Donnerstag, 28. März 2019

2011 - Arabischer Frühling, Fukushima und Massenmord in Norwegen – PJ Harvey bis Danny Brown

2011 steht ganz im Licht des sogenannten „arabischen Frühlings“ - dem Versuch der Bevölkerungen verschiedener islamischer Staaten rund ums Mittelmeer, demokratische Verhältnisse via Revolution zu erzwingen. Zunächst ensteht auch so etwas wie Hoffnung in Ägypten, Tunesien, Marokko und vielen anderen Staaten, aber bald werden diese Bemühungen von religiösen Fundamentalisten und den etablierten Herrschaftskasten blutig unterdrückt und speziell in Syrien bricht ein furchtbarer Bürgerkrieg aus. Am 11. März kommt es in Japan zu einem Tiefsee-Erdbeben mit nachfolgendem Tsunami (über 19.000 Tote), der das Kernkraftwerk von Fukushima komplett zerstört – und wieder einmal ist ein völlig undenkbarer Super-GAU eingetreten, kommt es zu eine nuklearen Verseuchung – und wieder einmal verharmlost die weltweite Atom-Lobby alle Folgen. Immerhin entscheidet Deutschland sich für den schnellen Atomausstieg – irgendwann demnächst... Weltweit kommt es zu Naturkatastrophen, Stürmen, Dürren etc wegen der nun immerhin erkannten Klimaveränderungen, dazu Erdbeben in Neuseeland, im Iran und wie gesagt in Japan. Osama Bin Laden, Chef der Al Qaida Attentäter wird - live vom US Präsidenten via Satellit verfolgt – von einem US Kommando erschossen und in Norwegen killt ein fanatischer Faschist 77 Jugendliche, die mit einer sozialdemokratischen Jugend-Organisation auf einer Ferieninsel kampieren. Weltweit ist politischer und religiöser Extremismus auf dem Vormarsch und Gesellschaften driften politisch immer weiter auseinander. Der Nordkoreanische Superheld Kim Jong Il, einzigartiger Führer und glorreicher General, der vom Himmel abstammt stirbt - bzw fährt wohl auf ins Paradies. Sein Erbe Kim Jong Un ist genauso bekloppt, Soul-Sängerin Amy Winehouse stirbt zu Niemandes Überraschung mit gerade mal 28 Jahren. Das Jahr 2011 ist geprägt von der elektronischen Musik, Avantgarde wird zum Mainstream (Siehe Oneohtrix Point Never etc) wie immer in den letzten Jahren gibt es in fast jedem Genre lohnendes zu kaufen. PJ Harvey macht Folk, Kate Bush kehrt zurück, extreme Musik bleibt extrem ohne sich zu verschlechtern. R'n'B und (Neo)-Soul bekommt erstaunliche relevanz, das neue Jahrzehnt bietet einiges – aber Musik ist zugleich nur Begleitprodukt zum Lifestyle. Oberflächlichere Soundtracks dazu verkaufen Lady Gaga, Bruno Mars, Katy Perry, David Guetta und andere Leichtgewichte, Coldplay blähen sich bis zur Unkenntlichkeit auf, Müll überall, aber eben auch...

PJ Harvey


Let England Shake

(Island, 2011)

und da ist sie ein weiteres mal: PJ Harvey ist - ganz objektiv – in der populären Musik seit den Neunzigern eine Konstante. Eine produktive, wandelbare, intelligente und geschmackvolle Künstlerin, die durch kluge stilistische Wendungen nie langweilig wird. Ihr letztes Solo-Album von 2008 habe ich im entsprechenden Leitartikel beschreiben müssen, weil es so großartig war, das folgende Album mit John Parish war auch gut, aber eben nicht PJ allein, Let England Shake erinnert wieder daran, dass man an dieser Frau nicht vorbei kommt. Sie schafft es inzwischen scheinbar spielend, die feine Balance zwischen Pop, (Folk)Rock, Experiment und Anspruch entlang zu schreiten. Auf diesem Album setzt sie sich mit den schwierigen Themen Krieg, Verlust, (fehlgeleitetem) Patriotismus und Fanatismus auseinander und hat dazu englische Soldaten, Iraner und Afghanen befrag, Berichte über die Schlacht von Gallipoli gelesen, behandelt auf „The Words That Maketh Murder“ die Kriegsverbrechen unter Tony Blair, bei „On Battleship Hill“ den zweiten Weltkrieg – immer aus der Perspektive des einzelnen, fehlgeleiteten und benutzten Individuums. Let England Shake ist ein Anti-Kriegs-Album, das erschreckend und zugleich schön ist. PJ Harvey hatte schon auf White Chalk mit höherer Stimme gesungen - auch hier singt sie eine Oktave höher als früher, eine bewusste Entscheidung, die sie beim Einüben der Songs traf. Die Aufnahmen fanden in einer umgewidmeten Kirche in Dorset statt – was dem Album seinen hallenden Sound verleiht - und sie ließ ihre Musiker - John Parish, Mick Harvey und Drummer Jean-Marc Butty - bewusst improvisieren. Im Gegensatz zu White Chalk ist Let England Shake nicht vom Klavier bestimmt, PJ hatte inzwischen die Autoharp (eine Art Zither...) entdeckt und arbeitet mit Saiteninstrumenten, Saxophon und Blasinstrumenten – und hat dazu einige schöne Folk-Melodien gefunden, die im Kontrast zu den bitteren Themen zu stehen scheinen. Man vermutet beim fröhlich dahin-hüpfenden Titeltrack keine Lyrics, die sich mit dem Tod beschäftigen, die sanfte, mit Autoharp und Bläsern verzierte Ballade „All and Everyone“ über das Massaker von Bolton im britischen Bürgerkrieg Mitte des 17. Jahrhunderts hat zwar bedrohliche Untertöne, aber ist die Melodie nicht zu lieblich für 1.600 Tote...? Letztlich macht Harvey mit Let England Shake - nach White Chalk – den nächsten Schritt in Richtung klassischer britischer Folk-Musik, deren Themen dunkel, deren Melodien aber oft hell und lieblich sind. Sie hat in den Jahren zuvor ihre Art Songs zu schreiben geändert – inzwischen sind die Worte Leitmotiv der Musik, die Autoharp als Instrument zum Komponieren bewirkt eine noch deutlichere Hinwendung zum Folk-Sound. Dass PJ Harvey sich längst von Patti Smith (mit der sie von Ignoranten immer noch verglichen wird) emanzipiert hat, versteht sich. Let England Shake hat zeitlose Klasse.


Chelsea Wolfe


Ἀποκάλυψις

(Pendu Sound, 2011)

Dummköpfe könnten sich hier und jetzt beklagen, dass Chelsea Wolfe sich (zu eng) an PJ Harvey anlehnt = Dass ihr zweites richtiges Album - Ἀποκάλυψις (= Apokalypsis) - nur ein Abklatsch der früheren PJ Harvey ist... Aber das stimmt genauso wenig, wie der Vergleich zwischen Harvey und Patti Smith. Ja, es GIBT Ähnlichkeiten – schon allein in der Kraft und Ausdrucksweise der Stimme – aber man kann Chelsea Joy Wolfe (so ihr Geburtsname) in diesen postmodernen Zeiten auch mit Grouper, mit Nico, Carla Bozulich oder Siouxie Sioux in Verbindung bringen. Die Versuchung ist groß, wenn man sieht wie sie sich in den folgenden Jahren inszeniert. Aber spätestens dieses Album ist so eigenständig - und gelungen – dass Vergleiche zu kurz greifen und ich es hier empfehlen will. Wolfe hatte schon als Kind Songs komponiert, der Vater hatte als Country-Musiker ein kleines Home-Studio und die junge Chelsea konnte schon frühzeitig ihre eigene musikalische Sprache entwickeln. Ein nicht veröffentlichtes Album 2006, dann 2010 mit The Grime and the Glow ein erster kleiner Underground-Erfolg, aber das Album, mit dem sie berechtigte Aufmerksam bekam, ist eindeutig Ἀποκάλυψις . Was sie hier in erstaunlicher Bandbreite präsentiert, fällt gemeinhin unter die Begriffe Gothic, Darkwave, Ethereal Wave oder Doom , wird erzeugt mit Stilmitteln wie stark verhalltem Gesang, düsteren Drum-, Bass- und Gitarren-Sounds, schleppenden oder majestätisch dahinschreitenden Rhythmen und haufenweise Atmosphäre. Aber Chelsea Wolfe hat auch die Songs, all die Formalien mit Leben und Bedeutung zu füllen, sie vermischt ihre dunklen Farben zu einem eigenen Schwarz. Gothic – ich will es mal so einfach nennen – ist nicht neu, und Ἀποκάλυψις ist kein innovatives Album, aber Chelsea Wolfe klingt, als hätte sie diese Musik neu erfunden, als hätte sie keine andere Wahl, als genau so zu klingen. Und Ja – „Tracks (Tall Bodies)“ könnte ich mir auch als Song aus PJ Harvey's Federn vorstellen, aber das ist ein Lob. Sie kennt natürlich Black Metal und Psychedelic – diese Generation von Musikern ist mit dem Wissen um 50 Jahre (Rock)musik aufgewachsen und hat Alles via Internet zur Verfügung (Man schaue sich ihre YouTube Videos von Burzum und Radiohead-Songs an). Um so größer der Verdienst, wenn aus all dem Wissen ein Song wie „Moses“ oder „Movie Screen“ destilliert wird. Das Album ist überraschend abwechslungsreich, Tracks wie „Friedrichshain“ sind regelrecht catchy und klugerweise kurz gehalten, das darauf folgende „Pale on Pale“ belehnt Siouxie and the Banshees, Sludge und Black Metal. Der Trend zum Gothic begann zwar schon in den 00er Jahren, aber Ἀποκάλυψις ist für mich das erste wirklich bemerkenswerte Beispiel dieser Musik einer neuen Generation von Todessehnsüchtigen.



Kate Bush


50 Words for Snow

(Fish People, 2011)

Eigentlich will ich in diesem Kapitel nicht auf einem Thema herumreiten – aber ich habe herausgefunden, dass die (IMO) besten Alben dieses Jahres durchaus Gemeinsamkeiten haben, von denen die Unwichtigste das Geschlecht der Interpreten ist... Dass PJ Harvey Kate Bush als eines ihrer größten Idole bezeichnete, dürfte immerhin überraschen – ihrer Musik hörte man das lange nicht an – aber inzwischen..? Inzwischen hat Kate Bush den Status einer elder stateswoman, ihre in großen Abständen erscheinenden Alben sind Äußerungen einer Künstlerin, die schon aufgrund ihrer Geschichte Nichts mehr falsch machen kann. Und genau damit könnte sie natürlich in eine Kreativ-Falle treten und sich mit 50 Words for Snow nur auf alten Lorbeeren ausruhen. Aber das macht Kate Bush natürlich nicht. Das Album ist - wie der Vorgänger Aerial - ein ganz eigenständiges Werk, wieder eindeutige Kate Bush und zugleich wieder gan neu. Kurz gesagt kommt mir 50 Words for Snow vor wie ein musikalisches Bild mit der Darstellung der meditativen Atmosphäre, die bei nächtlichem Schneefall entstehen mag. Kate Bush singt mit (inzwischen) tieferer Stimme, die elegischen Songs werden vom Klavier und von Steve Gadd's Percussion getragen, sie beschreibt den Fall einer Schneeflocke aus der Ich-Perspektive, in „Misty“ verbringt sie eine Nacht mit einem Schneemann, im wunderschönen „Lake Tahoe“ sucht eine viktorianische Geister-Frau ihren ertrunkenen Hund „Snowflake“ unter dem Eis (was an die gespenstische Atmosphäre ihres einstigen Hits „Wuthering Heights“ erinnert) und beim exzentrischen Titeltrack zählt Stephen Fry besagte 50 Worte für Schnee auf. Das Album hat eine entspannende Wirkung (im Gegensatz zu den beiden vorher beschriebenen Alben von PJ Harvey und Chelea Wolfe), Bush verzichtet auf Drama, auf komplizierte Beziehungs-Geschichten, und betrachtet die Natur, wie man eine Schneeflocke durch ein Mikroskop in all ihrer Komplexität bestaunen könnte. Dem langsamen Fall der Schneeflocken entsprechend sind manche Songs über zehn Minuten lang, und genau so muss es dann auch sein. Mit Elton John hat sie für „Snowed in at Wheeler Street“ einen prominenten Duett-Partner, der dem Song und dem Konzept nicht schadet. Das einzige, was ich bedaure ist, dass seither kein neues Album mehr zustande kam. Immerhin wurde 50 Words for Snow inzwischen auf Vinyl veröffentlicht.


