Dienstag, 30. Oktober 2018

1973 – Chile und Allende, Jom Kippur und Ölkrise – Lou Reed bis Stevie Wonder

Das Jahr 1973 wird politisch vor allem durch die Ölkrise und den Jom Kippur Krieg in Israel bestimmt. Da die OPEC den Ölpreis um 70% anhebt nachdem Israel sich im Krieg mit Ägypten und Syrien befindet, steigen die Benzin- und Rohölpreise weltweit gewaltig an. In Chile kommt es mit Unterstützung des CIA zu einem Militärputsch, bei dem der demokratisch gewählte Präsident Allende umgebracht wird. Augusto Pinochet wird für lange Jahre Staatschef und Folter und Mord werden vom Staat gegen alle demokratisch denkenden Menschen angewandt. Die US-Streitkräfte ziehen sich derweil langsam aus Kambodscha zurück und der unselige Vietnamkrieg nähert sich seinem Ende. Der amerikanische Präsident Richard Nixon wird nach der letztjährigen Aufdeckung eines Abhörskandals - dem sogenannten Watergate Skandal - tatsächlich wegen Amtsmissbrauchs angeklagt. 1973 werden DJ Shadow und Josh Homme geboren. J.R.R. Tolkien stirbt, ebenso der Country-Visionär Gram Parsons. Der Exorzist kommt ins Kino. Kommerziell und auch musikalisch wird 1973 noch vom Progressiv-Rock bestimmt und es ist die hohe Zeit der Rock-Alben. Pink Floyds kommerzieller Durchbruch, Mike Oldfields Tubular Bells, Genesis, Yes sind die Bands die man hört, allerdings bläht sich diese Art der Rockmusik auch immer mehr auf - und natürlich gibt es eine Gegenreaktion. David Bowie, Iggy Pop mit den Stooges, Lou Reed, Roxy Music und die New York Dolls machen eine andere, weniger opulente Rockmusik – und werden mehr und mehr gehört. Es ist Musik, die sich wieder auf die Grundlagen des Rock'n'Roll besinnt. Und Deutschland glänzt in diesem Jahr mit Meisterwerken des Krautrock, Country kehrt in Form der Outlaw-Bewegung ebenfalls zu seinen Wurzeln zurück und paart sich parallel mit Rockmusik, die Fusion aus Jazz und Rock gebiert immer mehr Kinder, Soul blüht immer noch, Southern Rock hat seine beste Zeit. Reggae wird in Europa wahrgenommen, überall gibt es eine reiche Ausbeute an sehr guter Musik, die 60er glühen in all dem höchstens noch nach. Man kann, wenn man die Ohren öffnet, die Vorzeichen der Punk-Revolte von 77 erkennen... allerdings wohl eher nicht in den Alben, die ich wegen mangelnder Qualität gerne ignoriere: Steve Miller's „The Joker“, The Sweet's„Ballroom Blitz“, Chicago VI – verkaufen sich wie geschnitten Brot, finde ich allesamt nicht ganz schlimm, aber auch nicht gut, dafür aber..

Lou Reed

Berlin

(RCA, 1973)

Nach dem überraschenden Erfolg von Transformer und vor Allem dem Hit „Take a Walk on the Wild Side“ durfte Lou Reed so ziemlich alles machen, was er wollte. Also versuchte er sich erst einmal an einem Konzept-Album über ein drogensüchtiges Liebespaar im geteilten Berlin. Die Reaktionen des Publikums und der Kritiker waren zunächst negativ, aber Berlin hat im Laufe der Jahre - vollkommen zu Recht - immer mehr an Reputation gewonnen. Natürlich ist das Album ein schwerer Brocken und gilt nicht umsonst als eines der depressivsten, schwärzesten Alben der Rockgeschichte, und Ja - es ist aufgeblasen, zumindest für Reed's Verhältnisse. Produzent Bob Ezrin holte einige Studiocracks dazu, Musiker wie Jack Bruce und Steve Winwood, es gab Bläser und ein großes Orchester, aber all das kann wieder einmal die Klasse der Songs und ihre erzählerische Kraft nicht überdecken. „Caroline Says“ ist eine andere Version des VU Stückes „Stephanie Says“, auch andere Songs beruhen auf ehemaligem Velvets-Material, das Titelstück ist von Lou Reed's ansonsten weniger erklecklichem Debütalbum bekannt, die Atmosphäre des Albums ist intensiv und hat irgendwie tatsächlich auch das morbide Flair des Berlin der 20er Jahre. Die Kritiker mögen zur damaligen Zeit den ungewohnten Pomp bemängelt haben, sich gewundert haben, dass Reed nicht Transformer Teil 2 liefern wollte, aber Berlin ist inzwischen zu Recht im Kanon der Klassiker in Reed's Diskografie angekommen. Seine Zerrissenheit zwischen Pop und Unkommerzialität wird inzwischen als Qualität erkannt. 

Lou Reed - Caroline Says II 


John Cale

Paris 1919

(Reprise, 1973)

John Cales Verehrung für Brian Wilson mag ein gut gehütetes Geheimnis sein, wer aber Paris 1919 - das zugänglichste und sicher „schönste“ Solo-Album des anderen Velvet Underground-Kopfes - gehört hat, wird den Einfluss des Beach Boys Masterminds erkennen. Nun ist Cale viel zu subversiv - oder zu stur und zu walisisch - um Songs über Liebe und Harmonie ohne einen Haken zu schreiben, das hinderte ihn jedoch nicht daran auf seinem dritten Solo-Album in klanglicher Schönheit und klugen Arrangements zu schwelgen. Chris Thomas - zuvor mit Procol Harum beschäftigt - produzierte und orchestrierte gemeinsam mit dem klassisch geschulten Cale, und die Musiker von Little Feat brachten ein süffiges Southern-Feeling ein. Konzipiert war Paris 1919 als literarisches Werk, als Ansammlung von Kurzgeschichten, und im Geschichten erzählen ist Cale auf diesem Album erstaunlich gut. Schon die Songtitel sagen alles: „Child's Christmas in Wales“, „Macbeth“ und „Graham Greene“! „Hanky Panky Nohow“ und „Half Past France“ sind melancholisch oder vergnügt und dabei berauschend schön, und das Titelstück, aufgebaut auf einem simplen Cellolauf, ist einer der besten Songs, die Cale je schrieb. Laut Aussage des Künstlers war das Album "An example of the nicest ways of saying something ugly...“ Vergleichbar barockes machte er allerdings nicht mehr. Paris 1919 bleibt ein Album voller wundersamer Schönheit. Man sagt, Brian Wilson habe nach dem Hören seinen Pyjama gewechselt. Und als PS: Dieses ist zusammen mit Veedon Fleece von Van Morrison mein absolutes Lieblings-Album.

John Cale - Half Past France 


Pink Floyd

Dark Side of the Moon

(Harvest, 1973)

Auch 1973 kann man als eines der „entscheidenden“ Jahre in der Rockmusik bezeichnen – und wenn auch nur wegen dieses Albums: Auf Dark Side of the Moon kondensierten Pink Floyd die Soundexperimente und instrumentalen Trips ihrer bisherigen Karriere zu Songs, ließen all das sauber produzieren und schufen eine kommerzielle Supernova. Die größte Erkenntnis die man aus dem Album ziehen konnte, war, wie fokussiert Pink Floyd mit ein bisschen Disziplin sein konnten. Roger Waters schrieb Texte über banale und profane Dinge wie Geld, Wahnsinn, Krieg und Religion – Ein-Wort-Themen sozusagen – und in Pink Folyd's atmosphärischem Soundkosmos entstanden mit ein paar wolhgesetzten Effekten und ein paar geschickt gewählten Melodiebögen Songs von großer emotionaler Tiefe und Bedeutung. Die Kraft, die von Dark Side of the Moon bis heute ausgeht, und die es nebenbei zu einem der bestverkauften Alben der Rockgeschichte macht, liegt in der Textur dieser Musik, die von Psychedelic Rock über Fusion und Blues wieder zurück zu Space Rock und Psychedelia changiert. Die Effekte sind mit Liebe zum Detail ausgedacht und klingen doch nie konstruiert, und das Songwriting ist simpel und exzellent. Pink Floyd mögen bessere Platten gemacht haben, aber Dark Side of the Moon würde sie für den Rest ihrer Karriere definieren – was Fluch und Segen zugleich war.

Pink Floyd - Us and Them 


King Crimson

Lark's Tongues in Aspic

(Island, 1973)

Das für's fünfte Album von King Crimson zusammengestellte Lineup brachte die Wende: Zusammen mit Ex-Yes Drummer Bill Bruford, dem Bassisten und Sänger John Wetton, Percussionist Jamie Muir und Geiger David Cross ließ Robert Fripp Jazz Jazz sein und erkannte im harten Rock das richtige Gewand für seinen purpurnen König. Am Anfang und Ende von Lark's Tongues in Aspic steht das im Laufe der Zeit in vielen Versionen reinkarnierte Titelstück, ein überlang hyperventilierendes Liedmonster mit all den vertrackten Rhythmen, mathematischen Disharmonien und irrsinnigen Gitarrenläufen, die man seither mit Fripp verbindet – und die in weiteren Jahrzehnten hunderte von Prog- und Math-Rock Vertretern beeinflussen sollten. Der Sound des verzerrten Bass, die kreischende Violine, die extrem körperlichen Percussion von Muir (der bald darauf die Band verließ um Mönch zu werden) und Fripps Gitarre machten King Crimson zu einem einzigartigen Klangerlebnis mit einem Sound, der für die nächsten drei Alben nur noch verfeinert werden sollte. Auf den drei an King Crimson anno '69 angelehnten Vocal Tracks sang John Wetton Lyrics von Richard Palmer-James (zuvor für Supertramp tätig) mit einer Stimme die in ihrer Kraft fast an die seines Vorgängers Greg Lake heranreichte, Lark's Tongues... ist sicher anstrengende „Brain Music“, aber es gelang der Band den emotionalen wie physischen Aspekt ihrer Musik zugleich herauszustellen. Ein Album das alle Synapsen zum schwingen bringen kann.

King Crimson - Larks' Tongues In Aspic Part I 


Can

Future Days

(United Artists, 1973)

Auch „Krautrock“ - die erste halbwegs eigenständige „deutsche“ Form von Musik seit den Zwanzigern - ist im Jahre '73 auf einem Höhepunkt angelangt. Bands wie Can sind gewissermaßen „etabliert“ - weil nun auch im englisch-sprachigen Ausland, wie man an diesem Album sieht: Es ist das dritte Meisterwerk des anarchistischen Kollektivs Can (...wie Drummer Jaki Liebzeit sie seinerzeit bezeichnete) und es hat zwar denselben Sound – als würden James Brown und The Velvet Underground miteinander jammen – aber die Wolken aus Acid haben sich verzogen und einem klaren Himmel Platz gemacht, unter dem sich trefflich reflektieren und aufeinander eingehen lässt. Damo Suzuki's Vocals (Ein letztes Mal, er verließ die Band um sich den Zeugen Jehovas anzuschließen) sind so ungewöhnlich wie immer, oft reine Improvisation, Michael Karoli's Gitarre deutet Melodien eher an und Jaki Liebzeits Drumming und Holger Czukay's Bass sind ein äußerst dynamisches Gerüst, auf dem alles schwingt und tanzt. Can verschwenden hier keine Zeit mit schwierigen Klangcollagen (wie beispielsweise bei „Aumng“auf Tago Mago ). Auf Future Days gehen sie tatsächlich in die Zukunft, das Album klingt mitunter wie eine analoge Version des 25 Jahre später erschienen Albums Moon Safari von Air (...die Can auch als Einfluss gewürdigt haben...) und Can zeigen hier einen feinen Sinn für Atmosphäre. Es driftet, fließt, hüpft und segelt dahin und macht manchmal regelrecht Angst, wenn es sich beim 17-minütigen „Bel Air“ etwa verträumt in Richtung Kollaps steigert. Vier langgestreckte Songs, die sich drehen wie Diamanten, die immer neue Facette zeigen ohne sich ein einziges Mal zu wiederholen. 

