Dienstag, 13. Dezember 2016

1983 - AIDS, NATO-Doppelbeschluss, erstes Handy und Thriller - Tom Waits bis Cocteau Twins

In Beirut sprengt sich ein Selbstmordattentäter in der US Botschaft in die Luft, AIDS ist im breiten Öffentlichen Bewusstsein angekommen, der NATO Doppelbeschluß zur Aufrüstung sorgt für Proteste, Hunderttausende gehen auf die Straße und die Angst vor einem Atomkrieg ist eines der bestimmenden gesellschaftlichen Phänomene. Tatsächlich wird in der Sowjetunion fälschlich der Abschuss von Atomraketen durch die USA gemeldet - aber zum Glück reagieren die Verantwortlichen besonnen und erkennen den Falschalarm. In England wird Maggie Thatcher und die Konservative Partei in der Macht bestätigt und ihre Politik der sozialen Kälte geht dort in die zweite Runde – ein Hinweis darauf, dass Demokratie und Dummheit zu üblen Ergebnissen führt. Die erste Swatch Uhr kommt auf den Markt. Ebenso das erste Handy, ein 800 Gramm schweres Motorola-Mobiltelefon. In diesem Jahr sterben Muddy Waters, Karen Carpenter und Dennis Wilson, der einzige Beach Boy der auch surfte, ertrinkt im Meer. Michael Jackson ist die bestimmende Figur der Radiolandschaft, sein Album Thriller wird in diesem Jahr mit den dazugehörigen Videos zum Massenphänomen, und trägt sicher auch dazu bei, dass sich der Musiksender MTV jetzt endgültig etabliert. 1983 ist ein Jahr, das stellvertretend für die Musik der 80er stehen könnte: New Wave wird immer poppiger, Synth-Pop ist auf dem Höhepunkt, Bands wie Depeche Mode oder die Eurythmics werden zu Stars, New Order sind es schon. The Police machen ihr letztes Album, Metallica, U2 und R.E.M. bringen in diesem Jahr ihre Debutalben heraus und sind noch so etwas wie Geheimtips. Auch das pokulturelle Phänomen Madonna macht sein erstes Album. Scott Walker kommt mit einem fantastischen Solo-Album scheinbar aus dem Nichts zurück, Tom Waits entdeckt die Müllhalde als Ort der Inspiration. Es gibt in diesem Jahr – wie so oft in den Achtzigern – zwar einige bemerkenswerte Alben, einige die wirklich fantastisch sind, und deren Einfluss bis weit in die kommenden Jahrzehnte reicht, aber dahinter ist dauerhafte Klasse dünn gesät, insbesondere weil der Sound von Synthie und Plastikrhythmen überwiegt .... und ich erwähne wie gehabt hier noch kurz den übelsten, aber sehr erfolgreichen Schrott von Musikern wie Christopher Cross – ich weiss lieber nicht was genau das ist – ich erwähne voller Trauer David Bowie's rasanten Abstieg in die Bedeutungslosigkeit via Let's Dance und vergesse am besten völlig Genesis' Hitalbum (auch wenn das später auch eine Art Neubewertung erfahren wird...). Weg mit dem Schrott ... !

Tom Waits

Swordfishtrombones

(Island, 1983)

Tom Waits hatte vor Swordfishtrombones eine Pause von drei Jahren gemacht, Musik zu einem Film von Francis Ford Coppola beigetragen, bei den Dreharbeiten zu diesem Film seine Muse und spätere Ehefrau Kathleen Brennan kennengelernt und mit dieser eine stilistische Umjustierung seiner Kunst vorgenommen. Gestrichen wurden Hollywood Streicher, Barroom-Jazz und lyrische Nabelschau, Waits produzierte nun selbst, der schon auf Heartattack and Vine (1980) angedeutete experimentelle Umgang mit Arrangements und Instrumenten wurde konsequent durchgezogen und die so wunderbar erzählerischen Texte behandleten nun in noch surrealerer Weise als es zuvor die Kaputten und Loser dieser Welt. Die Frage ob Waits' gewagte Mischung aus Beatnik, Bohemian und 20er Jahre Stummfilm-Ästhetik vielleicht übertrieben oder gar kalkulierte Scharlatanerie ist, ist meiner Meinung nach obsolet, weil die Ästhetik einfach siegt. Und man sollte bedenken (und bewundern), wie gewagt dieser Schritt zu dieser Zeit war, mit welcher Konsequenz er ihn tat – ohne zu wissen, ob ihn das nicht aus dem Geschäft kicken würde. Und vor bewundernswert ist auc, wie wenig dieser „Sound“-Wechsel seine Songwriter- Fähigkeiten überdeckte, sprich: mit was für Songs er – nun eben in neuem Gewand - aufwartete: „Underground“, „In the Neighborhood“, „Down Down Down“ oder „16 Shells from a Thirty Ought-Six“ gehören zum Besten in seinem bis zu diesem Zeitpunkt schon an großen Songs reichen Oeuvre. Und das Experiment gelang: Swordfishtrombones wurde tatsächlich sein bis dahin erfolgreichstes Album. Ich frage mich, was die Plattenfirma vor diesem Erfolg zu ihm gesagt haben mag (...unverkäuflich, kommerzieller Selbstmord...). Tom Waits hatte sich mit neuem und wieder völlig eigenem Stil noch einmal erfunden und damit gewonnen.

R.E.M.

Murmur

(I.R.S., 1983)

Nach dem schimmernden Jangle Pop ihrer ersten EP entwickelte die kleine Band aus Athens/Georgia auf ihrem Debüt Murmur ihren eigenen, sehr individuellen Sound weiter: Man muß bedenken: 1983 waren R.E.M., deren Klangbild uns heute so vertraut ist, eine kleine Indie-Band, die klang wie kaum eine andere. Man konnte damals höchstens vergleichen: Da war der Gitarren-Jangle der Byrds vermischt mit der nervösen Energie von Gang of Four, eine treibend und äußerst melodisch spielende Rhythmussektion und Michael Stipes Gesang mit dieser so gut wiedererkennbaren Stimme, die teils sehr undeutlich dahingemurmelter Texte von sich gab, die eher lautmalerisch als inhaltlich von Bedeutung waren. Dazu Songs, die Folk, Power-Pop, Punk und Garage Rock organisch miteinander verbanden. Und ja – Punk ist auf diesem Album noch ein klar erkennbarer Einfluss. Und damals schon hatten diese Songs erstaunliche Ohrwurmqualitäten. „Pilgrimage“, und das schnelle „Catapult“ sind zwei Pole im Stil der Band, sehr unterschiedlich und dennoch eindeutig R.E.M. Der größte Hit des Albums, „Radio Free Europe“ ging als Gußform für viele kommende Independent Single Hits durch, das melancholische „Talk About the Passion“ oder die sich umeinander windenden Gitarren- und Piano-Chords von „Perfect Circle“ sind eingängig und zugleich für ihre Zeit innovativ. R.E.M. haben danach natürlich etliche erfolgreichere Alben gemacht, aber ihre Debüt-LP hat diese Frische und Unschuld, die sich nicht mehr reproduzieren lässt. Für so manchen Fundamentalisten war hier – oder spätestens nach dem zweiten Album - Schluß mit der Band, da der Einfluss des „Punk“ bald verschwunden war.... oder spätestens nach dem vierten Album, als sie den zur damaligen Zeit höchstdotierten Plattenvertrag bei Warner bekamen... oder oder oder. Aber wenn man es neutral betrachtet, dann haben R.E.M. sehr lange sehr gute Musik gemacht und soweit im Musik-Business möglich ihre Glaubwürdigkeit behalten – aber das ist ein unendliches Streitthema....

The Blue Nile

A Walk Across the Rooftops

(Linn, 1983)

Ein ganz seltsames Phänomen: The Blue Nile waren zur Zeit ihres ersten Albums in Glasgow so unbekannt, dass Sänger Paul Buchanan sein eigenes Album von einem Freund empfohlen bekam. Dabei existierte das Trio schon seit Ende der Siebziger, hatte eine Single und ein Demo aufgenommen, das von der schottischen High-End Firma Linn Electronics zu Demonstrationszwecken für ein Aufnahmesystem genutzt werden sollte. Linn waren vom Ergebnis so beeindruckt, dass sie der Band die Aufnahme eines ganzen Albums – ohne künstlerische Vorgaben – ermöglichte. Die Band benötigte weitere fünf Monate um Musik zu kreieren, die einerseits eindeutig in ihrer Zeit gefangen ist – mit Synthsizer Sounds und Drums, wie es sie nur in den Achtzigern gab, die aber andererseits durch ihre verregnete Astmosphäre und ihre schiere Eleganz seltsam aus der Zeit gefallen klingt. Ein Faktor ist sicher Paul Buchanans Stimme, die mitunter an Sinatra zu Sings Only for the Lonely- Zeiten erinnert. Ein Vergleich, der auch stimmungsmäßig zur Musik passt, allerdings sind die Arrangements auf A Walk Across the Rooftops weit transparenter, die Band mußte jeden Ton selbst einspielen, was ihnen schon wegen zunächst mangelhaften instrumentalen Fähigkeiten etwas schwer fiel. Nicht dass man diesen Umstand dem Album anmerkt: Sie machten aus der Not eine Tugend, spielten nur das Allernötigste und ließen der Musik Raum zum atmen. Und was natürlich am Wichtigsten ist: Sie hatten mit dem Titelsong oder etwa dem „Hit“ „Tinseltown in the Rain“ großartige Songs am Start. Zunächst bekamen sie rave reviews, aber wenig kommerziellen Erfolg, aber über die Zeit erwies sich das Album als äußerst einflussreich und hat inzwischen einen verdienten Status als Klassiker erlangt.

New Order

Power, Corruption & Lies

(Factory, 1983)

Nach dem Tod von Ian Curtis hatten Joy Division unter dem Namen New Order ein Album gemacht, dass – nun ja – eben nach Joy Division ohne Ian Curtis geklungen hatte. Zwar gab es schon dezente Hinweise auf eine „Erweiterung“ des Stils, aber erst mit Power, Corruption and Lies gelang ihnen eine wirkliche Neuorientierung. Es beginnt schon mit dem Surf-Guitar Riff von „Age of Consent“, da ist Bernard Sumner, dessen jungenhafte Stimme zwar nicht herausragend ist, der der Band aber gerade durch seine Neutralität eine breitere Stimmungspalette bietet. Und da ist der Einsatz von Synthesizern und Dancefloor-Rhythmik, der den stoischen Puls von Joy Division auf die Tanzfläche verschiebt. Und dabei ließen New Order ihre erfolgreichste Single, „Blue Monday“ sogar tatsächlich nach alter britischer Tradition außen vor (Diese ist allerdings auf den Re-Isues von Power, Corruption and Lies üblicherweise dabei). Freundliche Pop-Songs wie „The Village“ stehen neben melancholischen Stücken wie „Your Silent Face“, noch waren die Dance Einflüsse nicht so bestimmend, wie sie bald werden würden, noch war Joy Division unter allem erkennbar, aber diese Band hatte einen Ausweg aus ihrer eigenen Geschichte gefunden und ein erstes echtes Pop-Album gemacht. Nebenbei: Der Titel bezieht sich angeblich auf die Worte des Künstlers Gerhard Richter, der diese Worte bei einer Ausstellung seiner Werke in der Kölner Kunsthalle auf die Aussenwand sprayte.

