autobahn“, Alles elektronische Musik, die bis heute visionär und zugleich perfekter Pop bleibt.

Kraftwerk - Eurpopa Endlos 




Mittwoch, 1. November 2017

1977 – David Bowie bis Iggy Pop – Die Zukunft kommt aus Berlin

Von 1976 bis 1978 bewohnte (der einstmalige) Glam-Star David Bowie für einige Wochen eine Siebenzimmer-Altbauwohnung in der Hauptstraße 155 im West-Berliner Stadtteil Schöneberg. Damals war die geteilte Stadt bekannt als „Welthauptstadt des Heroins“ - und Bowie hatte absurderweise genau hier vor, irgendwie von seiner Heroin-Sucht loszukommen – und musikalisches Neuland zu betreten. In den Berliner Hansa-Studios wurde zunächst das mit Brian Eno und Tony Visconti eingespielte Album Low aufgenommen, das den ersten Teil der sogenannten Berlin-Trilogie darstellt. Bowie war von deutschen Bands wie Kraftwerk, Cluster, Can oder Neu!, aber auch von Steve Reich und eben von dem oben genannten – ebenfalls mit den deutschen Bands kollaborierenden - Brian Eno beeinflusst. Eigentlich war die entstandene Musik als Experiment geplant, bei der es nicht um Verkaufszahlen gehen sollte. Zur Überraschung Aller wurde die aus Low ausgekoppelte Single „Sound and Vision“ ein großer Hit, der in Deutschland bis auf Platz 6 stieg, in England sogar Platz 3 erreichte - und das nachfolgende Album Heroes enthielt mit dem gleichnamigen Titelstück sogar einen defintiven signature tune Bowies, einen unübertroffenen Klassiker in seiner Single-Diskografie. Aber das Besondere an beiden Alben sind zweifellos die ordentlich auf der zweiten LP-Seite untergebrachten Elektronik-Tracks, denen die Handschrift Brian Eno's besonders deutlich anzuhören ist. Großartig, dass Bowie den Mut hatte, diese Experimente gleichberechtigt zu veröffentlichen, erfreulich, dass es ein Publikum gab, das sich damit beschäftigen musste – und so die Ohren geputzt bekam für kommende Klänge in New Wave und vielleicht auch für die Musik, die Brian Eno in den letzten Monaten gemacht hatte (daher sind seine beiden '77er Alben ebenfalls hier untergebracht...) Mit Iggy Pop, der mit Bowie nach Berlin kam und im selben Haus eine Nachbarwohnung bezog, nahm Bowie in dieser Zeit – sozusagen als Erweiterung seiner eigenen Vision von Rockmusik im Gegensatz zur Elektronik - die Alben The Idiot und Lust for Life auf - deren Musik auch größtenteils von ihm geschrieben wurde. Zusätzlich ging er als Keyboarder mit Iggy Pop auf Tournee. Die in der Berliner Zeit entstandenen Bowie- und Iggy Pop-Alben sind genau am Puls der Zeit – oder sogar ihrer Zeit voraus - indem sie vieles aus dem Post Punk/New Wave der beginnenden 80er vorwegnehmen. Brian Eno's Alben mit Cluster bzw. mit diversen Kollaborateuren bewegen sich genau im Umfeld der beiden Elektronik-LP-Seiten der Bowie-Alben und Eno hat Bowie – wie auf diesen Alben deutlich zu hören ist – massiv beeinflusst. Also: Bowie und Eno in einem Zug hören!! Es war allerdings auch das letzte Mal, dass Bowie den Riecher hatte, der ihn in den frühen Siebzigern zum Visionär gemacht hatte – was auch eindeutig den Musikern im Hintergrund zu verdanken ist: Eno, Conny Plank und den deutschen Bands der Stunde. Dieses letzte Mal passte für Bowie Alles zusammen.

David Bowie

Low

(RCA, 1977)

David Bowie

''Heroes''

(RCA, 1977)