Can - Bel Air 


Iggy & The Stooges

Raw Power

(CBS, 1973)

Sollte Jesus irgendwann tatsächlich zu uns armen Seelen zurückkehren, um die Spreu vom Weizen, die Seligen von den Sündern und die Kenny G's von Iggy Pop zu trennen, dann wird er möglicherweise Raw Power auf seinem iPod haben. Und wahrscheinlich werden die Engel diese nitroglyzerin-haltigen Riffs mit ihren Gitarren als Thema spielen, wenn sie uns zur Hölle schicken. Rock'n'Roll ist nach der Meinung vieler Pharisäer Sünde, und wir werden zur Hölle fahren und dort all die anderen Sünder treffen, Kurt Cobain, Jimi Hendrix und Janis Joplin und natürlich Robert Johnson und den ganzen Rest der Ahnengalerie des Rock'n'Roll, aber für Gottes Sohn wird es ok sein, sich dabei "Search and Destroy" von den Stooges anzuhören, und wir werden wissen, dass er Iggy Pop einen ganz speziellen Platz gesichert hat. Warum? Weil niemand so singt, schreit und den Zorn Gottes herausgröhlt wie James „ Iggy Stooge“ Osterberg. Denn ER ist der Vater des Punk und Raw Power ist genau so apokalyptisch wie Krieg, Hunger und Pestilenz. Und Iggy mag nicht für unsere Sünden gestorben sein, aber er tat das Nächst-Beste: Er suhlte sich für den Rock'n' Roll in Blut, Pisse und Peanut Butter. Amen. - Und das noch als Nachsatz: Dass es heute eine Persiflage seiner Selbst geworden ist, gehört zur Sünde. Es hätte ja auch noch schlimmer kommen können, und er hätte die große Musik, die er bis ca '77 gemacht hat, via Adult-Rock völlig in den Schmutz ziehen können. 

Iggy & the Stooges - Search and Destroy 


New York Dolls

s/t

(Mercury, 1973)

Dass aus New York nicht nur die Velvet Underground/Lou Reed/John Cale Kreativzelle kommt – dass da auch andere Blumen des Bösen erblühen, zeigen Bands wie die New York Dolls – 1971 entstanden und wie die Stooges Vordenker von Glam und Punk... Nach diversen skandalös-glorreichen Live-Events kam es zum Plattenvertrag und zur ersten LP. Als Produzent wurde der namhafte Studio-Wizard Todd Rundgren ausgesucht, und der hätte die Dolls vielleicht auch einfach in ihrer schmierigen Proto-Punk Glorie ohne Studiospielereien aufnehmen können - das hätte vielleicht schon gereicht, aber auch mit seiner Zauberei wurde New York Dolls eine großartige LP- ein unsterbliches Rockalbum. Hier wurde die Atmosphäre von alten Horrorfilmen mit schmutzigen Gitarrenriffs gepaart, gespielt von fünf zugedröhnten Teilzeit-Transvestiten, denen es mit ihrem Image und ihrer Musik gelang, die hippen New Yorker Szene-Freaks zu unterhalten. Und wem sollte so etwas auch nicht gefallen? Irgendwie gelang es den Dolls in einem Chaos aus Drogen und Image sogar die für diese Zeit einmalige musikalische Melange aus Stones' Energie und Phil Spector Genie zu erschaffen. Der Underground-Starkult, den sie in der kurzen Zeit ihrer Existenz schufen, reicht weit über die 70er hinaus, Fans dieser Band waren unter Kritikern wie Musikern zu finden (Morrissey von den Smiths ist einer ihrer größten Fans) und ihre Form der Verkleidung wurde mehr noch als Bowie's Glam-Maskerade zum Vorbild für die Hair Metal Bands der Neunziger. Und unabhängig von Starkult und Image ist dieses Album ganz einfach eines DER Proto-Punk Alben der 70er – und weist somit weit in die Zukunft.

New York Dolls - Personality Crisis 


David Bowie

Aladdin Sane

(RCA, 1973)

Ziggy Stardust hatte David Bowie auf beiden Seiten des Atlantik zum Star gemacht. Aladdin Sane war ein deutlicher Schritt zurück aus dem Rampenlicht – und aus der Glam-Rock Welt von Ziggy und Hunky Dory's stylischer Pop-Welt. Es war daher kein Wunder, dass Aladdin Sane etwas unterging im Vergleich zu seinen Vorgängern – was wiederum selbstverständlich nicht wirklich berechtigt ist. Bowie machte in den gesamten 70ern fast alles richtig. Bei diesem Album war er der Glam-Klischees müde - nachdem er dieses Genre im Alleingang definiert hatte. Statt ein Stardust Redux zu erschaffen setzte er sich stilistisch zwischen alle Stühle und versuchte mit den Spiders of Mars Jazz, Rock, Lounge, Glam, Cabaret, und Pop auf einem Album zusammenzuführen – obwohl das Cover mit dem klassischen geschminktem Gesicht noch in Glam-Richtung feuert ist Aladdin Sane's charakteristischste Eigenschaft, dass es ein eklektizistisches Album ist, das eigentlich nur von Bowie's Stimme zusammengehalten wird. Bei vielen Künstlern ist eine solch schizophrenes Style Hopping nicht besonders vergnüglich. Bowie schuf mit dem Titelsong, „Lady Grinning Soul“ und „The Cracked Actor“ mindestens drei seiner besten Songs. Als Chamäleon war er wirklich gut – dass er bis zum Ende der Siebziger als Vorreiter für Post-Punk und New Wave fungieren würde, war schon hier deutlich erkennbar. '73 ist – wie man an den Alben der New York Dolls, Lou Reed's und von Bowie erkennen kann – eine Jahr, in dem Fundamente gesetzt werden .

David Bowie - Cracked Actor  


John Martyn

Solid Air

(Island, 1973)

John Martyn

Inside Out

(Island, 1973)

John Martyn mag als Folk-Musiker begonnen haben, aber die Grenzen des Genres hatte er 1973 schon längst gesprengt. Was nach meiner Meinung keine bewusste Entscheidung war, sondern sich zwingend aus seiner Musikalität und seiner Abenteuerlust ergab. Dazu muss man nur das Titel-Track von Solid Air hören (übrigens Nick Drake gewidmet - bevor dieser starb), bei dem er die Worte zerdehnt und zerkaut wie ein Jazz-Sänger, die Gitarrensaiten knallen lässt, ein Saxophon in Pharoah Sanders-Bereiche gleitet und die Melodie nichts Traditionelles mehr an sich hat. Da kommt dann der Nachfolger „Over the Hill“ fast wie die Vergewisserung daher, dass die Begleiter überhaupt noch Folk können – die sind nämlich auch aus dem Umkreis um Fairport Convention – und kommen natürlich mit der anspruchsvollen Musik bestens zurecht. Martyn's Gitarrenspiel mit dem Echoplex-Effektgerät bei „I'd Rather be the Devil“ sprengt dann noch einmal eine Grenze.... Und „May You Never“ sollte später von Clapton gecovert werden - vielleicht kann man beklagen, dass das Album Zeit braucht: Das Experiment überdeckt manche Schönheit, und man muss sich an seinen Gesang gewöhnen – aber es lohnt sich. Der ein halbes Jahr später veröffentlichte Nachfolger Inside Out ist die ideale Ergänzung. Das Album gilt als „noch experimenteller“ - nicht zu Unrecht. John Martyn ließ sich von John Coltrane inspirieren ( bei „Make No Mistake“), er setzt sein geliebtes Echoplex noch mehr ein und benutzt seine Stimme nun endgültig eher als Instrument denn als Organ zur Textverbreitung, aber immer noch und immer wieder gelingen ihm wunderschöne Songs wie „Fine Lines“, oder „So Much in Love With You“. Die These, dass die Intensität seiner Musik Katharsis war, kann ich nicht beweisen, aber die Songtitel weisen darauf hin – auf Inside Out heißt einer der Songs „Beverley“ - der Name seiner Frau, mit der er zu Beginn gemeinsam Musik gemacht hatte, die dann ihre Karriere beendete um auf Haus und Kinder aufzupassen, während er das exzessive Tourleben inklusive Frauen, Drogen und Alkohol führte. Der Stress muss groß gewesen sein... 

 John Martyn - Solid Air

 John Martyn - Fine Lines


Stevie Wonder

Innervisions

(Motown, 1973)

Schwarz, von Geburt an blind und in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen, und dennoch – oder eben deswegen - wurde Stevie Wonder zu einem DER Superstars des Soul. Nachdem Barry Gordy den Teenager zum Kinderstar gemacht hatte, hatte er sich seit seinem 21. Geburtstag von seinem Mentor emanzipiert, einen neuen, verbesserten Vertrag mit Motown ausgehandelt und in den letzten Jahren seine musikalischen Entscheidungen zunehmend selbst gefällt. Mit Music of My Mind und Talking Book vom Vorjahr hatte er sich dann endgültig von allen Fesseln befreit und schloss nun – gerade mal sieben Monate später – eine Trilogie von Alben mit seinem visionärsten und vielseitigsten Werk ab (… diese Sache mit den Album-Trilogien – da sollte ich mal drüber nachdenken. Siehe Dylan, Fairport Convention, Neil Young, Tom Waits etc...). Innervisions jedenfalls ist zwar explizit politisch, aber Wonder vermied es dankenswerterweise zu predigen, beim großartigen „Living for the City“ beschrieb er den Absturz eines Burschen vom Lande in Verbrechen und Drogen im faulen Big Apple, „Visions“,die Hitsingle „Higher Ground“, „Jesus Children of America“, sie alle behandeln seine Sorge über das auseinanderfallen der amerikanischen Gesellschaft und „He's Mista Know-It-All“ war direkt an Tricky Dick – Richard Nixon – gerichtet und vertonte die Empörung und Enttäuschung der Menschen über die Lügen ihres Präsidenten. Und all das gelang ihm mit Soulmusik die zunehmend mit Rock Elementen angereichert wurde und die durch Synthie-Sounds experimentell und zugleich ungemein funky klang. Kurz nach Fertigstellung des Albums hatte er einen schweren Autounfall, der ihn veranlassen sollte sich danach mit Spiritualität und der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Innervisions bleibt als eines der großen „politischen“ Soul-Alben bestehen und würde dann von Wonder nur noch einmal durch den Nachfolger Songs in the Key of Life 1976 übertroffen werden.