Chameleons

Script of the Bridge

(Statik, 1983)

Und ein noch so ein Fall von Ungerechtigkeit im Pop-Business. Das Debüt der Chameleons sollte eigentlich zu den großen Alben in der Geschichte der Rockmusik gehören, irgendwo neben dem Debut von Echo & the Bunnymen und Seventeen Seconds von The Cure. Script of the Bridge ist durchaus eines der zeitlosen Alben, die ohne Weiteres 25 Jahre später im Zuge des Post-Punk Booms hätte erscheinen können, neben Alben von Interpol oder den Editors aus den 00er Jahren. Und es wäre wegen seiner formidablen Songs sogar die bessere Wahl gegenüber den Editors gewesen. Und tatsächlich klingen bei genauem hinhören die New Yorker Interpol wie eine Chameleons-Cover-Band. Vom Drumming und Songwriting bis zur Stimme sind sie ein Klon der Band aus Großbritannien/ Middleton. So gesehen könnte Script of the Bridge also als Best Of Album eines ganzen Genres durchgehen. Songs wie „Monkeyland“, das John Lennon Tribut „Here Today“, oder das post-apokalyptische Schlußstück „View From A Hill“ haben alles, was man bei bekannteren Vertretern des Genres wie etwa Echo & the Bunnymen sucht. Die Stimme von Bassist Mark Burgess ist tief in Echoeffekte getaucht, die Melodien werden geschickt von Twin Guitars getragen, das komplette Album ist enorm atmosphärisch und klingt vollkommen zeitlos. Script of the Bridge ist ein Album, das auf allen Ebenen funktioniert, intellektuell, spirituell und physisch, und wie es so läuft in solchen Fällen, es bietet Musik, die erst Jahre später wirklich geschätzt wurde. Und auch die Chameleons sollten es schwer haben, ihr Debut zu übertreffen - und sie haben bis heute lediglich Kultstatus.

The Go-Betweens

Before Hollywood

(Rough Trade, 1983)

Die Go-Betweens waren 1983 eine Punk-Band wie die Talking Heads oder Television. Sie hatten dieselbe Nervosität und Lust auf Innovation, wie die Vorgenannten, allerdings war ihre Musik zusätzlich tief verwurzelt in Folk und der Kunst der frühen Singer/ Songwriter – nicht nur in der Musik der Velvet Underground. Bei Ihnen wurde der Jangle-Rock der Achtziger vorgedacht und die Nervosität des Post-Punk dazuaddiert – woraus ein Sound entstand, mit dem im selben Jahr R.E.M. ihre Karriere begannen, die sie zu weit größerem Erfolg führen sollte. Das zweite Album der Go-Betweens, Before Hollywood kann problemlos neben Murmur bestehen, und die famose Single „Cattle and Cane“ wird nicht zu Unrecht als eine der besten des Jahres '83 genannt. Die Band war nach ihrem Debütalbum von Rough Trade Chef Geoff Travis von Australien nach England eingeladen worden und die Musiker wussten wohl selber nicht so genau, was man an Ihnen fand. Im Sommer '82 schrieben sie ohne sonderlich viel Kontakt zu irgendeiner Szene zu haben, ihre Songs in London und nahmen sie dann mit dem Produzenten John Brand auf (der zuvor Aztec Camera's High Land, Hard Rain aufgenommen hatte). Die Klasse des Albums mag in ihnen nicht bewusste gewesen sein, aber Before Hollywood ist eine wunderbar eigenständige und frische Songkollektion – und ein echter Fortschritt im Vergleich zum Debüt.. Die Band klingt ungemein transparent, das reduzierte Ensemble aus den beiden Songwritern (und Freunden seit College Tagen) Grant McLennan am Bass und Robert Foster an der Gitarre mit der Drummmerin Lindy Morrison hatte im letzten Jahr eindeutig dazugelernt. Auf diesem Album wechseln sich die beiden Songschmiede ab, da ist McLennans minimalistisches Meisterstück „Dusty In Here“, in dem er Bezug auf den Tod seines Vaters nimmt, da ist Fosters „By Chance“, ein Song den er selber auch später noch als einen seiner Besten bezeichnete – heraus kam ein kompaktes Album, das Post-Punk und Songwriter-Kunst mühelos miteinander vereint.

Scott Walker

Climate of Hunter

(Virgin, 1983)

1983 erschien Climate of Hunter buchstäblich aus dem Nichts: Scott Walker war fast vergessen, zwar hatte er zum 1978er Walker Brothers Album Night Flights vier phänomenalen Songs beigetragen, aber die waren zum Einen Fremdkörper auf diesem Album gewesen, zum Anderen waren die Brothers schon zu dieser Zeit ein vergessener Oldie-Act gewesen, und niemand rechnete nun noch mit weiteren Äusserungen des Musikers. Walker hatte seit diesem Album ohne Vertrag mehr schlecht als Recht von der Legende seiner frühen Jahre gelebt - er war so etwas wie der Orson Welles der Rockmusik geworden. Nachdem sein Ruf die Realität überholt hatte, bekam er doch noch einmal die Möglichkeit ein Album aufzunehmen. Er holte sich ein seltsames Sammelsurium von Musikern an Bord – Soul-Sänger Billy Ocean, Dire Straits Gitarrist Mark Knopfler – die allesamt wohl nicht wirklich wussten wie ihnen geschah, als Walker sie ohne Vorgaben ihre Parts einspielen ließ. Eine Vorgehensweise mit Methode: Walker hatte Songskizzen im Kopf, wollte aber die Melodien „geheimhalten“ um der Musik eine gewisse Freiheit – und Ungewissheit - zu lassen. Dazu wurden die Hälfte der Songs ledigich durchnummeriert (um sie nicht mit Titeln zu „überfrachten“) und den Mitwirkenden wurden lediglich Skizzen aus Drums, Bass und Walkers Gesang vorgestellt. Das Ergebnis allerdings ist von teils verblüffender Schönheit. Mark Knopfler hat selten so effektiv gerspielt wie bei der Vertonung des Tennessee Williams-Gedichtes „Blanket Roll Blues“, „Rawhide“ mit prominentem Bass und Orchester ist ebenso geheimnisvoll wie „Sleepwakers Woman“. Das Album hat trotz der sehr künstlichen Sound- Ästhetik der Achtziger mit der Zeit gewonnen. Ironischerweise wurde Climate of Hunter zu einem der am schlechtesten verkauften Alben der Plattenfirma Virgin. Ein Beweis, dass guter Geschmack elitär ist. Dass Scott Walker in den kommenden Jahrzehnten noch viel weiter ging, konnte man hier zumindest erahnen. Man kann Alben wie The Drift und Bish Bosch avantgardistisch nennen – oder Kunstkacke, Climate of Hunter ist im Vergleich zu diesen beiden „Werken“ recht zugänglich und somit ein leichter Einstieg in Walker's musikalisches Werk nach den Siebzigern.

Richard Thompson

Hand of Kindness

(Hannibal, 1983)

Dies war das erste Album Richard Thompsons nach der Trennung von seiner Frau und musikalischen Partnerin Linda, es war das Erste nach dem kathartischen Shoot Out the Lights – einem der besten Alben der Actziger (das allerdings laut Aussage beider Beteiligter KEIN Trennungsalbum war) – und es war somit ein Album, das es schwer haben würde, sich mit dem Vorgänger zu messen. Nun hätte man erwartet, dass Richard Thompson nach dieser Trennung in Bitterkeit versinken würde....  Aber mitnichten: Natürlich gibt es bei ihm immer Songs über zerbrechende oder zerbrochene Beziehungen, aber er war gerade frisch verliebt, ER hatte Linda Thompson verlassen, privat gab es also keinen Grund zu Trauer oder gar Wut. - Was natürlich auch nicht heisst, dass hier fröhlich über Blumenwiesen getanzt wird. Songs wie „Tear Stained Letter“ und „A Poisoned Heart and a Twisted Memory“ wollte man gerne autobiographisch lesen – was Thompson gewiss auch wusste, der dunkelste Moment auf Hand of Kindness, die Moritat „Devonside“ ist allerdings deutlich nicht selbstbezogen, sondern eher angelehnt an traditionelle englische Folkmusik – und ein Song, den Thompson kaum Live spielt um „das Publikum nicht depressiv zu machen“... Die meisten Songs und vor allem der Grundton auf Hand of Kindness allerdings ist – man möchte fast sagen – fröhlich – der Sound wird durch Bläser angereichert, Thompsons wie immer unfassbar gutes Gitarrenspiel wird noch selbstbewusster nach vorne gestellt. Der Cajun-Stomp von „Two Left Feet“ ist richtig flott, und die Perderennbahn-Story von „Both Ends Burning“ ist sogar rasant. Er schaffte es wieder einmal Folk mit Rock'n'Roll zu vermischen und ergänzte die Klangpalette gekonnt um Saxophon und Akkordeon. Das klang vielleicht noch nicht so organisch wie auf kommenden Alben, denn noch ist Folk eindeutig die Grundlage auf der er seine Songs aufbaut, das Ergebnis aber wat wieder einmal überzeugend. Aber natürlich blieb er weiterhin ein Fall für Spezialisten.