Bon Iver


Bon Iver, Bon Iver

(4AD, 2011)

Jetzt würde – wollte ich mich an das unfreiwillige Thema halten – Annie Clark aka St. Vincent mit ihrem 2011er Album Strange Mercy passen – aber der Hinweis soll reichen und ich wende mich dem konventionelleren Indie Folk von Bon Iver, Bon Iver zu. Bon Iver sind/ist Justin Vernon, eine Band bzw. inzwischen ein Musiker, der 2007/8 mit seinem wunderschönen Debüt For Emma, Forever Ago die damals virulente Sehnsucht nach bärtigen Folk-Naturburschen mit-befriedigen konnte, der sein Album stilecht in einer einsamen Hütte im Wald per Hand zusammengebaut hatte – und der mit seiner Kopf-Stimme als intelligenter Freigeist schon schnell weit über die Grenzen des „Folk“ hinweg musizierte (worin er den Fleet Foxes ähnelt, deren 2011er Album Helplesness Blues hier genauso stehen könnte...). Bon Iver, Bon Iver hat eine ähnliche Atmosphäre wie der Vorgänger, hier herrscht Ruhe und Introspektion, alles schwebt sanft und manchmal ein bisschen gespenstisch dahin, Sounds von Steel-Guitar, Vernon's gedoppelter Gesang und sanfte Akustik-Gitarren gemahnen an den rustikalen Vorgänger – aber Vernon hatte nun eine ganze Band im Hintergrund, der Sound schwillt nun mitunter zu einem ruhigen Sturm an, der Experimental-Jazzer Colin Stetson und Vernon's Kollege Mike Lewis dürfen die Songs mit einem Haufen Bläser aufpumpen, Steel-Legende Greg Leisz lässt so manchen Song in Sonnenuntergangs-Rot erstrahlen – das Album ist so üppig, dass es manchem Konservativen Geist zu viel wurde und Klagen kamen, dass Justin Vernon hier irgend etwas verraten hätte. Ich sage: Seit For Emma, Forever Ago waren vier Jahre vergangen, der kommerzielle Erfolg und der Hype um jenes Album hatte Justin Vernon neue Möglichkeiten eröffnet (immerhin hatte er sich ein eigenes Studio in einer ehemaligen Tierklinik aufgebaut) und ein klug ausgedachte Sound, der viel Entwicklungs-Potential bietet, kann nicht verkehrt sein – zumal hier mit „Holocene“, „Michicant“ oder dem Opener „Perth“ feinstes Songwriter Handwerk geboten wird. Bon Iver, Bon Iver bietet keinen leidenschaftlichen Ausbruch, keinen Sturm-und-Drang, es fließt ruhig dahin – mit ein paar kleinen Stromschnellen – aber mir gefällt es gerade besser als besagtes 2011er Album der Fleet Foxes. Immerhin: Morgen könnte ein anderes Album seinen Platz übernehmen.


Matana Roberts


Coin Coin Chapter One: Gens de couleur libre

(Constellation, 2011)

Die gesellschaftliche Relevanz von Jazz tendierte in den letzten Jahrzehnten gegen Null. Fans dieser Musik mögen es leugnen, aber Jazz war spätestens seit den Mitt-Siebzigern nur noch Nischen-Musik für Eingeweihte, bei der komplexe Strukturen und instrumentale Virtuosität die entscheidenden Faktoren bildeten. Dass dazu System-immanente Schwerverdaulichkeit kommt, machte es lange Zeit fast unmöglich, Jazz einem genre-fernen Publikum nahe zu bringen. Aber im neuen Millenium kommen auf einmal Musiker daher, die den Jazz auch als Sprachrohr für Botschaften mit Bedeutung nutzen – und Zack! - Jazz wird (mir) wichtig. Somit ist Matana Roberts' Live Album Coin Coin Chapter One: Gens de couleur libre das erste „echte“ Jazz Album seit Miles Davis 1970er Meisterwerk Bitches Brew an dieser prominenten Stelle. Die '78 geborene Matana Roberts hatte sich in Chicago seit den frühen 00er Jahren in diversen Kunst- und Jazz-Projekten als Saxophonistin, Texterin, und Arrangeurin etabliert, sie war insbesondere im Umfeld von Post-Rock Bands (die bekanntlich sehr Jazz-affin sind) wie Godspeed You! Black Emperor und Tortoise unterwegs, hatte auf deren Alben mitgewirkt und einen Vertrag beim antikapitalistischen Montrealer Post Rock Label Constellation ergattert, auf dem sie nun ein Konzept-Werk veröffentlichte. Coin Coin Chapter One... behandelt in Free-Jazz-Improvisationen, Big Band Arrangements, Spoken Word-Passagen, Noise Ausbrüchen und lyrischen Saxophon-Passagen das Leben der Marie Thérèze Coincoin – einer ehemaligen Sklavin im Louisiana des 19. Jhdt., die als Mutter mehrerer frei geborener farbiger Kinder und als erfolgreiche Unternehmerin zur Symbolfigur gegen Rassismus und für Feminismus steht. Beides Themen, die bekanntermaßen gerade in den USA der 2010er Jahre an Bedeutung gewannen. Roberts plant eine 10-teilige Folge von Alben, die den Rassismus/Feminismus in den USA behandeln, und dieser erste Teil ist musikalisch so spannend, dass man sich schon auf die restlichen neun Teile freuen kann. Aber wäre nur das Thema klug ausgedacht, dann stünde Coin Coin Chapte One... nicht hier. Die Verquickung von Jazz und Post-Rock, der Abwechslungsreichtum, der innovative und furchtlose Umgang mit diversen Stilmitteln, die in jedem Ton spürbare Dringlichkeit und auch die Virtuosität, mit der hier ein brennendes Thema verhandelt wird, macht das Album zu einem, das über alle Grenzen hinweg funktioniert. Dieses Album steht gleichberechtigt neben Klassikern wie Max Roach's We Insist! Und Ornette Coleman's Free Jazz! - WENN das überhaupt Jazz ist.


Oneohtrix Point Never


Replica

(Software, 2011)

und die Bedeutung der sog. „elektronischen“ Musik für die Weiterentwicklung der populären Musik kann auch nicht unterschätzt werden – zumal nicht im neuen Millenium. Entweder werden Klänge aus Synthesizer oder Sampler inzwischen immer mehr und immer besser von konventionell arbeitenden Künstlern in ihre Musik integriert (siehe Radiohead), oder Einzelgänger bzw. Projekte wie Aphex Twin, Four Tet, Burial, Boards of Canada etc. schieben die Grenzen dessen, was man ohne das altbekannte Rock-Instrumentarium macht, weiter voran. So hat der Amerikaner Daniel Lopatin aka Oneohtrix Point Never bis 2011 etliche gelungene experimentelle „Electronic“ Alben eingespielt, irgendwo zwischen den Polen Ambient und progressive Electronic pendelnd, immer mit dem geliebten Roland Juno-60 als tragendes Instrument. Das letzte Album Returnal hatte von purem Noise bis zu lyrischen Sound-Passagen ein breites Feld abgedeckt, aber auf Replica baut Lopatin nun seine schlauen Tracks um Samples und Loops von Werbe-Jingles aus den 80ern und 90ern von alten VHS-Cassetten. Da ist ein Track wie „Up“, der um dieses eine Wort herum tanzen, dann folgt „Child Soldier“, bei dem nur der kurze Ausruf einer Kinderstimme die Basis für rhythmisch komplexes Dauerfeuer bietet. Bei „Sleep Dealer“ werden Melodie und Klänge um ein kurzes „t...“ und Atemgeräusche gewickelt, der Roland Juno-60 unterstützt nur noch mit schwebenden Sounds, die sympathisch altmodisch klingen, mich an Klaus Schulze und die Berlin School erinnern. Opatin hatte bislang einen Hang zu Retro-Electronic, der Gebrauch von Voice-Samples bricht seine Musik auf, erweitert das Spektrum und macht Replica zu einem einzigartigen unter den vielen Alben dieses Jahres. Vielleicht hatte ihn die Zusammenarbeit mit Antony Hegarty (Antony & the Johnsons) zur Verwendung menschlicher Laute inspiriert, aber er verwendet und verfremdet hier eher die Pausen und Brüche, die entstehen, wenn man Stimmen aus beliebigen Quellen lauscht, setzt sie neu zusammen, verbindet sie zu Musik, die innovativ, aber auch seltsam nostalgisch erscheint. Replica ist Innovation mit bekannten Mitteln. Kein Wunder, dass es zu einem der am meisten gelobten Alben des Jahres wurde – und dass ich es hier beschreibe...


Andy Stott


Passed Me By/We Stay Together

(Modern Love, 2011)


Kann sein, dass es so erscheint, als wäre mir Musik egal, die für den Dancefloor geeignet ist – mag sogar sein, dass das manchmal so ist – aber wenn Musik, die zum Tanzen geeignet ist auch in anderen Belangen interessant ist, nicht ein-dimensional bleibt, dann kann ich nicht an ihr vorbei. Die Revolution, die dereinst durch Techno stattfand, hat mich fasziniert – aber das übliche „Format“, in dem Techno seine Hörer erreichte, war nicht das Album... und das ist es, über was ich hier schreibe. Mindestens seit den 90ern hat sich das geändert. Künstler wie Orbital, Underworld, Aphex Twin oder davor Robert Hood, Jeff Mills haben mit Musik, die für die Tanzfläche gedacht ist, auch das 40-80-minütige LP-Format befriedigend bedient, während Techno in diverse Spielarten ausgefächert ist. Jetzt gibt es IDM, Acid House, Glitch, Minimal Techno, Ambient Techno oder z.B. Dub Techno – und all diese Versionen von Dance oder Non-Dance Music haben ihre großen Momente auch im Longplay-Format. DAS Dub-Techno Alben ist IMO diese Compilation aus zwei EP's (dem Format, das mir für Techno trotz Allem das bessere scheint) vom Mancunian Andy Stott. Die beiden EP's Passed Me By/We Stay Together sind 2011 in Abständen erschienen, wurden dann aber auf der hier genannten CD gemeinsam veröffentlicht und passen so gut zusammen, dass ich sie als EIN Album wahrnehme. Andy Stott ist – wie ein paar andere seiner Zunft – ein Künstler, der konzeptuell an seine Version von Tanzmusik herangeht. Er hat eine bestimmte Sprache, bestimmte wiederkehrende Stilmittel und Elemente, die er immer wieder in den Tracks verwendet, die er sich zusammenbaut. Aber er betont mal dieses, mal jenes Element, er wandelt ab und ich würde die Veränderung als eines seiner Stilmittel bezeichnen. Die beiden dann Ende 2011 zur Doppel-CD zusammengefassten EP's bauen aufeinander auf, auf Passed Me By erklingt auf „New Ground“ etwa sogar Gesang, seltsam traurig und zugleich maschinenhaft, Bässe wollen Speaker zertrümmern, kratzende Sounds geben Struktur, die Beats sind langsam – mit 90 oder gar 80 BpM viel zu langsam für den Dancefloor, hier wird Post-Millenial Techno definiert, in einer grauen, menschenleeren Landschaft, in der marode Maschinen das einzige sich bewegende Element sind. Man kann andere Musiker aus dieser Ecke zum Vergleich heranziehen: Gas, Burial, Actress etc. aber Andy Stott's Musik ist mit ihren dunklen Rhythmen und den zerfledderten Resten irgendwelcher Industrial und Techno-Tracks sehr charakteristisch. Mit We Stay Together folgte sechs Monate später die Vertiefung des Themas, die Atmosphäre wird ein bisschen heller, „Posers“ könnten sogar - ganz langsam - tanzbar sein, aber wer tanzt im Dunkel? Passed Me By/We Stay Together ist also eigentlich keine Musik für den Club (...ich kann mir jedenfalls keinen Club vorstellen, wo das hier läuft) aber die beiden EP's wie alles, was Stott's bislang gemacht hat - baut auf Techno auf. Eines der beeindruckendsten Alben des Jahres 2011...