Stevie Wonder - Living for the City 








Freitag, 26. Oktober 2018

1979 – Talking Heads bis Slits - Musik nach Punk im UK und in den USA

OK, Punk ist 79 schon lange.... ich mag's schon gar nicht mehr sagen. Aber es gibt '79 noch hie und da ein letztes Zucken von Bands der „ersten Stunde“ - einen Auswurf, der die letzten Tropfen Rotz enthält und man kann vielleicht mit Recht Geldmacherei dahinter vermuten. Das heißt aber nicht, dass das erste Album der neuen John Lydon Projektes P.I.L. purer Kommerz ist. Aber ist diese Musik Punk? Was war Punk überhaupt? Doch eigentlich nur Musik, bei der mit einer bestimmten Haltung auf Althergebrachtes reagiert wurde. Und diese Reaktion war eine Explosion die ihre eigenen Reagenzien zerlegte. Also war Punk nur der kurze Knall dieser Explosion, und die Alben die wir hier unten sehen, sind die Produkte, die sich aus den herumfliegenden Trümmern entwickeln. Ich habe für dieses Kapitel zwölf Alben gerecht aufgeteilt in Post-Punk (das heißt jetzt so...) aus den USA und aus dem United Kingdom. In den USA war Punk anders, tiefer in einer „Kunst-Szene“ verhaftet als der proletarische und wütende „Punk“ der Pistols und der Clash aus Großbritannien. Inzwischen hat sich in NY der sog. No Wave – Disco – Polyrhythmus-Kram der Talking Heads und Contortions entwickelt, da gibt es im UK Funk-Punk von Gang of Four oder klinische Song-Skalpelle von Wire, an Progressive Rock und Bowie geschult. Da ist in Athens/Georgia der durchgedrehte Party-Spaß der B52's und auf der anderen Seite des Atlantik der feministische, von Virtuosität und Respekt befreite New Wave der Slits und Raincoats, oder der politisch/zynische Post-Punk der noch nicht institutionalisierten The Fall um Mark E. Smith. Oder der Noise-Punk von Pere Ubu und Red Crayola ... ich will hier zeigen, was für ein unglaublich breites Spektrum an Möglichkeiten sich nach Punk auftut – weil junge Leute der Ansicht waren, man müsste es dem selbstverliebten Rock-Establishment mal zeigen. Weil diese Leute das Anderssein und die Revolte, die Rock'n'Roll mal bedeutete, nun für sich und ihre Generation beanspruchten. Weil sie es schafften, das Prinzip „Weniger ist Mehr“ wieder in der populären Musik zu etablieren, weil sie sich aufgrund der Tatsache, dass sie eben NICHT Alles konnten, auf das Wesentliche konzentrierten: Auf eine Idee, ein Konzept, einen Sound, der sie abhebt von allem Alten und möglichst auch von der Konkurrenz. Es gibt in den Jahren vor und kurz nach 1980 so viel Musik, die wirklich revolutionär und NEU ist, dass ich hier nur ein Streiflicht werfen kann. Man könnte (und ich werde) noch viele andere Kapitel und Alben (be)schreiben und hinzufügen müssen...

Talking Heads


Fear Of Music

(Sire, 1979)

Die New Yorker Talking Heads existieren im Jahr 1979 schon seit vier Jahren – sind sozusagen Veteranen. Sie haben die New Yorker Version von Punk mitgestaltet, sie waren eigentlich schon immer Post-Punk, insofern als sie das Image des Punk von Beginn an konterkarierten – aber ich will hier auch keine Genre-Definitionen strapazieren – sie sind schon '79 eine der wichtigsten Bands dieser neuen Generation von Musikern, die sich nicht mehr in artifizieller Langeweile verästeln, sie sind immer noch neu und aufregend - und hier kommt das Bindeglied zwischen dem hektischen Zucken von More Songs about Buildings and Food und den hypnotischen Grooves des folgenden definitiven Meisterwerks Remain in Light. Fear of Music ist das Album, bei dem Brian Eno vom reinen Produzenten zum fünften Mitglied der Talking Heads wurde. Seine Vorstellungen eines Sounds für die Band deckten sich offenbar immer mehr mit dem, was die vier Musiker - und insbesondere David Byrne - wollten. Seine Klang-Ästhetik und seine Ideen wurden begierig aufgesogen und der kreative Austausch zwischen Band und Produzent wurde immer deutlicher erkennbar (...auch Eno profitierte natürlich von den Ideen der Talking Heads – siehe seine kommenden Solo-Alben...). Die Song-Strukturen sind nun ausgefeilter als auf den vorherigen Alben. Zwischentöne und Texturen werden immer experimenteller und wichtiger - was dem nach wie vor sehr konzentrierten Songmaterial eine weitere Dimension hinzufügt. Eine Dimension die dann auf dem folgenden Album vollständig ausgeleuchtet werden würde. Hier ist es gerade das Erforschen der Möglichkeiten, das dieses Album so exquisit und zeitlos macht. „I Zimba“ oder „Life During Wartime“ gehören mit zum Besten, was die Talking Heads je aufgenommen haben. Es sind Songs die bis heute gültig geblieben sind. Und das Cover Design von Gitarrist Jerry Harrison ist auch noch exquisit...

Talking Heads - I Zimba 


Wire


154

(Harvest, 1979)

Und auch im United Kingdom gibt es Bands, die nicht nur rotzen und 'prollen als wichtigstes Mittel ihrer Rebellion gegen das Rockmusik-Establishment und die Gesellschaft betrachtet haben. Wire machen '79 auch schon ihre dritte LP, sie hatten von Beginn an eine Art Post-Punk Konzept für ihre Musik – ein Konzept, bei dem es – wie ich finde – eher um Atmosphäre, Reduktion, Konsequenz geht, und bei dem die Beherrschung der Instrumente nur Mittel zum Zweck ist. Und mit diesem Konzept sind Wire in den drei Jahren ihrer Existenz schon einen weiten und anstrengenden Weg gegangen. Nach der unerfreulichen Manifesto-Tour mit Roxy Music sind die vier Musiker nicht mehr die verschworene Gemeinschaft, die zuvor Post-Punk/Art-Punk erfunden hat. Jetzt sind sie vielmehr heillos zerstritten, voneinander entfremdet und gehen sich aus dem Weg. So arbeiteten Graham Lewis, Bruce Gilbert und Colin Newman in getrennten Schichten an den Songs zu 154 und fügen die Ergebnisse teilweise erst im letzten Schritt zusammen. Nicht dass das der Platte geschadet hätte: Es gibt literarischen New Wave in „Map Ref.41°N 93°W“, bei dem Lewis' Lyrics („a deep breath of submission had begun“) mit kraftvoller Melodie und Newmans rohem Gesang kombiniert werden. Oder das fast gothic-hafte „I Should Have Known Better“ (I haven't found a measure yet to/ calibrate my displeasure yet), das die Entfremdung und das Unwohlsein der Musiker artikuliert. Der Einfluss von Bowie und Eno, Prog- und Art-Rock wird jetzt noch deutlicher - und inzwischen ist das Publikum ihnen in dieser Entwicklung von Punk zur eigenen Version von Post-Punk gefolgt. Aber die Band war - wie gesagt - ausgelaugt und zerstritten, und so beschlossen Gilbert und Lewis zunächst unter dem Namen Dome weiterzumachen während Colin Newman sich auf Solo-Projekte konzentrierte. Mit 154 endet die erste Phase in der Karriere von Wire. Sie kamen 1985 zurück – und blieben dann bis heute eine Institution, aber nach dieser Trilogie war - nicht nur für Wire - alles anders. Unter anderem, weil sie ja hier schon Alles gesagt hatten...

Wire - I Should Have Known Better 


The B 52's


s/t

(Island, 1979)

Auch das Debüt der B 52's spielt mit der Reduziertheit des Punk, aber die Fünf aus Athens/Georgia (wo demnächst auch R.E.M. entstehen) nahmen dazu Einflüsse von 50ies Girl-Groups und trashigen Pulp-Comics in ihre Musik, ihre Texte und ihr Image auf. Dazu spielten sie reduzierte Gitarrenriffs, ließen billige Orgeln quietschen und nutzten die erstaunliche Kombination aus Fred Schneiders harscher Stimme und dem an Ronettes und Shangri-La's angelehnten Gesang Katie Pierson's und Cindy Wilson's, die mit ihren übertriebenenTurmfrisuren auch noch extrem stylisch wirkten. Die 1976 aus ein paar Studenten ohne musikalische Vorkenntnisse entstandene Band benannte sich nach der in den Südstaaten üblichen Bezeichnung für diese Turmfrisuren und präsentierte sich von Beginn an als Gesamtkunstwerk, das insbesondere in der New Yorker Art-Punk-Szene schnell Furore machte. Und sie wurden bald tatsächlich erstaunlich erfolgreich, nachdem Chris Blackwell von Island sie entdeckt hatte. Es gab immer wieder die Kritik, dass bei ihnen Image weit über Qualität stünde, aber der marine Wahnsinn von „Rock Lobster“, der Sci-Fi Trash von „Planet Claire“ - beides veritable Hits - all die wunderbaren, überdrehten Songs wie „6060-842“ oder das kochende „Lava“ waren völlig neu und eigenständig in ihrer Kombination trashiger Versatzstücke – und machten auch allein als Songs gewaltigen Eindruck. Der geschmacks-sichere John Lennon outete sich als Fan und erklärte, die B 52`s seien der Grund für die wiedergefundene Freude am Songwriting. Wie gesagt: die Band, ihr Image, dieses Debüt sowie der gleich geartete Nachfolger sind ein wunderbares Gesamtkunstwerk, vielleicht zwischendurch ein wenig aus der Zeit gefallen, aber gänzlich einzigartig....

B 52's - Planet Claire 


The Fall


Live At The Witch Trails

(Step Forward, 1979)

The Fall


Dragnet

(Step Forward, 1979)

1979 ist auch das Jahr, in dem die Briten The Fall erstmals mit einem kompletten Album (dem von mir bevorzugten Format) daherkommen. Auch sie sind schon '76 – nach dem Besuch eines Sex Pistols Konzert – in Manchester entstanden, haben dort seit Mai '77 mit Joy Division, den Buzzcocks und anderen Bands aus ihrem Umfeld diverse Konzerte gespielt – und waren von vorne herein ein völlig einzigartiges Konstrukt. The Fall SIND Mark E. Smith, der Typ, der eher schimpft als singt, ein belesener Misanthrop (der Bandname entlehnt er einem Roman von Camus), dessen musikalische Vorbilder (Beefheart, Can, Velvets) man in seiner äußerst eigenständigen Musik etwas verzerrt wiedererkennen kann, wenn man will. The Fall sind ganz schlicht NICHT die nächste Post-Punk Band (… und die sind schon unterschiedlich genug), sie sind von Beginn an "Always the same, always different" wie ihr Fan und Förderer John Peel gesagt hat – und der MUSS es wissen. Nach ein paar Verzögerungen kommt '78 eine erste großartige EP heraus (Bingo-Master's Break-Out – auf meiner CD mit dabei...), nach etlichen Lobeshymnen in Radio und Presse wird dann an einem einzigen Tag das Debür Live at the Witch Trails aufgenommen – und das Besetzungskarussell dreht sich derweil in schwinderlerregendem Tempo um Diktator Smith... Der lässt sein austauschbares Personal simple Melodien bis zum Erbrechen wiederholen, häuft drauf etwas Krach und schimpft und krakeelt und schüttet Häme über die Gesellschaft, die Industrie, die Presse, England und die ganze restliche, hässliche Welt. Live at the Witch Trails hat sofort alle Qualitäten, die man für einen Klassiker braucht. The Fall klingen hier dank Yvonne Pawlett's Keybords und dank Martin Bramah's klingelnder Byrds/Punk Gitarren mitunter (für ihre Verhältnisse fast) angenehm blumig – aber das wird natürlich durch die VU/Beefheart-Anmutung der Songs (höre „Underground Medicine“ - nur als Beispiel) sofort konterkariert. Und Smith klingt wie Smith immer klingen wird (siehe oben). Tracks wie „Frightened“, „Rebellious Jukebox“ oder „Two Steps Back“ haben tatsächlich gewisse „Hit“ Qualitäten – es sind Songs zum Mitsingen – nur, wer will sowas singen? The Fall machen Fortschritte – Live und in ihrer Reputation bei der Hipster- Presse. Sie spielen mit Gang of Four und den Stiff Little Fingers, veröffentlichen eine tolle Single („Rowche Rumble“ - über die Pharma-Industrie und ihre Umwelt-Sünden) und nehmen dann noch im selben Jahr ihr zweites Album Dragnet auf. Wieder passt Joh Peel's Ausspruch "Always the same, always different" . Mit dem an Rockabilly geschulten Gitarristen Craig Scanlon und Bassist Steve Hanley sind zwei neue Leute dabei, die es sogar etwas länger bei The Fall aushalten werden, Mark E. Smith schüttet seine Häme über Alles aus, was ihm gerade einfällt, bei „Printhead“ ist die Musikpresse dran, „Psykick Dancehall“ könnte fast eine Hitsingle sein, „Dice Man“ bezieht sich auf eine Geschichte von Underground-Dichter Luke Reinhardt und beschreibt vermutlich ganz gut Smith's Haltung zur Musik: „They Say Music Should be Fun/ Like Reading a Story of Love/ But I Wanna Read a Horror Story“ und mit „Spectre Vs Rector“ gibt es einen weiteren kommenden Klassiker der Band. Inzwischen lässt John Peel die Band erste BBC-Sessions aufnehmen und lobt und verehrt sie immer lauter - und das ist berechtigt: Wenn die höchsten Qualitäten „populärer“ Musik in Intelligenz, Eigenständigkeit, Abwechslung und unbedingtem Stilwille liegen, dann kann man schon jetzt an The Fall nicht mehr vorbei. Anhören und nochmal anhören und sich 'dran gewöhnen und man kommt nicht mehr los davon. Dass The Fall in den nächsten Jahrzehnten bei einer Diskografie mit 31 (!) Studio-Alben und unzähligen Singles und EP's kaum ihr Niveau senken, ist da hilfreich. Kann nur teuer werden...