Police

Synchronicity

(A&M, 1983)

Synchronicity ist natürlich das Album, das Police endgültig zu Superstars machte, und es ist das Album, nach dem sich die Wege der drei Individualisten trennen mußten. Vier Singles wurden aus dem Album ausgekoppelt, und vor Allem „Every Breath You Take“ mit seinem treibenden Beat und seinem melodischen Basslauf wurde zu einem vom Format-Radio fast zu Tode gespielten Klassiker. Aber auch „King of Pain“ und „Wrapped Around Your Finger“ sind hochinfektiöse New Wave Songs, „Tea In the Sahara“ ist hypnotisch und zugleich melancholisch. Manche der restlichen Songs sind im Vergleich schwach, insbesondere die beiden Songs von Gitarrist Summers und Drummer Copeland sind Fremdkörper auf dem Album. Durch diese beiden Songs wird zum Einen deutlich, wie sehr Sting die Band beherrschte und wie wiet die drei Musiker inzwischen von einander entfremdet waren. Ein Zustand, den die beiden Musiker immer weniger akzeptieren wollten. So nahm die Band ihre jeweiligen Parts ganz konsequent in unterschiedlichen Räumen in einer Villa in Montserrat auf - und bei „Every Breath You Take“ kam soll es sogar zu Handgreiflichkeiten zwischen Sting und Copeland gekommen sein. Insgesamt überstrahlen die Singles den Rest des Albums sehr, und die Zeit mag dem Album nicht gut getan haben, aber das sind Moden - und was sind die schon wert - es enthält einige der besten Pop-Songs der 80er.

Cocteau Twins

Head Over Heels

(4ad, 1983)

Das Schlüsselwort zur Beschreibung des zweiten Albums der Cocteau Twins ist Abwechslungsreichtum. Und das ist eigentlich ein ungewohnter Begriff bei einer Band, die exemplarisch für ein Genre steht, das einen doch recht begrenzten Soundkosmos hat. Aber auf Head Over Heels gleicht tatsächlich kein Track dem anderen. Das Debüt Garlands hatte man noch als Post Punk mit Gothic Einflüssen wahrgenommen, auf dem zweiten kompletten Album der Cocteau Twins wurde aus Post-Punk und Gothic etwas Neues, hier entstand Dream Pop oder Ethereal Wave – und man hört bei der Erschaffung dieses Stils zu. Der gespenstische Opener „When Mama Was Moth“ ist zwar untypisch für das Album, kommt fast ohne Percussionaus, ist aber schon ausserordentlich atmosphärisch, mit „Five Ten Fiftyfold“ weisen sie auf den Dream Pop der kommenden Jahre, „Sugar Hiccup“ ist noch verträumter, mag als typischer Cocteau Twins Song durchgehen, das folgende „In Our Angelhood“ hat einen regelrechten Soul-Rhythmus – und so geht es weiter... Elizabeth Fraser benutzt ihre Stimme meist eher als Instrumen, denn als Textträger, der Sound ist natürlich massiv verhallt, aber noch durchstossen Drums, Bass, Gitarren oder ein Saxofon den Nebel. Beim dramatischen „In the Gold Dust Rush“ trägt die akustische Gitarre durch den Song, „Multifoiled“ hat eine Fiona Apple-Melodie und beweist ein weiteres mal, dass die Cocteau Twins unter all dem Sound auch Songs hatten und der feurige Closer „Musette and Drums“ beschließt ein Album, das in seiner Dramatik und seinem Sound ständig zwischen den Polen der Musik der Cocteau Twins schwingt – und das damit abwechslungsreicher und damit auch unverwechselbarer ist, als alle anderen Alben der Band. Head Over Heels bleibt für mich das faszinierendste Album der Cocteau Twins, auch wenn sie in Sachen Atmosphäre noch zulegen würden.














Mittwoch, 7. Dezember 2016

1990 – Death bis Judas Priest - die hohe Zeit des wirklich harten Metal

Eines als Einführung: Für den Nicht-Initiierten - und dieser Blog ist auch und vor Allem an solche gerichtet - hört sich im extremen Metal vermutlich alles ziemlich gleich an - aber für einen Inuit ist Schnee ja auch nicht gleich Schnee – es scheint also Unterschiede zu geben, die man erst bei genauer Kenntnis sieht. und dieser Artikel soll nicht nur den Metal-Eskimo ansprechen. Denn wenn man sich ernsthaft mit dieser Musik befasst, und über ihre Klischee's hinwegsieht (bunte Gruselcover, Krümelmonstergesang etc.), bzw sie als Stilmittel akzeptiert, gewinnt sie an Reiz und macht großen Spaß.

Natürlich gibt es neben Slayer's Seasons in the Abyss noch etliche großartige Metal-Alben im Jahre 1990. Man muss bedenken, 1990 - das war noch vor Nirvana's Nevermind und vor dem schwarzen Album von Metallica – es war die Zeit, bevor Metal von einer breiten Masse akzeptiert wurde. Metal war tatsächlich noch „true“. Zwar waren Slayer, Metallica und Megadeth schon Bands mit ernsthaftem kommerziellem Erfolg, aber die Fortführung der Stilistik des Thrash - der Death Metal - war immer noch Underground – ein Underground, der sich allerdings schon weit entwickelt hatte und dessen main acts inzwischen bei den etablierten Labels angekommen waren (Earache und Roadrunner...), die im Laufe der kommenden Jahre mit diesen Bands zu erfolgreichen Genre-Plattenfirmen werden würden. Und diese mit dem Begriff „Death Metal“ auf einen Haufen geworfenen Bands bilden wiederum die Speerspitzen von Mikro-Genres – Technical Death Metal, schwedischer Death Metal, Doom Death etc. So sind hier unten einige wirklich visionäre Alben reviewt – etliche Death Metal Alben, die den guten Ruf der jeweiligen Band zementieren werden (Death, Entombed, Atheist) Vorläufer des Black Metal (Blasphemy) oder Viking Metal (Bathory), Thrash wie das Album von Artillery oder Forbidden, der den verdienten Erfolg von Slayer und Metallica nicht teilte weil Death Metal Acts inzwischen die Aufmerksamkeit des bisherigen Publikums auf sich lenkten, oder die Debütalben von Winter oder Psychotic Waltz, die sich stilistisch schwer einordnen lassen, die allerdings auch nicht wirklich bekannt geblieben sind, – und das beste 90er Album der alten Recken von Judas Priest, das sich vor keinem Album der ganz harten Riege verstecken muss. Kurz: Wir sind erkennbar mitten in einem der entscheidenden Jahre des (extremen) Metal, und einige der hier vorgestellten Alben mögen inzwischen unter dem immensen Haufen von Nachfolgern fast vergessen sein, aber sie haben bei genauem Hinhören die Zeit erstaunlich gut überstanden – unter anderem auch deshalb, weil sich seither im (Death und Thrash) Metal nicht wirklich viel verändert hat.


Death

Spiritual Healing


(Under One Flag, 1990)

Die Namensgeber eines ganzen Genres – Die Band Death - war 1990 in einer Phase des Überganges. Das vorherige Album Leprosy war noch (relativ) einfach gehaltener Death Metal, auf dem folgenden Album würden sie den Schritt hin zum komplexen Technical Death Metal vollziehen. Aber nicht nur daran kann man bis heute erkennen, daß Chuck Schuldiner seinerzeit die Spitze der Entwicklungen im Death Metal inne hatte. Für Spritual Healing hatte der Egozentriker wieder einmal das Line Up verändert, - James Murphy war nun an der zweiten Gitarre, und Schuldiner ließ niemanden mehr in seine Vision von Metal hineinreden, was dazu führen würde, dass der virtuose Gitarrist Murphy bald frustriert die Band verlassen würde um zur Band Obituary zu wechseln. Letztlich war Schuldiner's Ego so groß, dass das sich immer schneller drehende Besetzungskarussell für die Musik von Death unerheblich war - die war allein Schuldiners Werk. Auf Spiritual Healing sind einige der besten (= nachvollziehbarsten) Songs der Ein-Mann Show versammelt: „Altering the Future“, „Low Life“ und der Titeltrack haben ihren Reiz genau dadurch. dass sie noch die Thrash-Riffs aus der Anfangszeit der Band haben, aber durch seltsame Tempowechsel und vertrackte Sequenzen aus alten Schemata ausbrechen. Im Vergleich zu den folgenden Alben mag Spiritual Healing schwächer sein, weil es noch relativ konventionell ist, weil insbesondere Drummer Bill Andrews den Anforderungen nicht gerecht wird, aber dieses Album ist ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der Band und in der Entwicklung des gesamten Genres – und zugleich klingen Death schon 1990 durch Schuldiner's harschen Gesang, seine virtuoses Gitarrenspiel und die eigenartigen Songstrukturen sehr eigenständig.

Atheist

Piece of Time


(Active, Rel.1990)

Hier ein Album, das in gewisser Weise die Musik vorwegnahm, die Death ab diesem Jahr entwickelten. Das Debüt von Atheist war sogar schon 1988 aufgenommen worden, und wurde nun - zwar mit Verspätung - veröffentlicht, sollte allerdings großen Einfluß auf die Szene haben. Piece of Time ist ein Death Metal Album mit der Ästhetik des Jazz-Rock, mit unvorhersehbaren Tempowechseln, nicht linearen Riff Progressionen und einer technischen Virtuosität, die die bis dahin im Death Metal unbekannt war. Es wurden Maßstäbe aufgestellt, denen andere, genauso abenteuerlustige Bands wie Cynic, Pestilence oder Death (die erst noch vergleichbar „progressiv“ werden sollten) erst mal gerecht werden mußten. Songs wie „Mother Man“, „Room with a View“, „On They Slay“, und „I Deny“ auf denen sich wahnsinnige Akkorde mit seltsam kargen Melodien und den gequälten Growls von Frontman Kelly Shaefer vermischen, brauchen mehrmaliges Hören um ihre Wirkung zu entfalten, aber dann zeigt sich die Klasse dieses Albums. Alben wie World Downfall oder Altars of Madness brachten im Death Metal Speed und Bösartigkeit ins Spiel, Atheist fügten ein extrem hohes musikalisches Niveau hinzu und definierten so den Technical Death Metal.

Obituary

Cause Of Death


(Roadrunner, 1990)

Ähnlich wie Death stehen Obituary synonym für amerikanischen – genauer für den Florida- Death Metal. Sie hatten mit ihrem Debüt Slowly We Rot einen Klassiker des Genres geschaffen, Cause of Death sollte keinen Deut schlechter sein. Zwar war mit Alan West ihr Gitarrist ausgestiegen, aber James Murphy von Death nahm dessen Platz gerne ein, da er neben dem egozentrischen Chuck Schuldiner bei Death keine Zukunft sah. Und er bekam hier die Gelegenheit, auf einem eigenen Album seine Ideen fließen zu lassen: Cause of Death wurde durch sein - bei Death geschultes - gewundenes Spiel einerseits und die extreme Brutalität und Schnelligkeit der Mitstreiter bei Obituary andererseits zu einer Art Hybrid aus dem Besten beider Bands. Das Spiel mit Tempowechseln, die extremen Growls von Sänger John Tardy, dessen Stimme völlig krank klang, und der damit Horden von jungen Männern zum Extrem-Growlen verführte - all das kannte man vom Debüt, aber Obituary gewannen durch diese Kombination von Elementen bei Songs wie dem Titelstück (mit einem der besten Gitarrensoli in einem DM-Song) eine neue Dimension hinzu. “Find the Arise” oder “Circle of the Tyrants” wurden zu Klassikern des Death Metal und von “Body Bag” bis “Turned Inside Out“ ist hier jeder Song ein Tribut an die letzte Wahrheit: den Tod. Womit Cause of Death ein weit „typischeres“ Death Metal Album ist, als Spiritual Healing etwa.

