Donnerstag, 25. Juli 2019

1959 – Fidel Castro und die Barbie-Puppe – Miles Davis bis Marty Robbins

Es ist das Jahr, in dem Fidel Castro auf Kuba die Macht übernimmt und damit den USA den bösen kommunistischen Feind vor die Tür setzt, in dem Alaska und Hawaii Bundesstaaten der Vereinigten Staaten werden. In diesem Jahr lehnen sich die Menschen in Tibet gegen die chinesische Bestzung auf, der Dalai Lama flieht ins indische Exil und das bisherige Staatsgebiet Tibet wird von China annektiert. US Präsident Richard Nixon und der russische KPdSU Parteichef Nikita Chruschtschow besuchen sich gegenseitig, um den kalten Krieg ein bisschen zu erwärmen. In Ruanda kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen der Hutu und Tutsi mit hunderten von Toten – ein Vorspiel zu den Massakern 35 Jahre später. In der Schweiz erhalten tatsächlich nun auch erstmals Frauen das Wahlrecht, die erste Barbie-Puppe kommt auf den Markt und in New York wird das Guggenheim-Museum eröffnet. Mit Buddy Holly, „The Big Bopper“ und Richie Valens sterben bei einem Flugzeugabsturz drei wichtige Protagonisten des Rock'n'Roll. Der Tag geht in die Geschichte ein als „the day the music died“. Und mit der Sängerin Billie Holiday und dem Saxophonisten Lester Young sterben zwei der einflussreichsten Jazzmusiker ihrer Zeit. Berry Gordy gründet das Soul-Label Motown Records. 1959 ist aber auch das Geburtsjahr von Morrissey, Susannah Hoffs (Bangles) und Sade Adu. In diesem Jahr mag Rock'n'Roll auf dem Rückzug sein – Elvis ist bei der Armee, seine Konkurrenten und Epigonen sterben oder werden weichgespült, dafür aber geht Jazz mit großen Schritten in eine revolutionäre Richtung – siehe Coleman, Mingus und Miles Davis, und einige der wichtigsten Alben des modernen Jazz werden veröffentlicht. Auch einige der alten Blues-Musiker machen sehr gute Alben, in der Countrymusik halten Musiker wie George Jones oder Marty Robbins einen hohen Standard, Nina Simone und Ella Fitzgerald machen tollen Vocal Jazz und der junge Ray Charles erfindet Soul. In NY treibt erstmals Dion mit seinen Belmonts sein Unwesen und der junge Blues-Forscher John Fahey macht (noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit) große Gitarrenmusik.

Miles Davis

Porgy and Bess

(Rec. 1958, Rel. 1959)

Miles Davis

Kind Of Blue

(Columbia, 1959)

Miles Davis Quintet

Workin' With the Miles Davis Quintet

(Prestige, Rec. 1956, Rel. 1959)

1959 ist das Jahr, in dem Miles Davis' kommerziell und vielleicht auch künstlerisch bedeutendstes Album aufgenommen und veröffentlicht werden wird – Kind Of Blue transzendiert Jazz, mehr noch als John Coltrane's A Love Supreme – und erschließt ihn breiten Hörerschichten, die eigentlich mit Jazz Nichts anfangen können – aber dazu mehr weiter unten... denn zunächst beweist Davis mit seinem im Vorjahr in Zusammenarbeit mit Gil Evans eingespielten Album Porgy and Bess, dass er auf vielen Hochzeiten tanzen kann. Mit den Beschränkungen des BeBop unzufrieden und beeinflusst von einer Ballett-Aufführung seiner damaligen Freundin wollte er George Gershwin's von europäischer klassischer Musik beeinflusste Oper in Jazz übersetzen. Gil Evans hatte ihn schon beim '57er Album Miles Ahead auf die Möglichkeiten der Verbindung zwischen Orchester-Musik, Klassik und Jazz angefixt, die beiden kannten sich schon seit den 40ern, Evans hatte die 49er Aufnahmen zu Birth of the Cool arrangiert – und er würde mit Davis im folgenden Jahr die Sketches of Spain arrangieren. Welches dieser Alben nun das bessere ist, ist ein beliebte Frage unter Nerds – und so unerheblich wie die meisten solcher Fragen. Porgy and Bess ist Big Band-Sound in modern, Third Stream sagt man auch dazu, Davis Trompete übernimmt den prominenten Platz der Sänger/innen – mit Beredtheit und wunderbarer Coolness – Die Songs zu diesem Meisterwerk moderner amerikanischer Klassik sind sowieso über jeden Zweifel erhaben, Gershwin war ein Könner mit einem untrüglichen Gespür für ins Ohr gehende Melodien. Aber Davis und Evans übernehmen auch Gershwin's atonale Ausbrüche, das Orchster soll hier und da etwas steif geklungen haben – das mögen die Jazz-Kenner heraushören, mich ficht das nicht an, weil hier (für mich) Jazz, Klassik und Avantgarde die schönste Paarung ergeben. Müsste ich Tracks hervorheben, so wären das die Hits „Summertime“ und „It Ain't Necessarily So“ - aber das ist Rosinen-Pickerei. Big Band Sound ist das hier jedenfalls nicht – es ist ein weiteres Meisterwerk Miles Davis' – das wie gesagt gefolgt wurde von - Kind of Blue - welches aus zwei Gründen gerne als eine der wichtigsten Platten des Jazz bezeichnet: Zum Einen ist es bis heute das meistverkaufte – das heißt dann auch tatsächlich das „populärste“ - Jazz-Album aller Zeiten, aber vor Allem fallen auf diesem Album tatsächlich all die von Davis in den letzten Jahren zusammengesuchten Puzzleteile an ihren richtigen Platz. Dafür hatte Miles Davis im Frühjahr '59 zu den Sessions die besten Musiker des Jazz dieser Tage versammelt: John Coltrane, Bill Evans, Cannonball Adderley, Paul Chambers und Jimmy Cobb – die übrigens für ihre Dienste nach Tarif bezahlt wurden. Davis kam zu den Sessions, ohne die Stücke vorher mit seinen Musikern geprobt zu haben und setzte die Themen erst kurz bevor die Tapes zu rollen begannen - denn er verließ sich (zu Recht) darauf, dass seine Mitstreiter kongenial zu improvisieren vermochten. Eines der Geheimnisse dieses Albums dürfte sein, dass es hier nie so klingt, als wollten die Musiker sich gegenseitig die Show stehlen oder gar übertrumpfen. Der Hörer wird mit sanftem Piano und einer gediegenen Bassline bei „So What“ in das Album hinein gelockt, das Tempo wird nur noch minimal verändert, das relaxte Feeling hält sich über die ganze Albumlänge. Kind of Blue ist der Höhepunkt des modalen Jazz, bei dem die Improvisation minimalistisch ist, die Musiker ruhig, manchmal fast wie in Meditation versunken klingen, ohne dabei aber die Spannung zu verlieren. So ist Kind of Blue wohl aufgrund seiner Ruhe und Schönheit - unabhängig von aller Theorie - mehr als „nur“ Jazz, es ist einer der Höhepunkte der Musik des 20. Jahrhunderts – über alle Genre-Grenzen hinweg. Da dürfte dann im Vergleich die Resteverwertung des Prestige-Labels unter dem Titel Workin' With the Miles Davis Quintet dem Kenner fast enttäuschend erschienen sein. Na ja, das Album wurde im Dezember '59 zum Weihnachts-Geschäft veröffentlicht, es ist ein weiteres Ergebnis der legendären Sessions an zwei Tagen Ende Oktober 1956, die Vertrags-Erfüllung, damit Davis damals zu Columbia wechseln durfte – aber nach unwillig geleisteter Arbeit klingt das auch nicht. Workin... ist von den vier Ergebnissen dieser Sessions (Relaxin'..., Steamin'..., Cookin'... und eben dieses hier) vielleicht das „freundlichste“. Was sicher am Opening Track „It Never Entered My Mind“ liegt, eines der wärmsten und liebevollsten Stücke, die Davis je gespielt haben wird. Auch Pianist Red Garland berührt die Tasten meist mit Samt-Handschuhen, aber auch bei „härteren“ Tracks wie „Four“ oder „Ahmad's Blues“ herrscht eine Leichtigkeit, die nach guter Laune klingt. Die Tatsache, dass John Coltrane (der hier Saxophon spielte) noch nicht als der ganz große Solist zu erkennen ist, mag auch mit Davis' Ego zu tun gehabt haben. Immerhin wären sicher hunderte von Jazzern dieser Zeit froh gewesen, solches Material auf die Welt loslassen zu können. Und dennoch: Nur die beiden anderen '59er Miles Davis Alben sind unverzichtbar.


Ornette Coleman

The Shape Of Jazz To Come

(Atlantic, 1959)

The Shape of Jazz to Come wurde genau wie John Coltranes erstes Solo-Album Giant Steps im Mai 1959 aufgenommen, aber im Gegensatz zu diesem auch 1959 – auch auf Atlantic - veröffentlicht (Verstehe einer die damalige Veröffentlichungspolitik der Labels). Jedenfalls war der Titel des zweiten Solo-Albums von Ornette Coleman durchaus als Provokation zu verstehen. The Shape Of Jazz To Come kann mit Fug und Recht als Erste Free-Jazz LP bezeichnet werden. Coleman war zu dieser Zeit mit seiner Verweigerung gegenüber den geläufigen formalen Vorgaben des Jazz – und aufgrund seines Verzichtes auf einen Pianisten - revolutionärer, als sich das heute anhören mag. Auf The Shape of Jazz to Come ist im Grunde noch alles melodisch, die Rhytmen sind nachvollziehbar, die Musiker folgen durchaus gemeinsam den Themen, aber hier wurde erstmals – und zwar bewußt – auf konventionelle Harmoniewechsel verzichtet – und damit die gerade neu geschaffenen Regeln des Modal Jazz gebrochen und hier hielt kein Klavier die Musik zusammen. Die Soli klingen dadurch frei, die Solisten wollen und sollen Gefühlen nachspüren statt instrumentale Finesse zu präsentieren, sie laufen auseinander, finden aber immer wieder zusammen. Coleman hatte mit Trompeter Don Cherry, Bassist Charlie Haden und Drummer Billy Higgins das perfekte Personal gefunden, - eines, das vielleicht – genau wie er – nicht technisch so versiert war wie andere Zeitgenossen, dafür aber seiner „emotionalen“ Herangehensweise folgen konnte und ihm in noch viel „freiere“ Bereiche folgen würde. Die Reaktionen auf diese LP waren seinerzeit extrem, Coleman war als radikaler Verweigerer berüchtigt, und wurde wegen seiner vergleichsweise geringeren Virtuosität verachtet - um so seltsamer, wenn man heute Tracks wie das wunderbare „Lonely Woman“ oder das gefühlvolle „Peace“ oder das organisierte Chaos von „Eventually“ hört. Mit diesem Album beginnt die Jazz-Avantgarde.