 The Fall - Two Steps Back

 The Fall - Psykick Dancehall


The Red Crayola


Soldier-Talk

(Radar, 1979)

The Red Crayola passen jetzt ganz prima hier hin: Die Band aus Texas pflegt einen ähnlich einzigartigen Umgang mit den Regularien der Popmusik wie The Fall, ihr Kopf Mayo Thompson ist ein ähnlich eigenartiger Sänger – und er hat '79 u.a. die Stiff Little Fingers und die unten vorgestellten Raincoats produziert (...1980 auch The Fall) - er hängt zu dieser aufregenden Zeit also auch in England 'rum. The Red Crayola allerdings existieren schon seit 1966, aber ihre ersten beiden Alben von '67 und '68 waren dereinst so far out, dass man sie getrost sogar heute noch innovativ nennen kann. Thompson hat inzwischen einen neuen Drummer, und vor Allem dieser Jesse Chamberlain versucht die Band als Songwriter in (relativ...) kommerzielleres Fahrwasser zu steuern - aber da sind Thompsons Wunsch nach Experimenten und sein seltsamer Gesang vor – zumal er sich alle Musiker von Pere Ubu und Lora Logic von den X-Ray Spex an Bord holt. Soldier-Talk war als eine Art Konzept-Album über Militarismus gedacht, Thompson und Chamberlain teilten sich die Gesangsparts und ihre unterschiedlichen Auffassungen von Musik sind durchaus hörbar – mitunter als Gewinn, mal als zu starker Kontrast. Chamberlain ist ein virtuoser, jazz-informierter Drummer und seine Beiträge sind beeindruckend, das Spiel der Pere Ubu-Mannschaft ist ebenfalls auf avantgardistische Art virtuos, so dass ich bei Tracks wie dem „March No. 14“ an britische Bands wie Henry Cow oder Art Bears denken muss. Aber wenn Mayo Thompson dann beim darauf folgenden Titeltrack seine Enten-Stimme dehnt und Lora Logic das Saxophon dazu quäken lässt, bleiben alle Vergleiche auf der Strecke. Ich weiss nicht, ob Soldier-Talk Post-Punk ist - oder Avantgarde-Rock oder was – es dürfte den Unerschrockeneren unter den The Fall-Fans jedenfalls gefallen haben, wenn sie es wahrgenommen haben. Für Red Crayola-Verhältnisse ist dies teilweise ein sehr genießbares Album, insbesondere die Tracks bei denen Chamberlain erkennbar die Zügel in der Hand hat, könnten beinah als normaler Post-Punk durchgehen – Post-Punk im Zerrspiegel immerhin. Dass ich im Anschluss hier das '79er Album von Pere Ubu beschreiben werde, versteht sich. Aber zuerst kommt die UK-Band...

The Red Crayola - Soldier-Talk (full album) 


Gang Of Four


Entertainment!

(EMI, 1979)

Gang of Four (nach der chinesischen „Viererbande“ - dem linken Flügel der kommunistischen Partei - benannt...) sind ein weiteres Beispiel für die stilistische Bandbreite des sog. Post-Punk. Auch Sie entstehen im Zuge des Punk-Aufruhrs 1977, auch sie werden von DJ John Peel mit ihrer ersten Single „Damaged Goods“ in höchsten Tönen gelobt, touren gemeinsam mit The Fall – und auch sie sind zumindest zu dieser Zeit wegen ihres Sounds aus hartem Funk-Bass, Tanz-Rhythmen, parolenhaftem Sprech-Gesang und Gitarren-Splittern unverwechselbar. Ihr Debütalbum Entertainment! ist früh-vollendet – an die Klasse dieses Albums kamen sie selber nicht mehr heran, selten habe ich ein so durchgehend spannendes Album gehört, ob „Damaged Goods“ - ihre Hit-Single, ob das folgende „Return the Gift“, ob das wieder darauf folgende hektische „Guns Before Butter“, ob der Anti-Love Song „Anthrax“ - es gibt keine verschwendete Sekunde. Ich musste mich an die konzentrierte Hektik, an die Überlappung von schwarzem Funk mit messerscharfem Post-Punk erst einmal gewöhnen – aber das ist eine Qualität - kein Nachteil. Andy Gill's Gitarrenspiel ist das Gegenteil aller Gitarren-Heroen der frühen Siebziger und zugleich virtuos auf beeindruckende Weise. Hugo Burnham (dr) und Dave Allen (b) spielen ihre Funk-Rhythmen mit einer Wucht, die jeden mitreissen muss. Dazu schrei-singt Jon King scharfe und intelligente politische Lyrics, die das Establishment im UK tatsächlich in Empörung versetzte: Bald wurden sie vom allmächtigen BBC verbannt und verloren die Unterstützung der Plattenfirma – aber die Saat war gesät. Der Einfluss dieses Albums (...die nachfolgenden sind auch nicht schlecht, aber nicht so toll wie dieses!) kann nicht überschätzt werden. Von Nirvana über die Red Hot Chilli Peppers bis zu den Post-Punk Epigonen der 00er Jahre (man höre nur das Debüt der Band Hard-Fi – ein nettes Imitat) haben etliche namhafte Musiker Entertainment! In den Himmel gehoben. Es gilt als eines der definitiven Alben der Siebziger. Zu Recht.

Gang of Four - Anthrax 

Pere Ubu


New Picnic Time

(Rough Trade, 1979)

Ganz lustiges Fakt am Rande – Post-Punk in den USA ist „älter“, hat eine längere Geschichte als im UK. Pere Ubu – die in diesem Jahr allesamt Mayo Thompsons Band The Red Crayola (gegr. 1966...) unterstützen – haben schon seit 1970 ihre eigene Geschichte (als Rocket from the Tombs). Ihre ersten beiden Alben Modern Dance und Dub Housing sind zwar erst im Vorjahr erschienen (siehe der Artikel über die Szene in Cleveland... ), aber sie ziehen schon seit Mitte der Siebziger ihre Kreise über Amerika's Underground-Szenen. Aber - na ja, vielleicht vertu' ich mich hier ja auch, und Pere Ubu sind nicht Post-Punk... Immerhin - Wer The Red Crayola mochte, kann mit New Picnic Time , Pere Ubu's drittem Album, vermutlich auch viel anfangen. Wenn Mayo Thompson's Gesang befremdlich klingt, dann ist der von David Thomas komplett verrückt. Der lacht, quaakt, jammert, grölt und macht mit seiner seltsamen „Fettes Kind-Stimme“ alles, was man als „Rock“ Sänger nicht darf. Dazu spielt diese so eigenartig virtuose Band einen Mix aus konventionellen Parts und Freak-Outs, die sich überlagern, abwechseln und unvermutet auf- und wieder abtauchen. New Picnic Time gilt gemeinhin als weniger beeindruckend als die beiden (zugegebenermaßen sehr einzigartigen) Vorgänger. Ich hebe dieses Album hiermit auf die gleiche Stufe. Wirklich zugänglich mag hier Nichts sein, ob es der hysterisch-fröhliche Opener „Have Shoes Will Walk (The Fabulous Sequel)“, ob Thomas' Sirenen-Geheul am Anfang von „All the Dogs Are Barking“, ob das zwischendurch so strukturierte Chaos von „One Less Worry“... dass die Band die Aufnahmen und die folgende Tour nicht überstanden und dass Gitarrist Tom Herman die Band verließ, höre ich hier nicht heraus. Wie wir wissen, kam ja dann Mayo Thompson von Red Crayola als dessen Ersatz dazu – bzw. machte Pere Ubu für die Aufnahmen zum oben beschriebenen Soldier-Talk erst einmal zu seiner Band. Somit endet die erste Phase von Pere Ubu mit einem sehr gelungenen, wenn auch weniger hoch eingeschätzten Album. David Thomas machte etliche Solo-Alben und Pere Ubu re-inkarnieren bis heute. Mindestens die ersten drei Pere Ubu Alben gehören in den Post-Punk Kanon.

Pere Ubu - One Less Worry 

The Pop Group


Y

(Radarscope, 1979)

Die gehören wohl auch hier hin. The Pop Group stammt aus Bristol, wo sich (auch '77 – aber nicht in Bewunderung der Sex Pistols...) ein paar junge Leute zusammengetan haben, um klare, linke politische Aussagen und eine steigende Wut über die erstarkten Konservativen bis Rechten in England in Musik irgendwo zwischen Dub, Reggae, Avantgarde, Free Jazz und Funk umzuwandeln. Heraus kommt in der Tat Post-Punk – Musik, die derjenige sich gerne anhören wird, der die Gang of Four oder P.I.L. mag. Natürlich sind an den fünf jungen Leuten die Erregung des Punk und die Befreiung des Post-Punk nicht vorbei gegangen – aber ich denke, man muss unterstellen, dass in dieser Zeit kein Musiker ein Label für seine Kunst verpasst bekommen wollte, egal was er machte - es sei denn, er oder sie versprach sich Popularität und kommerzielle Vorteile davon. So etwas kann man der Pop Group gewiss nicht vorwerfen. Heute mögen sich die dubbigen Bässe, die zersplitterten Gitarren, das von Jazz und Reggae inspirierte Drumming und Mark Stewart's Deklamationen nicht mehr ganz so erschreckend anhören – aber wir haben 1979 – da ist so etwas neu, seltsam, aggressiv, und weit weg vom Mainstream. Y - Das Debüt der Pop Group nach der sensationellen, für '79 ebenso exzentrischen Single „She Is Beyond Good and Evil“ wird in dieser Zeit nur von sehr offenen und neugierigen Menschen gehört, Tracks wie „Don't Call Me Pain“ werden von Dub/Reggae Produzenten Dennis Bovell komplett durch die Echokammer gejagt und zerstückelt, der Opener „Thief of Fire“ ist noch schön rhythmisch und fast „konventionell“, aber am Schluss wird bei „Don't Sell Your Dreams“ jede gewohnte Struktur gesprengt. Und all das ist logisch: The Pop Group sind linke Agitatoren, die Musik nur als Transportmittel für Aussagen nutzen. Dass sie mit ihren Aussagen zeitlos sind, kann man allein an der einen Zeile bei „Blood Money“ erkennen, wo Mark Stewart konstatiert: "Money's a weapon of terror". Gut erkannt. 