Tim Hecker


Ravedeath, 1972

(Kranky, 2011)

Tim Hecker


Dropped Pianos EP

(Kranky, 2011)

Dieses Album hier ist den beiden EP's von Andy Stott atmosphärisch durchaus ähnlich, aber Ravedeath, 1972 vom Kanadier Tim Hecker ist für mich eines der besten Alben dieses Jahres, und es gehört somit hier hin. Hecker hatte seit Beginn des Milleniums auf der Basis von Ambient, Drone, Minimal Music konzeptuell und musikalisch enorm spannende Alben gemacht. Er kam vom Minimal Techno, hatte als Jetone drei IDM-Alben gemacht, hatte sich aber durch die Limitierungen des Genre's eingeengt gefühlt und wollte mehr Bedeutung in seine mit gefundenen Samples, Drones, Loops und „normalen“ Instrumenten wie Piano und Gitarren zusammengebauten Tracks bringen. So entstanden seit dem 2001er Haunt Me, Haunt Me Do It Again mehrere Alben, die eher Klangkunst als Techno oder Ambient waren. Für sein neues Album ging Hecker nach Island, traf sich mit dem dort arbeitenden Kollegen Ben Frost, der ihm eine Kirche nahe Reykjavik als Aufnahme-Ort vorschlug. Dort wurden an einem Tag die Basis-Sounds – basierend auf Kompositionsideen von Hecker - auf der dortigen Kirchenorgel, unterstützt von Piano und Gitarre, aufgenommen. Ben Frost's 2009er Album By the Throat mag Hecker überzeugt haben, mit ihm zusammen zu arbeiten Ravedeath, 1972 ist atmosphärisch aber kaum vergleichbar - Hecker hat eine ganz eigene Sprache, die eher auf Klassik, Ambient und Drone beruht – nicht auf Death Metal und Harsh Noise. Hecker ging mit den Basic-Tracks zurück ins eigene Studio in Montreal und bearbeitete und veränderte sie teils bis zur Auslöschung. Ravedeath, 1972 könnte man eher mit William Basinski's epochalen Disintegration Loops verglichen - auch bei Hecker ist die Auflösung von Musik - und ihre gleichzeitige so tröstliche Unendlichkeit und Unzerstörbarkeit - das Thema. Allerdings formuliert Hecker diese Gedanken in der kürzeren Form von drei bis sechs-minütigen Takes. So lässt er beim zweiteiligen „Hatred of Music“ den Raumklang der Kirchenorgel als Grundlage stehen - ähnlich wie es dereinst My Bloody Valentine mit ihren Gitarren machten, und lässt darüber Schwaden von Synthesizer-Sounds, Piano-Samples und Geräuschen fliessen. Die abschliessende dreiteilige „In the Air“ Suite gibt nur noch den Hall der Orgel unter verwaschenen Klavier-Akkorden wieder - die Musik versinkt im Vergessen, bleibt nur noch gerade so präsent. Dieses Motiv wurde von Hecker auf der ebenfalls 2011 erschienen EP Dropped Pianos – auch Bezug nehmend auf das Covermotiv – weitergeführt. Hier ließ er nur noch das Klavier in Raum und Zeit verschwinden, die Aufnahmen zu der EP mögen als „Grundlage“ für die Tracks, die Hecker in der Kirche in Reykjavik aufnahm, gedient haben. Und tatsächlich hatte er die für Dropped Pianos zusamengestellten „Sketches 1-8“ vor dem Aufenthalt in Island aufgenommen. Die EP ist minimalistischer, weniger verfremdet im Klang, auch weit weniger bombastisch – und meiner Meinung nach eine nette, aber nicht ganz so faszinierende Ergänzung zu Ravedeath, 1972. Wer nicht genug davon bekommt... Die vorherigen und nachfolgenden Alben Hecker's sind immerhin allesamt höhrenswert...


The Weeknd


House of Balloons

(Self Released Mixtape, 03-2011)

The Weeknd


Thursday

(Self Released Mixtape, 08-2011)

The Weeknd


Echoes of Silence

(Self Released Mixtape, 12-2011)

In der Einleitung habe ich es erwähnt - R'n'B bekommt in der neuen Dekade die Relevanz, die ihm bislang mitunter fehlte. Zu Beginn der 10er Jahre sind es Frank Ocean (dessen Mixtape Nostalgia, Ultra genau so gut an dieser Stelle stehen könnte) und Abel Makkonen Tesfaye aka The Weeknd, die der Musik, die sich lange Zeit nur um sich selbst drehte, einen interessanten neuen Twist geben. Da ist der gefeierte Frank Ocean, bei dem es meist um Toleranz, romantisches Verlangen, endlose Liebe geht, der Musik zum Beischlaf macht und dabei immer die Sehnsucht nach Respekt und Intimität mitdenkt – und dann ist da The Weeknd mit seinem Mixtape House of Balloons, bei dem es nur um kalten, unromantischen Sex geht. Er macht Musik, zu der man Drogen einwirft und dann fickt, bei der es um Geld, Parties, und den unromantischen Austausch von Körperflüssigkeiten geht. „Wicked Games“ und „Loft Music“ sind Songs für eine Nacht, die mit Pillen und Sex befeuert wurde, grundlegende menschlichen Emotionen kommen nicht vor – und diese Kälte ist das Thema seiner Musik. Entsprechend kalt ist vor Allem die Produktion. Future Garage klingt an, genau wie gerade angesagter Kokain-geschwängerter HipHop aber auch Sounds aus Post Punk und Dream Pop, wenn beim Titeltrack etwas Siouxie & The Banshees und bei „The Knowing“ die Cocteau Twins gesampelt werden. House of Baloons ist spannend, gerade WEIL es die Anti-Thesis zu dem ist, was man als R'n'B kannte. Es ist ein R'n'B-Album das unzweifelhaft sexy, aber eiskalt ist - und das ist eine bewusste, vermutlich eine rein ästhetische Entscheidung. Tesfaye's Stimme allein könnte mit ihrer Nähe zu der Michael Jackson's auch Alles anders machen. House of Balloons wurde noch im selben Jahr gefolgt vom nächsten Mixtape Thursday, der Fortsetzung, die das gleiche Thema mit noch besserer Produktion, aber auch ein paar weniger ausgefeilten Songs bot. Dass The Weeknd in so kurzer Zeit ab und zu die Puste ausgehen würde, scheint mir logisch und verzeihlich, zumal das mit Glanzlichtern wie „Life of the Party“,„The Zone“ (in Kollaboration mit Drake) oder dem von Distortion zerschossenen „The Birds Pt.2“ einhergeht . Die Produktion auf Thursday ist komplexer, die Sounds übereinander geschichtet, ohne je an Sinnhaftigkeit zu verlieren, Thursday ist ein würdiger, ebenso düsterer Nachfolger eines der besten Debüt's des Jahres – und es kam mit dem dritten 2011er The Weeknd Mixtape Echoes of Silence noch besser: Hier wurde direkt beim ersten Track „D.D.“ Michael Jackson, der Übervater des (sinnentleerten) R'n'B gecovert. („D.D.“ = „Dirty Diana“ - got it?) - und Tesfaye war den stimmlichen Anforderungen locker gewachsen. Echoes of Silence war musikalisch ein weiterer Schritt voran, das Songwriting womöglich noch eine Spur besser, die Produktion noch ausgefeilter. Dass Zeitgenosse Drake auch hier mitmachte, fiel nicht auf, dafür war Tesfaye's Gesang zu leidenschaftlich, seine Persönlichkeit, die hier mit Stimme und Lyrics deutlich abgebildet wurde, viel zu prägend. Immer noch war die Grundstimmung kalt und depressiv, aber Echoes of Silence ist persönlicher als House of Balloons, Tesfaye gab sich als Person, die neben den Drogen die Liebe als das größte Problem erkannt hatte. Diese drei Mixtapes waren eine so gelungene Einführung in die Welt des gerade mal 21-jährigen The Weeknd, dass es unmöglich wurde, die bald als Trilogy veröffentlichten drei Alben zu übertreffen. Die gelungenen Cover Design's, die Tatsache, dass hier eine innovative, kühle, extrem stylishe Form des R'n'B mit einem ganze Paket großer Songs geboten wurde, macht diese Trilogie für mich zwar „erwähnenswerter“ als Frank Ocean's Mixtape Nostalgia, Ultra, ich will aber ausdrücklich darauf hinweisen, dass dessen 2011er Album nicht schlechter ist. Er hat aber u.a. wegen des naheliegenden Vergleiches zum im nächsten Jahr kommenden Channel Orange die Nase etwas weiter hinten.



Danny Brown


XXX

(Fools Gold, 2011)

Daniel Dewan Sewell aka Danny Brown aus Detroit war - nach eigener Aussage – schon als Kleinkind entschlossen, Rapper zu werden. Er hatte Credibility und street knowledge als Dealer gesammelt, ehe er sich nach entsprechendem Konflikt mit dem Gesetz entschloss, seinen Kindheitstraum zu verwirklichen. In den 00er Jahren veröffentlichte er diverse Mixtapes, ehe er 2010 mit The Hybrid sein erstes „offizielles“ Album bei einem Label zusammenstellte. Das war zwar noch nicht der große Durchbruch, aber hier bekam man erstmals Brown's typisch grelle Stimme und den aggressiven Flow zu hören, der ihn von anderen unterscheiden würde. 2011 fand er bei Fools Gold In Brooklyn eine neue Heimat und zum 30. Geburtstag wurde XXX (lateinische Schreibweise von 30, wer's nicht gewusst haben sollte...) – zunächst als freier Download - veröffentlicht. Es ist ein langes Album, 19 Tracks in fast 55 Minuten, damit ein bisschen ein Anachronismus, zumal dann, wenn diese Zeit mit Inhalt und „Song“ gefüllt werden will, aber Brown hat genug erlebt, er hat inzwischen einen eigenen und faszinierenden Stil, er hat Texte, die zu hören (bzw. zu lesen) lohnt. Er ist vulgär, er ist offensiv, er ist verrückt, seine Tracks sind dunkel, aber nicht depressiv, da ist der leicht wahnsinnige Humor davor. Er spuckt anstößige Texte über Hochgeschwindigkeits-Beats, und zur Hälfte der 55 Minuten geht er vom Gaspedal um dann bei „Nosebleed“ mit weniger extremer Stimme die Story einer Kokain-Süchtigen zu erzählen. Er braucht nicht die inzwischen so oft störende Armee von Gast-Rappern, nur Chips und dopehead, Freunde aus alten Tagen helfen mal kurz. Der Titeltrack ist eine Ode an den Suizid, „Die Like a Rockstar“ name-checkt Stars wie Heath Ledger, und John Belushi und ihre Abstürze und wenn er politische Unkorrektheiten wie „Make Sarah Palin deep throat 'til she hiccup“ rappt, oder boshaft vorschlägt „How about me and your girlfriend, you with it?“, dann steht er dabei dennoch via Humor ein bisschen über purer Aggression. Mag sein, dass die mechanische Detroit-Produktion - vom Techno beeinflusst – der Wut die Hitze nimmt, letztlich ist Danny Brown offensichtlich so erfahren, hat zugleich einen so einzigartigen Stil, dass man an diesem Album 2011 nicht vorbei kam. XXX ist das beste HipHop Album des Jahres, besser als undun von The Roots und Oneirology von den CunninLynguists (ich wollte sie immerhin erwähnen...)


und noch einmal ein paar Worte zur Auswahl der Alben hier...