Charlie Mingus

Mingus Ah Um

(Columbia, 1959)

Charles Mingus' Debüt für Columbia, Mingus Ah Um ist so etwas wie eine Zusammenfassung all seiner Talente und eines der besten Alben, um in seine Musik hineinzufinden - auch für Hörer, die sich sonst kaum an Jazz heranwagen. Ah Um ist sofort zugänglich und es sind ein paar von Mingus besten Songs/Kompositionen darauf enthalten, Songs, auf denen er sein Können als Arrangeur und Motivator beweist. Er hatte für die Sessions zu diesem Album eine erprobte Band aus Musikern, die ihn kannten, die die Mischung aus Improvisationsfreude und Unterordnung unter den „Sinn“ seiner Kompositionen und Strukturen garantierten. Da waren die Saxophonisten John Handy, Shafi Hadi und Booker Ervin, die Trombonisten Jimmy Knepper und Willie Dennis, der Pianist Horace Parlan und der Drummer Dannie Richmond ... aber die Namen sind egal – was hier zählt ist das Team – und die Songs, von denen mindestens drei sofort zu Standards wurden (das ist Jazz' für „Hit“). Es beginnt mit dem spiritual-artigen „Better Get It in Your Soul“, in rasantem 6/8 Rhythmus, punktiert von begeisterten Gospel Shouts. „Goodbye Pork Pie Hat“ ist eine langsame und würdevolle Elegie für den großen (kurz zuvor verstorbenen) Saxophonisten Lester Young. Und dann ist da natürlich das höhnische „Fables of Faubus“ - ein Song der (nicht zum letzten Mal) Mingus' deutliches politische Engagement in musikalische Form gießt. Es geht um den Gouverneur von Arkansas, der als strikter Verfechter der Rassentrennung hier den Spott und die Wut der versammelten Mannschaft auf sich zieht. Es ist schon faszinierend, wie stark diese Emotionen in der (übrigens ursprünglich NICHT rein instrumentalen) Musik zur Geltung kommen. Die Texte wurden für das Album tatsächlich von feigen Plattenfirmen-Angestellten gestrichen. Und die restlichen Songs: Aggressiver Swing bei „Boogie Stop Shuffle“, das Ellington-Tribut „Open Letter to Duke“ oder etwa das sanfte „Self-Portrait in Three Colors“ sind genauso unterhaltsam. Mingus Ah Um bietet tatsächlich Musik einer „Big Band“ (im wörtlichen Sinne), die ich toll finden kann, ohne diese Art von Jazz wirklich analysieren zu wollen/müssen.


Dave Brubeck

Time Out

(Columbia, 1959)

Dave Brubeck's Time Out ist vermutlich von den Verkaufszahlen her ähnlich erfolgreich wie Miles Davis' Kind of Blue. Und es ist ein weiteres der Art, die sowohl Jazz-Fans als auch solche, die selten Jazz hören, in ihrer Playlist haben. Und dabei ist Time Out auf musik-theoretischer Seite weit experimenteller als Kind of Blue. Mit diesem Album wurde es tatsächlich fertiggebracht, einen Umbruch im Jazz so angenehm zu verpacken, dass man nur, wenn man genau hinhört (oder versucht den Takt mitzuzählen), die Komplexität der Musik erkennt. Time Out ist ein Album voller cleverer und teuflisch schwer zu spielender Musik, in der bewusst „ungerade“ Rhythmen mit Strukturen aus Klassik und Jazz.verquickt werden. Pianist und Komponist Dave Brubeck's Crew - bestehend aus Paul Desmond (sax), Eugene Wright (b) und Joe Morello (dr) - hatte sich vorgenommen, alle bekannten und üblichen Taktarten bewusst außer Acht zu lassen (daher auch der Titel des Albums: Taktarten = Time Signatures). Dass die Kompositionen dabei aber genauso bewusst melodisch angenehm bleiben sollte, ist wohl der Grund für den Crossover-Erfolg des Albums – und der Grund dafür, dass Jazz -Snob's das Album bis heute gerne verächtlich betrachten. Mir egal: Stücke wie „Blue Rondo A La Turk“ (im 9/8tel Takt) und vor Allem das weltbekannte „Take Five“ (im 5/4tel Takt) sind in meinen Ohren schlicht cool. Tatsächlich spielt hier der Begriff Cool Jazz eine große Rolle: Keine wahnwitzigen Soli sondern Atmosphäre und intelligentes Miteinander sind am wichtigsten. Time Out ist als komplettes Album vor Allem rhythmisch revolutionär. Dave Brubeck wollte damit vielleicht keine Grenzen niederbrechen, wie Ornette Coleman es mit seinem Ausruf „Free Jazz!“ spätestens in einem Jahr machen wollte – er wollte einen Teilbereich des Jazz erweitern, ohne das Publikum dabei zu verschrecken... auch ehrenwert. Ach ja – der Cover-Designer von Time Out und Mingus Ah Um (Neil Fujita) hatte '59 viel zu tun...


Art Blakey & the Jazz Messengers

s/t (Moanin')

(Blue Note, 1959)

Während die meisten anderen hier vorgestellten und empfohlenen Jazz-Alben des Jahres '59 entweder bewusst oder unfreiwillig revolutionär waren, ist es auch mal erfreulich, eine wirklich gelungene Platte zu hören, die ganz den Stil ihrer Zeit einfängt: Hard Bop in perfekte Form gegossen. Der Drummer Art Blakey hatte mit seinen Jazz Messengers schon Mitte der Fünfziger eine der Kaderschmieden des modernen Jazz geleitet, aber Drogen hatten die Band implodieren lassen. 1958 kam dann der Saxophonist Benny Golson neu in die Band und drehte Alles auf Links. Mit neuen Musikern – dem Trompeter Lee Morgan, dem Bassisten Jymie Merritt und dem Pianisten Bobby Timmons und vor Allem mit einigen tollen Songs hauchte er den Messengers neuen Atem ein. Zwar sollte Golson die Band bald wieder verlassen (weil er Blakey zu dominant wurde) aber das Album Art Blakey & The Jazz Messengers, das erst später wegen des gleichnamigen Songs in Moanin' umbenannt wurde, ist eines der Standardwerke das Jazz. Wegen des Titelstückes (wenn du es hörst, wirst du es kennen), wegen des New Orleans-Marsches „Blues March“ - auch bald ein Standard - und einfach weil hier eine hervorragend spielende Band echten Spaß an ihrer Kraft und Virtuosität hat, und dazu auch noch etwas zu sagen hat. Jazz mit mehr als nur akademischen Interessen, mit der Inspiration, die ich persönlich auf Jazz-Alben mehr achte, als technische Finesse. Für den Veteranen Blakey – dessen polyrhythmisches, afrikanisch angehauchtes Spiel in der drei-teiligen „Drum Thunder Suite“ ganz virtuos und klassisch zur Schau gestellt wird – wurde dieses Album zum Neu-Start seiner Karriere.


Nina Simone

The Amazing Nina Simone

(Colpix, 1959)

Weil diese Hauptartikel immer auch ein Querschnitt durch dem stilistischen Kuchen des jeweiligen Jahres darstellt, musste ich mich auch für '59 entscheiden, welches Vocal-Jazz Album ich exponieren würde. Und da gab es ein paar Kandidaten: Ella Fitzgerald's Sings the George and Ira Gershwin Songbook ist große Kunst, Bobby Darin's That's All ebenfalls, genau wie die anderen, im entsprechenden Artikel Vocal-Jazz 1959 gelobten Alben. Aber ich wollte unbedingt Nina Simone in einem Hauptartikel unterbringen – weil sie bis heute eine der eigenständigsten, stilprägendsten, großartigsten Sängerinnen aller Zeiten geblieben ist. Weil ihr eigenartiger, rauer und kehlige Alt unnachahmlich geblieben ist. Und weil sie als Persönlichkeit extrem spannend war. Nina Simone kam 1933 als Eunice Kathleen Waymon auf diese Welt, sie wollte zunächst Konzert-Pianistin werden, hatte eine erfolgreiche Audition auf der Musik-Hochschule in Philadelphia, wurde aber wegen ihrer Hautfarbe abgelehnt. Um Geld zu verdienen spielte se in Jazz-Clubs, wo man ihr erklärte, sie müsse zum Piano auch singen. Und so begann eine Karriere, die bis in die Siebziger etliche bedeutende Alben (… das, was mich hier interessiert...) hervorbrachte. Schon im Vorjahr hatte sie einen Charts-Hit mit Gershwin's „I Loves You, Porgy“, Das dazugehörige Album Little Girl Blue zeigte sie als Pianistin von großer Klasse und als Interpretin mit eigenem Stil (Und es enthält „My Baby Just Cares for Me“...). Wie sollte es mit dieser Stimme auch anders sein. Mit der Unterstützung des Labels unzufrieden, wechselte sie zu Colpix und nahm mit dem von den Elvis-Komponisten Leiber und Stoller bekannten Produzenten und Arrangeur Bob Mersey ein Album von erstaunlicher stilistischer Bandbreite auf. Ihr Klavierspiel steht hier nicht im Vordergrund, ihre Stimme und ihre Phrasierung wird mal mit kleiner Besetzung, mal von kraftvollen Bläsern oder süßlichen Orchesterklängen untermalt. Da gibt es das hoch-emotionale „It Might AsWell Be Spring“, direkt ein Klassiker, genau wie das swingend/jazzige „Can't Get Out of This Mood“, das wütende „You've Been Gone Too Long“, bei dem der Typ, der zu lange wegblieb mir ein bisschen leid tut. Großartig auch das (auf dem Mississippi) treibende „Chilly Winds Don't Blow“ - fast schon Soul oder die englische Folk-Ballade „Tomorrow (We Will Meet Once More)“. Keine geringe Leistung, dass all das zusammenhält. Manchem mag das etwas einheitlichere Debüt besser gefallen – ich mag dieses Album allein schon deshalb, weil es meine erste Simone-Album war. Und da kommen noch etliche weitere sehr gelungene Alben: Pastel Blues und Wild is the Wind von '65 und '66 sind Pflicht – und zeigen eine Künstlerin, die sich auch politisch stark engagierte....


Lightnin‘ Hopkins

The Roots of Lightnin‘ Hopkins

(Smithsonian, Folkways, 1959)

Den Blues hatte der 1912 geborene Lightnin' Hopkins bei Blind Lemon Jefferson gelernt (Den Beinamen „Lightnin' bekam er als er 1946 mit dem Pianisten „Thunder“ Smith Aufnahmen machte) und in den Jahren bis 1959 hatte er nur hier und da Plattenaufnahmen – üblicherweise 7''es - gemacht. Aber dann wurde er vom Blues-Forscher Sam Charters nach einigem Suchen in einem Ein-Raum Appartement in Houston gefunden (Zu dieser Zeit haben sich etliche junge weiße Amerikaner auf die Suche nach alten Blues-Männern gemacht). Charters kam, sah und konnte ihn mit Hilfe einer Flasche Gin überreden in seinem Zimmer diese zehn Songs mit Hopkins' aus dem Pfandhaus ausgelösten Gitarre und nur einem Mikrofon aufzunehmen. Das tat der Qualität der Songs keinen Abbruch, im Gegenteil, das Resultat waren auf's wesentliche reduzierte, ja regelrecht skelettierte, in ihrer Verzweiflung gespenstische und dadurch ungemein intensive Songs. Dass er Blind Lemon Jefferson's „see That My Grave is Kept clean“ coverte, dass er den Traditional „Penitentiary Blues“ spielte und in seine Welt holte, zeugt von seinem Selbstbewusstsein - eigene Songs hatte er schließlich genug. Und auch bei sparsam dargebotenen Tracks wie „Come and Go With Me“ kann man sich vorstellen, wie sehr er in wenigen Jahren junge weisse Musiker im UK beeindrucken und beeinflussen würde. Durch die einfachen Aufnahme-Methode klingt The Roots... natürlich zeitlos – hätte auch gestern entstehen können, Hopkins würde allerdings nie mehr so reduziert klingen, dies war die Essenz seiner Musik und hier begann sein persönlicher Anteil am Blues-Boom der 60er – den er bis in die Siebziger mit unzähligen eigenen Alben belieferte.


