Dienstag, 27. März 2018

1981 – Joy Division bis John Foxx – Factory und der kalte Klang der Synthesizer?

Hier ein weiterer Blick auf „Synth-Pop“ - oder soll ich sagen die elektronische (Tanz)Musik ihrer Zeit...? ..zusammen mit den Ansichten zu fünf regulären LP's des Factory Labels aus dem Jahre 1981 (es gab da noch eine Compilation...). Beides passt insofern zusammen, als insbesondere New Order, die Nachfolgeband Joy Divisions, als Keimzelle des Techno gelten – weil sie kommende Acts der elektronischen (Tanz)musik stark beeinflusst haben. Natürlich war ein weiterer Einfluss die Band Kraftwerk - oder Eno und Bowie...? Man könnte wohl eine Genealogie bis zur Erfindung des Theremins zusammenbauen – und wäre immer noch mitten drin. Gemeinhin ist elektronische Musik dadurch definiert, dass sie mit Synthesizer bzw mit Sampler vom/am Computer hergestellt wird. Es ist Musik, bei der Gitarre, Bass, Drums keine tragende Rolle spielen – wobei sie dann aber doch oft genug vorkommen – siehe die Bands auf Factory, siehe Japan oder Cabaret Voltaire... Elektronischer Musik wird oft eine gewisse „maschinelle“ Kälte zugesprochen, eine Distanz, die mit Emotionslosigkeit verwechselt wird. Da spielen vermutlich die Roboter von Kraftwerk eine genau so große Rolle wie die soziale Kälte der Thatcher-Jahre Großbritanniens. Aber wer würde Soft Cell, New Order oder OMD wirklich emotionslos nennen? Die Mittel der Klangerzeugung geben der Musik dieser Bands einen besonderen Sound, und der war damals immer noch neu und ungewohnt, nicht aber emotionslos. Mit dieser Kälte im Sound wiederum hat das Label der inzwischen nach Ian Curtis' Tod aufgelösten Joy Division gespielt – und diese Atmosphäre erzeugen auch andere Bands auf Factory – sie erzeugen einen kühlen Sound, der an elektronische Musik gemahnt, aber keine ist. Nach Ian Curtis' Suizid machten die restlichen Musiker von Joy Division wie gesagt als New Order weiter - wobei man ihnen Zugute halten sollte, dass das nicht automatisch Erfolg versprach. Anderen Bands auf ihrem Label hatten durchaus einen vergleichbaren Sound – einen Sound, der nicht unbedingt kommerziell war, denn noch immer war es Hausproduzent Martin Hanett, der den Bands den kühlen, klaustrophoben Sound aufsetzte, und noch immer wurde ein Produkt von Factory als ganzheitliches Kunstwerk betrachtet – das Artwork der Alben – von Peter Saville - ist heute fest im Kanon „guten Design's“ verankert - und hat übrigens etliche Musiker im Bereich der „elektronischen Musik“ beeinflusst. Das zu dieser Zeit unabhängige Label hatte mit seinem Design eine Corporate Identitiy nach dem Vorbild von Jazz-Labels wie Impulse!; Blue Note oder ECM geschaffen. All dieser Fakten eingedenk ist klar erkennbar, dass bei diesem Label eindeutig Idealisten am Werk waren, die sich den heutigen Stellenwert des Gesamtkunstwerkes Factory wohl nur erträumen konnten. Leider sind die Bands neben/nach Joy Division und New Order heute im Vergleich nur vergessene Randnotizen, aber ich will hier auch auf sie aufmerksam machen – es lohnt sich... und zu deren Atmosphäre passen die Synth-Pop-Alben, die zum Teil meiner Meinung nach auch auf diesem Label hätte veröffentlicht werden können – und die man als erste Varianten elektronischer Tanzmusik nach Kraftwerk bezeichne kann.

Joy Division


Still

(Factory, 1981)

Das Vermächtnis einer Band, deren Bedeutung zu damaligen Zeiten noch nicht wirklich abzusehen war. Still ist zwar nur noch eine Art Resteverwertung, von Factory unter anderem veröffentlicht, um der Flut von Bootlegs etwas entgegenzusetzen, bestehend aus Songs die nach den Arbeiten am finalen Album Closer liegengeblieben waren, sowie aus einem Mitschnitt des letzten Konzertes, das die Band vor Ian Curtis' Suizid gab - aber die Qualität etlicher der hier versammelten Stücke – wie die der Live Version von Velvet Undergrounds „Sister Ray“ oder des eigenen Klassikers „Ceremony“ - lassen Kritik im Rückblick kleinlich erscheinen - und zeigen unter anderem, dass Joy Division eine hervorragende Liveband sein konnten. Und auch das etwas zusammenhanglose Studiomaterial hat zumindest teilweise Klasse: „The Kill“ und „Glass“ hätten auf den beiden zu Lebzeiten von Ian Curtis erschienenen LP's ohne Weiteres Platz finden dürfen. Natürlich sind da auch ein paar unausgereifte Songs dabei, bei denen insbesondere Curtis nicht auf der Höhe zu sein schien und man kann vielleicht mit Recht sagen, die LP ist nur was für Komplettisten – es fehlt eben das durchgehende Konzept, aber bei einer Band mit so kurzer Karriere freue ich mich über jeden Ton. Für mich ist Still die perfekte Ergänzung zu den beiden regulären Studioalben und das Bindeglied zu später erschienenen Live Mitschnitten wie dem großartigen Les Bains Douches 18 December 1979.

Joy Division - The Kill 

New Order


Movement

(Factory, 1981)

Kaum einen Monat nach dem Erscheinen von Still trat der Rest von Joy Division unter dem Namen New Order - mit der logischen Fortsetzung Movement als Albumtitel - auf den Plan. Und so logisch wie der Albumtitel klingt auch die Musik beim ersten Hören – wie Joy Division – eben ohne Ian Curtis Stimme. Gitarrist Bernard Sumner und Bassist Peter Hook übernahmen den Gesangspart, und sie hatten natürlich nicht Curtis' harschen Bariton - was aber zur Überraschung Aller den Songs nicht schadete. Die Versuchung ist natürlich groß, zu spekulieren, wie die Band geklungen hätte, hätte Curtis nicht seinem Leben ein Ende gesetzt. Aber da täte man den verbleibenden Musikern (+ neu hinzugestoßenem Keyboarder/ Gitarristen Gillian Gilbert) Unrecht. Natürlich klangen sie nach Joy Division – sie WAREN Joy Division... Aber sie hatten den klar erkennbaren Willen sich weiterzuentwickeln – da ist der verstärkte Einsatz von Synthesizern, da sind die musikalischen Schritte Richtung Tanzbarkeit („Chosen Time“). das Album schlägt die logische Brücke von Closer zu Power, Coruption and Lies, man hört, dass sich alle Musiker in ihrer neuen Rollen einfinden müssen, aber Movement hat Stärken satt. Da ist das Memorandum „ICB“ (Ian Curtis Burial), oder das deutlich an die JD erinnernde „The Him“, aber da sind auch einige Songs, die nicht wie bloße Reminiszenzen klingen – der Opener „Dreams Never End“ etwa, oder „Senses“ - sie zeigen eine Band, die zwar unter einem riesigen Schatten steht, die aber auch unbedingt dort herauswachsen will. Und dabei ließen sie ihre besten Songs („Procession“, Everything Gone Green“ und „Temptation“) in schöner britischer Tradition als eigenständige Singles außen vor. (Die sind dann aber auf der essentiellen Compilation Substance von 1987 versammelt). New Order hatten einen Weg gefunden, der sie seltsamerweise ganz ohne Probleme ein paar Dekaden weiter führen würde – und einen ganz eigenen Zweig der elektronischen Musik – wenn nicht erfunden, so zumindest - mit entwickelt.

 New Order - Dreams Never End

Section 25


Always Now

(Factory, 1981)

Section 25 werden etwas despektierlich (und zu Unrecht) als eine Art Disco-Version von Joy Division bezeichnet. Die Produktion von Martin Hannett mit ihrem kühlen Sound legt den Vergleich mit den Labelkollegen natürlich nahe, die Songs allerdings sind womöglich noch monotoner (...das ist positiv gemeint...), der Bass um einiges tiefer gelegt. Die Gitarre sägt sicherlich ähnlich im Hintergrund wie bei Joy Division und die (bei weitem nicht so charakteristische) Stimme verschwindet fast hinter der Musik: Aber die Songs und die Musik, die in ihrer Rhytmik mitunter auch von Dub beeinflusst sein dürfte (...wie ihn John Lydon's PIL spielte...) - diese Elemente sind es, die Always Now zu einem weiteren Highlight des Factory Labels macht. Man merkt, dass Section 25 mit Joy Division und A Certain Ratio bei gemeinsamen Auftritten einiges an Informationen und Inspirationen ausgetauscht haben müssen. Aber dies ist ein Album, bei dem man erkennt, dass diese Art des Post-Punk noch viele Facetten hatte, die es zu entdecken gab – und dass der Schritt vom Post-Punk 'rüber auf den Dancefloor ein logischer war. Auf ihrem Debüt hatten Section 25 etliche in den Jahren zuvor ausgefeilte Songs, gepaart mit einigen frischen Ideen, die man sich vielleicht sogar bei New Order abgehört haben mag – was aber nicht heissen soll, dass hier kopiert wurde. Wer vom dünnen Back-Katalog von Joy Division nicht genug hat, dem bietet sich mit Always Now eine Alternative, die weit mehr als nur eine Kopie ist. 

Section 25 - Friendly Fires 

A Certain Ratio


To Each...

(Factory, 1981)

Die ebenfalls bei Factory unter Vertrag stehenden A Certain Ratio kamen wie JD aus Manchester, und ihr nur auf Cassette veröffentlichtes Debüt von 1979 gehört zu den ersten „Produkten“ des Factory-Labels. Das war noch ein wenig unerquicklich gewesen, aber nach zwei Jahren des Tourens hatten sie ihren Stil und die notwendige Sicherheit gefunden. Auf To Each... schufen sie die Verbindung zwischen dunklem Post-Punk und „Afro-Music“, insbesondere Funk und Jazz, womit sie wiederum Vorläufer der NY Post Punk/Dance Szene waren, die mit Bands wie Liquid Liquid oder ESG weit in die Zukunft weisende Musik hervorbringen sollte. A Certain Ratio besaßen die musikalischen Fähigkeiten einer Fusion Band, hatten mit Donald Johnson eine Percussionisten und mit Jez Kerr einen Bassisten, der auf keiner ECM-Jazz Platte fehl am Platz gewesen wäre, mit Simon Topping hatten sie einen Trompeter und Sänger, der ihrer Musik eine weitere eigenwillige und somit charakteristische Facette hinzufügte. Dazu kamen der Gitarrist Moscrop der sich – wie bei Acts des Factory Labels üblich – meist eher im Hintergrund hielt und die geisterhaften Electronics von Pete Terrell. Toppings Gesang war eindeutig an Ian Curtis ausgerichtet, aber A Certain Ratio saßen mit ihrem Konzept auf To Each... stilistisch weit mehr zwischen den Stühlen, als New Order mit ihrer eindeutig an die Indie-Disco gerichteten Musik etwa. Wer tanzt zu düsterem Funk wie „Felch“, wie bewegt man sich zu Afro-Funk mit Gitarren-Workout („My Spirit“) oder dem Zombie Dance-Track „Winter Hill“? Macht man das überhaupt ? Aber es gab zu dieser Zeit eben keine eindeutige „Funktions“-Musik für die Tanzfläche. Die hier genannten Bands aus dem Factory-Stall erschufen gerade erst eine Szene + Musik, die sich bald in Richtung Tanzmusik mit Hilfe von synthetischer Klangerzeugung bewegte. Dass sie selber Synthesizer nur als optionales Instrument nutzten, spielt da meiner Meinung nach keine Rolle. Der Einfluss zählt.