The Pop Group - Thief of Fire 

Devo


Duty Now for the Future

(Warner Bros., 1979)

Zurück in die USA, wo die aus Ohio stammenden (siehe mein kleines Kapitel 1978 – Da gab es auch eine Szene in Cleveland – Pere Ubu und Devo ) und inzwischen in New York beheimateten Devo ihr zweites Album gemacht haben. Zur Produktion gehen sie nach Hollywood, wo sie sich - nach Brian Eno beim Debüt – mit Ken Scott erneut einen Bowie-Produzenten an Bord holen. Der ordnet sich allerdings im Gegensatz zu Eno den Vorstellungen der Musiker unter – und so ist Duty Now for the Future vermutlich nah an den Ideal-Vorstellungen der Band, aber nicht ganz so gelungen wie das konzeptuell und soundtechnisch so aufregende Q: Are We Not Men? A: We Are Devo! An den Songs liegt es nicht – die sind teilweise schon drei Jahre alt und in Konzerten erprobt, aber der Reiz des Neuen scheint ein bisschen verflogen. Devo klingen auf diesem neuen Album wie eine der aktuell so erfolgreichen Synth-Pop Bands, aber die meisten Sounds sind immer noch mit Gitarre, Bass, Drums und Keyboards erzeugt und vielfach bearbeitet. Keine Ahnung – vielleicht lässt das dieses Album etwas schwachbrüstig klingen, Q: Are We Not Men... klang auch synthetisch – und zugleich sehr energetisch. Das geht diesem Album ab. Die Songs hingegen sind teilweise ganz hervorragend: „S.I.B. (Swelling Itching Brain)“ brächte nur etwas mehr Bass, „Blockhead“ ist im Sound näher am Debüt und hat auch dessen seltsam bekloppten Reiz, „The Day My Baby Gave a Surprize“ ist herrlich eigenartig und klingt so, wie nur Devo klingen können: Als hätten ein paar durchgeknallte Wissenschaftler Popmusik im Labor zusammengemixt, ohne zu wissen, um was es dabei eigentlich geht. Duty Now for the Future klingt heute vermutlich ein bisschen zu altmodisch, ist nicht so zeitlos wie das Debüt, aber Moden kommen und gehen – und kommen wieder. 

Devo - Blockhead 

The Raincoats


s/t

(Rough Trade, 1979)

und ich hüpfe wieder ins United Kingdom... Und wieder taucht Mayo Thompson auf... Der nämlich produziert das erste Album der Londonder Kunst-Studentinnen Raincoats. Auch die haben sich '77 als Reaktion auf die Alles-ist-möglich Attitüde des Punk zusammengetan – erst auch mit ein paar Männern im Line-Up, die dann wiederum zu den Barracuda's oder P.I.L. wechselten. Seit '78 sind sie eine all-female Band, die sich in der Londoner Hausbesetzer-Szene herumtreibt und improvisierend und sich bewusst der Virtuosität verweigernd in diversen Clubs auftritt. Das Indie Label Rough Trade findet Gefallen an Haltung und Musik der Band, die inzwischen mit der Violinistin Vicky Aspinall, Ana Da Silva (g, voc), Gina Birch (b, voc) und der Drummerin Palmolive von den gleichgesinnten Slits (siehe unten) als Gast ins Studio geht. Mayo Thompson wird als Produzent seine Freude an den selbstbewussten Musikerinnen gehabt haben, diesen scheinbar so undisziplinierten Haufen der zehn Tracks einspielt, die durch die Violine, durch schlaue und exzentrische Arrangements und Ideen und insbesondere durch das Zusammenspiel der Vier, das immer kurz vor dem Auseinanderfallen zu stehen scheint, so ganz neu und anders klingt. Das Album The Raincoats passt bei allem Individualismus, zu den Alben der Slits, Gang of Four, oder Pop Group – weil hier gegen jede althergebrachte Weise Musik als Kunst geschaffen wird. Und dabei sind Songs wie „Life on the Line“, „Fairytale In The Supermarket“ und das Kinks-Cover „Lola“ so gut gelungen, dass sie bis heute funktionieren. Dass eine Frauen-Bands in der konservativen Punk-Szene eine Ausnahme war, die sich mit dem Machismo innerhalb dieser Szene herumschlagen musste, sollte immer bedacht werden. Dass The Raincoats in allen Bestandteilen ein „piece of art“ - und ein selbstbewusstes femistisches Statement - ist, dürfte inzwischen bekannt sein. Damals bewunderte immerhin Johnny Rotten die Band, inzwischen haben Riot Grrls, Kurt Cobain und all wir Musik-Nerds erkannt, dass das hier ein hervorragendes Album ist. Jetzt musst nur du das noch erkennen...

 The Raincoats - Fairytale In The Supermarket


Contortions


Buy

(ZE Rec., 1979)

James White and the Blacks


Off White

(ZE Rec., 1979)

Aus New York kommen 1979 zwei quintessenziellen No Wave Alben, die mich persönlich an so manches erinnern, was in England The Pop Group, die Raincoats oder die Slits machen: Es sind die simultan veröffentlichten Geschwister-Alben von James Siegfried aka James Chance aka James White and the Blacks (Off White) und das Album Buy von dessen Band incl. Ihm selber unter dem Moniker Contortions. Zwei Alben mit der Musik, die Brian Eno im Vorjahr auf dem ganz hervorragenden Sampler No New York (siehe 1978 - Papst Johannes Paul I &II, J.R. Ewing und Dallas - Elvis Costello bis Big Star ) kompiliert hatte. Welches der beiden Alben „besser“ ist, kann ich ganz einfach nicht sagen. Chance/White hat ein musikalisches Konzept, das auf beiden Alben greift, es gibt allein schon wegen des identischen Personals Parallelen, für Off White hatte Chance (/White... ich nenne ihn ab jetzt nur noch Chance...) einen Deal mit dem Boss von ZE Records über 10.000 Dollar gemacht. Der wollte ein „Disco“ Album von Chance – in dessen eigener Sprache. So orientiert sich Off White an den Disco-Singles, die Chance in dieser Zeit bewusst hört, und es orientiert sich an James Brown (daher auch der Name James White – klar, oder?) und natürlich an Chance's Vorlieben für Free Jazz und Punk. So passt also das Etikett Dance-Punk fast genau - und wer den Opener „Contort Yourself“ hört, erkennt was damit gemeint ist. Und dass Chance im ersten Song von Off White („Contort Yourself“) sein „anderes“ Projekt in den Titel aufnimmt wird schlüssig, sobald man sich Buy von seinen Contortions anhört. Es ist erkennbar das gleiche Personal und der gleiche Sound aus Chance's freiem Saxophon, leiernden Gitarren-Licks und seiner Jungs-Stimme – die auf Buy aber einen gerne einen zynischen Unterton bekommt. In der Tat sind die Rhythmen auf diesem Album nicht ganz so auf Tanzbarkeit getrimmt, sind die Lyrics düsterer und näher am Nihilismus mancher britscher Punk-Acts – wenn er etwa über seine Freunde sagt: „Once I figure them out, they're a waste of my time“ - und wenn er das Motto „I prefer the ridiculous to the sublime“ postuliert. Auch auf Buy gibt es einen Track titels „Contort Yourself“ - aber hier wird er zu einem primitiven Free Jazz Ausbruch mit aggressivem Geschrei von Chance. Wo Off White ein hedonistischer und durchaus munterer Versuch in Disco via Jazz und Punk ist – eine Stilübung – da hat Buy die Botschaft: „Alles Fake, überall Idioten, aber so ist es nun mal, also lasst uns feiern“ Das ist New York Nighlife '79 in einer Nussschale. Dass dabei so typische und zugleich eigen- und einzigartige „New York-Musik“ herauskommt, ist begrüssenswert.

 James White and the Blacks - Contort Yourself

Contortions - Contort Yourself

The Slits


Cut

(Island, 1979)

Zum Schluss (weil es sonst zu viel wird...) und im Zusammenhang mit den Raincoats eine weitere britische all female (Post) Punk Band – eigentlich DIE feministische all female Band der damaligen Zeit. Die Slits sind in der erblühenden musikalischen Landschaft nach Punk tatsächlich - mehr als die Raincoats - so etwas wie die Superstars dieser Non-Star-Szene. Sie fangen schon1976 mit ihrer Musik an – sind also zur Beruhigung aller Kredibilitäts-Wächter - keine Kopisten, und erschaffen selber den Trend. Da sind zunächst die bald bei den Raincoats trommelnde Palmolive (eigentlich Paloma Romero) und die Sängerin Ari Up (Ariane Forster), die sich nach ein paar Personalwechseln mit Viv Albertine (g) und Tessa Pollitt (b) zusammentun und bald mit The Clash und den Buzzcocks touren – und sich bei diesen Auftritten einen hervorragenden Ruf als Live-Event erspielen. John Peel (ja, der schon wieder..) liebt sie und nimmt mit ihnen die üblichen Peel Sessions auf (sehr lohnendes Album, erst '99 veröffentlicht), dann lassen sie ihre Drummerin zu den Raincoats abwandern. Für ihr Debüt holen sie sich mit Budgie einen Mann als Gast an die Drums und lassen den von seiner Arbeit mit der Pop Group bekannten Reggae-Spezialisten Dennis Bovell produzieren. Der zähmt sie ein bisschen (klagen die einen) bzw. gibt ihnen die Reggae/Dub-Behandlung, die Cut zu seinem so erstaunlichen Album macht (sage ich...). Ich denke, egal, wie sie produziert werden, die Herangehensweise der Slits an Musik ist wunderbar experimentell, unvoreingenommen und sehr humorvoll. Sie klingen wie kaum eine Band in ihrem Umkreis – auch nicht so wie die Raincoats - aber sie haben mit Cut ebenfalls Unmengen von Musiker(inne)n beeinflusst, sind vermutlich DIE Ur-Riot Grrrl Band und wurden letztlich nie kopiert. Sie haben eigenwillige Songs wie „Instant Hit“ oder „Shoplifting“ irgendwo zwischen rudimentärem Punk, Dub und Kunst - und mit „Typical Girls“ ist auch noch ein echter Pop-Hit incl. Motto dabei. Um die revolutionäre Wirkung dieses Albums zu verstehen, muss man sich Folgendes bewusst machen: 1979 ist eine ganze Band aus MusikerINNEN die NICHT niedlich, zahm und sexy ist ein regelrechter Affront gegen das Establishment und gegen die Sitten, - und wenn diese Band auch noch selber kreierte Musik, ein Punk-Image (an sich schon schlimm genug) und ein solches Album-Cover hinlegt, dann nehmen die meisten Zeitgenossen das als Skandal wahr. Dass die Musik hier wunderbar eigensinnig, stilvoll und unterhaltsam ist, geht damals fast unter. Immerhin ist Cut inzwischen in fast allen Aufzählungen der wichtigsten Post-Punk Alben mit dabei. Zu Recht. Einflussreich UND aufregend – sogar heute noch. Was will ich mehr.

The Slits - Typical Girls 

Ach ja...


Wie gesagt, es gäbe noch einige bis etliche Alben die hier hin passten: Residents, Ruts, Swell Maps sind genauso ohne Zweifel der „Post-Punk“ der Cure oder Stranglers – aber die kommen anderswo vor. Und P.I.L., Joy Division und This Heat – die alle drei mit ihren '79er Alben hier hin MÜSSEN – sind im Hauptartikel/Blogeintrag 1979 - Atomunfall in Harrisburg, Khomeini im Iran und Maggie Thatcher in England - The Clash bis Lee Clayton beschrieben. Also siehe ebenda.