Ricky Nelson

Ricky Sings Again

(Imperial, 1959)

Ricky Nelson

Songs by Ricky

(Imperial, 1959)

Die „Pop“ Musik Ende der Fünfziger/ Anfang der Sechziger gilt als schwachbrüstig, harmlos und konformistisch – was der Tatsache geschuldet ist, dass die Protagonisten des Rock'n'Roll entweder tot, im Gefängnis oder musikalisch zumindest scheintot waren, die kurze „Revolution“ durch Rebellen wie Elvis, Gene Vincent, Buddy Holly oder Eddie Cochran scheinbar abgeflaut war. Musiker wie Sinatra triumphierten und der weit mehr im Mainstream verwurzelte, gerade 19-jährige Ricky Nelson bekam mit seiner scheinbar weichgespülten Version von Rock'n'Roll ein breites Publikum. Nelson aber beabsichtigte nicht, in seichten Gewässern dahin zu dümpeln, schnell bekam seine Musik erstaunliche Tiefe, mag sein, dass der Umstand, dass seine Begleiter aus der Creme de la Creme der Studiomusiker seiner Zeit bestand eine Rolle spielte – zumal seine Songs von den ganz Großen der Szene tatsächlich für ihn geschrieben wurden. Es dürfte aber auch so sein, dass sich das Talent des hier gerade mal 18-jährigen nicht verleugnen ließ. Sein Gesang auf diesem dritten Album ist selbstbewusst, man hört, dass er gehörig Live-Erfahrung gesammelt hatte. Natürlich lehnt er sich an Elvis an, aber er kennt auch die Everly Brothers, er hatte sich mit den Songwritern Dorsey und Johnny Burnette (die 1956 selber das phänomenale Album Johnny Burnette & The Rock’n’ Roll Trio veröffentlicht hatten) eingelassen, die ihm im Vorjahr den Hit „Believe What You Say“ beschert hatten. Hier sind die ersten drei Songs von ihnen und „It's Late“ wird auch zum Hit. Und er bedient – wie Elvis – auch die Balladen-Abteilung: Mit „Lonesome Town“ war er auch in diesem Metier erfolgreich. Das Hank Williams' Cover „I Can't Help It (If I'm Still in Love With You)“ wiederum bedient die Everly's-Fangruppe - all das zeigt, dass er sich ein bisschen zwischen den Stühlen aufhielt: Nicht Rock'n'Roll, noch nicht richtig Country – auch wenn er ganz schön Johnny Cash's „Restless Kid“ interpretiert - aber immer geschmackvoll und seinerzeit immens populär. Klar, dass nicht einmal neun Monate vergehen, ehe das nächste Album auf den Markt geworfen wird. Zeit für echte Weiterentwicklung war da wohl nicht – aber immerhin war Nelson jetzt 19, seine Band war eingespielt, mit Gitarrist James Burton, Pianist Gene Garf, Bassist James Kirkland und Drummer Richie Frost standen Könner hinter ihm, die ihn über Jahre begleiten würden. Dazu kommt Elvis' Background Chor The Jordanaires – somit alles in trockenen Tüchern. Und dazu natürlich wieder Songs der Burnette-Brüder - J. Burnette's „Just a Little Too Much“ wird wieder zum Hit, genau wie Baker Knight's „Sweeter Than You“. Der Titel Songs By Ricky mag da irritieren – aber immerhin ist Nelson's Stimme und der Sound seiner Band charakteristisch – und auch wenn dieses Album nicht den Erfolg und die Bekanntheit von Ricky Sings Again hat – es ist nicht schlechter, sondern einfach eine Ergänzung, die mit ihrer Spielzeit von 26 Minuten als B-Seite zu den 25 Minuten des Vorgängers stehen mag.


Dion & The Belmonts

Presenting Dion and the Belmonts

(Laurie, 1959)

Es ist in der Rückschau kaum vorstellbar – aber Rock'n'Roll war Ende der Fünfziger eher eine Randerscheinung, eine Art von Musik, die belächelt und als vorübergehende Torheit der Jugend betrachtet wurde. Klar, Elvis war ein Star, seine Alben Hits, aber er war zum Militärdienst einberufen worden und würde da schon Disziplin lernen. Andere Rock'n'Roller starben am „Day the Music Died“, oder sie hatten sich als die Verbrecher entpuppt, die der anständige Teil der Bevölkerung immer hinter ihnen vermutet hatte. Ihr musikalischer Output bestand aus ein paar Singles, die bald vergessen schienen und den Compilations, die ich hier als Grundlagen der Rockmusik präsentiere – die aber eigentlich doch nur Resteverwertung sind. Aber da gibt es auch das Debüt der New Yorker Doo Wop Meister Dion & the Belmonts, und das funktioniert tatsächlich als komplettes Album – nicht als Zusammenstellung bloßer Hits. Auch noch in einem obskuren Genre, in dem komplette Alben gleichbleibend hoher Qualität quasi nicht existieren. Doo Wop ist eine Form des R&B, in der mehrstimmiger Gesang mit rhythmisch unterlegten Vocals als Ersatz für Instrumente neben der Lead-Stimme zu rasantem Pop wird. Man muss sich das tatsächlich so vorstellen, dass die Jugendlichen in den finstereren Teilen der US-Großstädte an Straßenecken zusammenstanden und in Ermanglung solcher Dinge wie Ghetto-Blaster o.ä. gemeinsam sangen. Da gab es schon zu Beginn der Fünfziger Bands wie The Orioles, The Flamingos, da gab es The Ravens und The Larks aus NY, oder The Robins aus San Francisco, die bald zu den Coasters wurden. Eines der Star-Ensembles des Doo Wop waren die New Yorker The Belmonts mit ihrem Lead-Sänger und Songwriter Dion DiMucci. Mit dem virtuosen „I Wonder Why“ hatten sie einen ersten Hit, der sie auch über die Grenzen des Big Apple berühmt machte. Sie waren bei der schicksalshaften Tour mit Buddy Holly, Ritchie Valens und The Big Bopper dabei - aber Dion stieg nicht ins Flugzeug und entkam so dem fatalen Absturz. Bald kam mit „A Teenager in Love“ der nächste Hit, und die vier Musiker nahmen die restlichen Titel für ein komplettes erstes Album auf. Und das ist dann das wirklich Schöne an Presenting Dion and the Belmonts. Das Album hat als Ganzes seine Daseinsberechtigung – die Hits sind natürlich dabei, aber der gelinde Country Sound bei „You Better Not Do That“ oder das programmatische „I Got the Blues“ können locker mithalten. Natürlich geht es immer um Mädchen – aber dieses ewig-junge Thema wird enorm facettenreich behandelt, die Gesangsleistungen sind erstaunlich – insbesondere nach heutigen Maßstäben – und Dion erwies sich als Teenage-Star mit Niveau und Tiefe (und einer reichen, wenn auch durch Drogen und kommerzielle Tiefs unterbrochenen Karriere). Er ist derjenige, der New York auf die Landkarte des Rock'n'Roll brachte, dieses Album ist die Entdeckung wert.


Marty Robbins

Gunfighter Ballads & Trail Songs

(Columbia, 1959)

Es ist natürlich schon so eine Sache mit Musik, die (Stand 2019) 60 Jahre alt ist: Die Themen und die Ästhetik, die auf diesem Klassiker der Western-Musik behandelt werden, sind heute so fern, dass sie uns völlig fremd erscheinen. Texte und Musik auf Marty Robbins fünftem Album sind technicolor-bunt, hier reitet der Cowboy noch auf dem weissen Pferd in den Sonnenuntergang, und die Pistole an deiner Hüfte blitzt so wie seine Sporen. Marty Robbins hatte es mit Rock'n'Roll versucht, er hatte noch '58 mit „A White Sport Coat (And a Pink Carnation)“ einen Hit, der seichter Pop war – aber er hatte von früher Kindheit an ein Faible für Geschichten aus dem wilden Westen, sein Großvater war als reisender „Wunderdoktor“ in sog. Medicine Shows unterwegs gewesen und hatte Klein-Marty mit Cowboy-Geschichten beeindruckt. Als Robbins an nur einem Tag die Gunfighter Ballads & Trail Songs aufnahm, erfüllte er sich einen Kindheitstraum. Dass er dann mit der Single „El Paso“ sowohl in den Pop- wie in den Country-Charts Platz 1 belegte, ist eine Bestätigung dafür, dass man Künstlern ab und zu auch Freiheiten lassen sollte. Dieser Song – wie etliche andere hier – ist ein gänzlich Refrain-loser Story-Song, der eine klassische Western Geschichte erzählt: Mann duelliert sich wegen Bar-Dame, erschießt den Konkurrenten, flieht und stirbt bei der reumütigen Rückkehr dann in ihren Armen. Das ganze mit kluger und sparsamer TexMex/Mariachi-Anmutung, nur mit Gitarre, Bass und Schlagzeug. Und so geht es auf dem Album weiter: Da ist der Opener „Big Iron“ - ebenfalls eine Geschichte mit klassischem Pistolen-Duell, da wird „Billy the Kid“ besungen – ökonomisch, ohne Mitleid oder Pathos, Robbins Gesang ist klar und einfach, die Musik auf's wesentliche reduziert – auch die Country-Outlaws aus den Mitt-Siebzigern dürften begeistert gewesen sein – zumal Robbins seine Faible für den Sound mexikanischer Musik nicht verbarg. Gunfighter Ballads & Trail Songs jedenfalls wurde ein großer Erfolg, trat eine regelrechte Welle von Cowboymusik los, Robbins ließ ein thematisch gleiches und qualitativ (fast) gleichwertiges Album folgen – und arbeitete auch noch als Stock-Car-Rennfahrer und als Darsteller in diversen Cowboy-Filmen der zu Anfang beschriebenen Art. Auch als Musiker blieb er erfolgreich, wenn auch nicht immer so niveauvoll. Immerhin empfehle ich auch sein '66er Album The Drifter jedem, der Country liebt und hiervon fasziniert sein sollte. Zu Recht wurde Gunfighter Ballads & Trail Songs als erstes Country Album mit einem Grammy ausgezeichnet und ist seither ein Dauerbrenner von zeitloser Faszination.












Samstag, 20. Juli 2019

1993 – Autechre bis HOEDh - Electronic Music – Innovation beginnt HIER (oder davor...)