Wieder sehe ich, dass ich zu Beginn der meisten Beschreibungen hier erklärende Worte suche, warum ich das spezielle Album so exponiere. Wie vorher schon gesagt – ob all die Alben auch in 10-15 Jahren noch den Stellenwert haben, den ich ihnen hier mit Worten gebe, weiss ich noch nicht. Ich glaube es, aber ob Tim Hecker's Ravedeath, 1972 oder The Weeknd's drei Mixtapes im Jahr 2025 noch gehört und als stilprägend, befriedigend, gar zeitlos bezeichnet werden...? Kein Ahnung, aber ICH könnte es mir vorstellen, auch wenn gerade elektronische Musik eine seltsam kurze Halbwertzeit zu haben scheint.. Gerade in dieser Zeit ist die Anzahl an Veröffentlichungen in den diversen Formaten CD, LP, Download, Stream, wasauchimmer, so gewaltig, dass mir garantiert so mancher kommender Klassiker entgeht, aber was soll's – ich kann ergänzen, wegnehmen, revidieren so oft und so viel ich will, und 2025 weiss ich dann, ob mir Danny Brown's XXX immer noch wie eines der GANZ großen HipHop-Alben erscheint.

















Sonntag, 10. März 2019

1974 – Willie Nelson bis J.J. Cale - Outlaws, Nashville, Country-Rock, ein Genre in Facetten

Das Thema Countrymusik ist eines, das sich (in Europa) eher an eine kleine Gemeinde von Liebhabern und Nerds richtet - Country scheint ähnlich hermetisch wie Jazz, Rockabilly oder Black Metal. Der „Durchschnitts-Hörer“ kann mit dem Kitsch dieser Cowboymusik oft Nichts anfangen. Dabei hatte Country bei genauer Betrachtung von früh an massiven Einfluss auf die populäre Musik. Kein Dylan – keine Singer/Songwriter ohne Hank Williams, keine Byrds, keine CSN&Y, kein 90er Americana. Was wären Elvis, Ray Charles und Southern Soul, was wären die Grateful Dead oder die Meat Puppets ohne Country? Dennoch sind bei uns etatmäßige Mittelstürmer des Country maximal dem Namen nach bekannt. Klar – Johnny Cash – den kennt jeder - allerdings erst, seit er im Spätherbst seiner Karriere durch Hipster-Produzent Rick Rubin einer jungen Hörerschaft angedient wurde. Dass es Leute wie Waylon Jennings, Merle Haggard, George Jones, Tompall Glaser, Willie Nelson etc... gab, die in den frühen bis mittleren Siebzigern herausragende Alben gemacht haben, dass die Stones ohne Gram Parsons nie ein Meisterwerk wie Exile on Mainstreet geschafft hätten, dass Townes Van Zandt einer DER Songwriter der Siebziger war – das wissen nur diejenigen, die sich interessieren und informieren. In Europa dient Country meist nur als Vorlage für peinliche Persiflagen wie Gunter Gabriel und Truck Stop. Dass diese ur-amerikanische Musik-Gattung Mitte der Siebziger wirklich spannend wird - was so richtig nur in den USA wahrgenommen wird - das zeigt diese Fortsetzung zum Artikel 1973 - Waylon Jennings bis Tanya Tucker. Im letzten Jahr hat sich mit Gram Parsons, dem Brückenbauer zwischen Country und (Psychedelic) Rock, einer der ganz Großen ins Jenseits verabschiedet. Sein letztes Album Grievous Angel zählt für mich zu den herausragenden des Jahres '74 - genau wie der Doppelschlag des Country Outlaws Waylon Jennings mit This Time und Ramblin' Man, die somit auch im "Hauptartikel 1974"  beschrieben werden. Auch Gene Clark's Klassiker No Other ist von Country beeinflusst, könnte auch hier stehen – was wieder einmal zeigt, dass die Grenzen zwischen den „Stilarten“ auch in dieser Zeit sehr unscharf sind. Immerhin: So wie im '73er Artikel Willie Nelson und Tompall Glaser auftauchen, so steht auch der „Jewish Cowboy“ Kinky Friedman wieder ganz vorne neben dem Outlaw David Allen Coe. Aber es gibt in diesem Jahr im konservativen Nashville auch die unverwüstliche Dolly Parton neben der immer noch blutjungen Tanya Tucker und dem Riesen George Jones, der ja bekanntlich Alles singen könnte. Und dann kommen schon die Musiker/Alben, die mancher Cowboy nicht als Country ansehen würden: Mickey Newbury's romantisches Songwriting, ein fast pures Country-Album von den ausserhalb von Nashville agierenden Hit-Lieferanten Glen Campbell und Jimmy Webb - und ich empfehle in diesem Kapitel das dritte Album von J.J. Cale – das mit gleichem Recht als Singer/Songwriter Album durchgehen würde – Country ist eben weit mehr, als wir hier in Europa meinen.

Willie Nelson


Phases And Stages

(Atlantic, 1974)

Wie im Country-Kapitel '73 erwähnt – Willie Nelson gehört zu den wichtigsten Vertretern des Outlaw-Country – für mich ist er sogar DER Outlaw an sich. Das hat mit seiner musikalischen Vita, mit seiner Haltung zum Country-Music-Business, mit seiner Art Musik zu machen und mit der Tatsache, dass er bis weit ins kommende Jahrhundert Musik macht, zu tun. Seine kreativen Climax hatte er wohl in den Jahren '73 bis '76 – aber wie das bei wirklich großen Musikern oft ist – er hat vorher (62-65) und auch später z.B. mit Spirit (1996) und Teatro (1998) immer wieder stilistisch und musikalisch einzigartigen Spuren hinterlassen und hervorragende Alben gemacht. Nach der losen Songsammlung Shotgun Willie gibt es mit Phases and Stages 1974 ein kluges, auf reiche und bittere Erfahrungen beruhendes Konzept-Album über die Liebe, die Ehe und das Zerbrechen von Beidem. Seite Eins dieser LP zeigt den Prozess aus der Sicht der Frau: Den öden Alltag mit einem meist abwesenden Mann, der auch noch untreu ist, die Befreiung aus dem Trott, wachsendes Selbstbewusstsein und am Schluss mit „(How Will I Know) I'm Falling In Love Again“ eine neue Liebe. Da hat der Mann auf der zweiten LP-Seite größere Probleme: Er besäuft sich, muss durch den den „Bloody Mary Morning“, hadert auf „I Still Can't Believe You're Gone“ und dem übellaunigen “It's Not Supposed to Be That Way“ mit dem Schicksal, und beim abschliessenden „Pick Up the Tempo“ weiss man nicht, ob er sich fängt, oder jetzt komplett entgleisen wird. Diese Songs sind düster und Nelson sprach aus Erfahrung – vermutlich auch bezüglich der dunkelsten Emotionen – und er machte ein Album, das gar an Sinatra's Best-Leistung Sings Only for the Lonely heran reicht. Man muss sich bei diesem Album, das keine „Hits“ hat eines klar machen: Phases and Stages - zwischen den „klischeehafteren“ Fan-Favoriten Shotgun Willie und Red Headed Stranger eingeklemmt - ist mit seiner reflektierten Haltung zur Ehe und dem Zusammenleben von Mann und Frau Zeugnis dafür, dass es bei den Outlaws auch thematisch mal gegen etablierte Nashville-Macho-Stories gehen konnte: Phases and Stages bietet keine Western-Romantik, hier werden übliche Rollenbilder eher hinterfragt. Aber dafür brauchte man auch unter den trinkfesten und drogen-erfahrenen Outlaws Mut. Einen Mut, den die Kollegen meist nicht aufbrachten. Es gibt kein anderes, thematisch so klares Album in diesem Genre. Das mag den geringeren Erfolg von Phases and Stages erklären, aber es gehört gerade deswegen zu Nelson's Besten.


Tompall Glaser


Take the Singer with the Song

(Polydor, 1974)

Tompall Glaser


Tompall Sings the Songs of Shel Silverstein

(MGM, 1974)

Weiter mit Tompall Glaser, einem Outlaw-Country Geheimfavoriten, dessen Debüt Charlie ein Klassiker sein sollte, und dessen folgende Alben problemlos an den „forgotten Classic“ anknüpfen. Glaser hatte inzwischen in Nashville das Hillbilly Central Studio gegründet – das Studio in dem die Rebellen gegen die Nashville-Oligarchen ein und aus gingen, in dem Waylon Jennings im Jahr zuvor Honky Tonk Heroes und demnächst sein Hit-Album Dreaming My Dreams aufnehmen würde, in dem subversive Künstler wie der „jewish Cowboy“ Kinky Friedman (siehe weiter unten...) oder der Songwriter Shel Silverstein entdeckt bzw. gefördert wurden. Glaser selber war nach dem Debütalbum anscheinend zu beschäftigt, neue Songs zu schreiben und nahm für seine beiden nächsten Alben nur Fremdkompositionen auf. War auf Charlie drei mal Kinky Friedman der Komponist, so gibt es auf Take the Singer... nun zwei Songs von Shel Silverstein und zwei von Waylon Jennings' Lieblings-Songlieferanten Billy Joe Shaver. Dazu kommen Tracks von Kris Kristofferson, Don Williams und ein paar weniger namhaften Anderen. Einer davon ist Lee Emerson, dessen „Texas Law Sez“ - Opener des Albums - mehr Erfolg verdient hätte. Die Credits für diese Single gehen an eine gewisse Judy Riley – aber eigentlich wurde der Song von Lee Emerson für seine Freundin geschrieben – deren neuer Lover ihn kurz darauf erschoss. Mit „Pass Me on By“ ist ein weiteres Werk von besagtem Emerson dabei – beides Beweise für die Klasse des früh Verstorbenen, von Glaser's rauer Stimme gefühlvoll eingesungen und mit dem oben erwähnten, bewährten Personal aus dem Hillbilly Central eingespielt. Das Abum wurde im Gefolge eines recht erfolgreichen Festivals nur in England veröffentlicht. Vielleicht wäre es in Glaser's Heimat nicht so obskur geblieben – den „Erfolg“ des Vorgängers jedenfalls hätte auch das im selben Jahr veröffentlichte Tompall Sings the Songs of Shel Silverstein verdient. Bei dem handelt es sich um eines der im Country durchaus häufigen Tribut-Alben, wobei mit dem Meister des absurden Humors nicht wie üblich einem der klassischen Country Heroen Respekt gezollt wird. Silverstein war bekannt als Komponist von Johnny Cash's „A Boy Named Sue“, als Autor für den Playboy, als Kinderbuch-Autor und er hing das halbe Jahr in Hugh Hefner's Villa ab – aber etliche Wochen verbrachte er eben auch im Hillbilly Central Studio. Dort überzeugte er Glaser schließlich davon, elf seiner Songs aufzunehmen. Dazu muss man wissen, dass Silverstein – als Songwriter schon länger bekannt - ein miserabler Sänger war, und in kluger Selbsterkenntnis handelte, als er seine Songs von Glaser einsingen ließ. Dessen weltmüdes, raues Timbre passt ganz ausgezeichnet zu Silversteins zynischen Lyrics. Dies wiederum bedeutet - Tompall Sings.. ist ein Album, bei dem die Texte gelesen bzw. bewusst angehört werden müssen. Nicht, dass Silverstein keine gelungenen Melodien findet, aber die Stories hier sind noch besser und wichtiger, als ihre Ausführung. Ich empfehle „Roll On“ - die Beschreibung einer alternden Femme Fatale - in seiner Mischung aus Trauer, Achtung und Spott. Oder den Opener „Put Another Log on the Fire“, in dem das Macho-Gehabe der Outlaws ad absurdum geführt wird. Tompall Glaser's Musik war wohl ein bisschen zu wenig Radio-kompatibel, zu reflektiv – und gerade dieses Album ein bisschen zu hinterfotzig, um den großen Erfolg zu haben. Ich persönlich aber ziehe Glaser's Alben – und seine Stimme – denen von Waylon Jennings' ein bisschen vor. Wohlgemerkt: Ein bisschen...