A Certain Ratio - Winter Hill 

The Durutti Column


LC

(Factory, 1981)

...aber hier eine Art Ausreisser, den ich jetzt hier einfüge, weil er zum Label Factory gehört, dessen Story ich hier nun einmal erzähle... Schon im Vorjahr hatten The Durutti Column mit ihrem Debüt The Return of the Durutti Column dem Factory Label eine ungewöhnliche Variante seines Trademark-Sounds hinzugefügt. Es ist eindeutig Gitarrist und Mastermind Vini Reilly, der durch seine unspektakuläre Virtuosität sowohl aus der Reihe der Musiker dieses Labels heraussticht, als auch aus der Reihe der Gitarristen, die in Post Punk Bands spielten. Er führte eine fast delikate Fragilität in die Musik der Bands seiner Zeit ein – etwas, für das er oft genug auch verspottet wurde. Aber da wir heute keine stilistischen Einengungen mehr kennen (...tun wir das nicht...?), kann man die Musik von Durutti Column nun sicher besser bewerten. Mit LC jedenfalls bewegte Vinnie Reilly sich eher auf dem Feld klassischer Komposition, manchmal driftet die Musik in Bereiche, die ich bei Brian Eno gefunden habe, manchmal klingt die Musik wie hingetupft. Es ist Impressionismus in Tönen – und wäre da nicht das meisterliche „The Missing Boy“ (natürlich über Ian Curtis), das den Hörer wie ein Fanfarenstoß auf die Erde zurückholt, dann würde man davonschweben wie ein Samenkorn. LC ist gewiss nicht jedermanns Sache und vor Allem für ein „monochromes“ Label wie Factory erstaunlich untypisch. Und es hat mit dem dancefloor-tauglichen Material von New Order oder Section 25 genauso wenig zu tun, wie mit dem Klang von Synthesizern und dem, was hier als elektronische Musik folgen wird. The Durutti Column sind ein Solitär, der hier nicht ganz hin passt. 

The Durutti Column - The Missing Boy 


Ochestral Manoeuvres In The Dark


Architecture & Morality

(Dindisc, 1981)

OMD sind in einem Artikel über die elektronische Musik/ den Synth Pop der beginnenden 80er ein unvermeidliches Element. Und - man mag es nicht glauben – aber ganz am Anfang waren sie bei Factory unter Vertrag, ihre erste Single „Electricity“ von 1979 war auf dem Label erschienen, und auch das Cover-Design ihres vierten Albums hat eindeutig den Factory-Style. Und auch die Musik auf ihrem dritten Album hat immer noch einige Charakteristika der anderen Künstler des Labels – was entweder zeigt, wie „up to date“ Factory war, oder wie modern OMD waren. OMD hatten allerdings einen Sinn für Melodramatik und Romantik, der sie von den „kälteren“ Zeitgenossen auf Factory unterschieden, und sie hatten - auch zu dieser Zeit schon - die Pop-Sensibilität, nach der New Order noch eine Weile suchen mussten. Ihr Sound ist auf Architecture & Morality schon weit synth-lastiger als der von New Order, es gibt kein Pappkarton-Schlagzeug und keinen prominenten Bass – die Produktion ist nicht Factory, aber man könnte sich die Musik ohne weiteres im sparsameren Sound vorstellen. Heute werden OMD mit ihren ziemlich leichtgewichtigen Hits der Mitt-Achtziger und beginnenden Neunziger verbunden, die eine Zeit lang das Formatradio beherrschten, aber ihre ersten vier Alben – also auch das folgende Dazzle Ships – sind perfekter Synth-Pop – experimentell, anspruchsvoll, durchaus auch tanzbar und zugleich voller Sinn für Melodien. Hier ist es natürlich ihr Klassiker „Joan of Arc (Maid of New Orleans)“, der heraussticht, aber da sie hatten den Ehrgeiz, ein komplettes Album voller hörenswerter Songs aufzunehmen. Also muss man auch „She's Leaving“ oder etwa „Sealand“ seine Aufmerksamkeit widmen. Und die experimentelle Elektronik beim Titelsong macht Sinn im Gesamtkonzept. Die Bonus-Tracks auf der CD heben das Album dann endgültig auf die Stufe des Synth-Pop Klassikers neben dem Besten von Depeche Mode - oder Human League – deren Dare hier folgen soll.... 

Orchestral Manoeuvres in the Dark - She's Leaving 

Human League


Dare

(Virgin, 1981)

Was für ein Schlag. Kurz vor den Aufnahmen zum neuen Album verließen Martin Ware und Craig Marsh Human League nach zwei recht experimentellen – und gelungenen - Elektronik/New Wave Alben um zunächst die B.E.F. und dann Heaven 17 (Siehe unten) zu gründen. Sie überließen Philip Oakey und Adrian Wright den Bandnamen - und die Verpflichtung eine komplette Tournee abzuleisten. Oakey orientierte sich hin zum Pop und nahm mit Ian Burden einen Multiinstrumentalisten und mit Susanne Sulley und Joanna Catherall zwei minderjährige Tänzerinnen/ Background-Sängerinnen in die Band auf, um die anstehenden Konzerte zu absolvieren. In den Monumental Studios in Sheffield begannen Oakey und Wright dann schnell ohne die schulpflichtigen Mädchen-Stimmen und ohne den zunächst nur für die Tournee verpflichteten Burden mit den Aufnahmen für neue Songs, von denen „Boys and Girls“ als Single veröffentlicht wurde und in Großbritannien in den Charts schon mal Platz 47 erreichte. Oakey lud Burden als festes Bandmitglied ein, da er einsah, dass seine und Wrights musikalische Fähigkeiten nicht ausreichten, um die angestrebte Neuausrichtung hin zur Popmusik ins Werk zu setzen. Simon Draper von Virgin Records verpflichtete Martin Rushent im März 1981 für die Produktion von „The Sound of the Crowd“, der ersten Single in dieser neuen Besetzung, die im April 1981 veröffentlicht wurde. Unter Rushent's Regie drehte sich der Sound der Band stark in Richtung Pop und Tanzbarkeit und die Single erreichte Platz 12 der britischen Top 40. Nach der Veröffentlichung von „The Sound of the Crowd“ kam der Gitarrist Jo Callis von den Rezillos neu in die Band, der sich für den neuen Sound nun mit Synthesizern vertraut machte. Mit „Love Action (I Believe in Love)“ wurde die nächste, noch erfolgreichere Single veröffentlicht und Rushent begann, ein ganzes Album mit dem Arbeitstitel Dare zu produzieren. Dieses Album sollte den Synth-Pop der kommenden Jahre mindestens so sehr wie OMD's Architecture... oder New Orders kommendes Power, Corruption and Lies definieren. Und es funktioniert auch heute noch.

Human League - Don't You Want Me 

Heaven 17


Penthouse And Pavement

(Virgin, 1981)

..was für mich auch für das Projekt der beiden Ex-Human League Musiker Martin Ware und Craig Marsh gilt. Die beiden gaben sich nach der ziemlich unfreundlichen Trennung von Human League unter dem Namen Heaven 17 und unter der Geschäftsbezeichnung British Electric Foundation als innovative Hersteller junger Musik, die alle Wünsche und Belange der neuen Generation befriedigen würde. Das Konzept, das Cover, die dargestellte Absicht waren damals verstörend genug. Da wollte jemand nicht mehr nur Musiker = Unterhalter sein, sondern vielmehr ein Produkt herstellen, das so viele Bereiche wie möglich abdecken würde. Aber letztlich und natürlich ist Penthouse and Pavement ein ironisierender Kommentar zu den musikalischen Produkten der Zeit, hergestellt als schnöde LP, von Musikern, die genau wussten was sie taten. Die Musik bewegt sich auf dem Grat zwischen Soul und Roboter, mit der Stimme von Glen Gregory haben Heaven 17 ein geeignetes Vehikel, um die bewusst revolutionären politischen Inhalte zu transportieren. Dabei klingt Gregory zwar kühl und überlegen, aber in keinster Weise seelenlos. Und einige dieser Songs hier sind hochinfektiös und extrem tanzbar. Selten hat man dermaßen groovende elektronische Musik gehört – die durch den wuchtigen Funk-Bass dann noch weiter auf die Tanzfläche geschoben wird. „(We Don't Need This) Fascist Groove Thing“ wurde regelrecht sprichwörtlich, „We're Going To Live For A Very Long Time“, „Geisha Boys And Temple Girls“, „Let's All Make A Bomb“, und „The Height Of Fighting“ - alles tolle Songs, - denen man aber natürlich aus heutiger Sicht das Alter anmerkt. Lustigerweise ist dieser 80er Synthie-Klang irgendwann in den 00ern ja noch mal modern gewesen - um dann wieder im Meer der Moden unter zu gehen, wie jeder Trend. So kann ich mich an die Songs halten, und mich fragen, was länger hält – Human League's Dare! Oder Heaven 17's Penthouse and Pavement? Eigentlich egal.

Heaven 17 - Geisha Boys and Temple Girls 


Soft Cell


Non-Stop Erotic Cabaret

(Sire, 1981)

Non-Stop Erotic Cabaret ist eines der stilprägendsten – und wie das mit solchen Alben so oft ist – zugleich eines der „unkopierbarsten“ Alben seiner Art. Das Duo Soft Cell entstand 1977 in Leeds, Sänger Marc Almond und Instrumentalist Dave Ball erspielten sich mit ihrer Mischung aus reduzierten, harten Synthesizer Beats und -Sounds und Marc Almond's exaltiertem Gesang vor allem in der schwulen Club-Szene einen beachtlichen Ruf, hatten aber - trotz der famosen Prä-Techno-Hymne „Memorablia“ - zunächst noch keinen kommerziellen Erfolg. Mit dem Release der nächsten Single, der Cover-Version des 64er Soul Songs „Tainted Love“, sollte sich das massiv ändern. Dieser Song ist in ihrer Version ins kollektive Bewusstsein eingesunken – ein bisschen zum Schaden der Karriere Soft Cell's. Das Duo wird meist auf diesen Song reduziert, und das ist schade. Non-Stop Erotic Cabaret enthält etliche wunderbare, dramatische, dekadente bis aggressive Oden an nächtliches Club-Leben, Liebe und Homoerotik. Das Album ist durchgehend gelungen und so schlüssig, dass eine Aufzählung der besten Tracks fast der Abschrift der Tracklist entspricht. „Sex Dwarf“ wurde ob seiner S/M Inhalte als Video sofort verboten (England war noch sehr prüde), kaum ein Song – oder Video – stellte das kalte Leben der hedonistischen Party-Szene so gelungen dar wie „Bedsitter“, „Seedy Films“ stellt die triste Realität in Porno-Kinos dar, und das wunderbare „Say Hello, Wave Goodbye“ ist eine traurige Liebesgeschichte aus dem schwulen Umfeld der Band, inspiriert von einer Tranvestiten-Bar in der Nähe des Hauses, das sich Marc Almond nach dem Erfolg von „Tainted Love“ gekauft hatte. Interessant, dass dieses hedonistische Album erschien, kurz bevor AIDS als eigenständige Krankheit anerkannt wurde – und Schwulenszenen weltweit in Panik gerieten. Und das ganze Fest wurde mit billigsten Mitteln veranstaltet – die beiden Musiker brauchten nur einen ReVox Tape Recorder, eine geborgte Drum-Machine, einen kleinen Roland Bass Synthesizer und das Synclavier von Mit-Produzent Mike Thorne. Wieder mal bestätigt sich die These, dass die Klasse von Musik weit mehr vom Songwriting abhängt als von Stilmitteln oder technischen Gadgets.