Hier wurde mir bewusst, wie wenig ich über elektronische Musik weiss. Meine Annahme, dass der kreative Prozess, in dem diese so innovativen Klänge entstanden sind, ein komplett anderer ist, als der Prozess beim erzeugen „klassischer“ Rockmusik hat sich als völlig falsch entpuppt. Die sog. elektronische Musik (ein Begriff, der an sich schon äußerst schwammig ist) ist in Ausprägungen, Stilmitteln, Arten der Erzeugung genau so heterogen wie klassische (= mit Gitarre, Bass, Schlagzeug erzeugte) populäre Musik, Sie IST populäre Musik, mit den Mitteln dieser Zeit hergestellt, mit einer eigenen stilistischen Sprache. Man kann die Musik in diesem Kapitel damit definieren, dass sie nicht (nur) mit traditionellen Instrumenten arbeitet, sondern ihre Ergebnisse (auch) durch Techniken der Sound-Manipulation erzielt. Die Sounds werden mit Synthesizern, am Computer oder auch mit dem gewohnten Rock-Instrumentarium erzeugt und auf verschiedene Art bearbeitet. Das Ausmaß der Bearbeitung kann minimal sein, es kann aber auch bis zur totalen Verfremdung gehen – das Spektrum ist unermesslich. Dabei ist im Prinzip jede Form populärer Musik auf Tonträgern „elektronische Musik“ – weil jeder Sound und jede Stimme bei der Aufnahme bearbeitet und verfremdet wird. Immerhin nehme nicht nur ich einen bestimmten Teil der Musik als „elektronisch“ wahr – weil mit bestimmten Sounds, Instrumenten, Rhythmen, Stimmungen gearbeitet wird, die neu und verschieden von altbekannten Klängen sind. Aber die möglicherweise irgendwann mal existenten Grenzen sind seit langem verwischt – Die 93er Alben von Björk, Stereolab, den Cocteau Twins etwa sind eigentlich ganz klar elektronische Musik. Die Alben in diesem Kapitel nun kann man zusätzlich in diverse Genre-Schubladen der elektronischen Musik legen: Vieles hier weiter unten wurzelt in House und Techno mit seinen diversen Unterströmungen Acid, Minimal, EBM, Ambient – und für die alle gibt es Definitionen, die sie voneinander unterscheiden mögen, die aber nicht unüberschreitbar sind. So decken die Alben hier unten etliche Stil-Arten elektronischer Musik – Stand '93 - ab. Es gibt ein paar Gründe, weshalb ich dieses Jahr für wichtig für das Album-Format in der elektronischen Musik halte: Da ist das Warp-Label mit seiner Artificial Intelligence Album-Reihe (Autechre, Polygon Window, Black Dog Productions etc.), da sind die Techno-Großmeister Orbital mit einem Meisterwerk oder Seefeel mit einem wunderbaren Album zwischen Shoegaze, Dream Pop und Ambient. 1993 lösen sich viele Künstler mit „Longplayern“ aus dem Korsett des Kurz-Formates, vielleicht weil die verschiedenen Strömungen der elektronischen Musik das hergeben, vielleicht, weil es ein Publikum dafür gibt. Das hier ist ein Querschnitt mit den Alben, die ich subjektiv für gelungen und wichtig halte.


Autechre


Incunabula

(Warp, 1993)

1992 veröffentlicht das Warp-Label eine Compilation mit dem Titel Artificial Intelligence – ein Album, das so etwas wie der Grundstein der IDM, des Acid-, des Ambient-, des Minimal Techno ist. Auf diese Compilation gehe ich an entsprechender Stelle für '92 ein (schade eigentlich...) aber Warp macht 1993 weiter und veröffentlicht unter der selben Bezeichnung ein paar weitere Alben mit elektronischer Musik. Das beste aus dieser Reihe ist IMO das Debüt der beiden Manucian's Rob Brown und Sean Booth. Die beiden haben sich schon '87 zusammengetan, teilten das Interesse an HipHop und elektronischer Musik und veröffentlichten zunächst als Lego Feet und ab '91 unter dem Namen Autechre Musik. Die Entwicklung, die dieses Duo in den folgenden Jahren bis heute (!) genommen hat, ist erstaunlich. Ihre Musik ist mitunter das Abstrakteste, was ich mir vorzustellen vermag, aber zugleich haben ihre Alben eine Wärme, einen organischen Kern, der selbst den zerhacktesten Tracks eine fundamentale Schönheit bewahrt. Incunabula, ihr erstes Album, ist im Vergleich mit den Alben ab 2000 regelrechtes Easy Listening. Zwar herrscht auch hier einerseits schon klinische Kälte, manche Tracks sind kantig und weisen in Richtung der Abstraktion, die sie in zehn Jahren mit Alben wie Draft 7.30 erreichen, aber auf Incunabula gibt es auch Momente melodischer Schönheit, wie ich sie auf Aphex Twin's Selected Ambient Works 85-92 gefunden habe. Incunabula ist - ganz einfach gesagt – genauso bahnbrechend wie jenes Album, es kommt nur ein paar Monate später. Dass Autechre eine andere melodische Sprache sprechen, also kein Abklatsch von Aphex Twin sind, versteht sich. Ganz lustig: Noch haben auch ihre Tracks Titel, die man aussprechen kann. Aus dem Artificial Intelligence Beitrag „Egg“ haben sie hier „Eggshell“ gemacht. Beste Tracks unter vielen guten sind „444“ und „Autriche“. Aber – wie meist in dieser Musik – Die Atmosphäre des ganzen Albums ist das Ding hier. Eine Inkunabel ist übrigens ein mittelalterlicher, mit Bleibuchstaben gesetzter Druck -. der Vorläufer gedruckter Bücher.


Polygon Window


Surfing on Sine Waves

(Warp, 1993)

Surfing on Sine Waves ist auch Teil der „Artificial Intelligence“ Serie – und bei Polygon Window handelt es sich um ein Alter Ego von Richard D. James aka Aphex Twin. Möglicherweise waren es vertragsrechtliche Gründe, die ihn dazu zwangen, auf Warp unter dem anderen Namen zu veröffentlichen. Die oben erwähnten Selected Ambient Works... waren auf dem belgischen Label R&S Records erschienen... aber Richard D. James hat im Laufe der Zeit unter etlichen Aliassen veröffentlicht – und sich in all der Zeit und unter all den Namen immer weiter entwickelt. Für mich ist Surfing... der zweite Schritt in Richtung der teilweise recht extremen Drill 'n Bass Spielereien auf kommenden EP's und Alben. Jeder Track hier ist ein Experiment, beruht auf einer Idee, die bis zu einem gewissen Punkt ausformuliert wird. inzwischen hat James sich aus den stilistischen Fesseln des Acid Techno befreit – wenn er sich da jemals gefangen gefühlt haben sollte – und baut seine Tracks um kleine Piano-Figuren, komplexe, aber hier noch nachvollziehbare Beats oder kühle Synthie-Sounds mit dem geliebten Roland TR 808. Dass der Typ ein Musiker mit überbordendem Talent ist, kann hier auf neun Tracks nachvollzogen werden. „If it Really Is Me“ klingt wie französische Film-Musik mit House-Beat und Spuk-Atmosphäre, das folgende „Supremacy II“ beginnt mit schlicht hämmerndem 4/4 Beat, wird von immer mehr Elementen überlagert und verschwindet in nebligen Straßen. Dunkle Tracks wie „Untitled“ bauen auf einem straighten Beat auf, der dann von krächzendem TB 303-Synth überlagert wird und das abschliessende „Quino – Phec“ nimmt mit fließendem Ambient die Selected Ambient Works Volume II des kommenden Jahres vorweg. Inzwischen dürfte natürlich Vieles auf diesem Album altmodisch klingen – es ist schließlich über 25 Jahre her, dass so etwas in den Clubs gespielt wurde, aber ich finde es spannend, ein Genie am Anfang einer 5-jährigen Reihe von Alben und EP's zu hören, die allesamt wegweisend für IDM, Ambient Techno, Ambient, Acid Techno, Drill and Bass etc sind. Dies ist ein Album von zeitlos dunkler Schönheit. Kein Wunder, dass das FACT Magazin es zu den 100 Besten der Neunziger zählt.


Black Dog Productions


Bytes

(Warp, 1993)

Der nächste Teil der "Artificial Intelligence" Serie von Warp – Drei Musiker/Produzenten, die unter dem Namen Black Dog Productions dieses eine Album zusammenstellten, das halb Compilation, halb “reguläres” Album genannt werden kann. Es sind Ken Downie, Ed Handley und Andy Turner, die sich hier wieder unter unterschiedlichen Namen und in verschiedenen Kombinationen zusammentun, um ein paar Tracks zu produzieren, die dann auf Bytes zusamengefasst werden. Für die drei mag es von Bedeutung sein, wie sie sich jeweils nennen, ich höre hier eine gemeinsame Ästhetik – sicher beabsichtigt, die drei haben sich ja nicht nur zum Spaß unter einem Namen zusammengetan – und das, obwohl jeder einzelne Track hier als EP veröffentlicht wurde. Man hört Ambient, man hört komplexe Breakbeat-Rhythmen, man hört harte repetitive Techno-Beats, da gibt es mit “The Clan (Mongol Hordes)” einen regelrechten Hit, da machen Handles und Turner unter dem Namen Plaid – eine der Kombinationen, die bald mit einigen hervorragende eigenen Alben aufwartet – auf “Yamemm” hicksenden Breakbeat und auch hier gibt es mit “3/4 Heart“ einen Track, der bis heute haltbar ist. Ich lese immer wieder, dass diese Alben, diese Musik, den Ansprüchen der Modernität nicht genügt. Ich weiss nicht, ob es irgendwann möglicherweise einen Hype des Neunziger-Techno gibt, könnte es mir aber vorstellen. Mir macht die Musik HEUTE Spaß. Und mindestens zwei Ableger von Black Dog Productions – Plaid und Black Dog – haben Alben gemacht, die ich unbedingt erwähnen werde...