Nocturnus

The Key


(Earache, 1990)

Im selben Jahr, in dem Chuck Schuldiners Death sich allmählich einer komplizierteren „technischeren“ Variante des Death Metal zuwandten gab es neben Atheist noch eine Band, die diesen Schritt schon hinter sich gebracht hatte, die Death Metal, Progressiven Rock und eine gewisse Jazz-Ästhetik miteinander verband. Nocturnus aus Tampa, Fl hatten als Band in den späten 80ern begonnen, und sie hatten sofort einen recht eigenen Sound, weil sie mit Louis Panzer eine Keyboarder im Line-Up hatten - absolut unüblich bei Death Metal Bands zu Beginn der Neunziger. Dazu kamen bei ihnen Genre-untypische, okkulte Science Fiction Lyrics und unwahrscheinliche Tempowechsel innerhalb der Songs. The Key ist nicht weniger brutal und hart, als andere Veröffentlichungen dieses Genres, aber ihre Songs, die Melodieführung und der Sound der Band heben The Key sehr vom Rest der anderen Alben dieser Zeit ab. Technisch waren Nocturnus natürlich absolut auf der Höhe und in ihren Songs waren mit dämonischen Growls (von Mike Browning) und rasantem Tempo alle Trademarks des Death Metal vereint. Aber The Key ist eines der interessantesten Alben des Genres weil es sich durch seinen technoiden Klang, Keyboards und hohe Komplexität doch sehr von den „normalen“ Alben des Genres abhebt – so sehr, dass sie auch im Death Metal zu den Aussenseiter gezählt wurden. Schade, denn Songs wie „Lake of Fire“ oder das chaotische „Visions from Beyond the Grave“ haben die Zeit seit 1990 überraschend gut überstanden, erinnern manchmal an den chaotischen Black Metal von Bands wie Deathspell Omega – allerdings addiert um eine verborgene und somit überraschende Melodik.

Entombed

Left Hand Path


(Earache, 1990)

Nicht nur in Florida erreichte der Death Metal 1990 seinen ersten Gipfel. Auch der skandinavische bzw. schwedische Death Metal hatte mit Left Hand Path seinen ersten Klassiker. Im Gegensatz zu den amerikanischen Bands ist der Sound skandinavischer Bands „dreckiger“, „swingender“ und mehr am Rock'n'Roll orientiert. Bands wie Entombed vermischen Songwriting, das an Bands wie Obituary erinnert mit der punkigen Härte englischer Extrem-Metal Bands wie Napalm Death. Dazu kam bei den Skandinaviern ein für DM Bands untypischer Hang zu regelrecht melodischen Passagen – womöglich wird in Schweden ja ABBA mit der Muttermilch verabreicht.... Die Songs auf Left Hand Path waren teils schon einige Jahre alt und von ihrer Struktur recht primitiv, aber der monumentale Sound und die schiere Urgewalt mit der Songs wie „But Life Goes On“ herausgehauen wurden, machten das Album seinerzeit zu einem Ereignis in der Szene. Duale Gitarrenattacken und ein Ambientpart im Titeltrack sowie die monströsen Growls von Sänger Lars-Göran Petrov – der mit seinem kranken Organ neben sich nur noch John Tardy hatte - gaben der Musik der Schweden einen sehr eigenen Anstrich und beeinflusste eine große Anzahl anderer Bands. Schwedischer Death Metal wurde zum eigenen Markenzeichen, und Entombed wurden zum ersten Vertreter dieses Mikro-Genres.

Winter

Into Darkness


(Future Shock, 1990)

Wenn man das einzige komplette Album der New Yorker Band Winter heute hört, dürfte es nicht mehr ganz so aussergewöhnlich klingen wie 1990. Zu dieser Zeit gab es natürlich „Doom“-Metal, es gab Bands wie Saint Vitus, es gab Celtic Frost und Bathory, die noch finsterer waren als die Klone von Black Sabbath, aber Into Darkness hat mit Black Metal und Doom nur am Rande zu tun. Das hier müsste man heute Drone/Doom Metal nennen (wenn man in einer Schublade sucht). Das Trio aus Sänger/Gitarrist John Alman, Bassist Stephen Flam und Drummer John Goncalves verlangsamten die seinerzeit üblicherweise rasanten Gitarren und Drums des Death Metal fast bis zum Stillstand, dazu „sang“ Alman einfach eine Oktav tiefer als der typische Death Metal Growler und die Band erzeugt mit ihrem monotonen, aber kraftvollen Sound eine klaustrophobische und seltsam kalte Atmosphäre, die den Bandnamen vollkommen rechtfertigt – und machten damit eine seltsam avantgardistische Version des Metal - Eine, die für mich gut nach New York passt und die sie eher ans Ende einer Reihe von NY-Noise Bands stellt – und sie auch ausserhalb der unfreiwillig komischen Grusel-Images der anderen DM Bands stellt... Die acht Minuten von „Goden“ etwa klingen wie der Marsch nach Golgatha bei Eiseskälte. Von der Zeitschrift New Yorker Village Voice wurde das Album bezeichnenderweise unter die zwanzig wichtigsten Hardcorealben der Stadt gewählt - was aus den oben genannten Gründen richtig und zugleich sehr sympathisch ist. Zwei Jahre nach seiner ersten Veröffentlichung machte das Nuclear Blast Label das Album einem „breiteren“ Publikum zugänglich. Die drei Musiker rafften sich hier und da zu Live-Shows auf, aber Into Darkness (plus vier Jahre später die EP Eternal Frost,...)blieb ihr Vermächtnis.

Megadeth

Rust In Peace


(Capitol, 1990)

Um 1990 war der Wunder-Gitarrist und cholerische Exzentriker Dave Mustain wahrscheinlich wieder einmal für kurze Zeit clean und hatte wieder ein neues Line-Up um sich versammelt um ein weiteres Album mit seiner Band Megadeth zu fabrizieren. Mit dem Gitarrenvirtuosen Und Ex-Cacaphony Member Marty Friedman, mit Bassist David Ellefson und Drummer Nick Menza hatte er einige der besten Leute ausserhalb Metallica um sich versammelt ... und die erforderliche Tagesform für den Master-Stroke. So wurde Rust in Peace zu Megadeth's bis heute bestem Album. Wie seine Intimfeinde von Metallica setzte Mustain einen Akzent auf Progressiven Thrash mit komplexen Rythmen und verspielten akustischen Parts, und konzentrierte sich auf ausgefeiltes Songwriting - mit überzeugenden Ergebnissen. Das orientalisch anmutende, epische "Hangar 18“ (über Aliens natürlich), „Holy Wars... The Punishment Due“ mit technisch extrem herausfordernden, teils akustischen Passagen, die er und Friedman anscheinend mit Links bewältigten oder das titelgebende Stück: All diese Songs wurden mit einer Finesse und Lust gespielt. Die auch derjenige erkennt, der sonst mit Metal nichts am Hut hat, und die auch dieses Album erstaunlich zeitlos klingen lassen. Hier konnte man sehen, was Mustain und Megadeth hätten sein können, wäre der Kopf der Band nicht so unberechenbar. Und interessanterweise war zum Einen das Album so gut und zum Anderen Megadeth's Stellenwert noch immer so hoch, dass das Album den verdienten kommerziellen Erfolg hatte. Ganz nebenbei: Die Coverkunst stammt - wie die von Death's Spiritual Healing - von Ed Repka. Der hat ein komplettes Genre bedient und die Vorstellung davon, wie Metal Alben aussehen für ganze Generationen von Metal-Fans geprägt.

Forbidden

Twisted Into Form


(Under One Flag, 1990)

Nach einem guten, aber auch an manch andere Szene-Größe erinnernden Debütalbum (Forbidden Evil von 1988) kamen die San Francisco-Thrasher Forbidden mit diesem sorgfältig austarierten Werk auf eine Szene, die inzwischen stark in Bewegung war. Ihr Stil; eine clevere Mixtur aus Thrash- Dynamik und melodischem und powervollen Songs war beeindruckend eigenständig und klang wunderbar - wenn man angesichts des neuen Trends Death Metal hinhören mochte. Sie erinnerten an eine Mixtur aus Helstar und Exodus, hatten in Russ Anderson einen agilen, kraftvollen Sänger, Songs und Riffs wie geschmolzenen Metall und die beliebten wechselnden Solo-Gitarren von zwei fähigen Gitarristen. Das krachende und zugleich melodiöse “Step By Step” und der abgedrehte, komplexe Titelsong zeigen alle Stärken der Band. Dazu das muskulöse und schnelle Drumming von Paul Bostaph, der sich mit Forbidden einen Namen machte und der Songs wie dem facettenreichen “Tossed Away” viel Dynamik verpasste (und dadurch bald von etlichen namhafteren Bands umworben wurde: Zwei Jahre später holten ihn sich Slayer...) Vielleicht lag es am inzwischen deutlichern Überangebot an hervorragenden Thrash-Acts und an der Neuorientierung vieler Fans Richtung NOCH härterem Death Metal zu Beginn der 90er, vielleicht an fehlender „Härte“ im Vergleich zu anderen Aczts - Twisted Into Form wurde 1990 weniger beachtet, als die Alben der Konkurrenten, obwohl es ist definitv eines der Alben ist, an die man sich zu Recht gerne erinnern sollte – eines das neben den Klassikern von Metallica, Slayer, Anthrax und Megadeth ohne weiteres bestehen kann. 