Soft Cell - Say Hello, Wave Goodbye 


Cabaret Voltaire


Red Mecca

(Rough Trade, 1981)

Nicht umsonst gilt Red Mecca neben 2 x 45 als das beste Album der Industrial Pioniere Cabaret Voltaire – und als weiterer Vorläufer des Industial und des technoiden Disco-Sounds. Sie mögen '79 als „reiner“ Industrial-Act begonnen haben (wobei es diese Kategorie noch gar nicht wirklich gab...), aber auf Red Mecca lassen die Musiker um Richard H. Kirk den harschen Sound aus Synthesizern, Gitarren, Bässen und der verzerrten Stimme von Stephen Mallinder ab und zu einer Melodie und einem straighten Rhythmus folgen. Aber - damit es kein Vertun gibt: Auch heute noch klingen Cabaret Voltaire nicht konventionell, sondern futuristisch und beängstigend. Noch immer ist diese Form von Industrial martialisch, mechanisch und manisch, und solche Musik ist offenkundig nicht zur puren Unterhaltung geschaffen. Man will zu den harten Funk-Beats eher jemanden schlagen als tanzen, aber es gibt vermutlich auch Leute, die zu LFO, Autechre oder Aphex Twin tanzen können. Man kann Red Mecca als Kombination aus Industrial und frühem Techno bezeichnen, man kann es hier oder dort einordnen, und - wie so oft – man liegt immer ein bisschen falsch und ein bisschen richtig. Red Mecca beginnt und endet mit „A Touch of Evil“, dem Titelsong zu Orson Wells' Im Zeichen des Bösen, in den Fünfzigern von Henry Mancini komponiert – also ein richtiger Song... Aber Red Mecca ist deswegen so gut, weil es unter all den Experimeneten und dem weissen Rauschen als Album = Kollektion von Songs funktioniert. Richard H. Kirk's Synthesizer vermischen sich mit Chris Watson's Tape Effects zu fiesem Noise, der durch harten Rhythmus zusammengehalten wird. Man sieht, wo Cabaret Voltaire herkommen, man kann sich denken, wo das hinführt, aber bei ihnen gilt, dass dieses (und das unter dem Titel 2 x 45 folgende) Zwischenergebnis, ihr bestes Album bleiben würden. Und das leider sehr kurze „Land-slide“ ist der angenehmste Track auf einem anstrengenden Album zwischen den Zeiten und Stilen.

Cabaret Voltaier - Land-slide 


Chris and Cosey

Heartbeat

(Rough Trade, 1981)

Die Industrial-Pioniere Throbbing Gristle finden in diesem Kapitel nicht statt, weil sie in diesem Jahr ihre Zusammenarbeit beendet haben. Sie hatten in den vier Jahren ihrer Existenz eine ganz Klasse von Musikern beeinflusst und bewusst – mit provokativen bis geschmacklosen Live- Aufführungen und Lyrics - eine Welle von Abscheu und Hass losgetreten. Ihr Einfluss auf Bands wie Cabaret Voltaire oder Soft Cell dürfte jedem deutlich werden, der sich die Alben Second Annual Report, D.o.A.: The Third and Final Annual Report und 20 Jazz Funk Greats anhört (...was ich unbedingt empfehle...). Aber es ist klar, dass die vier Musiker dieses Projektes weiter machen würden. T.G.'s Gitarristin Christine Carol Newby aka Cosey Van Tutti und ihr Ehemann und TG-Synthesizer Experte Chris Carter taten sich zum Duo Chris and Cosey zusammen und setzten die Arbeit ihrer Band fort, indem sie deren harschem und bösartigem Industrial ein bisschen die Spitze nahmen. Ich habe das Zitat von Cosey Van Tutti gelesen: “Industrial music for us was about being industrious, It wasn’t about industrial sounds.” - was sich bei Heartbeat, dem ersten Album des Duos durchaus ablesen lässt. Sie nehmen die analogen Ambient Sounds dieser Zeit, sie nehmen (wie T.G.) Disco-Rhythmen, und wenden sich auf melodischeres, freundlicheres Terrain. Dabei entsteht eine Art Minimal Synth-Pop - nenn' es meinetwegen auch Industrial – der an den Kanten immer noch rau genug ist, um auch heute keinesfalls vor 00:00 Uhr ins Radio zu kommen. Dass diese Musik seinerzeit Avantgarde war, mag der digitalen Generation nicht bewusst sein, aber Tracks wie der Opener „Put Yourself in Los Angeles“ oder der Titelsong des Albums sind gerade in ihrer Achtziger-Ästhetik von kalter Schönheit. Modern ist das natürlich nicht – es sei denn 80ies-Synth-Sound ist wieder mal angesagt. Aber auch jüngere Musiker/innen wie Karin Dreijer aka Fever Ray dürften Chris and Cosey gut kennen.

chris and Cosey - Put Yourself in Los Angeles 

Japan


Tin Drum

(Virgin, 1981)

Worum geht es nochmal in diesem Kapitel? Kalter Synth-Pop? - OK, ich stelle hinter das Thema hier schließlich ein Fragezeichen, und die hier versammelten Alben haben einen mitunter weit hergeholten Bezug zum Titel. Japan zum Beispiel spielen wohl kaum Synth-Pop a la OMD. Sie waren zu Beginn ihrer Karriere eine von Glam und Roxy Music beeinflusste Band, die mit fernöstlicher Ästhetik kokettierte – eine Band, die sich in den Jahren seit ihrem Debüt (Adolescent Sex – 1978) zu einer sehr individuellen Einheit entwickelt hatte - inzwischen waren zum Glam-Rock auch Synth-Pop-Einflüsse, logische asiatisch anmutende Art-Pop Stilmittel und sehr viele eigenständige, aus den Persönlichkeiten der einzelnen Musiker erwachsene Elemente in ihre Musik gelangt. Da ist Mick Karn's bundloser Bass, manchmal brummend wie ein Blauwal – immer im Dialog mit Steve Jansen's beredtem Spiel mit diversen Drums und Percussion, da ist Richard Barbieri's Aquarellmalerei mit Keyboards und Synthesizer - und da ist natürlich David Sylvian's Stimme. Ein einmaliges Instrument, die beste Stimme seiner Generation – cool, sophisticated, aber voller Emotion – vergleichbar vielleicht mit Bryan Ferry, aber inzwischen weit aus dessen Schatten getreten. Auf ihrem letzten Album vereinen die vier Musiker (Gitarrist Rob Dean hatte die Band verlassen) die Erkenntnisse der vorherigen Alben zu einem Konvolut des eigenen Stils (...man muss es erwähnen – auch auf dem letztjährigen Album Gentlemen Take Polaroids...). Sie erzeugen mit Hilfe von Instrumenten wie der Suona und mit von der chinesischen Oper inspiriertem Violinen-Spiel die ihrem Namen entsprechende Atmosphäre, sie haben mit „Ghost“ und „Canton“ Songs, die in dieses Konzept passen, wie gerade gefundene Puzzle-Teile, sie klingen so einzigartig, dass ich tatsächlich nicht wüsste, womit man sie vergleichen sollte. Japan sind mit Tin Drum und Gentlemen... zu einer eigenen Referenz geworden, die nur am Rande in dieses Kapitel über Synth-Pop passen. Es GIBT die für diese Zeit typische „kühle“ Klang-Ästhetik – die man aber nicht mit Emotionslosigkeit verwechseln sollte. Japan sind von Eno und in ihrer konzeptuellen Strenge vielleicht auch von Kraftwerk beeinflusst, aber sie haben ein ganz eigenes Level erreicht. Tin Drum ist eines der ganz großen Alben seiner Zeit, und wenn ich zeigen will, welches Album aus '81 spätere Ambient- oder TripHop-Acts beeinflusst haben mag, komme ich (vielleicht nicht ganz logisch) gerne auch auf dieses Album zurück. Aber egal, ob das richtig oder falsch gefunden wird. Tin Drum ist große elektronische Pop-Musik..

Japan - Canton 


John Foxx

The Garden

(Virgin, 1981)

Zu guter letzt das zweite Solo-Album eines Musikers, den ich als eine Mischung aus Japan's David Sylvian, Gary Numan und Howard Devoto vorstellen würde... müsste ich ihn vergleichen: Dennis Leigh aka John Foxx war mal Sänger von Ultravox (als die noch eine aufregende und sehr innovative Post-Punk Band waren), dann verließ er seine Band, wandte sich dem Synthie-Pop zu (wie Ultravox...) und machte mit Metamatic im Vorjahr ein mutiges, minimalistisches und eigenständiges Debütalbum. Aber wer weiss – der Erfolg mag der Plattenfirma oder Foxx selber nicht groß genug gewesen sein, obwohl die Single in die Charts kam - auf seinem zweiten Album jedenfalls ließ Foxx die elektronische Kälte seines ersten Albums von einem Mehr an Gefühlen wegschmelzen. Das war keine ganz unlogische Entscheidung – mit Ultravox hatte er schon auf deren Systems of Romance (1978) den Grundstein (mit)gelegt für das, was man bald als „New Romantic“ bezeichnen würde. Somit ging er nun also einen kleinen Schritt zurück und verband auf The Garden Synthesizer, Elektronik, exaltierten Gesang und insbesondere einige sehr gelungene Songs zu einem schönen Album. Und so sind Tracks wie „Systems" and „Walk away“ der Sound von Ultravox vor ihrer Kommerzialisierung, und bei „Pater Noster“ und „The Garden“ klingen tatsächlich nach Ambient mit Vocals. Und auch The garden ist einerseits in seiner Zeit gefangen – die Synth-Sounds und auch John Foxx' Gesang sind sich auf rührende Weise einer Fremdheit bewusst, die heute einfach nicht mehr gesehen wird. Aber das Album hat unabhängig von dieser von der Zeit eingeholten Avantgarde eine berührende Schönheit.