Eigentlich hat Bowies Aufenthalt in Berlin eine Trilogie von Alben hervorgebracht, es fehlt hier das '78 veröffentlichte Album Lodger, aber ich halte mich an meine Jahres-Einteilung. Wenn man von seiner Berlin-Phase redet, ist Low der Startpunkt (obwohl der Vorgänger Station to Station schon einige Entwicklungen angedeutet hatte...) und es ist für mich ganz nebenbei sein bestes Album. Bowie hatte schon wieder genug vom Image des Thin White Duke, genug von den USA, war nach England zurückgekehrt, hatte dort mit Hitlergruß Fans verstört und war dann mit Iggy Pop in die geteilte Stadt gezogen, um dort Kunst zu studieren, sich mit elektronischer Musik zu beschäftigen, neue Ideen zu finden und mit seiner Heroin-Abhängigkeit klar zu kommen (was angesichts der Szene in der geteilten Stadt etwas unlogisch scheint – aber sei's drum...). Low ist ein Album mit zwei unterschiedlichen Hälften, die erste LP-Seite bietet Bowie im Songformat, zwar sind die Vocals schon seltsam gelayert, man bemerkt den Einfluss solcher Elektronik-Acts wie Kraftwerk in den roboterhaften Rhythmen, aber Songs wie das wunderbare „Always Crashing in the Same Car“ zeigendass er nach wie vor „Hits“ schreiben konnte und wollte. Die zweite Hälfte des Albums aber ist visionär, bildhaft, instrumental, elektronisch und schwierig ...und sie ist der Grund dafür, dass man den Namen Bowie noch lange mit Innovation verbindet. Dabei hatte der Mit-Produzent, Freund und Ambient-Erfinder Brian Eno mindestens genau soviel mit der Musik der zweiten LP-Seite zu tun wie Bowie selber. Eno hatte die gleichen Interessen an deutscher Elektronik und war genauso experimentierfreudig, und so schufen er und Bowie ein zweigeteiltes Meisterwerk in einer zweigeteilten Stadt. Highlight der instrumentalen Seite ist wohl „Warszawa“ - experimentelle Elektronik, die auch heute noch geht, Bowie jedenfalls sollte Brian Eno sein Leben lang zu Dank verpflichtet sein – auch für den zweiten Teil der Berlin-Trilogie. ''Heroes'' ist ein Album, das das Konzept und die Ideen von Low wiederholt und erweitert. Das Album ist ebenfalls in eine Song- und eine Elektronik-Hälfte unterteilt, die Songseite hat mit dem Titelsong einen von Bowies größten Hits dabei, die Rhythmik war besser ausgearbeitet, Robert Fripp trug sein unheimliches Gitarrenspiel bei. Und dieser Titelsong mag den Rest überstrahlen, aber „Beauty and the Beast“ und „Sons of the Silent Age“ sind ebenfalls große elektronische Popmusik und die Ambient-Seite der LP ist sogar noch gelungener und ausgefeilter als auf Low. Bowie begann sich im Experimentierlabor heimisch zu fühlen, „V2-Schneider“ und „Neukölln“ gehören zu den Stücken, die nun wirklich Bowies Ruhm bis weit in die Neunziger tragen sollte. Beide Alben sind bis heute kostbares Kulturgut.

Cluster & Eno

s/t

(Sky, 1977)

Also nun der Schritt in Richtung Experiment – genauer – in Richtung der Musik, die Bowie nach Berlin geführt hatte, und die ihn mit dem Ex-Roxy Music Innovator Brian Eno zusammenbrachte. Wie oben beschrieben teilten Bowie und Eno ihr Interesse an Bands und Musikern aus der Kraut- und vor Allem Elektronik-Szene Deutschlands. Brian Eno war Bowie in deren Kenntnis um einiges voraus: Er hatte im Vorjahr mit den beiden Cluster-Musikern Rodelius und Moebius und dem Neu! Gitarristen Michael Rother – die gemeinsam seit '74 das Projekt Harmonia betrieben – ein Album eingespielt, dass dann aber zwanzig Jahre lang unveröffentlicht blieb. Aber immerhin kam im August '77 sein musikalisches Projekt mit den beiden Cluster-Musikern als LP heraus. Eine in jeder Hinsicht befriedigende Kollaboration, Zu dieser Zeit mögen diese Sound-Experimente noch ziemlich ungewöhnich geklungen haben - und heute sind sie vielleicht nicht mehr überraschend – aber immer noch klingen sie seltsam schön: Das Moog-Vibrato bei „Schöne Hände“ klingt nach der Spannung bei der Erforschung eines feindseligen, fremden Planeten, Bei „Wehrmut“ und „Mit Simaen“ steht das Piano im Vordergrund, aber die wenigen Töne werden von Fremdgeräuschen aus dem Synthesizer aus der Klassik-Ecke in die experimentelle Musik verschoben. Die Musiker schaffen es u.a. durch die Kürze der Stücke, aber auch durch ihr Ohr für Melodie, dass diese „ambiente“ Musik nicht zur Klangtapete wird. Can Bssist Holger Czukay und Synthesizer Koryphäe Asmus Tietchens helfen hier und da aus, aber es sind Cluster und Eno zusammen, die den Mehrwert bewirken. Es ist die perfekte Synthese aus Krautrock und Eno, es ist das, was die Namen der Musiker versprechen...und es zeigt, wie viel Einfluss Cluster auf Eno hatten, und wie viel Einfluss Eno dann auf Bowie hatte. Eno jedenfalls ging im folgenden Monat nach Berlin, um an ''Heroes“ mitzuarbeiten – und Ende '77 kam sein fünftes Solo-Album heraus.