Demolition Hammer

Tortured Existence

(Century Media, 1990)


 

Die New Yorker Demolition Hammer kommen mit ihrem Debüt Tortured Existence. leider ca. drei Jahre zu spät auf eine Szene, die sich langsam aufzulösen beginnt. Gestartet waren sie ab 1988 mit diversen im Underground zirkulierenden Demo's mit Thrash Metal in der Art, wie man ihn sich von Slayer gewünscht hätte: Sie setzten auf Härte und ließen dafür vordergründige Filigranität außen vor. In der Tat ist es nicht so, dass Tortured Existence primitiv eingeprügelt wurde, aber Demolition Hammer spielen einen „proletarischen“ Thrash, wie man ihn vielleicht aus den New Yorker Projects erwarten würde. Thrash mit ausgestrecktem Mittelfinger sozusagen. Der Gesang wird vom Bassisten Steve Reynolds übernommen - einem Front-Shouter, dessen Organ die notwendige Wut mit entsprechender Vehemenz transportiert - und teilweise durch sogenannten „Riot-Vocals“ ergänzt (= Choreinsatz der ganzen Band). Die Gitarristen Derek Sykes und James Reilly sind virtuos und spielen zugleich banddienlich und mit dem Band-Logo Zeichner und Tattoo-Künstler Vinny Daze hatten sie einen ganz hervorragenden Drummer der leider fünf Jahre später an einer Kugelfisch-Vergiftung sterben würde. Und die Songs sind bei aller Urgewalt auch noch abwechslungsreich, werden immer wieder durch einfallsreiche Breaks und Soli unterbrochen und bekommen durch die dazwischen gebrüllten Riot Vocals etwas anthemisches. Dazu mindestens eigenwillige Lyrics über Umweltkatastrophen, medizinische Experimente und Seuchenausbrüche – wie es sich seit Slayer eben so gehört. Beste Beispiele unter gleichen: „Gelid Remains“ und „Infectious Hospital Waste“. Seinerzeit mag auch Tortured Existence nicht den verdienten Erfolg gehabt haben – insbesondere weil Thrash im neuen Jahrzehnt regelrecht implodierte, aber über die Jahre hat die Band mit diesem und dem Nachfolge-Album zu recht einen gewissen Kult-Status erreicht – und das ist im Metal bekanntermaßen einiges wert....

Kreator

Coma of Souls

(Epic, 1990)

Von Beginn an ist die Sprache des Thrash und Death Metal eine erstaunlich internationale: Metal kommt auf der ganzen Welt vor und Unterschiede zwischen Nordamerikanern und Briten und den Bands aus Südamerika, Skandinavien, Ost- oder Westeuropa sind, was Qualität und/oder Härte angeht, nicht erkennbar. Metal – eine Musik, die eigentlich als recht konservativ gilt - ist überraschend wenig von der Herkunft ihrer Ausführenden geprägt und ihre Fans somit schon zu einer gewissen Weltoffenheit gezwungen. Da sind zum Beispiel die deutschen Thrasher Kreator - in der Heimat schnell respektiert und im Ausland auch bald anerkannt - und in den 80ies und frühen 90ies eine der konsistentesten Bands des Genres. All iher Alben von Pleasure to Kill bis Coma of Souls enthalten äußerst unterhaltsamen und eigenständigen Thrash Metal. der eindeutig Kreator war und die Band in beständiger Entwicklung zeigt. Coma of Souls war die bis dahin am besten produzierte Platte der Band - sie hatten in den Jahren eine gewisse Subtilität erlernt, bombardierten den Hörer nicht mehr nur mit purer Agressivität. Hier sind sie in Topform, sie spielen variabel, mit ihren typischen, stakkatohaften Riffs und mit dem giftigen Gesang von Mille Petrozza. Die erste Hälfte des Albums enthält Killer wie „When the Sun Burns Red“, „Coma of Souls“, „People of the Lie“ und „Terror Zone“ Drummer Ventor hatte internationales Format und Petrozza zeigte, dass er neben seinen Shouter-Fähigkeiten auch ein hervorragender Gitarrist war. Extreme Aggression aus dem Vorjahr ist das einzige Album, das Coma of Souls den Platz an der Spitze der Diskographie Kreators stretig machen kann. Auf jeden Fall waren Kreator zu Beginn der Neunziger Deutschlands beste Thrasher.

Artillery

By Inheritance


(Roadracer, 1990)

By Inheritance von der dänischen Thrash Band Artillery ist ein weiteres Thrash-Album, das aus der Masse der Veröffentlichungen des Jahres 1990 heraussticht. Dabei sind die Einflüsse der Band deutlich herauszuhören, insbesondere Iron Maiden zur Zeit von Powerslave waren mit orientalisch anmutenden Melodiebögen und den theatralischen Vocals von Flemming Ronsdorf als Vorbilder erkennbar. Die paar Hardcore- Fans der Band waren mit der Richtung, die sie hier einschlugen zunächst garnicht  einverstanden und auch in der Band selber war man sich zunächst wohl nicht einig über den Kurs, aber schnell wurden einige der Songs zu kleinen Klassikern. „Khomaniac“ und „Beneath the Clay (R.I.P.)“ sowie der Titeltrack sind Thrash in Perfektion, mit halsbrecherisch komplexen und zugleich eingängigen Riffs und mit ruhigeren Passagen, die für Abwechslung sorgen ("Don't Believe"). Und auch die Produktion von Fleming Rasmussen war glasklar – etwas, das seinerzeit bei den Thrash-Bands der zweiten Reihe nicht selbstverständlich war. Kurz: By Inheritance ist ein hervorragendes Album, das etwas in Vergessenheit geriet, das aber seinen Kult-Status zu Recht verdient. Die Band löste sich danach auf, kehrte Jahre später wieder zurück, aber ein besseres Album gelang ihnen nicht mehr, und es hat seinen Platz hier redllich verdient, weil es auch qualitativ neben Alben wie Rust in Peace und Twisted Into Form passt.

Bathory

Hammerheart


(Noise, 1990)

Hammerheart ist ein Album, wie es die albernen Manowar gerne gemacht hätten - mit klischeehaften Wikinger-Texten, epischen Songstrukturen und einer Intensität, die es zum (vor)letzten wirklich großen Werk von Bathory machen sollte, und die Bandkopf Quorthon zum „Miterfinder“ eines weiteren Genres (neben dem Black Metal auf den ersten drei Alben) machten. Der Viking-Metal auf Hammerheart würde Legionen von jungen Musikern in Skandinavien beeinflussen und er findet sich zehn Jahre später bei Bands wie den großen Moonsorrow wieder. Quothorn erwies sich hier als DER Komponist im epischen Viking-Metal, mit einer Atmosphäre die den Hörer sofort an die Ruder eines Wikingeschiffes versetzte. Das Album ist hervorragend produziert und gespielt, mit sieben klassischen Songs. „Shores in Flames“ als bombastischem Opener, dem massiven Felsklotz „Baptised in Fire and Ice“ und dem Gitarrenmonster „Father and Son“- archetypischer Viking-Metal. Man rauscht auf gleichbleibend hohem Niveau über die kalte See Skandinaviens und kein Song lässt das Schiff auf Grund laufen. Quothorn mag später einige seltsame und enttäuschende Alben gemacht haben, aber nachdem er den Black Metal mit Under the Sign of the Black Mark mindestens mitdefiniert hatte, baute er sich mit diesem Album und mit dem Nachfolger Twilight of the Gods (von '91) - ein unantastbares Denkmal.

Blasphemy

Fallen Angel of Doom


(Wild Rags Rec., 1990)

Blasphemy's Fallen Angel of Doom war wohl eine Reaktion auf die Situation, in der Death Metal Anfang der Neunziger war. Diese Musik stand für Hardcore-Fans der ersten Stunde an der Schwelle zur Weltherrschaft – und damit an der Schwelle zum Ausverkauf. Die „echten“ Fans des Genres befürchteten die „mainstreamisierung“ ihrer Musik, und so entstand in Kanada mit Blasphemy eine Band, die finsteren Primitivismus hochhielt, die technische Standards zurücksetzte und darauf setzte, noch böser, kränker und teuflischer zu klingen, als ihre Vorbilder es vor ein paar Jahren getan hatten. Dass sie damit den Black Metal vorwegnahmen, der dann auch in ein paar Jahren etabliert sein würde, dürfte ihnen nicht bewusst gewesen sein, obwohl sie nicht die ersten mit dieser Haltung waren. Da gab es noch die Brasilianer Sarcofago und natürlich die drei Alben von Bathory, aber Blasphemy sind noch näher am Black Metal von Darkthrone und Burzum, als ihre anderen Zeitgenossen – und zugleich ist ihnen die Kenntnis von Thrash und Death-Metal anzuhören. Fallen Angel of Doom ist bei einer Spielzeit von gerade mal einer halben Stunde ein Album voller evil vibes, angetrieben von ratternden Drums, finsteren Gitarrenriffs, dumpfem Bassgrollen und satanischem Gift. Der „Sänger“ kreischt nicht, wie man es dann im Black Metal kennenlerenen wird, er würgt und kotzt vielmehr seine hasserfüllten Botschaften aus – und dabei klingt die Band tatsächlich weit boshafter und konsequenter, als die Death Metal Bands der Stunde. Dass sie die Musik ihrer verhassten Konkurrenten verachteten, hielt Blasphemy klugerweise nicht davon ab, hin und wieder das Tempo herunterzufahren, um den einen oder anderen erkennbaren Riff (siehe etwa „Goddess of Perversity“) aus der Suppe auftauchen zu lassen. Aber dann rasen wieder Songs wie „Darkness Prevails“ los - dabei fließt das Album erstaunlich abwechslungsreich vorbei – für diese Musik jedenfalls. Der Kult, der um Blasphemy entstand, ist massiv, Fallen Angel of Doom ist ein ökonomisch zusammengepresstes Meisterwerk voller hasserfüllter Energie, völlig konsequent und absolut unkommerziell. Der '93er Nachfolger Gods of War konnte gar nicht so gut werden, wie dieses Album, nach einem solchen Energieschub war die Band ausgepumpt. Wie sagt man so schön in diesen Kreisen: „Raise your blood filled goat horn and drink deep

Psychotic Waltz

A Social Grace


(Rising Sun, 1990)

Die Art progressive Thrash, die Psychotic Waltz auf ihrem Debut A Social Grace kreierten, ist bis heute einzigartig geblieben. Fate's Warning kann man als einzige Band benennen, die ihnen zu Beginn ihrer Karriere nahekam, aber die Band um den genialen, durch seinen „high pitched“ Gesang polarisiernden Buddy Lackey spielt eine völlig eigenständige Art Hippie Metal, der geprägt ist durch komplexes, orientalisch anmutendes Songwriting, überraschende Tempowechsel, teils ziemlich thrashige Passagen die sich mit akustischen Zwischenspielen abwechseln. Die Gitarristen Brian McAlpin und Dan Rock kreierten ungeheuer komplexe Riffs, die aber zugleich überraschend catchy waren. Da ist die von Jethro Tull beeinflusste Ballade „Remember“, natürlich mit einem Querflötensolo vom Multi-Instrumentalisten Lackey, da ist das atmosphärische „Sleeping Dogs“, das auf die späteren, etwas weniger thrashigen Alben verweist, oder das auf einer monströsen Basslinie basierende „Spiral Tower“. Das Album ging 1990 trotz guter Kritiken unter wie ein Stein, aber Psychotic Waltz sollten noch drei weitere hervorragenden Alben machen und im Laufe der Zeit aufgrund ihrer Einzigartigkeit zu Recht eine immer bessere Reputation bekommen. Aber dennoch: A Social Grace ist schon ziemlich speziell...