John Foxx - The Garden



Montag, 19. März 2018

2007 – Sarkozy, Tony Blair, New Economy und ein sinnloser Klimagipfel - Panda Bear bis El-P

In Mitteleuropa tobt im Januar ein gewaltiger Sturm namens „Kyrill“ über die Länder und richtet einen finanziellen Schaden von über acht Milliarden € an, und das ist erst der Anfang eines an Wetterextremen extrem reichen Jahres. Diverse ernstzunehmende Klimaforscher weisen im 4. Klimaschutzbericht darauf hin, dass es schon 5 NACH 12 sein könnte und allmählich beginnen die Regierungen der großen Wirtschafsmächte zu begreifen, dass Klimaschutz vielleicht doch ganz nützlich und letztlich lohnend sein könnte –. Derweil sprengen sich in diesem Jahr im Iran, Irak, Pakistan – eigentlich weltweit, wieder einmal zahllose Selbstmordattentäter in die Luft und reißen hunderte von Unschuldigen in den Tod. In Frankreich wird mit Nicolas Sarkozy ein nationalistischer Wiedergänger des Komikers Louis De Funes Staatspräsident und in England kommt mit dem Hoffnunsträger Tony Blair ein „sozialer“ Politiker an die Macht – der die Hoffnungen bitter enttäuschen wird, indem er sich bedingungslos den Forderungen der „New Economy“ unterwirft. Es wird immer deutlicher, dass politische Entscheidungen nicht mehr demokratisch, sondern von Lobbyisten und Konzernen gefällt werden, was wiederum in der „Bevölkerung“ die Achtung für die demokratischen Systeme immer tiefer sinken lässt. Die Globalisierung wird für Viele zum Schreckgespenst, während große Konzerne den Rahm ihrer Vorteile abschöpft. Ganz interessant: Die beiden reichsten Menschen der Welt besitzen zur Zeit mehr Geld, als die 45 ärmsten Länder der Welt erwirtschaften können – irgendwas stimmt da nicht im Bereich Gerechtigkeit und Wirtschaftssystem. Die Harry Potter Romanserie findet ihr Ende, Lee Hazelwood und Alice Coltrane sterben – Musikalisch ist 2007 wie die gesamte zweite Hälfte dieses Jahrzehntes - ein Jahr voller sehr schöner Alben in allen möglichen Gattungen von Pop bis Noise. Radiohead machen ein weiteres schönes Album, das aber zunächst deshalb interessiert, weil es umsonst als Download auf der Band-Website veröffentlicht wird. Verschiedenste Formen avantgardistischer elektronischer Musik sind Konsens geworden (Burial, Stars of the Lid), Black Metal ist Konsensmusik, Freak-Folk, Neo Psychedelik (Animal Collective), intelligenter HipHop (Dälek, El-P...) - alles Musik, die nicht mehr polarisiert - vielleicht weil sie immer greifbar ist und zugleich kaum vor einem breiten Publikum stattfindet. Die meisten wirklich guten Alben enthalten Spezialistenmusik und der „offizielle“ Pop ist zu 90% indiskutabel: Heuer beginnt mit „Umbrella“ + Album der Aufstieg von Rihanna, dem Role Model für devote Mädchen, andere hübsch anzuschauende Produkte ohne Belang sind Nellie Furtado, etc... ebenfalls indiskutabel bleiben Maroon 5 oder die Kinder-Emo's Fall Out Boy. Schließen sich Charts-Erfolg und intelligente Musik inzwischen eigentlich aus ?

Panda Bear


Person Pitch

(Paw Tracks, 2007)

2007 ist eindeutig das Jahr des Animal Collective – denn sie lassen mindestens zwei glänzende musikalische Perlen auf die Welt los. Im März '07 veröffentlicht Noah Lennox aka Panda Bear – seines Zeichens Multi-Instrumentalist und einer von vier Ideengebern beim Animal Collective – mit Person Pitch sein viertes und bestes Solo-Album. Ich höre immer wieder, dies sei Pet Sounds für das neue Millenium – sehr nett, aber so sehr ich das Über-Album der Beach Boys mag – der Vergleich greift in vieler Hinsicht zu kurz. Ich weiss nicht einmal, ob Panda Bear (den Namen hat er, weil er als junger Musiker seine Tapes gerne mit Panda-Bären bemalte) den Beach Boys-Einfluss bewusst in seine Musik hat einfliessen lassen. Er hat einfach eine angenehme Stimme, die er hier hundertfach loopt, manche Songs bekommen durch orchestrale Samples und durch seine Pop-Affinität tatsächlich eine warme, sommerliche Atmosphäre, aber Einflüsse aus Minimal Techno, HipHop und Avantgarde – und aus dem unkomplizierten Umgang seiner Freunde beim Animal Collective mit Folk und Elektronik – fliessen zu gleich großen Teilen mit in dieses bunte Album ein. Person Pitch ist das akustische Äquivalent zum Aufenthalt in einem Raum mit papiernen Wänden, der umgeben ist von anderen Räumen, aus denen von der einen Seite melodische Psychedelik erklingt, aus einer anderen Richtung Stockhausen schallt, von rechts jemand mit Schellen und Timpani Rhythmen schlägt und von links Techno und Strassenlärm erklingt. Aber was zum wirren Durcheinander werden könnte, wird zusammengehalten durch Noah Lennox' übereinander geschichtete Stimme, sein dahingeschludertes, aber geniales Songwriting und eine leicht bekiffte, fröhliche Atmosphäre. Es gelingt Panda Bear, komplexe Sound-Experimente mit Pop und Spaß zu kombinieren und daraus ein eigenständiges Ganzes zu machen. Es ist (wie bei den Alben seiner „Haupt“ Band) eine gewisse Geduld nötig - man muss sich darauf einzulassen, aber dann wird man mit Songs wie den tatsächlich Beach Boys-artigen „Bros" und "Good Girl/ Carrots" oder der ambient-Collage „Search for Delicious“ belohnt.

Panda Bear - Good Girl/Carrots 

Animal Collective


Strawberry Jam

(Domino, 2007)

Jetzt könnte man ja meinen, wenn vier geschüttelte Limo-Flaschen wie David Portner aka Avey Tare, Dan Deacon aka Deakin, Brian Ross Weitz aka Geologist und der oben genannte Panda Bear aufeinandertreffen, gibt das eine sprudelnde Sauerei – aber nein – das ist nicht der Fall. Animal Collective passen in diese Zeit, in der Alles möglich ist und jeder Alles kennt und benutzt, aber sie sind klug genug – und aufeinander so gut eingespielt – dass es nicht zur chaotischen Explosion kommt, sondern – um das Bild zu Ende zu strapazieren – zu mehreren kleinen Limo-Flaschen mit aufregenden, immer neuen Geschmacksnoten. Strawberry Jam als Ganzes sprudelt über vor Ideen, aber die Vier haben diese Ideen geschickt in neun Songs gepackt. Sie haben sich in Texas – in der Wüste – zusammengesetzt und ihre mitunter sehr unterschiedlichen Ideen zusammenfließen lassen. Das geht ein wenig auf Kosten des Flows, das Vorgängeralbum Feels (genauso gut, aber anders) bildet eine Einheit, Strawberry Jam ist anstrengender und zunächst schwerer am Stück zu genießen, aber dafür gibt es positive Entwicklungen in diverse Richtungen. Ich vermute, nicht nur Panda Bear hat sich im Umgang mit Minimal Techno und elektronischer Musik geübt, auch die Kollegen kennen sich da jetzt aus und nutzen ihre Kenntnisse. Aber vor Allem haben alle vier beschlossen, die „konzeptuelle“ Seite ihrer Musik nicht über das Songwriting zu stellen. Die Tracks waren allesamt auf Konzerten ausprobiert worden. Und nicht nur Panda Bear hatte zur Zeit sowieso einen Lauf. So funktioniert Strawberry Jam als Songsammlung unabhängig vom erweiterten Sound der Band. Animal Collective sind immer noch, trotz aller Neuerungen als sie selber erkennbar, die sympathische Spinnerei ist immer noch da, die psychedelischen Spielereien gibt es immer noch (Man höre nur „Winter Wonder Land“ oder „Cuckoo Cuckoo“) - aber das sind richtig tolle Songs, die nun zusätzliche Elemente bekommen haben. Mitsingen erfordert mehrmaliges Hören, aber dann kann man das womöglich auch noch tun. Für mich sind sie hiermit endgültig die neuen Flaming Lips mit eigenem Profil und (Freak) Folk Hintergrund (obwohl der jetzt völlig hinter dem Vorhang anderer Einflüsse verschwunden ist). Animal Collective haben wieder überrascht. Ach ja – welches der beiden Alben besser ist? Beide gleich gelungen, beide sehr typisch Mitte der 00er Jahre, beide unterschiedlich genug – beide hören...

Animal Collective - Cuckoo Cuckoo 

Burial


Untrue

(Dubstep, 2007)

Beim Aussuchen der ersten zehn Alben für ein bestimmtes Jahr bin ich (natürlich) oft hin und her gerissen. Da gibt es immer noch weitere Alben, die es verdient hätten hervorgehoben zu werden. 2007 machen Radiohead ihr feines In Rainbows, The National bringen Boxer heraus – oder da gibt es köstlichen Minimal Techno von The Field mit From Here We Go Sublime. Aber 2007 lässt William Emmanuel Bevan aka Burial – da noch immer ganz inkognito – auf sein formidables Debüt seine zweites komplettes Album Untrue folgen. Und obwohl dieses Album „nur“ eine Fortführung des Debüt's ist, ist es das Beste, was es (für mich...) in diesem Jahr an elektronischer Musik gibt. Ich will erwähnen, dass z.B. das renommierte Wire Magazin Untrue zum Album des Jahres kürt... Aber was bekommt man? Aus Samples und Sounds konstruierte Musik, die hoch-emotional ist – mit körperlosen Sprach-Samples, die mehr sagen, als irgendwelche Lyrics, mit Sounds, die bildhaft sind wie die Fahrt durch eine nächtliche, verregnete Großstadt. Es gibt die zu der Zeit so angesagten Dubstep Rhythmen, die ja vielleicht irgendwann unmodern klingt – aber das glaube ich nicht, weil das Gesamtkonzept so schlüssig und zeitlos ist. Vom bedrohlichen Intro mit Strassenlärm und einsamer Stimme über das nachfolgende einfach nur melodische „Archangel“ bis zum majestätischen und fast munteren Closer „Raver“. Man könnte auch die einzelnen Komponenten auseinander dividieren: Regennasse Funk Beats, abdrundtiefe Dub-Bässe, Ambient, der schimmert wie Neonlicht auf nassem Asphalt, und besagte verhallte Stimmen, die durch die Leere wirbeln. Aber es ist eben doch NICHT alles nur Atmosphäre – die Tracks bauen aufeinander auf, haben einen logische Flow, Untrue wirkt dadurch reifer als das Debütalbum. Um so trauriger, dass Bevan/Burial seither (stand 2018) kein Album mehr gemacht hat, sondern „nur“ noch einige wirklich gelungene EP's – von zugegebenermaßen langer Spieldauer. Extended Tracks sozusagen. Für Untrue gilt - wie es so schön in einem kurz-Review heisst: „Headphones, y'all. and lights out.