Kinky Friedman


s/t

(ABC, 1974)

Logisch, jetzt mit dem Songwriter weiter zu machen, der Tompall Glaser auf Charlie mit drei Songs versorgt hat, den dieser weiterhin förderte, der in den erlauchten Kreisen der hier behandelten „Outlaws“ als einer der Ihren anerkannt war und dessen Vorjahres-Debüt Sold American ich im '73er Artikel auch beschrieben habe Richard S. „Kinky“ Friedman ist - wie Silverstein - jüdischer Abstammung, ein Umstand, den er immer wieder zum Thema macht, und allein das macht ihn im latent rassistischen und sogar anti-semitischen Country Umfeld zur Reizfigur (… ähnlich natürlich wie Shel Silverstein). Diesen Umstand nutzt Friedman immer wieder weidlich aus. Er nutzt Country als Vehikel, um ein Schlaglicht auf die Dummheit der Rednecks zu werfen – und das mit krassen, oft durchaus geschmacklosen Texten. Das '73er Album Sold American hatte mit „Ride 'em Jewboy“ auf satirische Weise der im Holocaust ermordeten Juden gedacht – in einer Art, die sich nur ein Jude erlauben kann. Sein zweites Album ist im Vergleich ein bisschen weniger explizit, mehr auf Songs als auf Inhalte konzentriert – wobei er sich eines Songs wie „They Ain’t Makin’ Jews Like Jesus Anymore“ - in dem er einem texanischen Rassisten eben NICHT die andere Wange hinhält - nicht enthalten kann. Aber Songs wie der Opener „Rapid City, South Dakota“, „Wild Man from Borneo“ oder der Jerry Jeff Walker Singalong „All Hell Breaks Loose“ und das seltsamerweise ganz unironische „When the Lord Closes a Door (He Opens a Little Window)“ sind neben den Texten auch gelungener, wenn auch etwas schräg liegender Country, wieder mal von einer Elite der Nashville Musik-Szene eingespielt. Hier hat nicht mehr Tompall Glaser produziert, aber dieser, Waylon und Willie singen auf zwei von Willie Nelson produzierten Tracks die Backing Vocals. Für mich ist Kinky Friedman das bessere, weil auch ohne anti-feministische Ausfälle auskommende Album. Lyrisch anders als in dieser Szene üblich, musikalisch nicht ganz so spannend wie die Alben von Tompall, Waylon oder Willie – aber musikalisch ein bisschen unter deren Niveau.



David Allan Coe


The Mysterious Rhinestone Cowboy

(Columbia, 1974)

Auch David Allan Coe ist in der Country-Musik Mitte der Siebziger eine bekannte Größe. Er ist schon seit Ende der Sechziger im Country Umfeld unterwegs, als Songwriter in diesen Kreisen etabliert, er hat für George Jones, Johnny Paycheck und Tanya Tucker Songs geschrieben - und er entspricht mit einer Vergangenheit in diversen Gefängnissen und mit erratischen Live-Auftritten wahrscheinlich noch mehr dem Bild des „Outlaw“, als die im Vergleich fast gesitteten Kollegen Waylon und Willie... Sein sehr gelungenes Debüt Penitentiary Blues war 1970 erschienen – und einer der Vorläufer des Outlaw-Country, das '74er Album The Mysterious Rhinestone Cowboy erschien auf einem neuen Label im Gefolge der anderen Outlaws zur rechten Zeit. Coe erfand sich hier als titelgebender „Mysterious Rhinestone Cowboy“, als harter Biker und noch härterer Ex-Knacki, als Cowboy-Punk voller dreckigem Humor, Gift und Galle, der gegen jeden austeilt, der ihn zu kritisieren wagt, der aber such sentimentale und kluge Songs und Texte zu schreiben weiss. Dass er dazu mit langer Matte, im Weihnachtsbaum-Outfit und mit Motorrad auf die Bühne kam, macht ihn zu einer Hillbilly-Version von Marc Bolan, zu einem Musiker, der Hippies, Cowboys und Biker zugleich ansprach. Coe mag kein großer Gesangs-Stilist sein, sein Songwriting mag deutlich vom Schicksals/Gefängnis-Genossen Merle Haggard beeinflusst sein, aber das schadet ...Rhinestone Cowboy nicht. Der Opener „Sad Country Song“ belehnt mit weinender Steel Guitar und Fiddle den Bakersfield-Sound genauso wie die Musik der Outlaw-Kollegen, er covert stilsicher Mickey Newbury's „The 33rd of August“, lässt sich von Produzent Ron Bledsoe sogar dessen barocken Sound anlegen, er beweist Geschmack, wenn er sich Guy Clark's „Desperado Waitin' for a Train“ zu eigen macht. Und mit „I Still Sing the Old Songs“ und „Atlanta Song“ beweist er, dass er bei diesen Größen mithalten kann. ...Rhinestone Cowboy gehört für mich zu den großen Alben dieser Phase der Country-Musik und David Allan Coe ist eine der schillerndsten Figuren der Szene. Man muss sich freilich an seine Stimme gewöhnen und Country-Musik mit all ihren Klischees, dem Kitsch und dem Pathos mögen, Coe's Alben sind extrem amerikanisch, aber sie sind tolle Beispiele für diese spezielle Art Country.


Mickey Newbury


I Came to Hear the Music

(Elektra, 1974)

Auch im hierzu passenden '73er Country-Artikel ist Mickey Newbury mit seinem wunderschönen Album Heaven Help the Child gewürdigt – als Musiker, der sich als Singer/Songwriter kräftig in der Country-Musik bedient, der sich aber auch der Stilmittel des Baroque Pop bedient – und der seine Songs gerne mit heute kitschig anmutenden atmosphärischen Sounds überzuckert. Das kann man transzendental nennen, man kann sich auch drüber lustig machen. Aber Newbury's „American Trilogy“ (die drei Alben vor diesem hier) ist ohne jede Frage ein Meisterwerk der Songwriter-Kunst. I Came to Hear the Music ist der Nachzügler nach der Trilogie – ein Album also, das sich an großen Vorbildern messen lassen musste. Und es ist beileibe nicht alles misslungen. Die Arrangements sind ein bisschen „normaler“, das Songmaterial etwas weniger konzise, Newbury sieht auf dem Covershoot wie ein Pilgervater aus, er hat entsprechend offenbar einen reilgiösen Schub bekommen. Der epische Titeltrack kommt melodisch an die Trilogy heran, ist mir nur etwas zu moralin-sauer und esoterisch. „We Only Live Once“ wiederum ist ein ergreifend kitschiger Country-Waltz, bei „Yesterday's Gone“ fällt wieder Regen im Hintergrund – und der Song ist ein weiteres „moody masterpiece“, das auf den vorherigen Alben mit Recht Platz gehabt hätte. Von gleicher Klasse ist „Organised Noise“, dagegen wirkt der Rocker „Dizzy Lizzy“ etwas irritierend. Aber vielleicht versprach Newbury sich davon etwas mehr kommerziellen Erfolg (...vergeblich...), „Love Look (At Us Now)“ hat einen opernhaften Roy Orbison-Touch während „Baby's Not Home“ wiederum klassischer Country ist. Newbury saß immer noch zwischen den Stühlen – aber das hat (für mich) eine positive Qualität. Und dass Newbury's Stimme ganz hervorragend ist, soll hier auch einmal bemerkt werden. I Came to Hear the Music ist ganz einfach fast genauso gut wie die drei Vorgänger – und die sind Klassiker.


Dolly Parton


Jolene

(RCA, 1974)

Wer Country sagt, muss auch Dolly Parton sagen: Die platinblonde Singdrossel gehört seit Beginn der Sechziger bis heute (2019) zum Establishment – und durch ihre klare Bekenntnis zu Nashville und seinen Oligarchen zu der Seite des Country-Business, das mit Subversion und Revolution so gar Nichts am Hut zu haben scheint. Und dennoch gibt es etliche Alben von Dolly (und von Dolly und ihrem Sanges-Partner Porter Wagoner) die man unmöglich ignorieren kann. Selbst ihre kreuz-konservativen Alben aus den Sechzigern reüssieren mit feinen Songs – teils selbst verfasst, teils von Koryphäen geschrieben und geschmackssicher ausgewählt – und ihr '74er Album Jolene (natürlich mit dem gleichnamigen Hit) gehört zu ihren besten und somit zu den besten Nashville-Country Alben allgemein. Dieses Album hier ist musikalisch über jeden Zweifel erhaben, textlich aber ziemlich problematisch. Die von Parton selbst verfasste Selbstverleugnungs-Hymne „Jolene“, in der die kleine Hausfrau den Vamp anfleht, ihr doch den Mann zu lassen, ist da noch harmlos – zumal so herzergreifend gesungen und so geschmackvoll insziniert, dass ich das Lied selbst nach miserablen Cover-Versionen als Original immer noch mit Freuden hören kann. Aber dass sie von dem Mann, der sie nicht mehr liebt, nicht lassen kann, dass ER in einem weiteren Song das „Highlight“ ihres Lebens ist, der sie anscheinend das Atmen gelehrt hat – das ist so devot, dass es nur konservativsten Cowboys gefallen kann. Aber (leider) - selbst diese Songs sind so hervorragend performt, man will einfach darüber hinweg hören. Zurückhaltende Percussion, akustische Gitarren, geschmackvolle Dobro und Steel, feine Melodieführung und über allem Parton's glockenklare Stimme. Dann ist da auch noch das durch Whitney Houston so berühmt gewordene Bedauern von „I Will Always Love You“ - geschrieben von Parton, weil sie sich (künstlerisch) von Porter Wagoner verabschiedete. Auch dieser Track ist gelungen – und textlich so devot, dass mir unwohl wird. Dass der Rest des Albums musikalisch auf hohem Niveau bleibt, ist auch Studio-Cracks wie Chip Young (g), Pete Drake (steel-g) oder David Briggs (p) zu verdanken. Aber eben auch der Stimme von Dolly und den Songs, die sie ausgesucht oder geschrieben hat. Ich halte mir immer vor Augen, dass sie sich in der Männerdomäne Nashville mit viel Selbstbewusstsein und enormer Präsenz durchgesetzt hat – und das verhuschte Weibchen nur als nützliches Image sah. Jolene ist ein Klassiker aus einer Musik-Szene in einer Phase des Umbruchs. Dies wissend kann ich das Album gut hören.