Sonntag, 14. Oktober 2018

1969 – Fairport Convention bis Sweeney's Men – Das „Golden Age“ des britischen Folkrock

1969 ist ein Jahr, das so voll mit epochalen Alben ist, dass ich selber in meinem „Hauptartikel“ ( 1969 - Nixon, Vietnam-Proteste und der erste Mensch auf dem Mond - Velvet Underground bis Moondog ) etliche Meisterwerke schmerzlich vermisse. So müssten die drei (3 !!) '69er Alben von Fairport Convetion eigentlich dort untergebracht werden – genau wie Nick Drake's Debüt, Scott Walker's viertes Solo-Album, Led Zeppelin's Debüt etc pp... Aber Fairport lassen sich auch wunderbar im Kontext mit Kollegen und Zeitgenossen beschreiben – so sind sie also hier gelandet (und Nick Drake's Five Leaves Left auf dem Haufen mit anderen Singer/Songwriter-Alben – so ist hier das Prinzip...) Im UK hat sich die psychedelische Revolution (mit ein bisschen Verspätung) durch Bands wie Pink Floyd oder The Soft Machine bemerkbar gemacht – und ist auch in den Kreisen weniger dogmatischer Folk-Musiker angekommen. Man tritt schließlich gemeinsam auf, und wer nicht sklavisch an den Vorbildern aus den traditionellen Musik-Bibliotheken festhängt, der kann nicht anders, als auch elektrische Gitarren, Improvisation und eine gewisse Hippie-Seligkeit in die alten Vorlagen einfließen zu lassen – oder direkt selber Songs zu schreiben, die die alten Vorlagen nicht verleugnen, aber auch die „moderne“ Form von populärer Musik in sich tragen. Dass dazu noch auf die andere Seite des Atlantik geschaut wird, dass Dylan und Joni Mitchell gecovert werden, ist nur logisch – zumal in den USA eine ähnliche „Modernisierung“ alter Vorbilder (Country in Country-Rock bzw. Cosmic American Music) stattfindet. Ob DAS in britischen Folkmusiker-Kreisen auch wahrgenommen wird, weiss ich nicht – in dieser Zeit gibt es noch kein Internet – aber die Tendenz, aus und mit Folkmusik eine neue Art von (Rock)Musik zu machen ist weltweit virulent und wird auch von sehr nah an den Traditionen arbeitenden Künstlern wie Shirley Collins praktiziert. Hier also Fairport Convention, The Pentangle, die Strawbs – und ein paar Alben britischer Musiker, die an der Grenze zwischen Folk und Singer/Songwriter stehen: Pentangles Bert Jansch, Michael Chapman, Roy Harper oder Al Stewart oder Bridget St. John arbeiten mit Vorbildern aus der englischen Musik-Historie – aber sie haben sich dabei als Verfasser ihres eigenen Materials emanzipiert – und hätten damit auch an anderer Stelle in meinem Blog Platz finden können... Auch ein Musiker und angeblicher Dylan-Adept wie Donovan Leitch ist ernst zu nehmender Folk-Musiker – oder Singer/Songwriter, wenn man ihn da haben will. Was auch für die (bei mir unvermeidlichen) etwas unbekannteren britischen Folk-Künstler gilt...

Fairport Convention


What We Did On Our Holidays

(Island, 1969)

Fairport Convention

Unhalfbricking

(Island, 1969)

Fairport Convention


Liege & Life

(Island, 1969)

Es gibt - außer den drei Dylan-Alben der Jahre 65-66 – keine andere Vinyl-Trilogie, die in der kurzen Zeitspanne von nur zwölf Monaten einen solchen Ausbruch an Kreativität dokumentiert und zugleich so einflussreich ist, wie die drei Alben der britischen Folk-Rocker Fairport Convention aus dem Jahr 1969. Ihr künstlerische Durchbruch gelang ihnen in diesem kurzen Zeitraum nach einem guten, wenn auch uneinheitlichen Debüt mit der neu (..von den Strawbs – siehe weiter unten) dazu geholten Sängerin Sandy Denny und mit einer Musik, die das beste aus britischem Folk und zeitgenössischem Singer/Songwriter Material vereinte – und dieses mit den Erkenntnissen aus Psychedelic Rock und Improvisation aus der Londoner Szene um den UFO-Club vermengte (sie hatten gemeinsam mit Soft Machine getourt!). Ähnlich wie Gram Parsons verbanden sie Musikstile miteinander, die von den vom traditionellen Folk geprägten Bands ihrer Zeit eher gemieden wurden. Dabei waren Songs wie das Eröffnungsstück „Fotheringay“ von Sandy Denny oder Richard Thompson's „Meet on the Ledge“ selber sehr stark vom britischen Folk beeinflusst – klingen in ihrer Melodik teilweise, als wären sie schon hunderte von Jahren alt, dazu gab es auf What We Did on Our Holidays aber auch einige klug gewählte Coverversionen von Stücken von Dylan („I'll Keep it with Mine“) und der zu dieser Zeit noch vollkommen unbekannten Joni Mitchell („Eastern Rain“). Aber all das hätte nicht funktioniert, wäre die Band nicht so perfekt ausbalanciert, wären da nicht Sandy Denny's großartige unverstellte Stimme und Richard Thompsons exquisites Gitarrenspiel und seine Fähigkeiten zu wild wuchernden Improvisationen. Auf What We Did... war der junge Ian Matthews noch dabei, bei den Sessions zum folgenden Album aber musste er die Band verlassen - und entfernte damit anscheinend seinen Teil der „amerikanischen“ Einflüsse aus dem Sound. Das fünf Monate später veröffentlichte Unhalfbricking ist ein Album des Übergangs, der Sound ist bei den eigenen Stücken noch stärker an britischem Folk ausgerichtet, aber es sind auch drei Dylan-Songs dabei, von denen insbesondere „Si tu dois Partir (If You Gotta Go, Go Now)“ beeindruckend ist. Auch die Version von „Percy's Song“ ist sehr gelungen, die Band schaffte es immer besser fremdem Material den eigenen Stempel aufzudrücken, die besten Songs sind jedoch Sandy Denny's „Autopsy“ und ihr berührendes und berühmtes „Who Knows Where the Time Goes“. Sie hatte sich in dem kurzen Zeitraum seit dem Anschluss an die Band zur prägernden Figur entwickelt, deren Songs insbesondere das Bild von Fairport prägte. Mit dem späteren Band-Mitglied Dave Swarbrick an der Violine wies das 11-minütige Traditional „A Sailors Life“ in die Richtung, in welche die Band in der Zukunft gehen sollte. Dass es dann schnell zu Veränderungen kam, lag allerdings nicht nur an der Experimentierlust der Fairports'. Dazu trug auch ein Schicksalsschlag bei, als bei einem Unglück mit dem Tour-Bus Drummer Martin Lamble und Richard Thompsons Freundin umkamen. Die Band versuchte das Unglück durch Arbeit zu verdrängen - und nahm noch im selben Jahr ihr definitives Meisterwerk auf. Auf Liege & Life ist Folk zwar immer noch wichtigster Einfluss, allerdings elektrifizierten Fairport Convention diesen nun auf unvergleichlich organische und gekonnte Weise. Geiger Dave Swarbrick war nun vollwertiges Bandmitglied – und Gegengewicht zu Thompsons Improvisationen, mit Dave Mattacks war ein neuer famoser Drummer rekrutiert worden, und Ashley Hutchings hatte das Cecil Sharpe House nach passenden Traditionals durchsucht. „Tam Lin“ und „Matty Groves“ sollten zu Favoriten werden, ihre Lesung hier ist definitiv, die Band nutzte das traditionelle Material um die instrumentalen Fertigkeiten strahlen zu lassen. „The Deserter“ z.B. klang in dieser Form dann kaum noch nach traditionellem Folk. Und Sandy Denny's Gesang war sowieso über jeden Zweifel erhaben, sie hatte sich als beste Folk Sängerin der Insel etabliert, Richard Thompsons Gitarre spielte in der gleichen Klasse, und seine Komposition „Farewell, Farewell“ paßte sich perfekt in das Material ein. Fairport Convetion waren auf dem Höhepunkt, und Liege & Life ist beredtes und zeitloses Zeugnis davon - aber statt den Status zu zementieren, verließen Hutchings und Denny die Band, um mit Fotheringay eine eigene Band zu starten.... und Fairport Convention wurden zum sich bis heute drehenden Karussell für Folk-Veteranen. 

 Fairport Convention - Fotheringay

 Fairport Convention - Who Knows Where the Time Goes

 Fairport Convention - Matty Groves

Strawbs


s/t

(A&M, 1969)

Für kurze Zeit war Sandy Denny Mitglied bei den Strawbs gewesen hatte auf deren erstem, zunächst nicht veröffentlichtem Album ein paar Songs eingesungen um dann zu Fairport Convention zu gehen. Das übrig gebliebene Trio um den Gitarristen und Sänger Dave Cousins bekam bald nach ihrem Weggang einen Vertrag bei A&M und spielte dieses gleichnamige Debütalbum ein. Natürlich profitierten die Musiker von ihrer großen Live-Erfahrung, aber auf den ersten Blick ist das hier recht traditionell angehauchter Folk Rock - allerdings hatte Dave Cousins die Stücke allesamt selbst geschrieben und sich damit als talentierter Songwriter ausgewiesen. Der später durch seine Zusammenarbeit mit David Bowie so bekannte Tony Visconti produzierte das Album und diverse Gastmusiker gaben den Songs reichen instrumentalen Background. Manche der Songs schienen direkt aus der Zeit der Königin Elizabeth I transferiert, „That Which Once Was Mine“ wird von Blockflöte getragen, die angeblich Visconti beisteuerte, der bekannteste Song ist wohl „The Man Who Called Himself Jesus“ - aber das Album enthält einige Highlights und funktioniert locker über seine knapp 40 Minuten Dauer. Strawbs wird angesichts der folgenden, moderner klingenden, rockigeren Alben der Band immer etwas stiefmütterlich behandelt. Zu Unrecht, es mag nicht so gut sein wie die Alben von Fairport, aber es bietet schönen Folk anno '69.



The Pentangle


Basket Of Light

(Transatlantic, 1969)

Dass es allerdings noch andere Wege gab, Folk in das neue Jahrzehnt zu führen, hatten schon in den Jahren zuvor The Pentangle bewiesen. Deren Stärken lagen eindeutig in den instrumentalen Fähigkeiten ihrer Mitglieder: Bert Jansch und John Renbourne konnten quasi alles was Saiten hat virtuos bedienen, Jerry Cox (dr) und Danny Thompson (b) waren zwar fest im Folk verwurzelt, hatten aber ein äußerst „jazziges“ Verständnis für Rhythmus – Insbesondere Bassist Danny Thompson würde sich – wie Jansch und Renbourne - über die kommenden Jahrzehnte als einer der ganz großen seiner Zunft entpuppen und Jacqui McShee's kristallklare Stimme war für Folk schon fast zu ätherisch. Mit der Single „Light Flight“ und dem Album Basket of Light im Gefolge hatten sie so etwas wie einen Hit in den Album-Charts (Jaja, so was ging 1969...). Aber das restliche Material – und hier insbesondere die eigenen Songs wie der psychedelische „Train Song“ (neben dem üblichen traditionellen Material) – war Folk-Jazz-Rock ganz eigener Prägung... sie schafften es ebensogut wie Fairport Convention auch traditionellem Material wie „Once I Had a Sweetheart“ ihren eigenen Stempel aufzudrücken und in ihre Zeit zu heben und ließen den selbst verfassten „Hunting Song“ klingen als wäre er vor 500 Jahren geschrieben und ins Hier und Jetzt versetzt... Nach soviel Märchen brauchte man damals wahrscheinlich die Stooges.