 Burial - Archangel

Stars Of The Lid


And Their Refinement of the Decline

(Kranky, 2007)

Für Stars of the Lid gilt das Gleiche, wie für Burial: Deren letztes Album The Tired Sounds of... war hier auch schon prominent vertreten – nur dass seither sechs Jahre vergangen sind. Das texanische Duo hat seinen Ambient/ Drone in den vergangenen Jahren verfeinert, die Tiefe der möglichen Soundschichten ausgelotet und kommt jetzt wieder mit einem 3-fach Album/ einer Doppel-CD daher, um den Hörer vollends zu erschöpfen. Inzwischen haben sie ihre organische Verbindung von Drones, orchestralen Samples und vereinzelten Solo-Instrumenten um gletscher-artig voranschiebende Melodiebögen erweitert. Würde man die Tracks in dreifachem Tempo abspielen, kämen regelrechte Songs dabei heraus. Inzwischen haben die diffusen Drones von Orgel und Orchester das Kommando übernommen, Einzel-Instrumente werden nur noch hier und da als Glanzlichter gesetzt, das Auf und Ab der Drones lässt einen unendlich lagsamen Rhythmus entstehen. Den beiden CD's wurde scheinbar jeweils ein Konzept – besser, eine Stimmung – auferlegt. CD 1 ist melancholisch wie ein Sonnenuntergang (in Zeitlupe), CD 2 ist nachtdunkel – „muntere“ Musik dieser Art wäre schließlich undenkbar. Die ersten fünf Tracks bleiben noch zeitlich im Rahmen und fließen ineinander, aber „Don't Bother They're Here“ wird dann schon in zehn Minuten ausformuliert. Adam Wiltzie und Brian McBride wissen genau, Was sie Wie sagen wollen und mit Stars Of The Lid and Their Refinement of the Decline haben sie eine glasklare Reinheit in ihrer Musikform erreicht – eine Reinheit, die vielleicht absichtlich zu einem Wortspiel verführt: Der Titel dieses Album könnte auch lauten: „… and Their Definement of the Recline“ (…ihre Definition vom Zurücklehnen). Wenn dann am Ende das über 18-minütige „December Hunting for Vegetarian Fuckface“ trotz seines seltsamen Titels über den Hörer hinwegspült wie eine letzte Flutwelle, ist das nur der logische Ausklang. Und dass Stars of the Lid seither trotz diverser Versuche kein weiteres Album gemacht haben, scheint auch nur noch logisch. Was sollte nach diesem Album kommen? (Ach ja... das KÖNNTE man auch Stagnation nennen...) 

 Stars of the Lid - Don't Bother They're Here

Magnolia Electric Co.


Sojourner

(Secretly Canadian, 2007)

Möglich, dass meine Begeisterung für diese barocke Holzbox mit 4 CDs, einer DVD und einem Anhänger(?) im Stoffsäckchen auch auf die liebevolle Verpackung zurückzuführen ist. Aber Jason Molina – der Kopf und Songwriter/Sänger/Gitarrist von Magnolia Electric Co. Ist einer der ganz Großen – mit einer Diskografie voller herausragender Alben zwischen Alternative Country und Folk. Ich halte ihn für eine Art 90er-Version von Neil Young – und dass er sich 2013 totgesoffen hat, ist eine musikalische Tragödie. Das 2003er Album mit dem Bandnamen als Titel ist im Hauptarikel des entsprechenden Jahres dabei. Sojourner ist eine Zusammenfassung von Jason Molina's Fahrt durch die USA und Kanada zu verschiedenen Aufnahmesessions und Konzerten. Er wollte wohl mal zeigen, wie seine Musik entsteht, wie das Leben on the road ist, was die Einflüsse sind, die zusammenwirken, um seine Musik entstehen zu lassen. Ziemliche Hybris – so was. Aber man bekommt so teilweise wunderbare Songs zu hören, bekommt ein Bild von ihrer Entstehung und davon, wie unterschiedlich sich Einflüsse auswirken. Natürlich gibt es in diesen 117 Minuten Schwächen – da ist die Demo-Session CD Shohola, sparsam aufgenommen, nur Molina + Gitarre und nicht so ergreifend wie etwa Springsteens Nebraska – aber mit Songs wie „The Spell“, die zeigen, dass er auch im kleinen Format Großes leisten kann (Besser dafür ist aber das 2006er Album Let Me go Let Me Go...). Ganz hervorragend die CD Nashville Moon, von Steve Albini produziert, eine Country Band im Hardcore-Wahn, und wieder mit tollen Songs wie „Montgomery“ und „What Comes After the Blues“ - wer könnte diese leicht unsichere Stimme mit der knochentrockenen Band im Hintergrund nicht mögen. Und auch die CD Black Ram hat wieder so wunderbare Songs wie „Will-O-The Wisp“ dabei, nun romantischer, verhallter aufgenommen mit David Lowery in dessen Sound Of Music Studios in Richmond. Molina steht der Country-nahe Sound mit twangy Gitarren genauso gut – diese zwei CD's sind schon das ganze Album wert. Die EP Sun Sessions hat dann sogar mal einen fröhlichen Songs dabei: „Talk to Me Devil, Again!“ zeigt, dass Molina auch mal grinsen kann. Die DVD mit dem Titel The Road Becomes What You Leave zeigt in schönen Bildern den Tour-Alltag in Kanada – unterhaltsam wäre da das falsche Wort, aber es gehört und passt zu diesem extensiven Set. Einem Set, das natürlich ärgerlich limitiert war und inzwischen nur für viel Geld zu haben ist. Aus ausgewählten Tracks setzt sich das vorjährige Album Fading Trails zusammen – nicht so schwer zu finden aber auch nicht einem Konzept verpflichtet. Ein „Sojourner“ ist übrigens eine Person, die mal hier, mal da wohnt. Passt.

Magnolia Electric Co. - Talk to Me Devil, Again! 

PJ Harvey


White Chalk

(Island, 2007)

2007 ist Polly Jean Harvey schon seit fast 20 Jahren Teil der intelligenten Elite der populären Musik – ist gefühlt sogar schon so lange dabei, wie ihr Partner im Geiste Nick Cave, (obwohl der tatsächlich noch 10 Jahre mehr Erfahrung hat). Man hat sich einfach daran gewöhnt, dass von ihr in regelmäßigen Abständen gute bis sehr gute Alben erscheinen. Sie hat sich durch ihren Stilwillen, ihre Songwriter-Kunst und ihre Fähigkeit, sich selbst zum Spiegel für alle möglichen Facetten des Feminismus zu machen eine fast unangreifbare Position erarbeitet. Was ihr in den Augen mancher Hipster abgehen mag, ist die Beliebigkeit des aktuellen Postmodernismus. Sie ist in gewisser Weise eine „altmodische“ Solo-Künstlerin – und das mag nicht jedem gefallen. Mit White Chalk zeigt sie wieder eine neue Facette ihrer Persönlichkeit. Das Cover gibt schon den Hinweis: Es ist ihr Emily Brontë-Album. Sie hat – zur eigenen Überraschung – Interesse am Klavier gefunden und in der Zeit, in der sie begann, sich darauf zurecht zu finden, Songs geschrieben. Nach eigenen Worten war das nicht beabsichtigt, aber das Material war da – und es klang interessant genug um ein komplettes, wenn auch kurzes (etwas mehr als 30 Minuten) Album abzuliefern. Zu den Aufnahmen holt sie sich ihren alten Freund John Parish dazu sowie den Ex-Captain Beefheart Musiker Eric Drew Feldman, der die schwierigeren Piano Passagen spielen kann, und den Dirty Three Drummer Jim White – den kennt sie vermutlich durch Nick Cave. Im Gegensatz zum letzten, doch ziemlich rohen Album Uh Huh Her klingt ihre fantastische Stimme auf White Chalk oft regelrecht sanft, sie wispert, sie singt in hohen Tonlagen – und passt sich damit den Erfordernissen der Songs an. Bei „The Mountain“ oder dem Opener „The Devil“ erkennt man sie kaum noch, wenn sie ins Falsett verfällt, aber die Melodieführung mit ihrer untergründigen Dunkelheit bleibt dann doch typisch PJ Harvey. Ein Song wie „Grow Grow Grow“ etwa kann nur von ihr kommen, auch wenn das Gewicht auf dem ganzen Album auf Balladen mit Gothic-Charakter gelegt wird. Ich denke immer wieder an den Kate Bush-Song „Wuthering Heights“ - nur, dass zu diesem Thema ein ganzes Album entstanden ist, dem eine Punk-Vergangenheit voranging. Es GIBT Leute, denen diese Facette zu fremd ist, ich finde White Chalk schön.

 PJ Harvey - The Mountain

Arcade Fire


Neon Bible

(Merge, 2007)

Gerade fällt es mir auf: 2007 kommt (in diesem Artikel) ohne bahnbrechende Debüt-Alben aus. Alle hier beschriebenen Alben sind mindestens Zweit-Werke, zementieren „nur“ die Klasse der ausführenden Musiker. Heisst das Stillstand? Irgendwie schon, aber irgendwie auch nicht... Arcade Fire zum Beispiel hatten mit Funeral und einer EP schon drei bis vier Jahre zuvor ein ganz eigenes Feld erobert. Sie waren damit irgendwo zwischen Folk, Chamber-Pop, Post-Punk und (wort-)gewaltiger Emphase so eigenständig, dass die Prominenz der Populärkultur und Millionen Fans sie voller Begeisterung umarmten. Aber ob sie diese Frische auch auf einem zweiten Album haben würden? Die Antwort ist ein lautes „Ja!“. Und nach einem solchen „Ja!“ klingt auch das komplette Album. Neon Bible hat Alles, was Funeral hatte und mehr... Es ist noch emotionaler, die Band klingt mit Hilfe von Orchester etc. noch lauter, Win Butler's Stimme überschlägt sich bei Songs wie dem übergangslos in „Intervention“ fliessenden Titeltrack regelrecht vor Begeisterung und die Orgel dröhnt dazu. Und was bei Anderen peinlich klingen würde, reißt wirklich wirklich mit. Dass die mindestens acht-köpfige Band Neon Bible in einer ehemaligen Kirche aufnahm, passt zur Legende und zum Klang gleichermaßen, Songs wie „Black Mirror“ oder „The Well & the Lighthouse“ oder das mitreissende „No Cars Go“ brauchen einen großen Raum. Wenn Funeral das Zerbrechen der Illusionen der Jugend behandelt hat, dann beschreibt Neon Bible nun die Gefahren und Zwänge, die die letzten Illusionen der vergangenen Jugend rauben wollen. Die zerstörerischen Kräfte aus Religion und Gesellschaft, die zu Unfreiheit und Apathie führen. Aber natürlich gibt es bei Arcade Fire Hoffnung. Nicht – wie man meinen könnte bei solchen Träumern – in Form von Eskapismus, sondern durch Transzendenz. Neon Bible beschreibt, wie man Hoffnung in einer dunkler werdenden Welt bewahren kann, und wie man mit Kreativität und Klugheit die negativen Seiten der eigenen Existenz akzeptieren und dann überwinden kann. Klingt das pathetisch? Natürlich. Und so klingt auch dieses Album. Nichts für Zyniker – aber das waren Arcade Fire ja auch zuvor nicht. 