B12


Electro-Soma

(Warp, 1993)

Das hier ist mein letztes Beispiel der „Artificial Intelligence“ Reihe von Warp (... dazu kämen '93 noch Alben von Speedy J und FUSE...- aber die fand ich nicht ganz so klasse). Die beiden Briten Michael Golding und Steve Rutter berufen sich auf Detroit Techno: Auf die Form von Techno, die wiederum Kraftwerk, den kalten Sound der Maschinen, die Roland TR-909 Drum Machine als wichtigstes Sound-Element betrachtet – die mit den sog. Belleville Three (Juan Atkins, Derrick May und Kevin Saunderson, die allesmt in die Belleville High School gingen) und mit Robert Hood und Jeff Mills eine der Pionier-Pflanzen des Techno darstellt. Auch diese zwei Briten helfen dabei – auf Betreiben des Labels – Techno auch als Musik für's Zuhause Hören zu etablieren. Electro-Soma, ihr zweites Album immerhin, hat ebenfalls die Eigenschaften der drei vorher beschriebenen Alben: Funktioniert als komplettes Paket, ist tanzbar und entspannt, hat das Sound-Konzept, das die Vorbilder von Rutter und Golding erkennen lässt – aber eine eigene Stimme, der auch Elemente aus Ambient und dem heißen Scheiß der frühen Neunziger – IDM (Intelligent Dance Music – ein Begriff, der inzwischen anscheinend als diskriminierend wahrgenommen wird) – beinhaltet. Und auch Electro-Soma dürfte von etlichen Hörern als unmodern und schlecht gealtert wahrgenommen werden. Techno und Anverwandtes ist der Alterung ausgesetzt, wie jede andere Musik, aber hier wird der Alterungsprozess als Makel wahrgenommen, was mir aber wie gesagt egal ist. Denn Electro-Soma hat etliche tolle Tracks. Immer wird ein rhythmisches Grundgerüst aufgebaut, auf dem kühle, roboterhafte Sounds nach modernisiertem Kraftwerk klingen, B12 sind schlau genug, melodische Ideen nicht zu Tode zu reiten, belassen die Track-Länge bei Sessel-Hörer freundlichen max. sieben Minuten, sind bei „Basic Emotion" nah am Ambient, erinnern mich beim Opener „Soundtrack of Space“ nicht nur mit dem Titel an alte Berlin School Elektroniker wie Klaus Schulze – eben mit einem irgendwann einsetzenden Beat – und haben natürlich auch weitere Tracks mit schlauen Beats unterlegt – was dazu führte, dass Electro-Soma bei Altertums-Forschern als Referenzwerk des genannten IDM gilt. Ich empfehle, sich weder von der Altrung der Sounds noch vom un-hippen Stilgepräge beeinflussen zu lassen. In 10 Jahern hört man solche Alben vielleicht ja so wie man heute die Kultur-Flagschiffe und Pioniere Kraftwerk hört. Wäre nicht unverdient



µ-Ziq


Tango N' Vectif

(Rephlex, 1993)

Das Album hier hätte gut in die AI-Serie gepasst, finde ich. Mike Paradinos aka µ-Ziq hat nicht nur einen wirklich gut ausgedachten Namen, er ist – wie Richard D James (auf dessen Label Tango N' Vectif erscheint...) und Autechre auch einer von denen, die den Boden der elektronischen Musik der kommenden Jahre mit haufenweise Ideen gedüngt haben. Sein erstes Album hat Paradinos mit dem Bassisten und Programmierer Francis Naughton gemacht, es ist – mehr noch als das hier vor gelobte Electro-Soma ein Hybrid aus der Musik, die zu Beginn der Neunziger gerade ihre Entdeckung, Entwicklung und Ausformulierung erlebt. Tango N' Vectif ist voller Kraft, Energie und Ideen – die man inzwischen kennen mag, die aber mit einer naiven Begeisterung hingestellt werden, die ergreifend ist. Ganz passend, dass der gerade 22-jährige bald als „bedroom composer“ mit Nerd-Brille und Pubertäts-Bärtchen in diversen Artikeln über Avantgarde und Elektronische Musik reüssiete – das war damals Revolution. Und mehr noch als die beiden vorher beschriebenen Alben ist Tango N' Vectif erstaunlich zeitlos. Paradinos baut auf „Swan Vesta“ komplexe Breakbeat Rhythmen um eine Acht-Noten Melodie, um krachende Cymbals und melancholische Strings, lässt im Mittelteil Tribal Beats blubbern, macht die sechs Minuten voll mit Ideen für drei Tracks. Und ist damit noch lange nicht fertig... „Iesope“ ist sehr minimalistisch und zugleich romantisch und zeigt wegen seiner Reduktion kaum Abnutzungs-Erscheinungen. Beim „µ-Ziq Theme“ türmen sich die Beats von Francis Naughton um ein wirbelndes Synth Appreggio, noch einmal klingt es nach Tribal Beats, die unter barocken Sounds begraben werden. Tango N' Vectif ist intelligent, minimalistisch und zugleich komplex, es ist natürlich auch wieder eines dieser Referenzwerke für kommende Trends – und steht gleichzeitig ziemlich allein. Selbst der Bezug zum Freund und Label-Boss Aphex Twin ist kaum erkennbar: Tango N' Vectif steht wie ein Solitär-Baum neben dem Wald der kommenden IDM, Ambient, Drill n' Bass etc pp Musiker. Sehr gutes Album, das inzwischen als erweiterte Version auf Vinyl re-issued wurde.


...and now for something completely different...


Orbital


s/t (Brown Album)

(London Sire, 1993)

Zur Einordnung der Musik hier ein klarer Satz: Das Brown Album von Orbital ist Techno... und sind somit in einer Ecke der Elektronischen Tanzmusik unterwegs, die schon zehn Jahre auf dem Buckel hat – und die sich inzwischen – siehe etwa B12 - weit entwickelt hat. Immerhin machen die Brüder Phil und Paul Hartnoll ihre Musik seit den späten Achtzigern, sind ganz klar einer der einfallsreichsten Acts in dieser Szene und haben offenbar auch kein Problem, die komplette Albumlänge zu füllen. Ihr zweites Album hat alles, was man braucht, um Techno von seiner besten Seite kennen zu lernen: Die Beats, die Melodien, die Produktion – und am Wichtigsten – einen Flow und eine Kohärenz, die das Album über 65 Minuten trägt. Der Opening Track zitiert das Debüt, mit dem gesampelten Satz „There is the theory of the Möbius. A twist in the fabric of space where time becomes a loop“ eines Star Treck-Schauspielers, der auch das „Grüne Album“ eröffnete. Auf dem Brown Album befindet sich ihr größter „Hit“ „Halcyon + On + On“ - ein Remix der Single vom Vorjahr, ein absoluter Klassiker des Techno, eine der schönsten Singles der Neunziger, um es klar zu sagen. Orbital sind in der Zeit ihrer Existenz über Techno hinausgewachsen. Sie verarbeiten Tech-House, Soundtracks, Ambient, denken Drum 'n' Bass vor, injizieren Punk und Fahrstuhl- Muzak in ihre Tracks und bleiben völlig eigenständig und wiedererkennbar. Daher kann das Brown Album bei aller Konsistenz immer wieder mit neuen Ideen überraschen – und steht über aktuellen Trends. Wunderbar wie „Lush 2-3“ in das zehn-minütige „Impact (The Earth is Burning)“ morpht, das einen Chorus mit atonalen Hörnern bietet, eine wunderbare absteigende Lead-Melodie, die am Schluss ohne Rhythmus dasteht, um dann in „Remind“ - den härtesten Track des Albums überzugehen- mit harten Beats und Acid-Sounds, die nach Kreissäge klingen. Oder das vor Spannung bebende „Walk On“ mit seinen Didjeridoo-Sounds.... Die Spannung steigert sich über das komplette Album, egal wo man einsetzt, immer hört man Neues. Interessanterweise fiel mir zunächst garnicht auf, dass es (bis auf die Sprach-Samples) ein rein instrumentales Album ist. Mag sein, dass auch dieses Album heute unmodern klingt - mir egal. Ich finde es zeitlos.


Front 242


06:21:03:11 Up Evil

(RRE, 1993)

Front 242


05:22:09:12 Off

(RRE, 1993)

Die Belgier Front 242 sind 1993 schon Veteranen, Pioniere der Electronic Body Music (oder EBM), der Verbindung von Post-Punk, Industrial und Pogo. Und Front 242 waren immer mehr als eine reine Tanzkapelle, ihre Präsentation als Band – ob Live oder auf den Alben - basiert genau wie ihre Musik auf einem klaren Konzept. Inzwischen ist die seit Beginn der Achtziger aktive Band eine große Nummer geworden. Sie sind mit Ministry auf Tour gewesen, ihre Musik wurde im Film „Weiblich, ledig, jung sucht...“ prominent verwendet – und sie haben beschlossen,sich zu verändern. 1993 veröffentlichen die vier Musiker kurz hintereinander zwei Alben, bei denen sie einerseits einen Schritt Richtung Songwriting und Synth Pop, andererseits in Richtung Techno, weg vom harten Industrial Sound versuchen. Das kam bei ihrem Stammpublikum nicht gut an – und es führte dazu, dass Sänger Richard 23 sie im Laufe der Aufnahmen verließ. Auf 06:21:03:11 Up Evil übernimmt Jean Luc De Meyer den Gesang, Tracks „Crapage“ erreichen trotz verzerrter Vocals und harter Beats fast Depeche Mode-Charakter – was sicher Geschmackssache ist. Der Vorwurf, dass sie Richtung Kommerz schielten, mag nicht ganz unberechtigt sein. Aber dazu habe ich meine klare Meinung: Mit Musik Geld verdienen halte ich nicht per se für verwerflich, solange die Qualität nicht leidet. Hier sind Tracks dabei, die gut geschrieben sind, bei denen die Idee von hartem Industrial etwas abgefedert wird durch fast poppige Melodik. Das kann ein bisschen Albern werden – höre den Heavy-Stampfer „Fuel“ - aber es kann auch so atmosphärisch werden, wie bei „Motion“. Nur EBM im Sinne des Wortes UND wie man sie bis dato kannte, war das nicht mehr. Mit dem ein paar Wochen später folgenden 05:22:09:12 Off ging es Richtung atmosphärischem, durchaus hartem Synth-Pop verbunden mit Techno noch einen Schritt weiter. Da kann man das Opening-Song-Trio „Animal-Cage“, „Animal-Gate“ und „Animal-Guide“ durchaus als Beispiel nehmen. Mit Kristin Kowalski aka 99Kowalsky singt hier eine Frau, deren Stimme ähnlich verfremdet wird, wie die von De Meyer, die aber auch ein paar „klare“ Passagen mitbringt, insbesondere der Mittelteil von „Animal-...“ ist reiner Techno, Andere Tracks hauen noch einmal kräftig in die EBM-Kerbe, sind buchstäblich „Körpermusik“ – so wie der vierte Teil der „Animal“ Reihe, „Animal-Zoo“. Dafür gibt es aber auch das zunächst rein atmosphärische „Junkdrome“, das nach zwei Minuten zum Beat-Monster wird. 05:22:09:12 Off ist womöglich noch etwas diverser als der Vorgänger - die Unentschiedenheit der Band-Mitglieder dürfte der Grund sein. Aber davon unbenommen ist es ein würdiger Abschluss für Front 242 – auch wenn es – eingedampft auf Ein Album - besser gewesen wäre. Danach kamen nur noch Re-Mixe und Live-Alben zur Vertragserfüllung zustande. Die beiden Alben-Titel übrigens basieren auf Zahlenverschlüsselungen: 06:21:03:11 Up Evil heisst „Fuck Up Evil“ und 05:22:09:12 Off steht für „Evil Off“...Und mit den Techno-, IDM-, Ambient-Alben hier zuvor haben Front 242 außer dem prominenten Einsatz von Rhythmus-Maschinen, Samples und Synth's wenig gemeinsam.