Tanya Tucker


Would You Lay With Me (In a Field of Stone)

(Columbia, 1974)

Frauen in Nashville's Haifischbecken – Teil II: Über Tanya Tucker und ihr zweites Album What's Your Mama's Name habe ich im '73er Country-Kapitel geschrieben – auch über die befremdliche Tendenz - insbesondere in der Country-Musik des konservativen Nashville – Songs mit sexuell aufgeladenen Inhalten von sehr jungen Teenagern singen zu lassen. So ist Tanya Tucker 1974 gerade mal 16 Jahre alt. Die Kind-Frau auf dem Cover dürfte also alte, geile Männer ziemlich glücklich gemacht haben und den Oligarchen ausreichend formbar erschienen sein. Aber in den genannten Kreisen konservativer Country-Freunde (für die ein Typ wie Willie Nelson ein linker Hippie ist), ist Moral stark verzerrt, und eine Frau – oder ein junges Mädchen – das dem MANN zu gefallen sucht, macht Alles richtig. Somit wird man auf diesem Album auch keine feministischen Inhalte finden (was im Country der 60er/70er übrigens durchaus auch vorkam – siehe Loretta Lynn oder Tammy Wynette), dafür aber bietet Would You Lay With Me (In a Field of Stone) gelungenen Country-Pop, gesungen von einer ungemein kraftvollen Stimme, produziert zum letzten Mal von George Jones' Mentor Bill Sherrill. Auch wenn Tucker bis in die Neunziger Hits haben würde – besser klangen ihre Alben nie wieder. Der Titelsong von David Allan Coe war natürlich mit seiner schamlosen sexuellen Bildhaftigkeit gewollt kontrovers, aber es gibt auch schöne Story-Songs wie „Bed of Roses“, „No Man's Land“ oder "Old Dan Tucker's Daughter“. Die kann man ohne Unwohlsein anhören, sie erinnern an die junge Dolly Parton und deren Art, Country als persönliche Erzähl-Plattform zu benutzen. Und wenn Tanya Tucker eine Sentimentalität wie „I Believe the South Is Gonna Rise Again“ singt, kann man sogar in den verqueren Patriotismus des konservativen Amerika hineinschauen, ohne direkt an den Ku Klux Clan denken zu müssen. Also Achtung – Das hier ist die Countrymusik, die wir in Deutschland nicht unbedingt verstehen.


George Jones


The Grand Tour

(Epic, 1974)

Mitte der Siebziger ist die Anzahl von Veröffentlichungen des besten Country-Sängers aller Zeiten inzwischen Legion. Er hat in den Sechzigern regelmäßig die Spitze der Country-Charts besetzt, aber seit Beginn der Siebziger lässt der Erfolg nach, während seine Ehefrau Tammy Wynette einen Hit nach dem Anderen hat. Er war '72 zu ihrem Label – Epic - gewechselt, um bessere Produktionsbedingungen und das goldene Händchen von Bill Sherrill als Unterstützung zu bekommen. Die Ergebnisse seither waren musikalisch hervorragend – A Picture of Me (Losing You), We Can Make It (beide von '72) und das letztjährige Nothing Ever Hurt Me (Half as Bad as Losing You) – sind allesamt große Kunst, aber sie enthielten keine Hits. Mit The Grand Tour und der titelgebenden Hitsingle kam die ersehnte No.1. Bill Sherrill hatte endlich die nötige Balance gefunden, seine chromglänzende Produktion und Jones' Stimme aufeinander abgestimmt. Die Beiden waren aufeinander zu gegangen, Jones hatte erklärt...: „Billy, I'm country, I'm traditional, I know you're wanting to cross over with me like you have with Tammy, Charlie Rich and those people, but I'm hardcore and I can't help it. That's what I feel, and I can't do a good job for the label, you or anybody else if I don't feel it myself.“ und Sherrill gab Jones soviel Tradition, wie der brauchte. Das Ergebnis - „The Grand Tour“ - gilt als eine der besten Vocal-Performances in der Countrymusik, und auf dem Album gibt es keine Ausfälle. Die ebenfalls erfolgreiche Johnny Paycheck Nummer „Once You've Had the Best“ kam in den Charts auf No 3, das mit Noch-Ehefrau Tammy Wynette geschriebene „Our Private Life“ klagt die Klatschpresse an, die pausenlos die Trennung des Traumpaares der Countrymusik herbei beschwor (zu Recht, wie sich ein Jahr später zeigen würde) und Jones mag bei den Aufnahmen noch so betrunken und unter Drogen gewesen sein, seiner Klasse schadete das nie. The Grand Tour ist ein Meisterwerk der etwas cleaneren Art von Nashvill-Sound – die eben durch Jones' „traditional approach“, seine großartige Stimme und seinen glaubhaften Vortrag - und eben auch durch das Hinzufügen klassischer Country Elemente wie Steel und Dobro zeitlose Qualität bekommen hat. Es ist eines der besten Country Alben ausserhalb der Outlaw-Szene. Andrew Mueller vom Uncut-Magazin verglich es ob seiner emotionalen Direktheit nicht zu Unrecht mit Sinatra's In the Wee Small Hours. Also - Sei auf 'was gefasst...


Glen Campbell


Reunion: The Songs of Jimmy Webb

(Capitol, 1974)

zum Abschluss dieses Exkurses verlasse ich Nashville und gehe erst einmal an die Westküste – nach Hollywood – wo '74 ein Album entsteht, das die Grenzen zwischen Countrymusik und dem, was in dieser Zeit etliche US-Singer/ Songwriter machen, lustvoll in beide Richtungen überschreitet. Glen Campbell hatte seit der Mitte der Sechziger etliche Hits gehabt – gerne aus der Feder von Jimmy Webb – und war so etwas wie ein Star. Mit beachtlichen Fähigkeiten als Gitarrist (er war Mitglied der „Wrecking Crew“ – der Gruppe von Studiomusikern, die von Sinatra bis zu den Beach Boys überall mitgespielt hat) und mit einer angenehmen Stimme hatte er das Feld des Country Pop beackert und mit den Interpretationen von Jimmy Webb-Songs wie „Whichita Linemen“; By the Time I Get to Phoenix“ (beide auf der CD-Version von Reunion... enthalten) oder „Galveston“ Geschmack bewiesen, Erfolg gehabt UND durchaus Anspruch erfüllt. So war ein komplettes Album mit dem Verfasser der genannten Hits eine Idee, die neben Erfolg auch noch Qualität versprach. Nicht dass Webb Campbell's Hits in den Vorjahren produziert oder arrangiert hätte, aber seine Songs und Campbell's Stimme passen einfach wunderbar zusammen – wie man an diesem Album sieht. Nicht alle Songs hier sind von Webb geschrieben – mit Susan Webb's „About the Ocean“ und Lowell George's „Roll Um Easy“ (hier als „Roll Me Easy“) sind zwei klug gewählte Fremdkompositionen dabei, mit Webb's „The Moon's a Harsh Mistress“ ist einer seiner besten Songs dabei, andere Tracks auf Reunion: The Songs of Jimmy Webb mögen weniger bekannt sein, aber sie zeigen zwei Meister auf der Höhe ihrer jeweiligen Kunst. Die Musik ist in der Tat so stark von Country beeinflusst, dass sie hier hin passt – obwohl die Beteiligten (u.a. mit Hal Blaine (dr) oder Dean Parks (g) Cracks der o.g. Wrecking Crew) mit Nashville kaum zu tun haben. Reunion... wirkt mit seinem Flow auf mich wie eine Country-Version von Pet Sounds von den Beach Boys. Das Album erreichte in den Country-Charts nur Platz 18, für mich ist es allerdings Campbells mit Abstand bestes – weil durchgehend gelungenes – Album. Und Jimmy Webb – dessen famoses Land's End ebenfalls '74 erschien – steht mit seinen Solo-Alben weiter außerhalb der Grenzen des Country-Genre's und wird von mir anderswo mit der verdienten Aufmerksamkeit bedacht.


J.J. Cale


Okie

(Shelter, 1974)

Dem Prinzip folgend, dass jemand, der Willie Nelson mag, auch J.J. Cale mögen könnte, will ich dessen drittes Album auch in den hier herrschenden Country - Zusammenhang stellen. Cale's Musik ist ein Hybrid aus Blues, Country, Folk, Jazz, verlangsamtem Rockabilly und Hängmatten-Coolness, ich könnte ihn ohne weiteres im Zusammenhang mit den zeitgleich agierenden Singer/Songwritern bringen – aber auch dort wäre er ein Solitär. '74 ist John Weldon Cale (das Kürzel „J.J.“ gab er sich tatsächlich, um nicht mit John Cale von den Velvets verwechselt zu werden...) über dreißig Jahre alt, er stammt aus Oklahoma City – daher der Name dieses Albums – und er hat vor zwei Jahren mit Naturally auf Anhieb eine komplett eigene Duftmarke gesetzt. Dass er nicht in den Outlaw-Szenen in Nashville oder Austin angekommen ist, liegt sowohl an seiner stilistischen Einzigartigkeit als auch an seiner Faulheit: Zu einer Szene zu gehören hätte vermutlich zu viel Stress bedeutet und seine Heimat verließ der Eigenbrötler nur zu Plattenaufnahmen. So ist Okie (für mich) - sowohl stilistisch als auch regional - Country Musik exakt zwischen Nashville und Austin. Und tatsächlich wurde auch dieses Album zum größten Teil in Nashville aufgenommen – mit einem wechselnden Cast aus Session Cracks allererster Kajüte. Über Allem schwebt Cale's minimalistisches Gitarrenspiel (das von Koryphäen wie Clapton, Knopfler und Neil Young hoch geschätzt wird) und sein entspannt-genuschelter „Gesang“. Auf Okie legt er mitunter im Tempo zu (was dem Album den gewissen Country-Touch verleiht) – die Zehen tappen etwas schneller - aber die sommerliche Wärme von Tracks wie „I'll Be There“, „The Old Man And Me“ und „Cajun Moon“ ist unnachahmlich, eindeutig als „J.J. Cale“ erkennbar und gerade in ihrer Reduktion auf's Wesentliche perfekt. Und auf „Starbound“ experimentiert Cale sogar ein ganz kleines bisschen mit dem Vocoder, freilich ohne je an Stilbewusstsein zu verlieren. Letztlich mag man bei Okie den meditativen Flow des Klassikers Naturally vermissen, aber es zeigt den einzigartigen Stil Cale's in einer weiteren, warm schimmernden Facette.



















Montag, 4. März 2019

1994 – The Obsessed bis Esoteric – Von Doom bis Dooooooom

1994 ist ein Jahr, in dem eine Unzahl hervorragender Metal-Alben veröffentlicht werden – verteilt auf alle Nischen des inzwischen in X Varianten aufgefächerten Genres. Hier will ich den Fokus auf das von mir besonders geliebte Sub-Genre Doom richten – das selber in diversen Varianten existiert - und dazu die erforderlichen erklärenden Worte schreiben: Doom-Metal hat seine Wurzeln bei einer einzigen Band - genau genommen bei den fünf Alben, die die Briten Black Sabbath im Zeitraum von drei Jahren zwischen ihrem selbst-betitelten Debüt ('70) und Sabbath Bloody Sabbath ('73) aufnahmen. Danach kam erst mal Nichts.... bis sich Ende der Siebziger speziell in den USA ein paar junge Leute aufmachten, den Vorbildern nachzueifern. Bands wie Saint Vitus, Trouble, Pentagram, The Obsessed oder die Briten Witchfinder General kombinierten den dumpfen und zähen Sound Black Sabbath's mit Punk-Elementen, nutzten die wichtigste Erkenntnis ihrer Generation – dass jeder machen kann, was er will – und führten Doom aus der Sackgasse, in die Black Sabbath dereinst geraten waren. Spätestens ab Ende der Achtziger beschlossen mehr und mehr Metal Heads, die „Evilness“ und den bedrohlich verlangsamten Sound des Doom in ihren Metal einzubauen. Manche wurden zu beachtlichen Epigonen (siehe Candlemass), andere begannen spätestens mit dem Siegeszug des Death Metal zu Beginn der Neunziger den nun wieder kultigen Black Sabbath-Sound um gegrowlte Vocals, härtere Gitarren, noch finsterere Themen zu erweitern (was dann Death Doom Metal genannt wurde - man brauchte ja eine Bezeichnung für das neue Genre...) Im Jahre '94 gibt es – auch dank des Doom-affinen Labels Hellhound Records aus Deutschland - hervorragende Alben von traditionelleren Bands wie The Obsessed, Unorthodox oder Wretched, die sich durchaus aus dem Schatten der Meisterwerke Black Sabbath's heraus bewegen (damit aber zunächst traurig erfolglos bleiben...). Und es gibt Death Metal Bands, die ihre Musik in dunkelgraue Farben tönen (Asphyx, Unholy), Bands, die die Verlangsamung der Rhythmik und Melodie zu bislang ungehörten Extremen treiben (Esoteric, Thergothon) und es gibt mit Buzzov•en oder Grief frühe Beispiele für die Paarung von Hardcore und Doom, die man später „Sludge“ nennen würde. Das Jahr 1994 bietet eine so breite Palette an Doom-beeinflussten Alben von hoher Qualität, dass es mir sehr geeignet erscheint, explizit auf dieses Genre hinzuweisen - daher dieser Artikel... Aber: Doom bleibt eine Sache für Liebhaber und natürlich gibt es in den Jahren davor und danach etliche weitere „Klassiker“ des Genres. Daher am Ende die unvermeidliche Liste mit den zehn besten Alben einer Art musikalischer Aggressivität in Zeitlupe.