Arcade Fire - No Cars Go 

Deathspell Omega


Fas – Ite, Maledicti, In Ignem Aeternum

(Norma Evangelium Diaboli, 2007)

Black Metal mag seit Beginn der 00er Jahre eine Musikrichtung sein, die einen Hipster-Status bekomen hat, aber dieser Status betrifft meist Bands wie Agalloch oder Alcest. Bands, die ihren Black Metal mit Post-Rock und/oder Folk verquirlen. Aber noch sind viele Bands dieser Szene gewollt obskur, unkommerziell wie Hölle und böse böse böse. Zum Beispiel die Franzosen Deathspell Omega. Deren Mitglieder geben keine Namen preis – nicht einmal die sonst üblichen Künstlernamen. Sie treten nicht Live auf und lassen sich einzig über ihre Ansichten zum Christentum und dem von ihnen favorisierten sehr durchdachten Satanismus aus – was ihnen in der „Szene“ sicher Glaubwürdigkeit garantiert, sie aber nicht davon abhält, dem Black Metal einen kräftigen Stoß in Richtung Psychedelik und Chaos zu geben – ihn also nicht dogmatisch „Old School“ zu belassen. Fas – Ite, Maledicti, In Ignem Aeternum ist Erstens lateinisch für „Das göttliche Gesetz – Gehet ein, Verdammte, in ewiges Feuer“ und Zweitens Teil 2 einer geplanten Trilogie über das Verhältnis des Menschen zu Gott und Satan. Der erste Teil Si monvmentvm reqvires, circvmspice („Wenn Du ein Denkmal suchst, sieh Dich um“) war vor drei Jahren erschienen und hatte den musikalischen Stilwechsel der Band in eine ziemlich einzigartige Richtung eingeleitet. Nach ersten Alben mit relativ „normalem“ Black Metal begannen sie avantgardistische Elemente in ihre Musik einfliessen zu lassen. Gregorianische Chöre mögen noch irgendwie logisch sein, aber die dissonanten, aber kontrollierten Ausbrüche, die kurzen ruhigen Momente, dann wieder Wände aus Noise abwechselnd mit klassischem Death Metal Riffing – all das in einer Intensität, die das vorherige und dieses Album von tausenden anderen ihrer Art unterscheidet. Fas – Ite... legt den Schwerpunkt auf das Verhältnis des Menschen zu Satan – und der Titel sagt schon, dass der Mensch verloren ist. Die düstere, hoffnungslose Stimmung der Musik, die apokalyptischen Ausbrüche, die glasklare Produktion – all das macht schon ohne Textblatt deutlich, wo die Band steht, aber die musikalische Brillianz und Eigenständigkeit heben das Album weit aus dem Durchschnitt und stellen es auf eine Stufe mit Meisterwerken wie Burzum's Filosofem und dem 2006er Diadem of 12 Stars von den Wolves in the Throne Room. Diese Musik ist erschreckend und schön – sie ist erschrecken schön.

Deathspell Omega - The Bread of Bitterness 

Oceansize


Frames

(Superball Music, 2007)

Wenn PJ Harvey und ihr Post-Punk/Gothic Album White Chalk 2007 in gewisser Weise schon ein Anachronismus ist, dann sind Oceansize mit ihrem „progressiven“ Rock trotz der Integration des noch „hippen“ Post Rock das um so mehr. Diese Art von Rockmusik hat sich konzeptionell seit den 70ern eigentlich nicht mehr verändert – natürlich hat sie immer wieder Einflüsse adaptiert, aber letztlich geht es bei progressivem Rock immer um Virtuosität, komplexe Songstrukturen und epische Songs, gerne mit Konzept und viel Pathos. Aber – diese Art von Musik hat alle Moden überstanden, hat ein ähnlich konservativ/stures Publikum wie die diversen Formen von Metal – und teilt sich oft auch deren Fans. Aber ich will Oceansize und ihr Frames nicht lächerlich machen – man könnte auch sagen, dass die Band klingt wie Radiohead ohne elektronische Experimente und ohne allzuviel Avantgarde, dafür mit einem gewissen Hang zum Hardcore. Für den Conaisseur dürfte es ein Vergnügen sein, zuzuhören wie beim Opener „Commemorative ____ T-Shirt“ (der Unterstrich stand zunächst für 9/11) der komplexe Rhythmus gegen ein Gitarrenmotiv gespielt wird, dann nach 2 ½ Minuten eine Melodie dagegen gesetzt wird, das Spiel an Härte gewinnt und irgendwann der Alternative Rock Stimme von Mike Vennart einsetzt. Und es ist faszinierend zu hören, welche Menge an Ideen hier ausformuliert wird, Oceansize lassen sich Zeit, kein Song bleibt unter der 6-Minuten Marke, „The Frame“ dauert länger als 10 Minuten – und es kommt in der Zeit keine Langeweile auf, die Songs entwickeln sich immer linear weiter, der Orkan aus vertrackten Rhythmen, harten Gitarren und Keyboardflächen überdeckt weder Melodik noch Gesang und alles bleibt so klar, wie der Himmel im Auge des Hurricanes. Wer Bands wie Porcupine Tree (deren diesjähriges Album Fear of a Blank Planet hier auch stehen könnte) oder die völlig wahnsinnigen Cardiacs mag, findet hier eine Band, die genau in dieser Schnittmenge arbeitet. Frames ist Oceansize's bestes Album und es mag sich dabei um eine anachronistische Musikform handeln, aber im Grunde sind ja auch die Hipster vom Animal Collective nur altmodische Hippies.

Oceansize - Commemorative ____ T-Shirt 

El-P


I'll Sleep When You're Dead

(Def Jux, 2007)

Die zweite Hälfte der 00er Jahre ist für HipHop keine gute Zeit. Kaum interessante Entwicklungen, die es aus dem Experimentierkasten schaffen, Kanye West, Nas, Jay Z etc haben anscheinend in der ersten Hälfte der 00er Jahre alles gesagt, J Dilla ist tot, Madvillain/Madlib wurde nicht wirklich gehört – aber immerhin – der weisse New Yorker Produzent, Def Jux Label-Inhaber und Ex Company Flow Rapper Jaime Meline – aka El Producto aka El-P – hat auf seinem Label mit u.a. Aesop Rock, RJD2 oder dem Briten Dizzee Rascal Geschmack bewiesen und nach Company Flow's '97er Klassiker Funcrusher Plus auch solo schon 2002 mit Fantastic Damage gezeigt, wie es weitergehen könnte. Sein '07er Album ist eines der interessantesten dieses Jahres. Klar, es gibt auch M.I.A.'s Kala, UGK mit ihrem überraschenden Comeback Underground Kingz oder Doomtree's False Hopes, aber ich habe I'll Sleep When You're Dead als wichtigstes Album ausgewählt ...zu den Kriterien am Ende ein paar Worte... El-P's Vision von HipHop ist nach wie vor dunkel, komplex und zukunftsweisend, auch auf diesem Album gibt es Gastbeiträge anderer Def Jux Künstler (Aesop Rock und Cage), aber er holt sich mit Leuten von The Mars Volta, mit Daryl Palumbo, Trent Reznor, James NcNew vonYo La Tengo und Cat Power auch sehr HipHop-ferne Gäste hinzu – und ein Verdienst ist, dass er die Gäste integriert, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren, ohne den Flow des Albums zu zerstören. Die Namen mögen illuster sein, El-P mag das Rap-Idiom strecken und dehnen, aber er bleibt als er selbst erkennbar. I'll Sleep When You're Dead ist im Gegensatz zum Vorgänger extrovertiert und beat-betont, und die Beats sind mitunter ziemlich aggressiv, El-P erreicht nicht die intellektuelle und emotionale Tiefe des ebenfalls in diesem Jahr erschienen None Shall Pass des Kollegen Aesop Rock, aber die beiden Alben sind sozusagen zwei Seiten einer Medaille. Beide zerlegen HipHop, um ihn neu zusammenzufügen. Wie modern das Album heute noch klingt – wie modern es - glaube ich - immer klingen wird, möge man am Opener „Tasmanian Pain Coaster“ oder am letzten Track „Poisenville Kids No Wins“ mit Cat Power als Begleitung hören. Das ist enorm komplexer, detailreicher HipHop, auch wenn manche Fans es im Vergleich zu anderen Alben dieses Labels „kommerziell“ nennen, weil El-P auch auf eine angenehme Zugänglichkeit geachtet hat. ICH finde gerade Das gut: Sind nicht auch die Klassiker wie 3 Feet High and Rising über Illmatic bis Madvillainy (inzwischen) auch „zugänglich“? 

El-P - Poisonville Kids No Win 

...und nun zur Auswahl dieser Alben...


Ich weise hier deutlich darauf hin: Je näher ich dem aktuellen Datum komme, desto geringer wird die Gewissheit, dass die zehn Alben, die ich als „wichtigste“ des Jahres erachte, auch wirklich so etwas wie Klassiker sind bzw. sein werden. Es fehlt bei dem geringen zeitlichen Abstand einfach die Sicherheit, ob diese Alben in ein paar Jahren überhaupt noch den Stellenwert haben, den sie zur Zeit des Erscheinens hatte – bzw. den sie jetzt haben. Zumal sie auch noch durch meinen Subjektiv-Filter hindurch mussten... So wähle ich hier häufig nach eigenem Geschmack Alben aus, die mindestens ein bisschen obskur sind (Birchville Cat Motel, Deathspell Omega). Andererseits gibt es dann auch Konsens-Alben wie Joanna Newsom's 2006er Ys – um nur ein Beispiel zu nennen. Ich versuche mit den zehn „Alben des Jahres“ einen breiten Querschnitt durch die stilistische Vielfalt zu treffen, daher fehlen oft Alben, die der Fan einer bestimmten Musikgattung unbedingt als Klassiker bezeichnen würde. Im Vergleich zur Musik der Siebziger oder Achtziger ist die Menge an Veröffentlichungen seit den Neunzigern ins fast unermessliche gewachsen – und auch wenn dabei eine Menge Schrott herauskam – die Anzahl an wirklich tollen Alben ist ebenfalls gestiegen, und wenn ich besagten Querschnitt machen will, geht der durch ein breiteres musikalisches Feld als es vor 30 Jahren überhaupt existierte. Daher: Ich will mich mit dieser Auswahl weit weniger auf einen Status als Klassiker festlegen, als vielmehr ein Bild der musikalischen Entwicklungen des jeweiligen Jahres zeigen. Mit den meiner (momentanen) Meinung nach besten Alben. Jeder andere Mensch würde anders auswählen. So What.