Seefeel


More Like Space EP

(Too Pure, 1993)

Seefeel


Quique

(Too Pure, 1993)

Man kann sich trefflich darüber Streiten, ob Seefeel nun Shoegaze machen, oder ob ihre '93er EP und die folgende LP „Elektronische Musik“ genannt werden sollten. Zumal Shoegaze noch mehr als jede andere „normale“ Form von Rockmusik im Dazwischen liegt. Mein Grund für die Positionierung dieser beiden 93er Veröffentlichung ist ihr baldige Label-Wechsel zu Warp und die Tatsache, dass Aphex Twin ihre Single „Time to Feed Me“ noch in diesem Jahr re-mixt. Immerhin: Beide Alben sind großartig – egal wie man ihre Musik nennt. Seefeel hatten '92 als relativ normale Shoegaze-Band begonnen, weil ihnen die Rock-ismen missfielen, integrierten sie bald Elemente aus Ambient, IDM und Minimal Music – und wurden so unverwechselbar. Der Titeltrack der More Like Space EP ist tatsächlich schon perfekt in seiner Verbindung von Dream Pop/Shoegaze mit Texturen aus der elektronischen Musik. Das grundierende Rauschen klingt eindeutig nach Gitarren a la My Bloody Valentine, die klickenden Rhythmen – ein weicher Bass-Lauf, verwaschene Beats vom Drum-Computer, dann irgendwann die Shoegaze-typische Frauen-Stimme, die wortlos singt, acht Minuten minimale Verschiebungen... Das war neu und ist bis heute spannend. Die More Like Space EP musste ich beschreiben, weil sie toll ist, aber diese und weitere EP's und Tracks werden '94 unter dem Titel Polyfusia kompiliert. Die bessere Wahl. Zumal Seefeel jetzt einen Lauf hatten, und Ende des Jahres ihr erstes Album veröffentlichten. Quique perfektioniert den Ansatz – Mark Clifford nutzt nur noch vereinzelte Gitarren-Chords als Grundlage für Sound-Skulpturen, die sich langsam aufbauen und dann wie Wellen am Strand auslaufen. Dazu werden untergründige Rhythmen von Bass, Drums und Computer generiert, über die sich nur noch ab und zu Sarah Peacock's wortloser Gesang erhebt. Quique ist ozeanischer Shoegaze, es zeigt, wohin diese Musik gehen kann, wie sie in die elektronische Welt fließt – wie sich die Grenze zwischen elektronischer Musik und Shoegaze auflöst. Quique ist somit nicht nur interessant und wegweisend – es ist auch ein Album von berückender Schönheit. Müsste ich eine einzelnen Track empfehlen, so würde ich „Plainsong“ nennen. Nach diesem Album wechselten Seefeel wie gesagt zum Warp-Label, auf dem Nachfolger Succour wurde das Klang-Konzept noch einmal reduziert, was ihre Musik spannend und schön, aber leider auch so unzugänglich machen würde, dass der verdiente Erfolg ausblieb. Quique ist ihr konsumerabelstes Album..




Drome


The Final Corporate Colonisation of the Unconscious

(Ninja Tune, 1993)

Natürlich wird nach wie vor solide elektronische Musik in Deutschland gebaut. Kraftwerk und Tangerine Dream haben da Grundlagen geschaffen, auf denen z.B. der Produzent und Musiker Bernd Friedmann ein bemerkenswertes Profil aufbauen kann. Friedmann hat zu Beginn der Neunziger zusammen mit Frank Hernandez unter dem Namen Some More Crime mit den Mitteln des Industrial gearbeitet, um sich dann - auch mit diesem gemeinsam - unter dem Moniker Drome an Dub und Chill-Out Spielereien zu delektieren. Er ist ein versierter Schlagzeuger, die verbesserten Möglichkeiten neuer Drum-Machines haben ihn wohl ebenso fasziniert wie Breakbeat und Techniken des Dub, und Final Corporate Colonization Of The Unconscious ist das erste wirklich gelungene Ergebnis aus diesen Interessen. Diese Sache mit „Elektronischer Musik“, die wie zu Beginn gesagt auch gerne mit Sound-Manipulation arbeitet , kann man hier in lustiger Perfektion hören. Da werden Samples aus der Natur, Gesprächs-Fetzen, HipHop Breaks und heftiger Dub zu Tracks mit Titeln wie „Hinterland, Kassler Kessel“ oder „Steel Lung, Buy One“ zusammengebaut. Die Zusammensetzung mag manchmal an Frankenstein's Monster erinnern, manche Synth-Sounds sind fast lächerlich 70er – aber ich unterstelle, dass das genau so geplant war. „Hoax, What Did You Got“ finde ich großartig, verbindet Breakbeat, Dub, Sprach-Samples und diese altertümlich-kosmische Elektronik zu einem bunten Strauss. Mag sein, dass so etwas heute völlig aus der Zeit gefallen ist – aber das gilt letztlich für Alles von Elvis über Dylan, die Pistols, Public Enemy bis zu Aphex Twin – und es wird immer so weiter gehen'. Und die analogen Synthie-Sounds waren zwischendurch ja auch mal kurz wieder angesagt. Die Experimentierlust jedenfalls sprüht hier regelrecht hervor.



Thomas Köner


Permafrost

(Barooni, 1993)

Auch aus Deutschland und genau so weit entfernt von den fünf Warp-Alben zu Beginn dieses Kapitels ist Thomas Köner's Permafrost . Genauso weit weg, wie Front 242, wenn man's genau nimmt. „Elektronische Musik“ ist eben ein Feld, das genauso groß und wild bewachsen ist wie „Independent“ etwa. Hier also Drone, oder Dark Ambient - Klangkunst mithin, die den Rhythmus komplett vergessen hat, die sich voran schiebt, wie ein Gletscher, hergestellt mit elektronischen Klangerzeugern. Köner betrachtet sich selber als Multi-Media Künstler, arbeitet für und mit bildenden Künstlern, beschallt Ausstellungen (mit großem Erfolg und hoher Reputation), macht Sound Installationen. Und Permafrost ist ein Schritt in diese Richtung. Der Titel ist Programm – wobei es sein könnte, dass ich die Kälte der Musik nur in Verbindung mit dem Titel empfinde. Das Spiel mit Assoziationen dürfte bei Drone eine große Bedeutung haben. Dieses Album jedenfalls erzeugt mit seinen fast statischen Klanglöcken ein regelrechtes Unwohlsein, das frieren lässt. Ein Track wie „Firn“ besteht aus reinem, grau-weißem Rauschen, das sich nur in der Helligkeit des Tons verändert. Fast unmerklich unterlegte Synth-Sounds sehen aus, wie im Eis gefangene Strukturen. Das ist wohl das Prinzip: Diese Tracks sind multi-texturale Kreationen, aus verschiedenen kraftvollen Drones aufgebaut, die mal nach vorn, dann wieder nach hinten geschoben werden. Köner's Idee, ein „arktisches“ Thema zu unterlegen, passt perfekt zu Drone – und ich bemerke ein weiteres Mal, dass die „Beschreibung“ gerade solch scheinbar konturloser Musik besonders schwer ist. Man muss sich das hier anhören, die monumentale Kraft bestaunen, mit der sich der über 10-minütige Titeltrack an dir vorbeischiebt. Dann kann man erkennen, dass Köner ein Meister dieser Kunst ist – und dass Permafrost zu Recht als Referenzwerk des Drone gilt. Sehr spannend ist übrigens auch, was Köner in Zusammenarbeit mit Andy Mellwig unter dem Namen Porter Ricks macht: Deren Biokinetics ('96) schafft als eines der ersten Alben seiner Art die Verbindung zwischen Köner's statischem, weißen Rauschen und dubbigen Rhythmen - und Dub-Techno ward geboren...


HOEDh


Hymnvs

(Atmosphere, 1993)

Wem der arktische Drone von Permafrost gefallen hat, den mag Hymnvs vom anscheinend irgendwo im Schwarzwald geborenen Thorn H. Thiel aka Thorn Hoedh aka Hoedh interessieren. Soweit ich erfahren habe, fühlte der 2003 verstorbene Musiker sich obskuren Gruppierungen zugehörig,die Okkultismus und Minimalismus in alle möglichen Lebensbereichen integrierten. Die Projekte, bei denen er mitmischte haben einen seltsamen Neo-Folk Anstrich (eines hieß Die Wappen des Thodt), der sie gefühlt in die Nähe „völkischer“ Gesinnung rücken – was ich aber bewusst und deutlich nicht mit ekelhaftem Nationalismus in irgend eine Verbindung bringen will. Aber was auch immer im Kopf von Hoedh vorgegangen sein mag – mit Hymnvs hat er eines der frühen ganz großen Dark Ambient/Drone/Trance Alben hergestellt. Faszinierend, wie weit das Feld ist, auf dem er sich bewegt – will sagen, wie weit entfernt von Thomas Köner er sich trotz vergleichbarer Mittel befindet. Auch auf Hymnvs werden einfache Klangböcke voran geschoben, unterlegt von Kratzen, Störgeräuschen, scheinbarem Flüstern. Mich erinnert der technische Aufbau der teils sehr langen Tracks an die Art von Musik, die Gas auf Alben wie Zauberberg geschaffen hat. Auch Hoedh sampelt offenbar klassische Orchester-Musik und bringt sie auch in einen ähnlichen Zusammenhang, Das kann mal klaustrophobisch, mal erhebend werden, das klingt nach großem Kino und ist zugleich Lo-Fi, organisch und mechanisch in Einem. Und wo bei Gas stets ein Puls im Untergrund schlägt, da wiegt hier höchstens die ruhige Brandung. Die blechernen Untertöne bei Tracks wie „Hymnus (Neuprogammierung)“ sind gewiss gewollt, bei den paar Info's die ich anderswo gelesen habe, wird ständig die Melancholie oder gar Depression dieser Musik betont – ich kann das nicht ganz nachempfinden. Melancholie – Ja, aber diese Musik strahlt auch Ruhe aus: Ich zitiere Worte, die ich im „Listen to This“ Blog gelesen (und frei übersetzt) habe: „...als würdest du langsam rücklings unter die Wasseroberfläche sinken, während immer wieder Lichtstrahlen die bewegte Oberfläche durchstoßen...“ So wird hier die Melancholie immer wieder von Ruhe oder gar Glücksmomenten unterbrochen. Neben Gas würde mir als Vergleich der erst in den 10er Jahren mit ähnlichen Klängen reüssierende Leyland Kirby aka Caretaker einfallen. Wer den kennt und mag, den wird Hymnvs erstaunen. Und natürlich – IDM it ain't