Pentangle - Hunting Song 


Bert Jansch


Birthday Blues

(Transatlantic, 1969)

Bert Jansch war in diesem Jahr eigentlich mit seiner Band The Pentangle beschäftigt, aber offensichtlich hatte er noch Material, das nicht in das Bandkonzept passen wollte: Auf Birthday Blues, seinem fünften Solo-Album spielte mit Jerry Cox und Danny Thompson zwar die Rhythmussektion von The Pentangle mit, und Jansch's und sein Gitarrenspiel wird man automatisch mit Pentangle in Verbindung gebracht haben, aber hier war das komplett selbstverfasste Material etwas blues-lastiger, teils durch dezente Orchestration und die Produktion des The Who-Produzenten Shel Talmy aus der reinen Folk-Ecke heraus gehoben.. Jansch's Gitarrenspiel ist natürlich über jeden Zweifel erhaben, nicht umsonst gilt er bis heute – zusammen mit Richard Thompson - als einer der besten Gitarristen Englands. Manche der Songs sind nicht ganz auf dem Niveau seines Debüt's von 1965, aber er hatte schließlich in kurzer Zeit eine Menge Material – Solo und mit Band - verfasster Immerhin war er gerade frisch verheiratet und das junge Glück ließ sich im Instrumental „Miss Heather Rosemary Sewell“ und bei „I've Got A Woman“ erahnen und schon allein der „Tree Song“ gehört zu Jansch's besten Kompositionen (… das will was heißen...) und lässt Birthday Blues – trotz des Titels – klingen, wie einen angenehmen Urlaub vom Bandalltag. Dass Jansch auch in den folgenden Jahren einen ganzen Haufen formidabler Alben aufnahm, die wegen ihrer Sparsamkeit und Coolness zeitlos geblieben sind, muss angemerkt werden...

Bert Jansch - Tree Song 

Shirley & Dolly Collins


Anthems In Eden

(Harvest, 1969)

Achtung ! Dieses Album ist hier in gewisser Weise ein Fremdkörper – es ist Folk – aber sowas von... Shirley und ihre Schwester Dolly Collins haben eine traditioneller klingende Herangehensweise an die Folk-Musik Großbritanniens als die in den Zeilen zuvor vertretenen Bands und Musiker, aber sie finden immer wieder – gerade WEIL sie sich der Idee des Folk als „Volks“ Musik verpflichtet fühlen eine wunderbar offene Herangehensweise an ihr Material. Für ihr erstes gemeinsames Album Anthems In Eden suchte sich das Geschwisterpaar somit ganz logisch und konsequent Traditionals aus, verfasste aber auch ein paar Songs selber, coverte mit „God Dog“ die Incredible String Band und vertonte dieses Material im Gegensatz zu anderen Folk-Bands der Zeit mit mittelalterlichen Instrumenten. Die komplette erste Seite des Albums erzählt in „A Song Story“ eine Geschichte aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, getragen von, Dolly Collins` unheimlichem Harmonium und Shirley Collins wunderbarem Gesang. Die hat (man muß es wirklich betonen!) eine Stimme, die so nur in England möglich zu sein scheint und die nach exakt den Arrangements verlangt, die Dolly Collins zusammen mit David Munrow durch Instrumente wie Kornett, Krumhorn und Dudelsack herstellte. In Songs wie dem irischen Folk-Frühlingsboten „Bonny Cuckoo” - allein Shirley's Stimme und ihr Banjo - oder bei der ernsten Warnung vor dem unsicheren Kantonisten “Rambleaway” entsteht dadurch eine außerweltliche Atmosphäre – eine Atmosphäre die heute eher an den (archaisch/ modernen) Freak Folk der beginnenden 00er Jahre erinnert, die vielleicht gerade dadurch außerhalb aller Modernismen besteht. Auch Anthems in Eden ist ein Meilenstein des Folk der späten Sechziger – aber einer, der wenig mit dem Folk-Rock Fairport's gemeinsam hat...

Shirley & Dolly Collins - Rambleaway 

Michael Chapman


Rainmaker

(Harvest, 1969)

Auf Michael Chapmans zweitem Album kann man schon allein an der Liste der Mitwirkenden erkennen, wes' Geistes Kind der Mann war: Danny Thompson von Pentangle spielt Bass, der spätere Bowie Sidekick Mick Ronson hilft an der Gitarre aus, Blues-Drummer Aynsley Dunbar trommelt, und der spätere Elton John Intimus Gus Dudgeon produziert das Ganze. Ja, Chapman selber war von vorne herein stark von Jazz und Blues beeinflusst, aber er hatte seine Erfahrungen dann in Folk-Kreisen um Roy Harper und John Martyn gesammelt, und Rainmaker ist definitiv ein Folk-Album – mit etlichen Auswüchsen in andere Richtungen. Womit es in ein Jahr wie 1969 passt. Michael Chapman selber war (und ist) einer der ganz großen Gitarristen – er spielt hier sowohl elektrische Gitarre als auch akustisches Folk-Picking – stilistisch irgendwo zwischen John Martyn und Bert Jansch, aber zweifellos auf deren Niveau. Er ist ein hervorragender Songwriter, mit einem Sinn für kluge Lyrics und feine Hooks - und mit einer unnachahmlich gleichmütigen Stimme, der man kaum anhört, dass er erst kurz vor Beginn der Aufnahmen begonnen hatte, zu singen. Schon im Opener „It Didn't Work Out“ erzählt er weltmüde und fatalistisch von einer zerbrochenen Liebe, „No One Left to Care“ hat bedrohliche Untertöne, klingt nach Folk und Blues und bekommt durch die offen gestimmte Gitarre einen regelrechten Drone verpasst. Heute wird Chapman als britisches Pendant zu John Fahey gehandelt – inzwischen passt das auch durchaus – aber er bleibt ein völlig eigenständiger Künstler. Leider ging Rainmaker in einem Jahr wie diesem in der Flut der fantastischen Alben unter. Es ist aber inzwischen mindestens in Kenner-Kreisen als Diamant anerkannt.

Michael Chapman - No One Left to Care 


Roy Harper


Folkjokeopus

(Liberty, 1969)

Roy Harper ist Vielen eher als Freund und Mitspieler der Pink Floyd-Mannschaft aus deren erfolgreichsten Tagen bekannt. Die Alben, die er in der Zeit seit Ende der Sechziger selber machte, wurden nie so erfolgreich, wie sie es verdient hätten. '69 hat er schon zwei Alben hinter sich – mit Musik, die sich zunächst noch stark an den psychedelischen Klängen ihrer Zeit orientieren – die er aber auch da schon mit seinem sturen Individualismus, mit deutlicheren politischen Positionen, als Ende der Sechziger in diesen Kreisen üblich, mit komplexen Kompositionen, die gerne mal die 10-Minuten Marke überschreiten und mit sehr versiertem Gitarrenspiel kennzeichnet. Das dritte Album Folkjokeopus läutet Harper's eindeutige Hinwendung zum britischen Folk ein. Nun wird der Ton seiner Stimme klarer erkennbar, die Folk-Einflüsse sind vor Allem beim zentralen „McGoohan's Blues“ erkennbar, einem 18-minütigen Epos, der Dylan erblassen lassen könnte. Hier redet Harper sich gegen die kapitalistische techno-theokratische Gesellschaftsordnung in Rage, und bezieht klar Position, wo andere Musiker im Ungefähren bleiben. ("...and the world that Christ fought is supported by using His name). Andere Tracks sind noch vom (zeitgemäßen) britischen Psychedelic Rock dieser Tage geprägt, aber sie haben alle Eigenschaften, die Roy Harper so besonders machen: Sein virtuoses Akustik-Gitarrenspiel, seine ungewöhnlichen Harmonien, seine eigenwillige, etwas nasale Stimme. „In Time of Water“ arbeitet mit Raga-Motiven, „Composer of Life“ könnte der Incredible String Band an einem guten Tag eingefallen sein und „Some Control“ und „Manana“ rahmen „McGoohan's Blues“ mit ebenso scharfen wie witzigen Lyrics ein. Keine Ahnung – vielleicht war Harper für den Durchschnitts-Hörer immer ein bisschen ZU zynisch und eigenwillig. Andere Musiker haben ihn immer wieder bewundert und er hat einige ganz großartige Alben geschaffen. Dieses ist das erste in einer Reihe, die in den kommenden Jahren folgen wird. Höhepunkt wird dann das '71er Album Stormcock. Das MUSS man haben.

Roy Harper - McGoohan's Blues 


Al Stewart


Love Chronicles

(CBS, 1969)

Der Glasgewian Al Stewart wird (in meiner Generation...) vermutlich immer mit seinen Mitt-Siebziger Folk-Pop Hits verbunden werden: Mit Songs wie „Year of the Cat“ und „Time Passenger“ und dem Sound, den er sich von Alan Parsons auf den Leib schneidern ließ. Dass Stewart davor sechs sehr gelungene Folk-Rock Alben abgeliefert hatte, ist weniger bekannt – und Schade. Stewart ist ein feiner Gitarrist, ein noch besserer Texter/Geschichten-Erzähler und Songwriter mit etwas zu freundlicher Stimme (für meinen Geschmack immerhin...). Aber wenn ich (...nur Ich...) über diese Manko hinweghöre, kann ich ein Album wie Love Chronicles nur rückhaltlos bewundern und empfehlen. Dass Love Chronicles so naiv freundlich/fröhlich klingt kommt nicht von ungefähr. Al Stewart war zu jener Zeit frisch verliebt und hatte Songs und Texte, diese Liebe zu preisen – und er hatte Songs und Texte in denen er deutliche soziale Kommentare abgab. Nehmen wir nur „Life and Life Only“, seine Fortsetzung von Dylan's „It's Alright Ma (I'm Only Bleeding)“ wo er singt: „Mr Willoughby/ Who's only luxury/ Is the sugar in his tea...“ oder die fast acht-minütige „Ballad of Mary Foster“, in der das Leben der Nachkriegs-Generation mit all seinen spießigen Regeln und Enttäuschungen auf's bildhafteste beschrieben wird – er hat eine Art, den Alltag zu beschreiben, die im 17-minütigen, natürlich autobiografischen Titeltrack ihren Höhepunkt findet. Und noch etwas spricht für dieses Album: Als Begleiter hat er vier Mitglieder von Fairport Convetion an seiner Seite – unter anderem den großartigen Richard Thompson, sowie den zu dieser Zeit extrem populären Led Zeppelin-Gitarristen Jimmy Page (und auf einem Track auch Led Zep Bassist John Paul Jones). Instrumental steht das Album also auf einem hohen Podest. '69 ist ein Jahr, in dem hervorragende Alben im Wochen-Rhythmus erscheinen, vielleicht ist Love Chronicles wegen dieses Überangebots relativ obskur geblieben. Dazu ist britischer Folk trotz seines End-Sechziger Popularitäts-Schubes immer eine Sache für Liebhaber und Kenner geblieben. Würde ich gerne hiermit ändern...