Mittwoch, 7. März 2018

1993 – Bikini Kill bis Liz Phair – Riot Grrrl und wen man damals dafür hielt

Wie so oft schreibe ich über einen musikalischen Trend zu dem Zeitpunkt, an dem er sich am besten an bestimmten Alben festmachen lässt – denn mir geht es in erster Linie um die auf Tonträgern dokumentierte Musik - und nicht so sehr um das erste Mal, an dem eine bestimmte Absicht in Musik gegossen wurde. Die Riot Grrrl Bewegung gibt es schon seit Beginn der Neunziger. '91 haben sich etliche junge Künstlerinnen In Olympia im US-Bundesstaat Washington zusammengetan, um Kunst zu erschaffen, politisch aktiv zu sein, Musik zu machen - und um sich gegenseitig dabei zu unterstützen, in der klar männerdominierten Musik-Szene ihr eigenes Ding zu machen. Anlass ist insbesondere die Unzufriedenheit mit dem Machismo in der von ihnen geliebten Punk-Szene. Inspiriert von gerade stattfindenden anti-rassistischen Demo's und Ausschreitungen, wird der Begriff „Girl Riot“ in das aggressiver klingende Riot Grrrl (klingt nach Knurren...) umgewandelt. Das Kollektiv veröffentlicht Fanzines, nimmt Tapes auf und arbeitet mit dem Label Kill Rock Stars zusammen, auf dem der gesamte Geschäftskram von Frauen gemacht und organisiert wird. Die berechtigte Empörung über die Diskriminierung von Frauen im Musikbusiness ist seit Ewigkeiten virulent, aber der Einfluss des Feminismus ist im männerdominierten Geschäft immer noch (und bis heute) minimal. Von Bessie Smith über Billie Holiday, Nina Simone, Joni Mitchell, Kate Bush und Patti Smith bis zu den feministischen Punk Bands der frühen Achtziger gab es immer starke Frauen, die ihre Position zu verteidigen wussten. Aber das lief immer nach dem Prinzip - zwei Schritte voran, einer zurück. Nina Simone's Karriere war selbstbestimmter als die von Billie Holiday und Joni Mitchell war wiederum Nina Simone voraus – aber sie alle hatten Männer vor bzw. über sich. Auch Punk Bands wie die Slits oder Raincoats mussten auf Männer bei Plattenfirmen, im Mangement, als Produzenten Rücksicht nehmen – ganz zu Schweigen vom Macho-Publikum der Szene, das sie nach dem Motto Frau = Sexobjekt betrachtete. Es war einfach an der Zeit, dass eine neue Generation von Frauen den Hardcore-Punk Ethos solcher Vorbild-Bands wie Fugazi in einen feministischen Kontext setzten. Und in gewisser Weise gaben die Riot Grrrl's unfreiwillig einer Bewegung den Namen, die auch ohne dieses Etikett stattfand. Musikerinnen wie PJ Harvey, Liz Phair, L7 oder die Breeders gaben selbstbewusst femistischen Grundsätzen Ausdruck, ohne sich der Riot Grrrl Bewegung zuordnen zu wollen. Den Bands aus Olympia ging es zudem um eine deutlichere Ästhetik, um klarere Prinzipien. Heavens to Betsy, Bratmobile und Bikini Kill sind die Flaggschiffe, und sie alle haben einen deutlich erkennbaren DIY-Punk Ethos. Alles, was sie machen, kommt ohne männliche Hilfe aus, ihre Lyrics behandeln Themen wie weibliche Sexualität, Missbrauch, Sexismus, Rassismus, Machismo etc. ihre Musik ist bewusst „Punk“, voller Energie, aber ohne bemühte Virtuosität (worin sie sich von den Breeders oder PJ Harvey unterscheiden) – es ist Punk mit Überzeugung. Eine der ganz großen Bands, die aus dieser Szene erwuchs, sind die Heavens to Betsy Nachfolger Sleater-Kinney – aber die begannen ihre Karriere, nachdem Riot Grrrl von den Medien ausgelutscht worden war. Ende '93 war die Sängerin der Gits (die eigentlich nur am Rande mit den Riot Grrrl movement zu tun hatte) brutal vergewaltigt und ermordet worden. Sofort solidarisierten sich etliche Mitläufer/innen mit Riot Grrrl - und trugen diese Solidarität wie ein Banner vor sich her – was von „echten“ Riot Grrrl's als Verrat an den Idealen aufgefasst wurde. Dogmatik übernahm das Kommando, die Bands zerstritten sich und Riot Grrrl war vorbei. Viele der Protagonistinnen machen natürlich in anderen Projekten und Bands weiter und der Gedanke einer selbstbestimmten explizit weiblichen Musik setzt sich fort – auch weil sich immer noch nicht wirklich viel geändert hat.

Bikini Kill


Pussy Whipped

(Kill Rock Stars, 1993)

Bikini Kill waren DIE Band der Riot Grrrl Szene in Olympia/Washington – und ihre Frontfrau/Sängerin Kathleen Hanna ist die Frau, mit der man diese Art Punk mit feministischer Botschaft identifiziert. Und bei Pussy Whipped ist es ihre Energie, sind es ihre Alarm-Sirenen Schreie, die die Musik aus der Masse ragen lässt. Grundsätzlich wird hier krachender Punk gespielt, mit Noise-Anklängen, ohne unnötige Spielereien – und die Tatsache, dass Frauen hier den abgehalfterten 77er Punks oder den 81er Hardcore Veteranen die geliebte Nostalgie vermiesten, soll zum Hass und zur Häme – und zu übelsten frauenfeindlichen Beleidigungen geführt haben. Durchaus vorstellbar, ist doch gerade der Alt-Punk gerne ein Ausbund an Intoleranz. Dabei kann man es auch so sagen: Bikini Kill holten Punk zurück zu seinen Wurzeln. Die „männliche“ Variante war immer technischer und virtuoser geworden, es ging nicht mehr darum, „Was“ gesagt wird, sondern nur noch um's „Wie“ - und das ist immer schlecht. Zumal Bikini Kill ihre feministischen Botschaften in infektiöse Songs packten: Da wird Sexismus in seiner widerlichsten Form angeprangert, es geht um Vergewaltigung und Pädophilie und Hanna verlangt schlicht, dass Frauen über ihre Sexualität – wie über ihr ganzes Leben – selber bestimmen sollen. Sie erzählt vom „Star Bellied Boy“, einem Typen, der sich als netter Indie-Boy gibt, aber die gleiche sexuelle Aggressivität an den Tag legt, wie die Leute, die er zu verachten vorgibt – und das schreit und gurgelt sie mit erfreulicher Brutalität hervor, untermalt vom Feedback-kreischen von Billy Karren's Gitarren. Und bei „Lil' Red“ klagt sie ganz konkret das eigene Geschlecht an, wenn sie singt: „You are not the victim / though you'd like to make it that way“ - und mit „Rebel Girl“ ist eine der größten 90er Punk-Hymnen dabei. Logisch, dass sie wegen der Lyrics und der bewusst DIY- gehaltenen Ästhetik der Musik Angriffsfläche bot. Aber die Kritik an Pussy Whipped basiert meistens auf Hass und Intoleranz. Das Album ist so kraftvoll, dass es für mich unangreifbar ist. Und mit einer Länge von knapp 25 Minuten extrem kurzweilig. 

Bikini Kill - Rebel Girl 

Bratmobile


Pottymouth

(Kill Rock Stars, 1993)

Die andere Vorzeige-Band der Riot Grrrl's ist Bratmobile – und deren einziges Album ist für mich ganz einfach die etwas weniger spannende Angelegenheit. Ihre Herangehensweise ist vergleichbar mit der von Bikini Kill – sie spielen Punk im wahrsten Sinne des Wortes, die Gitarren dengeln schmucklos, Alles hat den Charme, der den Garage Punk aus den Sechzigern so sympathisch macht. Es gibt keine Virtuosität, wie wir sie von Fugazi oder Quicksand kennen. Auf Pottymouth geht es um die Position, die eingenommen wird. Alles ist autark, es gibt deutliche feministische Aussagen, und der Kommerz und die melodischen Finessen, die sich in den letzten Jahren in Punk eingeschlichen haben, sind nicht vorhanden. Dafür ist massenweise Glaubwürdigkeit da. Allison Wolfe deklamiert ihre Lyrics mit charmanter Unprofessionalität – und das muss auch so sein. Bratmobile sind Fans einer bestimmten Musik und sie nutzen das, was sie lieben, um ihren Protest gegen eine männerdominierte Welt rauszulassen – aber bei ihnen ist ganz einfach die Trefferquote nicht so hoch, wie bei Bikini Kill. Sie sind ganz einfach nicht so gute Songschreiber. Lyrics wie „I don’t wanna hear how many friends you have/I don’t have any anymore“ treffen nicht so tief wie die auf Pussywhipped, die Energie des Trios ist nicht so deutlich zu fühlen, wie bei Bikini Kill. Der DIY-Charme verfängt bei mir nicht so sehr, wie bei anderen Bands, ganz einfach, weil die 17 Songs in 27 Minuten zu gleichförmig vorbei ziehen. 

 Bratmobile - Love Thing

Adickdid


Dismantle

(G Rec., 1993)

Weit besser als Bratmobile's Pottymouth gefällt mir Adickdid und deren einziges Album Dismantle. Die Band um die baldige Team Dresch Gitarristin/Sängerin Kaia Wilson stammt aus dem drei Stunden von Olympia entfernten Eugene/Oregon – und spielt schnell im Umkreis der Riot Grrrl Bewegung mit - ist auf dem Sampler Stars Kill Rock dabei und tourt mit Bikini Kill und Bratmobile. Adickdid sind der Beweis dafür, dass Riot Grrrl nicht ein „Stil“ ist, sondern vor Allem eine Haltung. Hier wird Punk mit Noise, New Wave und Hardcore überzogen, die bewusste Unprofessionalität etlicher Riot Grrrl's weicht einem erkennbar durchdachten Soundkonzept, das Songwriting hat den gleichen Stellenwert wie die Lyrics – und mir ist es ein Rätsel, warum dieses Album nicht den gleichen Stellenwert hat, wie Pussywhipped oder die Alben von Team Dresch. Kaia Wilson's Stimme ist großartig, souverän, mal sanft, mal hart, ihre Songs verbinden Schönheit mit Finsternis, der Sound auf dem ganzen Album ist durchsetzt von Distortion, Bass und Gitarre sind extrem verzerrt, dazu der Wechsel zwischen melodischen Songs und lärmenden Passagen – da geht mitunter die Aufmerksamkeit für die Lyrics flöten – die sich auch weniger mit Feminismus und all seinen Facetten befassen, als bei Bratmobile oder Bikini Kill Hier geht es meist um weibliche Homosexualität – logisch, da Kaia Wilson sich mit 14 als Homosexuell ge-outed hatte und damit im konservativen Westen Aussenseiter war. Dass man dem Thema in der Musik auch ein Etikett gab, kann sich jeder denken. Also – sgen wir mal QueerCore – und vergessen das wieder, weil Dismantle schlichte Kategorien nicht verdient hat. Das Album ist schwer zu finden, K Records war streng DIY, die Band löste sich noch '93 nach diesem Album auf, aber ich finde es ist musikalisch eines der besten aus dieser „Szene“. Zum Glück begegnet man Kaia Wilson wie gesagt bei Team Dresch und den Butchies wieder. Tolle Musikerin.