Donnerstag, 4. Juli 2019

1977 – The Boys bis Cheap Trick – Wie Punk zu Power-Pop wird

Die Jahre '76 und '77 gelten als die Jahre des Punk. Aber das ist natürlich eine holzschnitt-artige Vereinfachung des Musikgeschehens, die praktisch, aber sehr ungenau ist. Punk ist schon ein Überbegriff, unter dem Musiker und Bands versammelt werden, die völlig unterschiedlich sind – die mal in diese, mal in jene Richtung tendieren, die sich zumal schnell weiter entwickeln, die den Begriff und die Gedanken hinter „Punk“ möglicherweise nicht einmal teilen, die aber von der Musikpresse und der Musik-Industrie in die bald verkaufsfördernd hippe Schublade gesperrt werden. Und diese Schublade bekommt bald einzelne Fächer – von denen eines Power-Pop heisst. Der Begriff selber wurde angeblich dereinst von Pete Townshend für die Musik seiner Band The Who verwendet, man hat dann zu Beginn der Siebziger Bands, die den (damals unmodernen) Sound der Beatles neu belebten, mit dem Begriff Power-Pop etikettiert. Bands wie Badfinger, The Raspberries und vor Allem Big Star werden als erste Generation des Power-Pop bezeichnet. Als dann im „Jahre Punk“ diverse Bands dessen Wucht mit seligen Harmonien, nicht nihilistischen Texten und Bezügen zu The Who, The Kinks, Beatles etc verbanden, wurde deren Kunst einfach mit dem Etikett Power-Pop versehen. Das heisst: melodische, weniger harte Punk-Acts spielen somit Power-Pop – wobei natürlich (wie immer) die Grenzen zwischen Punk/New Wave und (Power) Pop durchlässig sind. So sind hier unten Alben von Bands vertreten, die man ohne weiteres auch in einem Kapitel über Punk Anno '77 unterbringen könnte, andere machen schon seit seligen „Prä-Punk-Zeiten“ Sachen, die sich im Zuge des Hypes mit dem Power-Pop-Etikett versehen lassen. Sleepwalker von den Kinks und Pete Townshend & Ronnie Lane's Album sind wegen des Bezuges zum Begriff Power-Pop hier untergebracht. Dave Edmunds spielt schon seit Beginn der Siebziger Rock'n'Roll – aber jetzt passt er in die Schublade. The Jam sind jugendliche Wiedergänger von The Who – sind Punk/New Wave, sind Power-Pop. Elvis Costello macht New Wave bzw Power-Pop – weil ich das jetzt mal so definiere. Will Sagen: Power Pop ist die Überschrift über Musik die nicht (mehr) Punk ist, auch kein New Wave ist, die von Mods und Beatles beeinflusste, kurze und prägnante Songs mit Punk-Härte und unterschiedlichen Beigeschmäckern können. Power Pop ist in den Jahren '77 bis '79 eine Kategorie, die für etliche Alben passt – und ich werde unter dieser Überschrift einiges auswählen, ehe Power-Pop dann in allen möglichen Stilarten aufgeht. Hier erst mal acht Acts mit zehn Alben, die – wenn man so will – Power-Pop bieten. ...Ich will.

The Boys


s/t

(NEMS, 1977)

Die britische Antwort auf die Ramones anyone ? 14 Tracks, 6 davon unter zwei Minuten, kaum einer über drei Minuten Länge, und dabei packen die Boys mehr Songideen in eine knappe halbe Stunde auf ihr Debüt, als andere Bands in ihrer ganzen Karriere haben. Es beginnt mit dem gefühlvollen „Sick on You“: „If I'm going to have a puke, you can bet your life I'll puke on you“ dichten sie, verarbeiten dabei die Beatles mit einer Prise Evelry Brothers, und versetzen deren Pop/Rock in die Punk-Ära. Natürlich wurden sie in die Punk-Ecke gestellt – ein Schicksal, welches sie mit vielen Power-Pop Bands ihrer Zeit teilen sollten - dabei hatten sie - genau wie die Kollegen von den Shoes - weit mehr mit klassischem Songwriting ihrer Vorbilder zu tun als mit No Future. Entstanden waren sie aus den Bands London SS und den Hollywood Brats, sie spielten im Roxy, nahmen an gerade mal zwei Tagen das Debüt auf, löschten dann zugunsten mehr Gitarren die Hammond Spuren aus ihrem Sound, wurden von John Peel hoch gelobt und hatten dann das unsägliche Pech, dass Elvis starb. Daraufhin konzentrierte sich ihre bescheuerte Plattenfirma nämlich auf die Produktion von Elvis-Compilations und ließen die talentierte Band verhungern. Immerhin, die Geschichte der Boys geht weiter, weil sie zunächst nicht aufgeben konnten.


The Shoes


Black Vinyl Shoes

(Black Vinyl, 1977)

Die Brüder Jeff und John Murphy und ihr Schulfreund Gary Klebe, drei Pop-begeisterte Jungs aus Zion, Illinois, beschlossen erst einmal Musik- Instrumente zu lernen um ihre eigenen Songs aufzunehmen. Sie fanden mit Skip Meyer noch einen Drummer und nahmen im Wohnzimmer die ersten Songs auf, veröffentlichten diese auf ihrem eigens gegründeten Label und erweckten die Aufmerksamkeit von PVC Records. Die unter primitivsten Bedingungen aufgenommenen Songs hatten gerade durch ihren rohern Sound eine Prägnanz, die ein Studio nie hätte schaffen können. Der Sound der Gitarren war erstaunlich fett, erinnert manchmal fast an die Wipers, aber die Songs orientierten sich ganz klar an Bands wie den Beatles und Big Star. Black Vinyl Shoes ist definitiv kein Punk, sondern das, was ich hier Power-Pop nenne - und wie man sich ihn wünscht. Die Songs sind trügerisch einfach, aber dann wieder mit erstaunlicher Melodieführung - „Fire for Awhile“ erinnert gar an die Beach Boys), diese Songs sind gerade durch ihre Einfachheit wie aus der Zeit gefallen – und somit im Grunde zeitlose (Power)-Pop Musik. Black Vinyl Shoes hat in meinen Ohren diese besondere Eigenschaft – es klingt, als hätten die Vier die Popmusik gerade erfunden – und würden voller Staunen das Ergebnis betrachten.


Elvis Costello


My Aim Is True

(Stiff Rec., 1977)

Na, der hier klingt NICHT naiv. Elvis Costello scheint von Anfang an mit voll ausgebildetem Talent – und altersweisem Zynismus – auf der Musik-Szene erschienen zu sein. Immerhin hatte er seit Beginn der Siebziger – noch in seinen „Teens“ - eine Vergangenheit in London's Pub-Rock-Szene, und dass er dem Punk/New Wave seiner Zeit zugerechnet wurde, liegt wohl auch ein bisschen an den Umständen. Anders gesagt – sein Musikalität hätte sich vermutlich in jedem Umfeld durchgesetzt. Und seine ätzende Stimme (die ich nicht wirklich mag) passt hervorragend zu Punk und Häme. Das Songwriting allerdings ist klassisch – an Rock'n'Roll und Brill Building geschult. Für das Debütalbum wurde ihm die US-Westcoast Band Clover ins Studio geholt, die sich gerade in England aufhielt. Ex-Brinsley Schwarz (und Pub-Rock) Musiker Nick Lowe produzierte schmucklos – und ließ so die Songs in klassischem Gewand strahlen. Man mag sich fragen, ob My Aim is True besser geklungen hätte, wäre schon Costello's spätere Band The Attractions mit dabei gewesen? Ich glaube nicht – Songs wie das Byrds-artige „(The Angels Wanna Wear My) Red Shoes“ vertragen den Westcoast Sound von Clover natürlich gut, der verborgene Hit des Albums, „Alison“, würde auch in „wavigerem“ Gewand nicht besser klingen. Und für die Single „Less Than Zero“ ziehen Clover sich die Country-Hosen aus. Schon sein Debüt eröffnet Costello mit einem ganz großen Song: Die 1 Minute 22 von „Welcome to the Working Week“ nehmen vieles vorweg, was noch kommen soll. Lustig, dass Costello viele der Songs auf dem Weg zu seinem Brot-Job schrieb – aus Rücksichtnahmen für Frau und Kind, er war schließlich „schon“ 23 Jahre alt. Der Mann hatte es inzwischen eilig, er nannte den ersten moderaten Erfolg von My Aim is Truean overnight success after seven years “. Immerhin. Danach ging's los. Ob das jetzt Power-Pop oder New Wave ist, kann jeder mit sich selber abmachen.


Dave Edmunds


Get It

(Swan Song, 1977)

Eigentlich war geplant, dass obiger Elvis Costello für Dave Edmunds ein paar seiner Songs zu dessen '77er Album beitragen würde – aber Dave Edmunds wollte nicht und Costello hatte eigene Pläne. Edmunds war schon weit über 30, er hatte Ende der Sechziger mit dem Blues-Rock Trio Love Sculpture zwei famose Alben - und sich als Gitarren-Virtuose einen Namen gemacht. Aber dann kam '72 das Solo-Album Rockpile, auf dem er seiner Liebe zum klassischen Rock'n'Roll frönte – und bei dieser Liebe blieb er dann. Er war befreundet mit Nick Lowe, und so holte er sich dessen Hilfe für das '77er Album Get It. Edmunds Einflüsse sind hier natürlich sofort erkennbar: Die Beatles, Everlys, Rock'n'Roll, Country - ein Gebräu das man natürlich heute, ohne die dereinst üblichen Ressentiments gegen Alles, was vor Punk geschah, getrost unter das große Zeltdach Power Pop stellen kann. Die Tatsache, dass Get It auf Led Zeppelin's Swan Song Label veröffentlicht wurde, zeigt, wie ehrenhaft deren Konzept war, es zeigt aber auch, dass die Musik hier bestimmt kein Punk o. dgl sondern klassischer Rock(n'Roll) ist. Mit Detail-Versessenheit, Kompetenz, und Lust eingespielt. Ob beim Rock'n'Roll von „Let's Talk About Us“ von „Fever“-Komponist Otis Blackwell, ob bei Hank Williams Country-Klassiker „Hey Good Lookin'“ oder bei Graham Parker's „Back to School Days“ - Alles klingt klassisch und zugleich frisch und zeitgemäß. Wer den Beweis braucht, dass Power-Pop auch Rock'n'Roll ist (und umgekehrt) der höre sich Get It an. Übrigens hört man hier, wie Lowe, Edmunds, Drummer Tery Williams und Keyboardern Bob Williams als Rockpile zur eingespielten Band werden, die nur aus rechtlichen Gründen kein Album einspielen durfte. Ein Jammer.


The Diodes


s/t

(CBS, 1977)

The Diodes und ihr selbstbetiteltes Debütalbum ist in Europa vermutlich deswegen so unbekannt, weil sie aus Toronto, Kanada stammen. Die '76 gegründete Band musste sich ihre Szene buchstäblich selber schaffen. Sie supporteten die Talking Heads in ihrer Heimatstadt, eröffneten mit ihre Manager den Crash 'n' Burn Club, gingen Anfang '77 auf Tour, spielten im CBGB's neben den Cramps und sind so etwas wie die Urväter der kanadischen Punk-Szene. Und als wäre das nicht genug der Ehre, kann man ihr Debütalbum getrost in eine Reihe mit den 70er Alben der Ramones, der Clash und der Sex Pistols stellen – mit der Ergänzung, dass hier neben „piss & vinegar“ mit einer erstaunlichen, an Garage-Rock und British Invasion geschulter Pop-Sensibilität agiert wird. Die Tatsache, dass das von Paul Simon für die US-Psych-Band The Cyrkle geschriebene „Red Rubber Ball“ das Album eröffnet, mag da Programm sein. Klar, dass auch eigene Songs wie „Child Star“ (über den Verfall von Kinder-Schauspielern nach deren erster Karriere) oder das stark nach Garage-Rock riechende „Blonde Fever“ äußerst gelungen sind. Der Vergleich mit den Ramones mag hinken – das Tempo ist im Studio gesitteter als live – aber das Talent für Schlagworte ist vergleichbar. Das Album wurde in den USA und Kanada veröffentlicht, aber in Europa kam man nur an das teure Import – so blieb der Erfolg aus. '78 gingen The Diodes mit den Ramones auf Tour, das zweite Album ließ auf sich warten, dann ließ Columbia sie wegen ausbleibendem Erfolg fallen und sie mussten sich um sich selber kümmern. Die Band machte unermüdlich weiter, spielte mit allen möglichen namhaften Kollegen (Circle Jerks, Ultravox, U2 (!)), aber mehr als Credibility und Ehre kam nicht dabei heraus. The Diodes (und den Nachfolger Released) kann man ohne jede Einschränkung empfehlen. Die Punk-Seite des Power-Pop... so wie...