Obsessed

The Church Within

(Hellhound, 1994)

The Obsessed – und vor Allem ihr Gitarrist und Sänger Scott “Wino” Weinrich - gehören (genau wie Pentagram – siehe hier hinter...) zu den Veteranen der Doom-Szene – und dass diese Musik Mitte der Neunziger ein kleines Revival erlebt, liegt einerseits an seinem/ ihrem sturen Durchhaltevermögen, es liegt aber auch daran, dass der traditionelle, stark an Black Sabbath angelehnten Sound inzwischen auf diese oder jene Weise modernisiert wird. Weinrich hatte The Obsessed 1976 gegründet, hatte in all den Jahren Glaubwürdigkeit bewiesen, indem er sich nie von seiner Musik entfernte, hatte zwischendurch The Obsessed wegen mangelnden Erfolgs aufgelöst, war bei den artverwandten Saint Vitus (… DER Doom Band beim Hardcore Label SST...) als Sänger und Gitarrist eingestiegen. Die hatten mit dem Gitarristen und Songwriter Dave Chandler einen ähnlich kompromisslosen Kreativkopf an Bord, dem Wino wohl zu dominant wurde, so dass Weinrich bei Saint Vitus aussteigen musste und 1990 The Obsessed wiederbelebte. Ab da fand er mit dem deutschen Spezialisten-Label Hellhound Records eine Heimat, die ihn mit The Church Within nun schon sein drittes Album machen ließ. Das Debüt The Obsessed war noch eine Ansammlung alter Tracks aus den Siebzigern gewesen, der '91er Nachfolger Lunar Womb hatte schon darauf hingewiesen, dass Doom a la The Obsessed die ausgetretenen Pfade verließ. Mit The Church Within machten Weinrich und seine Band ihr bestes Album – und eines der besten traditionellen Doom Alben überhaupt. Der Sound ist klarer als auf alten Sabbath-Alben, die Songs rollen mitunter so un-doomig rasant voran wie Bulldozer, sind deutlich von Hardcore und Punk beeinflusst, haben dazu einen finsteren Psychedelik-Touch. Weinrich's no fun Stimme ist kraftvoll und weit genug von Ozzy Osbourne entfernt und das Songmaterial zeigt, dass er sich bei Saint Vitus eindeutig unter Wert hatte verkaufen müssen. „Neatz Brigade“ stürmt unaufhaltsam voran und hat ein abgedrehtes Gitarrensolo, das nachfolgende „A World Apart“ ist reiner Hardcore in blauem Doom-Dunst, „Touch of Everything“ hat die Ohrwurm-Qualitäten der besten Black Sabbath Tracks – und der Rest des Albums fällt nicht ab. Aber... trotz aller Klasse blieb der breite Erfolg aus, Wino löste die Band im kommenden Jahr frustriert auf und stürzte in tiefe Depressionen und Obdachlosigkeit ab. Aber in den folgenden Jahren berappelte er sich mit Hilfe von Freunden und mit diversen Projekten wieder, spielte in Bands wie Hidden Hand und Spirit Caravan und reformierte 2016 The Obsessed, um ein weiteres hervorragendes Album zu machen. Der Sound freilich bleibt bei all diesen Alben/Bands der Gleiche. Will man einen „anderen“ Wino hören, so sollte man sein hervorragendes Solo-Album Adrift (2010) oder die Kollaboration Songs of Townes Van Zandt mit Neurosis' Steve Von Till und Scott Kelly anhören.


Pentagram

Be Forewarned

(Peaceville, 1994)

Die Band Pentagram um den Sänger und Songwriter Bobby Liebling existiert in dieser oder jener Form sogar schon seit 1971, hat etliche Besetzungswechsel, Auflösungen und Neugründungen - und seit Mitte der Achtziger auch zwei hervorragende Alben - hinter sich. Sie sind - ähnlich wie The Obsessed, mit denen sie übrigens auch diverse Bandmitglieder teilen – auf die “kultige” Weise obskur, die im Laufe der Zeit zum Legendenstatus und zum Einfluss auf Adepten und Bewunderer führen wird. Aber sie haben eben auch Pech mit Labels und Managern und mit Drogengeschichten, was den ganz großen Erfolg verhindert. Seit Beginn der Neunziger ist immerhin eine gewisse Konstanz eingekehrt, weil das respektable Death Metal Label Peaceville die Band unter Vertrag nahm, um das Debüt und den '87er Underground-Doom-Klassiker Day of Reckoning wiederzuveröffentlichen. Liebling hatte daraufhin die Band reformiert und kam mit frischem Material und diesem – Pentagram's bestem – Album in eine erblühende Szene. Die sieben Jahre seit dem ersten Erscheinen des Vorgängeralbums hatte Liebling zum verfassen einiger wirklich gelungener Doom-Kracher genutzt. In Songs wie “Too Late“, „The World Will Love Again“ (ein Doom Meisterwerk) und „Life’s Blood“ wird feines Songwriting mit krachender Heavyness zelebriert, Die Einflüsse von Bands wie Groundhogs oder Blue Cheer bleiben hörbar, aber der Black Sabbath Touch, den Liebhaber dieser Art von Musik brauchen, findet sich an allen Ecken – von Victor Griffin's Iommi-Gitarrenspiel bis zu Lieblings hervorragendem Gesangs-Styling. Aber: Inzwischen hörte man ihm seinen exzessiven Lebensstil und Drogenmissbrauch auch an, und auch mit der Songwriter Kunst ging es ab hier bergab. Auf Be Forewarned wird u.a. mit „Petrified“ ein Song aus der Vergangenheit der Band re-recorded. Dennoch – oder vielleicht auch, weil diese Neuaufnahmen so gelungen waren – Be Forewarned ist eines der ganz großen Doom Alben, das gleichberechtigt neben The Church Within steht. Der Niedergang Bobby Lieblings und die Geschichte seiner Band ist übrigens in der hervorragenden Dokumentation Last Days Here von 2011 teils recht drastisch wiedergegeben: Man sieht, wie der crack-süchtige und körperlich gebrochene Bobby Liebling, von seinem Fan und Manager wieder ins Leben geholt wird, und wie er beim Revival seiner Band und seiner Musik wieder halbwegs zu Kräften kommt und lernt die Geschichte seiner Band und Musik kennen. Sehr sehenswert – so wie die Musik etlicher Pentagram-Alben hörenswert ist...


Wretched

Psychosomatic Medicine

(Hellhound, 1994)

Seit Ende der Achtziger hatte das kleine Berliner Label Hellhound Records sich mit den Signings und Veröffentlichungen diverser Bands der Doom-Szene einen Namen gemacht. Ex SST Doom Flagschiff Saint Vitus waren bei ihnen gelandet und diverse junge Bands aus der Doom-Szene im Bundesstaat Maryland rund um die Veteranen von The Obsessed (siehe oben) veröffentlichten ihre Musik in Europa bei diesem Label (In den USA übernahm Noise International das Programm...). Zwei Bands aus dieser Riege sind Unorthodox und Wretched, andere wie Iron Man und Lost Breed haben auch '94 bei Hellhound veröffentlicht, gefallen mir aber nicht gut genug, um hier aufzutauchen, andere hervorragende Bands wie Count Raven oder Revelation kommen in anderen Jahren (und Reviews – siehe 1993...) zu ihrem Recht. Wretched hatten schon '93 mit Life Out There ein hervorragendes Debüt hingelegt, das auf dem CD-Cover den deutlichen psychedelic touch erkennbar machte. Aber Touren kam mangels Beziehúngen und Geld nicht in Frage, also gingen sie schnell wieder ins Studio und nahmen ein zweites, noch besseres Album auf. Auch Psychosomatic Medicine bietet psychedelischen Doom, auch hier sind die Vorbilder neben Sabbath Bands wie Hawkwind oder Blue Cheer – und Wretched haben es vielleicht nicht beabsichtigt – aber sie klingen massiv nach ihren Kollegen Alice in Chains und haben durch die vom Hardcore-beeinflussten Vocals von David Sherman eine zusätzliche Facette im Sound. Man könnte all das natürlich auch als Unentschiedenheit interpretieren, aber Wretched hatten Zeit ihrer Existenz meiner Meinung nach immer wieder interessante Songs mit seltsam schrägen Harmonien (“Define Why”) Up-Tempo-Passagen, die eine gewisse Abwechslung mitbrachten. Ein schönes Album, das wohl zwischen zu vielen Stühlen sitzt, als dass es wirklich erfolgreich hätte werden können, genau wie bei den Kollegen und Freunde von.....


Unorthodox

Balance of Power

(Hellhound, 1994)

...Unorthodox, die die selben Probleme hatten – kein Geld und wenig Support ausserhalb der Szene im eigenen Bundesstaat Maryland. Die dann auch schnell ein zweites Album aufnahmen... Auf Balance of Power kreist alles um Bandkopf, Gitarrist und Sänger Dale Flood, dessen intelligentes und eigenständiges Gitarrenspiel und seine nur bedingt „doomigen“ Songs. Flood und seine beiden Begleiter, Bassist Josh Hart, und Drummer Ronnie Kalimon hatten seit Mitte der Achtziger unter den Namen Asylum und Obstination ihre Musik entwickelt, hatten inzwischen einen recht eigenständigen Sound und klingen auf Balance of Power noch psychedelischer und abgedrehter als ihre Kollegen von Wretched, Flood's Stimme erinnert an die von Wino (von The Obsessed), und die teils recht langen Songs haben eine fast progressive, an King Crimson erinnernde Struktur. Gemeinsam haben Wretched und Unorthodoxaber auch die „Heavyness“, die sie für jeden Doom-Liebhaber interessant macht. Balance of Power ist das bessere, weil abwechslungsreichere Album, aber Unorthodox gingen 1996 gemeinsam mit Hellhound unter. Dale Flood blieb allerdings aktiv, spielte mit Ex-Kollegen weiter und 2008 wurde ein neues Album veröffentlicht. Wretched machten '90 mit Center of the Universe eines der letzten Alben von Hellhound Rec. - und in den 00er Jahren wurden etliche Alben dieses Labels von diversen namhaften Metal Labels (Southern Lord, Cyclone Empire...) wieder veröffentlicht.