Judas Priest

Painkiller


(Columbia, 1990)

Nachdem Judas Priest nach einer seit den Siebzigern andauernden Karriere Mitte der 80er ihre Fans mit Synthesizer-Sounds und langweiligen Alben verprellt hatten, kamen sie 1990 mit Painkiller etwas überraschend wieder dort an, wo sie hingehörten: Im Olymp des Metal. Es war wieder alles da, was man in den Jahren zuvor so vermisst hatte – und es gab einige Neuerugen: Sie waren wieder unglaublich heavy, die beiden Gitarristen Glenn Tipton und KK Downing spielten feinste Unisono-Passagen und intensive Riffs, aber vor allem das Songwriting, das auf den vorherigen Alben sehr zu Wünschen übrig gelassen hatte, war exzellent. Und hinzu kam eine erfrischende Härte, die man so nicht von ihnen kannte. Ob das kurze, energetische „Leather Rebel“; das harte „Metal Meltdown“ oder das finstere, etwas langsamere „Between the Hammer and the Anvil“, jeder Song auf dem Album ist es wert, gehört zu werden und kann mit den Songs der Adepten aus allen stilistischen Ecken des Metal der Neunziger mithalten. Die Lyrics mögen schwach sein, aber die waren sowieso nie die Stärke von Judas Priest, Painkiller sollte zum Vorbild für eine große Zahl (vor allem deutscher) Speed Metal Acts werden. Nach dem Album verließ Sänger Rob Halford die Band für lange Zeit, und Judas Priest wurden nie mehr so gut wie auf diesem Album, aber Painkiller steht unangefochten als eines ihrer besten Alben neben Klassikern wie Killing Machine ('78) oder Screaming for Vengeance ('82) und war zurecht eines der meist-gehypten (und meistverkauften) Metal-Alben der beginnenden 90er. PK







Donnerstag, 1. Dezember 2016

1964 - Vietnam-Krieg, Beatlemania und British Invasion - Beatles bis Eric Dolphy

In den USA wird das das Bürgerrechtsgesetz zur Aufhebung der Rassentrennung durchgesetzt. John F. Kennedy hatte es initiiert und es dauerte Monate, bis der Senat es endlich ratifizierte, die Widerständler kamen natürlich aus den konservativ/ religiösen Kreisen der Republikaner und in den Südstaaten bewirkte das Gesetzt eine Stärkung eben dieser Hardcore-Religiösen und des Ku Klux Clan. In Vietnam greifen kommunistische Vietkong einen Stützpunkt der US Armee an, und es wird beschlossen, dass US-Streitkräfte in den Vietnam Krieg eintreten werden. In der UdSSR kommt es zum Machtwechsel: Nikita Chruschtschow wird aus seinen Ämtern entlassen. In Brasilien kommt es zum Putsch und eine 21-jährige Militärdiktatur beginnt. Und in Alaska kommt es zu einem der stärksten Erdbeben in der amerikanischen Geschichte. Mit dem Jazz-Saxophonisten/Flötisten - und vor Allem Genie Eric Dolphy und dem Soul Gesangs Genie Sam Cooke sterben gleich Zwei, deren Zukunft vermutlich golden gewesen wäre, die Beatles sind derweil mit fünf No.1-Hits in den Charts und lassen damit andere Bands weit hinter sich. Die Beatlemania und mit ihr die British Invasion in den USA beginnt und verbreitet sich rasend schnell über den Erdball. Nur die Rolling Stones mit ihrem ersten Album können die vier Liverpooler kurzzeitig von ihren Spitzenplätzen verdrängen. Aber wenn man die Charts außer acht läßt, wird auch deutlich, dass neben den Beatles einiges passiert. Bob Dylan etabliert seine Musik und mit ihm beginnt Folk bei der jungen Generation in den USA weite Kreise zu ziehen. Mit den Ronettes und den Shangri-Las hat der Girl-Group Sound seinen Höhepunkt, Die Beach Boys reiten weiterhin auf der Surf-Welle – und da ist anscheinend mehr Potential als man gedacht hätte. In Country, Blues, Soul und Rock'n'Roll erscheinen etliche beachtliche Platten, die die Initialzündung der Rockmusik der kommenden Jahren vorbereiten – oder besser – sind. Künstlerisch äußerst gewagte Alben sind in diesem Jahr wieder einmal im Jazz zu finden. Auf dem Blue Note Label erscheinen reihenweise Klassiker und Free Jazz ist das große inzwischen etablierte Ding - in den Kreisen die es interessiert und die ihn verstehen. - Übrigens - es ist die Zeit, in der oft zwei Alben eines Künstlers innerhalb eines Jahres erscheinen. Komisch, dass das damals kein Problem war...


The Beatles

A Hard Days Night


(Parlophone, 1964)


Beatles

Beatles For Sale


(Parlophone, 1964)

Die Beatles müssen eigentlich ziemlich unter Stress gestanden haben, als sie A Hard Days Night aufnahmen: Sie tourten pausenlos, die Beatlemania begann, und sie wurden von kreischenden Teenagern verfolgt, sie spielten pausenlos für das BBC, traten im Fernsehen auf und nahmen dazu noch diesen sinnfreien Film auf (in Deutschland hieß er allen Ernstes „Yeah, Yeah, Yeah!„), für den das Album als Soundtrack gedacht war. Umso bewundernswerter die Entscheidung alle Stücke hierfür selber zu komponieren - und ein Hinweis auf gewachsenes Selbstbewusstsein. Das Vorgängeralbum With the Beatles war schon ziemlich toll gewesen, aber nun schrieben Lennon/McCartney alle Songs selber und fanden endgültig als Kompositionsteam zueinander. Alles musste wie damals üblich schnell gehen und Lennon nannte die Arbeit an den 13 Songs später „Routine auf hohem Niveau“. Tatsache ist, dass selbst Songs, die nicht zu Hits wurden von hoher Qualität waren. Da waren natürlich der Titelsong, oder „Can't Buy Me Love“ oder das folkige „And I Love Her“, aber auch unbekanntere Preziosen wie „Any Time At All“ oder „Things We Said Today“. Songs auf denen andere Bands ganze Karrieren aufbauen würden, die trügerisch simpel klingen und dabei Pop in Perfektion bieten. A Hard Days Night ist vielleicht ihr ausgeglichenstes Album, spätere mögen bekannter sein, viel besser sind sie aber nicht. Im direkten Vergleich ist dann Beatles for Sale am Ende des Jahres ein kleiner Schritt zurück. Womöglich war das Jahr zu anstrengend gewesen, womöglich gab es erste Zweifel an den positiven Seiten des Ruhms, aber das Album schoss natürlich trotzdem mit der Hitsingle „I Feel Fine“ - angeblich mit dem ersten Gitarrenfeedback der Popgeschichte – genauso an die Spitze der Charts wie die vorherigen Werke. Das Material auf dem Album konsolidierte allerdings nur das hohe Niveau, anstatt innovativ zu sein. Es waren wieder ein paar Rock'n'Roll Klassiker von Buddy Holly, Chuck Berry und Carl Perkins dabei, aber die Songs von Lennon McCartney waren natürlich der real deal. Und da gab es zum Einen das ansteckend fröhliche „Eight Days a Week“ und auf der anderen Seite das folkloristische „I'll Follow the Sun“ als Highlights. Die Texte waren etwas düsterer als zuvor, („I Don’t Want to Spoil the Party“ und insbesondere „I’m a Loser“) und das ironische „Baby's in Black“ spielten sie bis ans Ende ihrer Karriere gerne Live. Beatles for Sale kennzeichnet das Ende der ersten Phase der künstlerischen Entwicklung der Beatles. Danach kam Rubber Soul..

Bob Dylan

The Times They Are A-Changin'


(Columbia, 1964)



Bob Dylan

Another Side of Bob Dylan


(Columbia, 1964)

Es mag ja eine der Platten sein, die neben ihren Nachfolgern verblasst, The Times They Are A-Changin‘ steht auf der einen Seite noch klar in der Tradition der Protestsongs von Dylans‘ Vorbildern. Aber er nahm schon hier im Gegensatz zu vielen Folkies aus dieser Szene mit großem lyrischem Geschick aktuelle Bezüge auf. Und es ist Dylans erste LP, auf der er alle Songs selber geschrieben hatte, eine der Platten, bei der die Klassiker so großartig und bekannt sind, dass der Rest der Songs etwas verblasst. Da ist der sloganhafte Titelsong, da ist „With God on Our Side“ und „Only a Pawn in Their Game“ - erstaunlich unverschlüsselte Kommentare zur gesellschaftlichen Situation -, „Boots of Spanish Leather“ wurde zu einem von Dylans Trademark-Songs und „The Lonesome Death of Hattie Carroll“ kommentiert in der Tradition der „Topical Songs“ den Mord an einer schwarzen Bardame durch einen weißen Tabakfarmer in den Südstaaten im Jahr '64. Bei Dylan bekommt der Mörder lebenslänglich; im wahren Leben erhielt er lediglich eine 6-monatige Gefängnisstrafe.Mit Another Side of ... aus dem selben Jahr ging Dylan dann noch einen Schritt weiter, und verschreckte damit erstmals die konservativere Folk-Gemeinde, die teilweise lieber sklavisch an den alten Vorbildern festhalten wollte wirklich. Zum einen waren da die Texte: Sie behandelten nun vermehrt die Liebe oder wurden gar surreal und absurd. Dazu kam eine immer größere Variationsbreite in der musikalischen Umsetzung. Noch war die Musik zwar nicht elektrifiziert, aber der tradierte Folksong wurde immer mehr verfremdet. Aber alle Kritik verstummte vor den wieder hervorragenden Songs, - auch hier gibt es etliche Klassiker: Da sind zum Beispiel „It Ain't Me“, „All I Really Want to Do“ oder „Chimes of Freedom“ - Songs die in ihrer Generation schnell zum Allgemeingut wurden. Was die LP von ihrem Vorgänger unterscheidet und sie zu einer meiner liebsten Dylan-LP's macht, ist ihre stilistische Geschlossenheit. Das Qualitätsgefälle zwischen den einzelnen Songs war gering, die LP klang intim und unangestrengt. Das ist den Themen geschuldet, dokumentiert aber auch die rasante Entwicklung Dylans.... Eine Platte, die nur vor dem, was noch kommen sollte, verblasst.