Brian Eno

Before And After Science

(Polydor, 1977)

und so kann man Before and After Science als eine Zusammenfassung der künstlerischen Entwicklungen und Ideen Eno's in den letzten Jahren betrachten. Die Entstehung dieses Albums zog sich tatsächlich über zwei Jahre hin – und viele Einflüsse aus diesem Zeitraum sind hier wiederzufinden. Es ist das letzte Album (für lange Zeit), auf dem Eno singt, es ist das letzte Album, das in manchen Momenten ein bisschen verschämt „Pop“ sagt. Eno hatte zunächst zwei Jahre zuvor dem Art-Pop seiner ersten Alben nach Roxy Music abgeschworen und in den letzten beiden Jahren meist instrumentale „Ambient“ Musik von funktionaler Schönheit gemacht. Er hatte – wie oben beschrieben - mit den Pionieren von Harmonia/Cluster zusammengearbeitet und kehrte mit Before and After Science auf einigen Songs noch einmal zum Songformat incl. Gesang – zurück. Aber Eno ist ein Musiker, der seine Erkenntnisse nicht einfach beiseite schieben kann, er lässt neue Ideen organisch aufeinander aufbauend in seine Arbeit einfließen. So gibt es auf Before and After Science Ambient mit Vocals, sogar mit den dazu passenden Lyrics. Es gibt aber auch Uptempo Stücke, die auch auf Here Come the Warm Jets gepasst hätten – Songs wie „Kings Lead Head“ (mit Free Drummer Andy Fraser und einem Titel, der ein Anagramm für den Bandnamen Talking Heads ist – die er bald produzieren würde..) und das wunderbar fließende „Here He Comes“ - Art Pop in schönster Ausführung, „Backeater“ bekommt seine Motorik von Can's Jaki Liebzeit, Fred Frith streut Gitarrensplitter über das ganze Album, aber das Beste und Neueste an diesem Album sind die vier abschließenden Ambient-Stücke.:„Julie With...“ ist der schwebende Trip durch einen halb-erinnerten Traum, „By this River“ ist Minimalismus par Excellence – geschrieben und eingespielt mit den beiden Cluster Musikern, „Through Hollow Lands“, ist pure Atmosphäre und das Schönste sind die viereinhalb Minuten von „Spider and I“. Pure Majestät, eine außerweltliche Gospel Hymne. Nur Talk Talk und Mark Hollis auf seinem Solo-Album würden später auf ähnlich elegante Art eine vergleichbare Atmosphäre erzeugen.


Iggy Pop

The Idiot

(RCA, 1977)

Iggy Pop

Lust For Life

(RCA, 1977)

Und um auf die Prä-Punk-Seite dieser Entwicklung zurückzukommen: Iggy Pop - der wilde Mann der Stooges – war mit Bowie gemeinsam nach Berlin gekommen, und beide müssen sich etliche Nächte gemeinsam um die Ohren geschlagen haben, beide waren Heroin Addicts, und beide erlebten in dieser Zeit in dieser Stadt ihre musikalische Wiedergeburt. Bowie half Pop wahrscheinlich mindestens so sehr wie Brian Eno ihm geholfn hatte. Iggy hatte zwei Jahre zuvor die Stooges aufgelöst und war dann dermaßen im Drogensumpf untergegangen, dass man nicht mehr mit ihm gerechnet hatte, zumal er immer wie ein Musiker gewirkt hatte, dessen Untergang logisch erschien.Mit seinem ersten echten Solo-Album The Idiot bewies er, dass er doch mehr war, als das Proto-Punk Tier. Bowie suchte ihm die Band aus, Bowie schrieb (gemeinsam mit) ihm Songs auf den ausgemergelten Leib, und Iggy verfasste Lyrics von einer Tiefe, die doch sehr überraschend kam. Seine Stimme sank um eine Oktave und das komplette Album bekam eine kraftvolle Tiefe und düstere Eleganz, die es zu einem der besten Alben seiner Zeit macht. „China Girl“, „Nightclubbing“ oder „Dum Dum Boys“ (über seine vorherige Band) wurden die feuchten Träume all der Post-Punk Bands, die da kommen sollten. Wie Low begründet The Idiot Iggy Pops Ruf weit in die Zukunft – und wie Low mit ''Heroes'' - hat The Idiot einen gleichwertigen (aber etwas weniger populären) Nachfolger in Lust for Life.Was möglicherweise daran liegt, dass der Unterschied zwischen den beiden ersten Soloalben Iggy's größer ist, als der zwischen Bowies beiden ersten Berlin - Alben. Zwar half Bowie auch hier aus und produzierte, aber Lust for Life ist Iggy Pop's eigenständige Rückkehr zum Rock'n'Roll. Immer noch war da eine gewisse düstere Selbstreflektion zu spüren, aber die beiden Brüder Hunt und Tony Sales an Bass und Drums waren ein formidables und kraftvolles Rhythmusgespann, das keine lasche Melancholie zuließ. Gitarrist Ricky Gardiner half nun beim Songwriting und schrieb mit ihm mit „The Passenger“ einen Song, der es mit allem, was die Stooges je gemacht haben, locker aufnehmen konnte.Und Iggy Pop wuchs auch als Sänger. Er hatte offensichtlich Texte geschrieben, die ihm ein dringendes Anliegen waren, die er mit Macht vortragen wollte. Es gelang ihm auf Lust for Life tatsächlich die Wildheit des letzten Stooges Albums Raw Power zu kanalisieren und mit der Intelligenz von The Idiot zu vereinen. Dies hier sind Alben, die Berlin für viele Musiker über Jahrzehnte interessant machten.