The Jam


In The City

(Polydor, 1977)

The Jam

This Is the Modern World

(Polydor, 1977)

The Jam aus dem United Kingdom. Das sind 1977 drei junge Musiker, die sich eindeutig an den Vorvätern des Power Pop – an The Who und The Kinks – und an Soul und R'n'B orientieren. Von der Kleidung, dem Gehabe bis zum Songwriting sind die Vorbilder erkennbar – aber sie sind auf sehr geschmackvolle Weise in die Zeit des Punk transformiert. Sprich: Punk schimmert durch jedes Knopfloch. Tatsächlich hatte der Kopf von The Jam die Band schon 1972 gegründet, im The Who-Album My Generation. im Style der Mod's und in der Wucht solcher moderner Rhythm and Blues Bands wie Dr. Feelgood sah er einen Angelpunkt für die eigene musikalische Entwicklung, er wechselte vom Bass zu Gitarre, verschwor die Kumpels Bruce Foxton, der jetzt den Bass übernahm und den Drummer Rick Buckler zu einer kraftvollen Einheit und begann – nachdem zunächst Vorbilder aus Rock'n'Roll und Soul gecovert wurden - eigene Songs zu schreiben. Und das war ein Glücksfall: Paul Weller mag seinen Style abgeschaut haben – aber er hat von den Vorbildern alles Wichtige gelernt und er war ein wacher Kopf, der ein Ohr für großartige Melodien hat. Für Viele wäre ein Debüt wie In the City das Werk eines Frühvollendeten. Die Energie, die hier hervor birst, lässt es neben den Punk-Alben dieses Jahres bestehen, das Songwriting ist noch roh und unbehauen, wie gesagt deutlich an den Vorbildern orientiert, aber schon eigenständig genug. Das Cover des „Batman Theme“ ist am Vorbild von The Who orientiert, die Themen von Songs wie dem Titeltrack oder „Bricks and Mortar“ spiegeln ur-britisch juvenile Unzufriedenheit wider – wobei man in linken Punk-Kreisen über Weller's Verachtung für „Punk's trendy left-wingers“ nicht entzückt war. Die folgende „White Riot“ Tour mit The Clash wurde jedenfalls vorzeitig abgebrochen. Nach einer eigenen Tour ging die Band sofort wieder ins Studio – und das, obwohl Weller durch eine frische Liebe und die teilweise Verachtung seines Publikums nicht wirklich bei der Sache schien. This Is the Modern World, das zweite Album von The Jam gilt somit als ihr schwächstes – und ich würde es nicht erwähnen, wäre ich nicht der Meinung, dass es durchaus auch seine Stärken hat. Die Singles von The Jam hatten den erhofften Erfolg, die Band galt was, wurde trotz aller Differenzen dem Punk-Hype zugerechnet... und dem wurde jetzt der Saft ausgepresst. Aber Weller hatte bei allem Tumult immer ein paar gute Songs im Köcher. Sein erster Love Song „I Need You (For Someone)“ ist gelungen, der Titeltrack und „Standards“ zeigen, dass Weller als Songwriter wächst, die Cover-Version von „In the Midnight Hour“ ist kraftvoll, manche Tracks sind offenbar hastig hingeworfen, es fehlte eine Qualitätskontrolle - aber vielleicht braucht es so eine Delle, um größere Klasse zu erreichen – und der kraftvolle Sound der Band The Jam wurde hier noch einmal konzentriert. This Is the Modern World ist unter den Alben des Jahres '77 mindestens erwähnenswert – und es hat mit der Zeit gewonnen...


The Kinks


Sleepwalker

(Arista, 1977)

Da ist es in Verbindung mit den beiden '77er Alben von The Jam natürlich passend, auf das fünfzehnte Album von Paul Wellers Vorbildern The Kinks einzugehen, es zu loben und in diesen Zusammenhang zu stellen... Die Kinks gehörten in England natürlich zu den etablierten Bands – wobei die ganz große Zeit vorbei schien, die letzten Konzept-Alben eher halbgar waren. Aber Punk in England ist ein Stil, der zu den Kinks passt. Sie hatten die Plattenfirma gewechselt und ich vermute, Ray Davies war von der Wut und Wucht etlicher Bands durchaus angetan war – so dass er sich diesmal auf eine konzept-freie Songsammlung besann. Man kann sagen, dass die Kinks schon per Definition Power Pop gespielt haben, dieses Album zeigt immerhin, dass sie auch nach 13 Jahren noch Kraft und Ideen haben. Ihr Konk-Studio war aufgerüstet worden, so dass Sleepwalker einen volleren Sound hat, fast ein bisschen überproduziert klingt und als erstes Album ihrer „Areana Rock Phase“ bezeichnet wird – was mitnichten heissen soll, dass das Album schlecht wäre. Davies hatte etliche tolle Songs auf Lager, die sich nun keinem seltsamen Überbau unterwerfen mussten. Und er hatte natürlich inzwischen alle möglichen Sprachen 'drauf: „Mr. Big Man“ klingt nach Glam, Theater und Pop, der Titeltrack des Albums wurde zur Überraschung der Band ein kleiner Chart-Erfolg in den USA – trotz eines für Ray Davies erstaunlich düsteren Textes: „When everybody's fast asleep, I start to creep through the shadows of the moonlight, I walk my beat. Better close your window tight I might come in for a bite. I'm a sleepwalker, I'm a night stalker“ Dass der Song wieder eine dieser unwiderstehlichen Melodien hat, versteht sich. Ray Davies war in Form. Und mit „Juke Box Music“ gibt es einen weiteren Klassiker der Band auf dem Album. Un-peinlicher Pop von den Kinks = Power Pop.


Cheap Trick

s/t

(Epic, 1977)

Cheap Trick


In Color

(Epic, 1977)

Cheap Trick stehen wegen ihrer kommenden großen Erfolge synonym für Power Pop in seiner US-Variante. Die vier Musiker spielten schon seit '73 zusammen und hatten einen Stil entwickelt, der Beatles-Harmonie-Seligkeit mit der Power des Hard Rock a la The Who und einem vor Allem für US-Verhältnisse sehr schrägen Sinn für Humor paarte. Auf ihrem ersten Album wurden sie vom Aerosmith Produzenten Jack Douglas betreut, der ihnen einen entsprechend harten Sound verpasste. Dass Hauptsongwriter und Gitarriste Rick Nielsen einen Wall of Guitars aufbauen durfte, dürfte auch in Douglas' Sinn gewesen sein. Sänger Robin Zander nahm dem Sound mit seiner John Lennon-Stimme sicher etwas von der Härte – aber Cheap Trick ist im Vergleich mit dem, was noch kommen würde ein echtes Hard Rock Album – mit Melodien, die von den Beatles hätten kommen mögen. „Taxman, Mr. Thief“ etwa paart auf's feinste harte Gitarren mit Beatles-Harmonien, ähnlich melodisch kommt „Oh Candy“ rüber – ein Song über den Selbstmord der befreundeten Fotografin Marshall Mintz. Und der Hard Rock von „The Ballad of T.V. Violence“ behandelt den Serien-Mörder Richard Speck mit harten Gitarren und poppiger Melodie. Der Umgang der Band mit Pop, Rock, Grausamkeit und Romantik macht sie zu etwas ganz besonderem. Aber hier hört man Cheap Trick noch in ihrer Rohform – wer es etwas ausgefeilter und weniger „hart“ mag, sollte sich das zweite Album der Band anhören: In Color hat mit Tom Berman einen weiteren namhaften Hard Rock Produzenten, die Band aber betont auf diesem Album ihre leichte und romantische Seite. Hier ist das Live bald zum Metal-Kracher umgebaute „I Want You to Want Me“ - ein sonniger Pop-Track, der in dieser Form auch den Everly Brothers gestanden hätte. Der wird dann von „You're All Talk“ gefolgt, das auch auf's Debüt gepasst hätte. Aber die Fähigkeit der Band, sonnige Melodien mit Power, eigenem Stil und den Gitarrenfeuerwerken von Rick Nielsen zu einem ziemlich eigenwilligen und geschmackvollen Gebräu zu vermischen, ist auch hier schon intakt. Beide Alben sind Klassiker ihrer Zunft – und werden im kommenden Jahr nur noch von der gelungenen Kombination beider Seiten der Band auf dem dritten Album Heaven Tonight übertroffen. Dies hier sollte man als Hard-Rock-Seite von Power Pop sehen.

10 mal Power Pop durch die Dekaden

Zuletzt mein etwas beliebiges Spiel mit den „Top Ten“ des behandelten Genre's. Und gerade bei einem so wenig fassbaren Begriff wie „Power Pop“ ist es schwer, die besten 10 Alben zu benennen. Diese Auswahl würde sich sowieso schon in wenigen Stunden verändern, weil mir dann noch dieses oder jenes Album einfiele. Dann hat Power Pop großen Einfluss auf Alben, die man aber auch Punk, New Wave, Alternative, Pop, Psychedelic... whatever nennen kann. So habe ich hier nun 10 Alben benannt, ohne mehfach-Nennung einer Band und dabei einen zeitlichen Bogen über fast 30 Jahre gespannt. Sie alle haben immerhin ihr höchst melodisches Songwriting gemeinsam... ganz schön bliebig



Big Star – #1 Record (1972) – deren beide folgende Alben sind genauso gut und klassisch



Cheap Trick – Heaven Tonight (1978) – sieh oben, auch die beiden ersten Alben sind sehr gelungenen



The Jam – All Mod Cons (1978) – Oder ist das Punk oder Mod Revival?



The Cars – s/t (1978) – Die New Wave Version von Power Pop. Definitiv.



Nick Lowe – Jesus of Cool (1978) – muss man kennen, weil er der Pate des Power Pop in England ist und die gemütliche Pub-Rock Variante des Power Pop vertritt.



Game Theory – Lolita Nation (1987) – Viel zu unbekannter Paisley Power Pop...



The Posies – Frosting on the Beater (1993) – Die Grunge-Version von Power Pop.



Weezer – s/t (1994) – auch hier: Der Nachfolger Pinkerton ist vergleichbar und genauso gut.



Teenage Fanclub – Grand Prix (1995) – auch hier kann man Alles davor und danach empfehlen.



Supergrass – dto (1999) – ein Brit-Power-Pop Diamant, der ihre beiden beachtlichen vorherigen Alben übertrifft.