Woody Guthrie

Dust Bowl Ballads


(Smithsonian Folkways, Rel. 1964)

Warum eine Compilation mit Folk Songs aus den 40ern als wichtiges Album für 1964? Woody Guthrie war schon schwer an Chorea Huntington erkrankt, als die Dust Bowl Ballads erschienen. Und tatsächlich besteht das Album aus Songs, die Guthrie in den 40ern aufgenommen hatte - aber genau das sind die Songs die Musiker wie Dylan - und später auch Springsteen oder Joe Strummer von The Clash - beeinflusst haben und die all das haben, was die Folkszene der Bürgerrechtler der Coffee-House Szene 1964 hören wollte. Woody Guthrie war in dieser Zeit ein Vorbild für diese Musiker, Bob Dylan hatte ihn am Krankenbett besucht, seine Songs gehörten zum Repertoire vieler Folkies - „This Land Is Your Land“ galt in linken Kreisen der USA als einzig akzeptable Hymne auf die Heimat, Guthrie's Slogan auf seiner Gitarre „This Machine Kills Fascists“ war legendär. Tatsache ist, dass sich die Songs in wenig von dem unterscheiden, was Dylan oder Dave Van Ronk zu Beginn der Sechziger machten. Flotte oder sanfte Akustik- Gitarrenbegleitung zu Songs die irgendwo zwischen Folk und Blues ihre Wurzeln haben. Dazu die gewitzten, erzählerischen Texte Guthries. Klar drehen sich die Dust Bowl Ballads hauptsächlich um Geschehnisse und Menschen der tragischen Zeit in den 30ern, als schwere Staubstürme die Bauern in den großen Ebenen des Mittelwestens zur Landflucht und in existenzielle Not zwangen. Dabei konnte Guthrie zum Einen aus eigener Erfahrung erzählen, nach dem Motto: "All you can write is what you see...“, und hatte zum Zweiten den Vorteil, ein wunderbar unsentimentaler und glaubwürdiger Erzähler mit einer gehörigen Prise Humor zu sein. Hier also das Vorbild für Dylan und Konsorten, mit feinen Songs wie „Tom Joad“, dem „Dust Pneumonia Blues“ (sic) oder etwa „Vigilante Man“, das Johnny Cash covern würde. Und all diese Songs in einem Sound, der tatsächlich zeitlos ist !

Shirley Collins & Davey Graham

Folk Routes, New Routes


(Decca, 1964)

Ein anderer Kontinent, ein weiteres, immens einflussreiches Album, das sozusagen im Alleingang die Entwicklung – diesmal die des Folk-Rock britischer Prägung – vorwegnimmt bzw. beeinflusst hat. Davy Graham war als Folk-Gitarrist in England anerkannt – und seine Verquickung von virtuosem Folk-Picking mit indischer Raga-Musik und Jazz wurde von Puristen mit Argus-Augen beobachtet. Seine Fertigkeiten standen außer Frage, seine Abenteuerlust aber wurde heiß diskutiert – und nun machte er ein Album gemeinsam mit DER Stimme des britischen Folk, mit Shirley Collins. Die wird es sich genau überlegt haben, ihren bislang etwas traditionelleren Ansatz hinter sich zu lassen. Im Grunde war es ihr immer ein Anliegen gewesen, ihre geliebte Folkmusik in die heutige Zeit zu versetzen. Shirley Collins' Stimme wird als einer der Schätze Englands beschrieben – völlig zu Recht, ihr klarer, natürlicher und melancholischer Ton hat die komplette Riege der Folk-Rock Sängerinnen von Sandy Denny bis Jacqui McShee beeinflusst, ihre Art des Vortrags klingt im Zusammenhang mit diesen Songs bis heute aktuell – macht das Album alleine schon zeitlos – ganz wunderbar zu hören beim Solo-Gesangsstück „Lord Greggory“. Und das Gitarrenspiel Graham's dürften sich die Begleiter der oben genannten Sängerinnen allesamt angehört haben – von Bert Jansch bis Jimmy Page. Wie gut Graham war, kann man auf diesem Album auf Solo-Gitarren Tracks wie „Rif Mountain“ oder „Grooveyard“ nachprüfen. Der wahre Schatz sind aber die Traditionals, die sie gemeinsam einspielten: Folk Routes, New Routes beginnt mit „Nottamun Town“ - mit Collins kompetentem Gesang und Grahams rhythmischem Spiel um ihre Stimme herum. Den Song hatte sie bei ihrem USA-Exkurs mit dem Folk-Forscher Allan Lomax in den Apallachen gelernt und seine hintergründige Dunkelheit passt hervorragend zu ihrer melancholischen Stimme. Das nachfolgende „Proud Maisrie“ lebt ebenso vom Kontrast zwischen Collins kontrollierter Stimme und Graham's alle Regeln sprengendem Gitarrenspiel wie das traditionelle Liebeslied „Hare's on the Mountain“. Dass dazwischen immer wieder „Solo-Tracks“ der beiden Meister ihres Faches eingestreut sind, könnte man als störend empfinden – wenn etwa nach Collins' Solo mit Banjo „The Cherry Tree Carol“ Graham Jazz und Folk bei „Blue Monk“ organisch und virtuos vermischt – aber diese Sprünge geben dem Album Charakter und machen es für mich gerade so spannend zu hören. Folk Routes, New Routes startet die progressive Interpretation britischer Folkmusik mit einem mächtigen Knall.

The Rolling Stones

s/t


(Decca, 1964)



The Rolling Stones

12 x 5


(Decca, 1964)

Ob das erste Album der Stones schon erahnen ließ, dass sie mal die größte Band der Welt werden würden ? Das vielleicht nicht, 1964 überstrahlten die Beatles noch Alles. Aber die Stones waren schon von ihren Anfängen an (zwei Jahre zuvor) so etwas wie die gefährliche Variante der British Invasion. Die Haare länger, die Attitüde rebellischer, waren sie zu dieser Zeit der Albtraum der Eltern und die spannende Alternative zu den Fab Four. Ihr erstes komplettes Album nahmen sie mit ihrem ebenso jungen wie unerfahrenen Manager Andrew Loog-Oldham quasi Live im Studio auf. Noch spielten sie hauptsächlich Cover-Versionen von ehrwürdigen Originalen wie „Route 66“, „I Just Want to Make Love to You“ oder “I'm a King Bee“ - aber wie sie die spielten! Teils in einem Affenzahn, mit einer Wildheit und mit Mick Jaggers Gesang, der sich immer so cool, angewidert und angeberisch anhört, dass man ihm am liebsten die Ohren langziehen will. Es ist nicht etwa so, dass sie die Originale verachtet hätten - sie waren im Gegenteil große Verehrer der Vorbilder aus den USA - aber sie gaben dieser Musik eine neue, „weiße“ Identität – und waren damit eine Alternative zu den poppigen Beatles, die auch bald in den USA einschlagen sollten. Das Album kam sechs Wochen später mit leicht verändertem Tracklisting in den USA heraus, aber zunächst war England dran: Das Album Rolling Stones No1 kam in England 11 Wochen auf Platz 1 der Hitparade, womit die Beatles erstmals Konkurrenz bekamen. Die ebenso erfolgreiche Single „Not Fade Away“ war nur auf der US- Version des Albums enthalten. Ein halbes Jahr später schon wurde in den USA das zweite Album der Stones unter dem Titel 12 x 5 veröffentlicht. Es war als 5-Track EP Five by Five in England erschienen und hatte einfach noch sieben weiter Tracks ´'draufgesetzt bekommen. (Diese seltsame Veröffentlichungspolitik ist darauf zurückzuführen, dass in England nach wie vor Singles und EP's als Zugpferde galten). Das Rezept war noch das Bewährte: Es gab wieder ein paar beschleunigte Originale, hier mit einer deutlichen Hinwendung zum Soul, ein paar eigene Songs, teils noch verschämt unter dem Pseudonym Nanker/Phelge, teils schon als Jagger/Richards Kompositionen kenntlich gemacht. Die ersten Alben der Stones sind ein großer Spaß, die Band hatten sofort eine eigene Identität und die Musik mag gealtert sein, gefährlich klingt sie heute vielleicht nicht mehr, aber es ist kraftvoller Rhythm and Blues – aus dem noch weit mehr werden sollte

The Yardbirds

Five Live Yardbirds


(Charly, 1964)

Dass das erste Album der Yardbirds ein Live-Album ist, liegt zum Einen vielleicht daran, dass Singles das bevorzugte Format waren – zum Anderen waren die Yardbirds aber auch insbesondere Live eine Macht. Sie hatten im Crawdaddy Club 1963 die Stones als Haus-Band abgelöst , hatten den amerikanischen Blues-Harp Meister Sonny Boy Williamson auf dessen Tour begleitet und sie hatten mit dem jungen Eric Clapton einen Gitarristen in der Band, der mit seinen Soli und seinem (damals) sehr harten – heute würde man sagen „punkigen“ - Spiel manche Songs durch instrumentale Kabinettstückchen auf ein höheres Niveau heben konnte. Es war als eine kluge Entscheidung, das LP Format für eine Live Platte zu nutzen. Das Album wurde im Marquee Club aufgenommen, und wer es heute auf CD erwirbt, bekommt meist noch etliche andere Tracks – auch aus dem Crawdaddy – dazu geliefert Natürlich sind hier die für britische Bands üblichen Blues- und Rock'n'Roll-Cover-Versionen versammelt: Zwei mal Bo Diddley („I'm A Man“ und „Here 'tis“), Über fünf Minuten „Smokestack Lightning“ von Howlin' Wolf, mit „Good Morning Little School Girl“ und „Sweet Little Sixteen“ wird Chuck Berry gehuldigt – und das Alles auf hohem instrumentalem Niveau, aber man muss bei der LP auch bedenken: Es war '64 – Der Klang ist roh und simpel, Soli sind noch eine uneitle und unschuldige Zurschaustellung des Könnens der Musiker und Keith Relf war nicht der beste Sänger seiner Zeit. Five Live Yardbirds ist wild und ungestüm, mit allen positiven und negativen Eigenschaften seiner Zeit. Wer Eric Clapton vor seinem Aufstieg zum „Gitarren-Gott“ hören will, sollte das Album anhören.

und was ist mit den Vorbildern aus den USA ?