Al Stewart - Life and Life Only 


Al Jones


Alun Ashworth Jones

(Parlophone, 1969)

Der Gitarrist und Folk-Singer/ Songwriter Alun Ashworth-Jones macht sich zunächst in der Musik-Szene Bristol's einen Namen, spielt im Trio mit dem Harmonika-Player Elliot Jackson und dem späteren Folk-Club- und Magazin-Gründer (Folk Roots...) Ian A. Anderson (… der mit Ian Anderson von Jethro Tull nichts zu tun hat...) Blues, ehe er sich Richtung London und Folk orientiert. Er freundet sich mit Pentangle's John Renbourne und Bert Jansch an – die seine Fähigkeiten als Gitarrist, Sänger und Songwriter schätzen, spilt im In-Club „Les Cousins“ und lernt dort etliche bald bekannte Musiker kennen (John Martyn, Nick Drake, Gordon Giltrap – und den Folk-Producer Sandy Roberton...) und bekommt die Gelegenheit seine Songs für das Parlophone Label aufzunehmen. Das nach ihm benannte Album ist ein weiterer versunkener Edelstein. Warum da kein größerer Erfolg zustande kam, ist ein bisschen rätselhaft und vor Allem Schade. Die Songs sind verträumter elektrischer Folk mit Blues-Anleihen, mit prominenter Flöte von Harold McNair und mit der in diesem Zusammenhang wunderschönen und erstaunlichen Steel-Gitarre von Gordon Huntley. Bass spielt der spätere Jazz-Könner Percy Jones, dazu beweist Jones beachtliches Können an der gitarre bei Instrumentals wie „Ire and Spottiswoad“ und dem durch die Steel fast country-haften „River Bend“, aber all das instrrumentale Glitzern wäre Selbstzweck ohne Songs wie „Siamese Cat“ oder einen Song wi „Big City", bei dem er seine Erlebnisse mit seinem Freund Anderson in London vertont. Dass Jones nicht weiter Musik machte, hat viel mit Pech, unglücklichen Entscheidungen, schlechter Promotion und zu wenig Interesse an eine „Pop“ Karriere zu tun. 1972 kam noch ein etwas profaneres Folk-Album zustande und dann machte Jones erst in den Neunzigern wieder öffentlich Musik, dieses Album hier gibt es als CD mit haufenweise Bonus-Material, es lohnt sich danach zu suchen, die '69er LP ist gebraucht extrem teuer...

Al Jones - Siamese Cat 


Bridget St. John


Ask Me No Questions

(Dandelion, 1969)

Mit Bridget Anne Hobbs aka Bridget St. John kommt eine britische Solo-Künstlerin an die Reihe, die sich selber als musikalische Verwandte von John Martyn und Michael Chapman bezeichnete, eine Künstlerin, die den Namen des Radio DJ's John Peel ins Spiel bringt, der die Folkrock-Explosion jener Jahre genauso wach verfolgt, wie er die gesamte Rockmusik von Beat bis Techno klug verfolgt hat. Peel gründet 1969 ausdrücklich wegen ihr das Dandelion Label und verschafft ihr so die Möglichkeit ihre Musik an die Öffentlichkeit zu bringen. St. John hat zuvor mit Al Stewart Songs für die berühmten Peel Sessions ein paar Songs aufgenommen, Ask Me No Questions wird dann von John Peel selber in wenigen Stunden aufgenommen und bietet auf zwei Songs John Martyn als Gast... Und all das namedropping darf nicht von der Klasse ihrer Songs, ablenken, von der Eigenständigkeit und Kraft ihrer dunklen Stimme, die an Nico denken lässt – eine Nico ohne Akzent und mit Sinn für Melodik allerdings. Ask Me No Questions ist noch sehr sparsam aufgenommen - was den Songs einerseits gut tut, aber auch eine gewisse Eintönigkeit erzeugt – die folgenden zwei Alben für Dandelion sind dann „üppiger“, aber Songs wie „I Like To Be With You in the Sun“ oder „Autumn Lullaby“ brauchen keine Verzierungen. Man könnte sie mit Nick Drake vergleichen (der hier auch hingehört – ich weiss – aber er ist eben im Artikel Singer/Songwriter untergekommen – da könnte St- John auch hin...). Oder man kann sie mit der frühen Chan Marshall aka Cat Power vergleichen. Andererseits braucht sie keine Vergleiche. Man höre nur den absurden Text und die bezaubernde Melodie von „Lizard-Long-Tongue Boy“ - Folk(rock) 1969 ist ein Fest der Individualität (und Exzentrik). Bridget St. Johns erste drei Alben sind toll.

Bridget St.John - Lizard-Long-Tongue Boy 


Ralph McTell


Spiral Staircase

(Transatlantic, 1969)

Hier nun zwei Künstler, die weit mehr Erfolg hatten, als Al Jones oder Bridget St. John – zu Recht oder zu Unrecht ? Finde ich nicht... Ralph McTell etwa hat zu seinem Glück oder Unglück – mit „Streets of London“ den einen, lebenslangen Hit, der ihm vermutlich das Leben finanziert hat – und alle anderen künstlerischen Entäußerungen erdrückt haben dürfte. Er ist ein versierter Gitarrist und Harmonika-Spieler, beeinflusst von alten Bluesmusikern wie Robert Johnson und Blind Blake, er ist ein hervorragender Storyteller, der mehr zu bieten hat, als nur den einen Hit, der dieses Album eröffnet. Er lässt sich auf Spiral Staircase – seinem zweiten Album übrigens – von der hervorragenden aber unbekannten Famous Jug Band begleiten, wo nötig (auch John Peel-Favoriten übrigens), dazu verpasst ihm der bald mit Elton John so erfolgreiche Gus Dudgeon (der auch Michael Chapman produziert hatte – siehe oben) eine warme, mitunter ein bisschen plüschige Produktion mit ein paar Orchesterparts. McTell's Folk ist melancholisch und nah am Blues, aber er ist weit mehr, als der eine Hit vermuten lässt. Da sind Song-Preziosen wie „Daddy's Song“, „England 1914“ oder der Closer „Terminus“, die zwar ein bisschen in ihrer Zeit gefangen scheinen, aber zugleich wunderbares Songwriting bieten. Und der Jug-Band Sound und das bluesige Fingerpicking sind sehr gekonnt und eigenständig – wie in der Beschreibung des Bridget St. John-Albums gesagt: Folk(rock) 1969 ist ein Fest der Individualität 

Ralph McTell - England 1914 


Donovan


Barabajagal

(EMI, 1969)

"Goo goo goo goo barabajagal" - Der Refrain des Openers und Titelsongs von Donovan Leitch's neuntem Album ist gewiss kein textliches Highlight in seiner bunten Karriere. Tatsache ist – Ende der Sechziger bemüht sich Donovan (wie Dylan, mit dem er immer wieder ein bisschen unfair verglichen wird...) eher um musikalische Veränderung als um politische Texte, welche seine Fan/Folk-Basis befriedigen könnten. So gehen beide Musiker, Dylan und Donovan, von nun an in neue musikalische Richtungen, Dylan wird erfolgreich als Pionier in den Bereichen Country und Folkrock, Donovan beginnt Kinderlieder und indische Einflüsse zu verquicken – und hat damit weniger Erfolg – seine beste Zeit hat er nun scheinbar hinter sich. Und Barabajagal ist noch an der Grenze zwischen Folk, Rock und Kinderlied. Da ist eine Albernheit wie „I Love My Shirt“, die aber – man muss es zugeben – auch Spaß macht, da ist der Titelsong mit seinen Blödsinns-Refrain – bei dem aber die hart rockende Jeff Beck Group incl des Gitarrenvirtuosen für Wucht und Spannung sorgt. Das Album ist extrem eklektizistisch, es „Folk“ zu nennen ist eigentlich verfehlt – aber ein Song wie „Happiness Runs“ zeigt, dass Donovan durchaus noch Folk kann. Ganz einfach: Barabajagal hat – wenn man genauer hinhört - einige tolle Songs, die auch Freunden des Folk und Folkrock gefallen könnten. „Atlantis“ ist ein beatlesker mystischer Pop-Song, auf „Trudi“ sorgt wieder Jeff Beck und seine Band für mehr Kraft, als Donovans Stimme eigentlich verträgt – aber der hatte ja auch früher schon mit Rrrock-Gitarristen gearbeitet (Jimmy Page und John Paul Jones begleiteten ihn auf diversen Sessions – siehe übrigens auch Al Stewart... die mochten Folk bekanntermaßen gerne und waren in dieser Szene äußerst aktiv). Da gibt es noch die erwähneswerte Single „To Susan on the West Coast Waiting“ mit deutlicher Anti-Kriegs Message. Donovan war zu der Zeit auf jeden Fall als Songwriter in guter Form – und wer mehr von DIESEM Donovan will, sollte sich am nachfolgenden Album Open Road erfreuen können. Donovan's Karriere hat seit '65 acht Jahre bzw. elf Alben lang eine erstaunliche Konstanz.

Donovan - Barabajagal 


Sweeney's Men


The Tracks of Sweeney

(Transatlantic, 1969)

Zuletzt (in diesem „Kapitel“ der Geschichte der populären Musik) muss ich von Sweeney's Men berichten – einer der besten irischen Folk-Bands, die sich um die Modernisierung der irischen Folkmusik auf sehr eigene Art verdient gamacht hat. Irgendwann Mitte der Sechziger hatte die Band als Trio in Irland begonnen, irgendwann kam mit Terry Woods ein 12-String Gitarrist dazu, der in den USA gewandert war, und der amerikanisches Folk-Liedgut mitbrachte, irgendeiner des Trios brachte eine Bouzouki mit, ein anderer die Konzertina und Sweeney's Men nahmen ein etwas traditionelleres Debüt auf, traten auf dem Cambridge Folk Festival auf, verloren dort den zwischendurch dazu geholten Henry McCullough (...der dann irgendwann auch bei Paul McCartney's Wings mitspielen wird!!) an Joe Cocker's Grease Band und machten hier als Duo aus Terry Woods und Johnny Moynihan ihr zweites Album. Eines, das irische, schottische und amerikanische Folkmusik auf's wunderbarste verbindet. The Tracks of Sweeney (der Name ist einem Roman des absurd-komischen irischen Schriftstellers Flann O'Brien entnommen) ist in seinem freien Umgang mit den Wurzeln des Folk nah an der Incredible String Band, es gibt mit „Hall of Mirrors“ - von Woods und Moynihan geschrieben – unfassbar schönen psychedelischen irischen Folk, mit „Afterthoughts“ einen, der nah an Nick Drake's beste Songs kommt, und mit „Dreams For Me“ einen weiteren Song, der die Grenzen irischer Folkmusik ganz ganz weit in Richtung Folkrock verschiebt. The Tracks of Sweeney ist ein unzweifelhaftes Highlight unter den Veröffentlichungen des Jahres '69, auch hier ist die Obskurität unverdient. Die Band löste sich noch '69 auf, aber Terry Woods machte mit seiner Frau Gay als The Woods Band 1971 eine weitere tolle LP, spielte mit Steeleye Span, Dr. Strangely Strange, den Pogues etc... und John Moyniham ging zu den tollen Planxty, deren erste zwei Alben mindestens gehört werden müssen.

Sweeneys Men - Hall of Mirrors 


Zum Abschluss


Wie hier schon mehrmals im Text dargestellt – die Grenzen zwischen Folk, Folkrock, Psychedelic Rock und Singer/Songwriter-Zeug sind fliessend – gerade in einer Zeit wie dieser - Ende der Sechziger - als die Jugend sich von Zwängen und Reglementierungen jeder Art via Rock'n'Roll befreit hat. Zumal viele Musiker sich gerne genre-übergreifend gegenseitig inspirieren und helfen, aus Clubs wie dem UFO, dem Les Cousins und diversen Touren und Festivals kennen. Also ist die Auswahl hier oben weder dogmatisch, noch verpflichtend als irgendein Leitfaden. Ich habe eher nach Lust und Laune Alben kombiniert, Nick Drake einen Singer/Songwriter genannt, T.Rex als Vorläufer des psychedelischen Freak Folk in einem anderen Kapitel eingeordnet, in das The Pentangle oder die Collins-Schwestern genauso gut passen würden. Dies ist meine Auswahl der besten Folk-Alben 69 – hör' sie dir an - kann man alles auf Spotify oder YouTube finden. Es ist seltsamerweise sehr zeitlose Musik – vielleicht WEIL sie sich auf Vorbilder beruft, die entstanden, als es außer mündlicher Überlieferung keine musikalischen „Dokumente“ gab – was diese Musik so frei macht..