 Adickdid - Eye Level

Scrawl


Velvet Hammer

(Simple Machines, 1993)

und schon geht es weg von den Riot Grrrl's und vom Washington State. Ich habe es oben schon gesagt, Bands mit weiblichem Personal, mit entsprechender Sichtweise in den Lyrics und mit ein bisschen Punk im musikalischen Genmaterial werden in dieser Zeit automatisch dem Riot Grrrl movement zugerechnet. Und Scrawl waren eine All-Girl Band, passten, was das angeht, in den damals durchaus angesagten „Trend“. Dabei kamen Scrawl aus Columbus/Ohio, waren schon seit Mitte der Achtziger aktiv, waren mit dem Meat Puppets auf Tour gewesen und kannten Bands wie Bikini Kill oder Bratmobile höchstens aus dem Indie-Radio. Und auch ihr viertes Album Velvet Hammer hat sowohl musikalisch als auch textlich mehr gemein mit Bands wie Silkworm oder Seam als mit Bikini Kill. Der Ex Big Black Musiker und Nirvana Produzent Steve Albini hat mit seinem nacken, unmittelbaren Sound massiven Einfluss auf die Wirkung, die das Album erzeugt. Es gilt zu Recht als eines der traurigsten und desillusioniertesten der Neunziger. Sängerin Marcy Mays Stimme hat die emotionale Zurückhaltung, die die schmerzlichen Texte so wahr klingen lassen: Beim John Peel-Liebling „Your Mother Wants to Know“ ist sie Mediator zwischen Mutter und Kind wenn sie singt: “She wants you to like her so try to forget it/ And she's sorry for all the years and what happened to you when you were a kid“. Und bei „Take a Swing“ singt sie über eine zerstörte Beziehung: „Can we handle this like adults or do you wanna scream? / Do you wanna take a swing?“ um dann ironisch und explizit Gewalt heraufzubeschwören: „Show me your fist, put me in my place“. Wegen seiner Schroffheit und Unverblümtheit und wegen seiner deutlich weiblichen Sicht passt Velvet Hammer irgendwie auch in die Reihe der Riot Grrrl Alben - aber solche Etiketten sind nur Vereinfachungen für faule Musik-Journalisten und schaden mitunter mehr, als sie nutzen. Ich setzte es also aus Faulheit in diesen Kontext – not. Ich sehe hier die Gelegenheit, auf ein übersehenes und erfreulich tief gehendes Album hinzuweisen.

 Scrawl - Your Mother Wants to Know

PJ Harvey


Rid Of Me

(Island, 1993)

PJ Harvey


4-Track Demos

(Island, 1993)

Also: Alles, was ich in diesem Kapitel hinter Adickdid reviewe, ist NICHT Riot Grrrl – aber: Viele Alben, die in dieser Zeit von Frauen gemacht wurden und sich mit feministischen Positionen befassen, kann man in den Riot Grrrl-Kontext stellen. Wie gesagt – Riot Grrrl ist kein musikalischer Stil sondern eher die Haltung zu- und Umgehensweise mit- bestimmten Themen. Viele Frauen arbeiteten in der Musik dieser Zeit mit Selbstbewusstsein und Energie mit einer dem Punk nahen Sprache. Die „echten“ Riot Grrrl's aus Washington spielten DIY Punk und wollten in jeder Hinsicht autark sein. Die Britin Polly Jean Harvey machte ähnliche Musik – mit größerer Professionalität und hatte sich mit ihrem 92er Debütalbum Dry schon als sehr bewusst feministische Frau exponiert, aber sie dürfte sich genausowenig wie Scrawl als „Riot Grrrl“ betrachtet bzw bezeichnet haben. Mit den zusammengehörigen Alben Rid of Me und 4-Track Demos stellte sie sich klar in eine Reihe mit anderen Frauen, die vehement eine Veränderung überkommener Rollenschemata einfordern. Und sie hatte - genau wie die oben beschriebenen Scrawl - für das neue Album Rid of Me auch den Produzenten Steve Albini gewählt.Eine Zusammenarbeit, die auf dem Papier perfekt schien. Seine rohe Produktion ließ kaum Raum für Grautöne, der kraftvolle Sound, den er dem Trio gab, stand der Musik ganz hervorragend. Das Album gilt als Post-feministisches Manifest - dabei waren die Texte laut Harvey's Aussage nicht geschlechts-spezifisch zu verstehen – sie sagte: „...I never write with gender in mind...“. Andererseits ist ihre Sicht eindeutig weiblich, wenn sie dem Hörer den Titelsong beispielsweise regelrecht um die Ohren haut - und PollyJean Harvey's Stimme klingt beunruhigt und zugleich beunruhigend wenn sie flüstert: „Don't you wish you'd never met her?“ Ihre Lyrics waren zweifellos besser geworden, genau wie das Songwriting. „50ft Queenie“ war ihre beste Single bis dato, auch „Rub 'til It Bleeds“ ließ an Eindeutigkeit nichts vermissen, das komplette Album erforderte, dass man sich auf diese Vermischung von auralen und lyrischen Texturen einließ, und wenn man das tat, war es keine leichte Kost. PJ Harvey selber schwor, dass Nichts autobiographisch war, aber der Schmerz in den Lyrics klang, als würden da die eigenen Wunden geleckt und die Wut, die dahinter stand, konnte persönlicher nicht sein – schöpfte offenbar doch aus der eigenen Wahrnehmung von Unrecht und Missbrauch – was sie mit den gerade so angesagten „Riot Grrrl's“ in Verbindung bringt. Da Steve Albini Rid of Me seinen kompromisslosen, rohen Trademark-Sound gab, machte es für PJ Harvey wohl Sinn, sechs Monate später die Original-Demo's als autarkes Album zu veröffentlichen. (Sie hatte schon bei der britischen Version von Dry die Demo's als Bonus-Disc hinzugefügt) Die getrennte Veröffentlichung der 4-Track Demos wies darauf hin, dass PJ Harvey den Sound von Rid of Me nachträglich wohl zu hart fand und die Songs vielleicht in ihrer ursprünglichen, weniger agressiven Version bevorzugte.Letztlich ist es vor Allem für den Hörer Geschmackssache, ich glaube nicht, dass die von Albini im Bandformat aufgenommenen Versionen schlechter sind - sie sind nur anders. Auf Rid of Me spielte eine Band, und alle drei Musiker tragen zum Sound bei. Die Demos dagegen, -von PollyJean alleine eingespielt - sind von einer emotionalen Direktheit, die sich im Bandformat nicht einfangen lässt. Das ist - neben der Tatsache dass einige Songs dabei sind, die es nicht auf das Album schafften - der Vorteil der 4-Track Demos. Und so ist das Album mehr als eine bloße eine Ergänzung. Es zeigt eine weitere Facette der Künstlerin PollyJean Harvey und ist eher ein Solo-Album. 

 PJ Harvey - Rub 'til It Bleeds

 PJ Harvey - Rub 'til It Bleeds (Demo-Version)

Liz Phair


Exile In Guyville

(Matador, 1993)

Um beim Thema zu bleiben – Liz Phair's erstes richtiges Album (sie hatte zuvor zwei Cassetten mit Songs veöffentlicht – und wegen denen den Vertrag beim Indie Matador bekommen) – dieses beziehungsreich Exile in Guyville benannte Album (...es soll eine feministische Antwort auf Exile on Mainstreet von den Rolling Stones sein...) hat mit Riot Grrrl-ism so viel zu tun, wie Elefanten mit Porzellan. Aber die faule Presse steckte dieses Album seinerzeit in die gleiche Schulklasse, in der Bikini Kill sich weder mit PJ Harvey noch mit Scrawl vertrug. Warum? Weil Liz Phair textlich von vorne herein in die Offensive ging, weil sie mit deutlichen und provokanten Worten beschrieb, wie man sich als Frau in einer männerdominierten Gesellschaft fühlen muss, wenn man betrogen wird, wenn man als Objekt betrachtet wird, wenn man wegen seines Geschlechtes nicht ernst genommen wird oder sogar attackiert wird. Damit sprach sie vielen jungen Frauen ihrer Zeit aus der Seele – und das fassten insbesondere Männer als Angriff – als „Riot“ - auf. Und das ist auch schon die ganze Verbindung zu den Riot Grrrl's. Natürlich ist dieses Album durchaus dazu gedacht, zu provozieren. Die Provokation war aber in die seinerzeit angesagte Verkleidung aus Indie-Pop mit ein paar (nicht zu vielen) lauten Gitarren verpackt – und der DIY Punk-Ethos war höchstens noch in Liz Phair's Vergangenheit als Cassette-Artist zu finden. Ständig nennt man Songs wie „Fuck and Run“ oder „Flower“ - in der Tat wütend, konfrontativ und schockierend von einer 25-jährigen (vor allem in den USA...) mit Texten über wundgefickte Schwänze und Blowjobs, aber genauso wichtig ist ein Song wie „Shatter“, eine subtile Ballade, die fast Slowcore ist, in der sie auch mal Schwäche zeigt, wenn sie singt „I don't know if I could fly a plane. Well enough to tail spin out your name?“. Es ist eine Qualität, dass sie nicht nur die wütende Harpyie gibt, auch Zwischentöne beherrscht – und dass sie Songs schreiben kann, die textlich eindeutig sind, und dazu ins Ohr gehen. Dem Album hat die Zuordnung zum Riot Grrrl Hype genauso geschadet, wie die Tatsache, dass Liz Phair sich danach zur niedlich/beliebigen Indie-Pop Sängerin umstylen ließ. Für sich ist es ein sehr schönes, wenn auch etwas zu langes Album – 18 Songs? Doppel LP? Aber der Hype war nicht unverdient und die meisten Songs funktionieren noch heute.

Das Album gibt es nicht auf YouTube...


Nach dem schnellen Ende des Hypes – sozusagen nach Ende der Saison 1993 – machten die Musikerinnen aus diesem Umkreis wie gesagt weiter und definierten als Sleater-Kinney, Team Dresch, Le Tigre etc das, was wir jetzt als Riot Grrrl kennen – indem sie dabei das bisherige DIY-Punk Spektrum unter Anderem durch wachsendes Können um Noise, Post Punk, Rock, Grunge-Einflüsse und um Virtuosität erweiterten. Die oben genannten Bands aus der Szene in Olympia waren mit den Vorgaben durch den Presse Hype extrem unzufrieden und sahen es als Pflicht an, ihre Musik zu verändern. Dazu kam eine regelrechte Abscheu davor, andere Musikerinnen mit einem Begriff hausieren gehen zu sehen, die Feminismus nicht einmal Ansatzweise lebten. Man bedenke: Sogar die Spice Girls mit ihrer „Girl Power“ nannten sich inzwischen Riot Grrrl's! Wie auch immer – Die Musik die unter dem Etikett Riot Grrrl erklingt, besetzt bald ein stilistisch ziemlich breites Feld, das nur inhaltlich halbwegs geschlossen bleibt. Hier also noch die übliche Aufzählung der 10 meiner Meinung nach besten Alben, die für den Begriff Riot Grrrl stehen – und die Anmerkung, dass zwei der besten Riot Grrrl Acts gar nicht zum Kollektiv aus Olympia gehört haben.



Babes in Toyland - Fontanelle (1992) New Yorker Vorreiter – Teil 1 – haben '92 schon ein Album hinter sich.



Lunachicks - Binge and Purge (1992) New Yorker Vorreiter – Teil 2 – haben '92 auch ein Album hinter sich.



L7 - Bricks Are Heavy (1992) LA Band, die Grunge mit Feminismus paart



Bikini Kill - Pussy Whipped (1993) siehe oben – die Urmütter der Riot Grrrl Bewegung



Adickdid - Dismantle (1993) siehe oben – die Band, die den blöden Begriff QueerCore aufgesetzt bekam.



Heavens to Betsy - Calculated (1994) Vorläufer von Sleater-Kinney, der besten Band dieser Art



Team Dresch - Personal Best (1995) Adickdid Fortsetzung – und genauso toll wie Sleater-Kinney



Red Aunts - #1 Chicken (1995) New Yorker Blues-Punk Riot Grrrls die mehr Erfolg verdient hätten



Sleater-Kinney - Call the Doctor (1996) Die beste (feministische) Band der Welt - auch alle anderen Alben...



Le Tigre - Le Tigre (1999) Elektro-Dance Version von Bikini Kill. Kathrin Hanna lebt