In den USA war Mitte der Sechziger der Stellenwert der Blues-Musiker, die von den Bands der British Invasion reihenweise gecovert wurden ungleich geringer. Bob Dylan wird Muddy Waters oder Chuck Berry gekannt haben, aber elektrischer Blues war dem jungen, weissen und studentischen Publikum vielleicht zu wenig progressiv - zumal es die Musik der Schwarzen war – und die Rassentrennung war noch tief in den Köpfen auch der jungen Generation verwurzelt. Muddy Waters etwa war auf Festivals gern' gesehen, aber Plattenverkäufe hatte er in den USA kaum. Und die Riege der Rock'n'Roller war – vereinfacht gesagt – entweder tot oder nicht mehr aktuell – was dazu gehführt hatte, dass Musiker wie Chuck Berry, Jerry Lee Lewis oder Gene Vincent sich nach Europa verdrückt hatten und dort zumindest als Live-Acts überlebten. Zunächst brachten die Beatles den Sound von Liverpool, den Merseybeat in die USA. Dass sie Chuck Berry und Jerry Lee Lewis coverten, aber auch Soul Musik von Leuten wie Sam Cooke spielten, war ihrem neuen Publikum in den USA kaum bewusst, und dass etliche der Songs, die die Stones spielten, tatsächlich von schwarzen amerikanischen Musikern geschrieben worden waren, lernte das junge Publikum erst über diesen Umweg über England. Es mag ja sein, dass Cuck Berry oder Muddy Waters in den USA nicht völlig obskur gewesen wären – aber sie hatten ihre große Zeit nach Meinung vieler Amerikaner hinter sich

Chuck Berry

St. Louis To Liverpool


(Chess, 1964)

Chuck Berry hatte für mehr als zwei Jahre bis Oktober '63 in den USA im Gefängnis gesessen – wegen angeblicher „Entführung“ einer Minderjährigen in einen anderen Bundesstaat. (Er widersprach dieser Anklage immer!). Als er dann wieder begann, Musik zu machen, war der Rock'n'Roll -Zug in den USA regelrecht entgleist und die meisten Mit-Konkurrenten aus den Fünfzigern hatten sich nach Europa verzogen. So ist es nicht verwunderlich, dass Berry ebenfalls zunächst in England seine größten Erfolge hatte und so ist der Titel St. Louis to Liverpool wohl bezeichnend. Allerdings ist diese LP schlagender Gegenbeweis zur These, dass Chuck Berry mit dem Aufstieg seiner Bewunderer, wie zum Beispiel den Beatles und den Stones, auf einem absteigenden Ast gewesen wäre.- Ganz im Gegenteil, ist auf diesem Album ist das Songmaterial durchweg hervorragend und die LP gespickt mit Songs, die man irgendwann allgemein mit Chuck Berry verbinden wird. „Little Marie“ - ein Sequel zu „Memphis, Tennessee“ oder „No Particular Place To Go“ stehen den Hits aus den 50ern in nichts nach, auch die poppigere Seite von Chuck Berry ist mit guten Songs wie „You Two“ vertreten, und „Things I Used To Do“ hat wieder einen dieser unverwüstlichen Killer-Gitarren-Breaks. Es ist deutlich erkennbar, warum vor Allem Keith Richards von den Stones ihn verehrte.

Jerry Lee Lewis

Live at The Star Club Hamburg


(Philips, 1964)

Über die Rolle der Rock'n'Roller der ersten Stunde habe ich oben geschrieben. aber ich will die Fakten für den wilden Mann des Rock'n'Roll mal wiederholen. Jerry Lee Lewis war 1964 in den USA – ähnlich wie Chuck Berry - Persona non grata. Weil er seine minderjährige Cousine geheiratet hatte, weil er ein unbeherrschter Bürgerschreck war und weil er nicht bereit gewesen war, sich der „Befriedung“ des Rock'n'Roll in den USA anzupassen. Er hatte seit Jahren keine Hits mehr und die aktuelle Musik in den USA und Europa hatte seine Art Musik zu machen scheinbar überholt - auch wenn insbesondere in England Bands wie die Beatles durchaus seine Songs im Programm hatten. Dann trat Lewis an einem denkwürdigen Abend im April '64 im Star Club in Hamburg auf – an einem Ort, an dem auch die Beatles schon gespielt hatten – in Begleitung der Nashville Teens und mit einem Programm aus den Hits der besten Jahre seiner Karriere. Er spielt „Great Balls of Fire“, „Long Tall Sally“, den „Mean Woman Blues“ und natürlich „Whole Lotta Shakin' Goin On“ - und das mit einem Furor, mit einer Kraft und Wut, die vielleicht wirklich dem Frust der vergangenen Jahre geschuldet ist. Dass er auch Hank Williams' „Your Cheatin' Heart“ covert, weist schon auf seine weitere Karriere im Country-Fach hin. Aber hier haut er dermaßen in die Tasten – traktiert das Klavier buchstäblich mit Handkantenschlägen - dass einem das Instrument nur leid tun konnte. Das Ergebnis war Rock'n'Roll in seiner härtesten Form, so wie er immer klingen wollte, und schon aus diesem Grund klingt Live at The Star Club Hamburg nicht etwa aus der Zeit gefallen, sondern tatsächlich zeitlos.

Muddy Waters

Folk Singer


(Chess, 1964)

Folk Singer vom Chicago-Blues Veteran Muddy Waters' wurde eher „unfreiwilligen“ zu einem Klassiker des Blues. Ende '63 wurden die Aufnahmen zu einem akustischen Blues-Album von Chess Records anberaumt, weil die am Folk-Boom partizipieren wollte. Währenddessen räumte Muddy Waters in den USA jedoch mit Atavismus und elektrischer Gitarre bei Festivalauftritten und in den Clubs Chicago's ab, und auch das Publikum im United Kingdom kannte ihn eher mit der Telecaster. Dort hatten die Rolling Stones gerade sein „I Want to be Loved“beschleunigt und als Rückseite ihrer ersten Single ins öffentliche Bewusstsein gehoben. In dieser Situation spielte Waters Folk Singer gemeinsam mit Buddy Guy, Otis Spann, Willie Dixon und Drummer Clifton James fast komplett akustisch ein - wobei der Drummer aus Rücksicht auf den Schlagzeug-Skeptizismus der Folk-Puristen selten zum Einsatz kommt und auch Dixons Standbass untypisch zurückhaltend erklingt. Otis Spanns Piano bleibt sparsam, und nur Buddy Guy's Gitarre werden hier und da Freiräume zugestanden. Und Muddy Waters klingt hier kaum noch wie auf den anderen Alben der Zeit nach '60. Er croont, murmelt, hebt kaum die Stimme, sein Gitarrenspiel scheint fragmentarisch, aber gerade die Zurückhaltung gibt er LP eine Intimität, die man von ihm nicht kannte – was dazu führte, dass viele Kritiker und Hörer zunächst nichts mit dem Album anfangen konnten und es als „erzwungene“ Verbeugung vor der Folk-Gemeinde bezeichneten. Inzwischen kann man es natürlich als weitere Facette seiner Kunst erkennen, mit Songs wie „My Home is in the Delta“ zeigt Waters, dass er das, was John Lee Hooker in dieser Zeit so perfekt beherrscht auch konnte, dass er nicht nur die Kompetenz für akustischen Delta-Blues hatte, sondern da auch eine ganz eigene Stimme hätte – wenn er da weitergemacht hätte. So blieb Folk Singer eine Ausnahme

Eric Dolphy

Out to Lunch


(Blue Note, 1964)



Eric Dolphy

Last Date


(Fontana, 1964)

Out to Lunch, das letzte Studioalbum Dolphy's vor seinem tragischen Tod an nicht erkannter Diabetes, ist ein Free-Jazz Abum, das so emotional, wild, dann wieder ruhig, spannend und inspiriert klingt, dass es alleine reichen sollte, dieser Musikform eine breitere Akzeptanz zu verschaffen – abgesehen davon. dass es Dolphy in eine Position versetzt, die ihn direkt neben Musikern wie Coltrane, Coleman oder Hancock stellt. Er hatte in den Jahren zuvor mit allen namhaften Jazzgrößen von Mingus bis zu eben jenem John Coltrane zusammengearbeitet, er hatte alle Ecken seiner Musik ausgetestet – soweit das seine „Arbeitgeber“ zuließen - und die ließen ihm oft eine Menge Freiraum, weil er so ein hervorragender Saxophonist/ Klarinettist/ Flötist war. Seine Soloalben waren zunächst noch tastende Versuche in free-jazziges Neuland gewesen, auf Out to Lunch nun ließ er seine Version von Jazz wirklich frei fliegen. Die Rhythmen sind teilweise so vertrackt, als gäbe es keine Regeln, bei „Gazzelloni“ steuert er ein Flötensolo bei - im Jazz nicht unbedingt der Normalfall, „Something Sweet, Something Tender“ ist genau das... nur eben mit Verzicht auf die üblichen Regeln der Harmonie. Natürlich hatte er mit dem gerade mal 18-jährigen Drummer Tony Williams, dem Trompeter Freddie Hubbard und dem Bassisten Richard Davies kongeniale Mitstreiter an seiner Seite, die die Freiheit die er ihnen gab dankbar annahmen, aber entscheidend war bei Out to Lunch (heißt laut Wikipedia nicht nur 'raus zum Mittagessen, sondern ist auch ein Slangausdruck für durchgeknallt) Dolphy's Vision von Jazz.... die er dann 27 Tage vor seinem Ableben im niederländischen Hilversum bei einem Konzert präsentierte. Dies ist nicht wirklich sein letztes „Date“, er spielte noch wenige Tage vor seinem Tod, aber das ist ja völlig egal. Das Live Album beginnt mit seiner Version von Monk's „Epistrophy“ auf der Bass-Klarinette, mit einem Riff, das als Hip-Hop-Sample prädestiniert wäre, was auch für den Standard „You Don't Know What Love Is“ gilt. Hier spielt Doplhy Flöte, so wie es vor und nach Ihm keiner getan hat. Höhepunkt ist die Eigenkomposition „Miss Ann“ mit einer Passage, in der man Dolphy's Stimme hört, ansonsten spielt er hier Alt-Saxophon und man erkennt, warum ihn John Coltrane nicht nur menschlich so hoch schätzte. Dass die Begleiter - Pianist Misha Mengelberg, Bassist Jacques Schols, und Drummer Han Bennink seinem Anspruch gewachsen sind, zeigt, dass auch in Europa eine fähige Generation von Jazzmusikern herangewachsen war. Sollte jemand sich zm ersten mal in die abenteuerlichen Gefilde des Free-Jazz wagen, dann wären diese beiden Alben ein guter Einstieg.