Solitude Aeturnus

Through the Darkest Hour

(Pavement, 1994)

Die US Amerikaner Solitude Aeturnus sind ebenfalls schon fast Veteranen des Doom. Die Band wurde 1987 vom Gitarristen John Perez gegründet, der sich zu vor bei diversen Thrash-Bands einen Namen gemacht hatte, sich aber vom Schneller, Härter, Aggressiver des Thrash gelangweilt fühlte und seine Vorbilder eher bei Black Sabbath und Saint Vitus sah. Mit Robert Lowe wurde nach einem Demo und diversen Konzerten ein passender Sänger gefunden, Perez rekrutierte aus anderen Thrash-Bands Drummer und Bassist und ab '91 wurden mit Into the Depths of Sorrow und Beyond the Crimson Horizon zwei Alben veröffentlicht, die zwar wenig Geld, aber Ruhm und Ehre einbrachten. Für das dritte Album gingen sie nach England und ließen sich erstmals eine wirklich saubere Produktion zukommen. Solitude Aeturnus spielen auf Through the Darkest Hour einen melodischen, mitunter melodramatisch anmutenden traditionellen Doom-Metal, der von Lowe's klarer Stimme getragen wird, der aber vor Allem von John Perez' dramatischen, wenig puristischen Songs profitiert. Perez ist natürlich ein sehr guter Gitarrist, aber alles Handwerk wäre nutzlos, wenn das Album nicht so abwechslungsreich wäre. Man mag die Theatralik von Lowe's Stimme bemängeln, die pathetischen Lyrics, aber die Songs sind fast durchweg ohne Fehl. Sehr heavy, dazu wie gesagt ungewohnt melodisch, mal mit ruhigeren Passagen (“Pawns of Anger”), mal massiv wie Felsbrocken (Opener “Falling“ und das folgende „Haunting the Obscure“). Mit diesem Album öffneten sie sich einem anderen Publikum, aber der ganz große Erfolg blieb auch bei ihnen aus. Sie gingen in den USA mit den ähnlich theatralischen, aber weit berühmteren Mercyful Fate und in Europa mit der Hellhound-Band Revelation auf Tour, aber bis zum nächsten Album vergingen dann wieder zwei Jahre ohne Aktivität. Dennoch: Solitude Aeturnus existieren im On/Off Modus bis heute und haben Mitte der 00er Jahre mit Alone ein weiteres sehr gelungenes Album veröffentlicht. Traditioneller Doom – denn das spielen all die Bands hier – mag nie ganz angesagt sein, aber er ist andereseits auch irgendwie zeitlos und es gibt bis heute immer wieder große Alben von Bands, die inzwischen einige Dekaden alt sind.


Buzzov•en

Sore

(Roadrunner, 1994)

Die sind nicht sehr angenehm - und dazu dürften etliche Spezialisten Buzzov•en nicht als Doom-Band gelten lassen. In der Tat haben sie ihre Wurzeln wohl im Hardcore und im Noise-Rock, sie sind Wegbereiter des Sludge, der verlangsamten Form des Hardcore, und verglichen werden sie immer wieder mit Bands wie EyeHateGod und Crowbar, aber ich kann mir vorstellen, dass weniger konservative Doom Verehrer Sore von Buzzov•en toll finden könnten. Gitarrist und Sänger Kirk Fisher istalleiniger Herrscher des Quartetts aus Richmond, er hatte die Band diverse Male vor die Wand fahren lassen, hatte sich in seiner früheren Heimatstadt Charlotte mit aggressiv-selstzerstörerischen Konzerten/ Prügeleien mit Publikum und Veranstaltern einen “Ruf” erarbeitet – aber er hatte nun - mit dem zweiten Album nach einem weniger extremen Debüt – ein Konzept incl. Sound gefunden, das trotz aller Vergleiche mit anderen Bands doch eigenständig genug war. Buzzov•en klingen nicht dramatisch oder depressiv, sie klingen angepisst, druggy und suizidal, die hässlichen Riffs werden mit verstörenden Samples, Klangcollagen und Noise-Ausbrüchen aufgehübscht, das Tempo ist schleppend bis stolpernd, die Musik auf Sore ist somit gewiss kein traditioneller “Doom” - aber was nach den zuvor hier oben reviewten Alben folgt, ist sowieso anders als Black Sabbath, eine Erweiterung des Genres, denn “traditional Doom” ist seit Beginn der Neunziger nur noch eine Option für harte, dunkle Musik. Und - wie ich oben schon erwähnte – der Bezug zum Hardcore ist auch bei traditionell ausgerichteten US-Doom Bands überdeutlich. Hier empfiehlt sich der über 9-minütige Titeltrack mit gespenstischen Samples von Folter und Wahnsinn als Intro und thrashigem Riffing oder die beiden kriechenden Tracks “Hollow” und “Blinded”, die einen Doomster weniger erschrecken mögen... Für mich gehört Sore in diesem Regal ganz nach vorne. Dass Buzzov•en danach (und davor) nicht mehr an die Qualität ihres zweiten Albums heranreichen werden, hat sicher mit Kirk Fisher's Drogenkonsum, seiner erratischen Persönlichkeit – und auch mit der geringen stilistischen Bandbreite dieses Sounds zu tun. Wie könnte man nihilistischer klingen?


Grief

Come to Grief

(Century Media, 1994)

Wer nach Sore von Buzzov•en nicht genug hat, kann sich in diesem Jahr am Debüt der Bostoner Grief delektieren. Deren Bezug zum Hardcore bzw. Grindcore ist linear, sie entstehen '91 aus der Asche der Crust-Punk Band Disrupt und machen auf Come to Grief – dem ersten kompletten Album nach zwei sehr sehr lohnenden EP's - eben das, was Sludge (...= Schlamm – übrigens...) ausmacht. Sie verlangsamen ihren Punk/ Hardcore, lassen den Gesang in Richtung Death Metal Growls tendieren und erinnern im Gitarren- und Bass-Sound an eine schmutzige Version ihrer Doom Vorbilder. Im Gegensatz zu Buzzov•en bleiben sie meist beim quälend dahin stolpernden Tempo, ihre Texte sind herzergreifend misanthropisch . Zeilen wie „Only one thing comes to mind / When I look into your eyes / I think of all those times / All I did was despise you / I hate you“ und Songtitel wie „World of Hurt“, „I Hate You“ und „Hate Grows Stronger“ beschreiben die Stimmung, die Tracks ziehen sich teils über 9 Minuten, aber irgendwie gelingt es der Band trotzdem, NICHT eintönig zu klingen. Come to Grief ist nihilistisch, depressiv und trauriger als andere Bands, kommt aber ohne jedes Pathos aus. Das Album hatte seinerzeit wenig Erfolg, ist aber inzwischen im Kult-Kanon angelangt und würde heutzutage als aktuelles Album beim krediblen Southern Lord Label gefeiert werden (...die haben tatsächlich 2002 diverse Singles kompiliert...). Um es deutlich zu beschreiben: Come to Grief = Black Sabbath trifft auf Black Flag und die Melvins. Die Band spielt hiernach noch drei weitere gelungene Alben ähnlicher Machart ein, Gitarrist Terry Savastano gründet in den 10er Jahren eine Sludge-Band, die er nach diesem Album benennt – nach einem der Grundsteine des Doom/Hardcore Bastards Sludge. Und Doom hat inzwischen viele Kinder. Da sind auch Bands, die so etwas spielen wie Death-Doom – Bands wie die Holländer Asphyx etwa....


Asphyx

s/t

(Century Media, 1994)

Hier und jetzt zwei Alben, die auch in der langen Reihe der gelungenen Death Metal Veröffentlichungen des Jahres '94 einen Platz haben könnten – die aber so stark von Doom beeinflusst sind, dass ich sie eher hier sehe. Die Holländer Asphyx waren von Beginn als Black Sabbath/ Saint Vitus Verehrer erkennbar, aber die Vorgänger-Alben The Rack ('91) und Last One on Earth ('92) sind - vielleicht durch die rohe Produktion – „nur“ klassischer, dunkler, langsamer Death Metal. Das dritte, selbstbetitelte Album markiert einen Schwenk in Richtung Death-Doom - in Richtung der Musik, die zu dieser Zeit durch Bands wie Evoken, Disembowelmet oder Esoteric vorgegeben wird. Ihr massiver Sound ist im Herzen immer noch Death Metal, aber nachdem der ehemalige Band-Kopf Martin Van Drunen (b, voc) gleichwertig von Ron van Pol ersetzt wurde, nachdem Gitarrist Eric Daniels sich sowohl als Gitarrist und Songschreiber immer weiter entwickelt hatte, gab es jetzt auch noch eine „fetterer“ Produktion und ein Album, das locker neben dem oben genannten Band-Klassiker Last One on Earth bestehen kann. Da sind Tracks wie „'til Death Do Us Apart“ mit krachenden Doom-Passagen und schnellen Riff-Folgen, die so dröhnen, das die Ohren mitschwingen. Da ist der 'rausgegrunzte Hass von van Pol, mal stolpern die Drums in großer Hast voran, mal folgt Donnerschlag auf Donnerschlag und die Gitarre ertönt majestätisch. Die meisten Tracks bleiben über der Sechs-Minuten Marke, „Initiation Into the ossuary überschreitet die Neun-Minuten Marke und klingt nach einem Ritual im genannten Beinhaus – stilecht mit Kutten und Fackellicht. Die Atmosphäre, die auf Asphyx geschaffen wird ist 1:1 Funeral Doom, die Mittel mögen aus dem Death Metal kommen, aber was zählt, ist das Ergebnis. Vielleicht, weil sich Asphyx hiermit zwischen die Stühle setzten, vielleicht, weil die bandinternen Wechselspiele an den Nerven zerrten – danach brachen Asphyx auseinander, kamen wieder zusammen, aber brauchten dann ca. 15 Jahre, bis sie wieder zu alter Stärke gelangten.


Unholy

The Second Ring of Power

(Avantgarde, 1994)

Die finnische Band Unholy wiederum steht im Spannungsfeld zwischen Doom, Death und Avantgarde-Metal. Ich weiss nicht, welche andere Band sie beeinflusst haben könnten - sie klingen fast zu einzigartig, in ihrer Heimat waren sie mit Thergothon zusammen die Ersten, die ihre Musik in solchem Maße verlangsamten und zugleich um psychedelischen Zierrat ergänzten. Schon ihr erstes Album From the Shadows ist beeindruckend – für den Metal-Fan, der mutig ein bisschen tiefer in den Abgrund blicken will, der halluzinogene Stoffe zu sich nimmt, um explizit einen üblen Trip zu genießen. Auf The Second Ring of Power gingen die Musiker noch ein paar Schritte weiter als auf ihrem Debüt. Was zuvor auf Improvisation beruht haben mochte, wurde nun konziser – und zugleich finsterer. Dazu kam der verstärkte Einsatz von einsam wimmernden Violinen, Frauengesang (in diesen Kreisen damals noch recht unüblich) und psychedelischer Melodieführung. Bei „Lady Babylon“ singt Vera Muuhli allein zu orientalisch anmutendem Doom, bei „Neverending Day“ gehen Unholy mit dem Tempo fast bis zum Stillstand herunter und Bassist/Sänger Pasi Aijö „singt“ regelrecht im Duett mit Vera Muuhli. Besagter Track würde auf jedes Thergothon Album passen (siehe unten). Selbst das neu aufgenommene „Procession of Black Doom“ - als einer der ältesten Songs der Band – hat mit „normalem“ Doom wenig zu tun. Und das abschließende „Serious Personality Disturbance and Deep Anxiety“ ist dann letzter Beweis dafür, dass die Musiker den schlechten Trip als Mittel zur Inspiration genutzt haben. Aber hier gilt: Das Label Avantgarde wurde seinem Namen nicht wirklich gerecht und zeigte sich mit der mangenden „Kommerzialität der Musik auf The Second Ring of Power unzufrieden. So lösten sich Unholy noch '94 frustriert auf – kehrten aber '98 mit einem noch abgedrehteren Album auf dem selben Label zurück. Dies ist eine ungewöhnliche Band, die beweist, dass Doom weit mehr sein kann, als ein noch so gelungener Black Sabbath Rip-Off.... Womit ich beim sog. Funeral Doom angelangt bin:


Was ist das: Funeral Doom?


Kann sein, dass die Menge an guten bis sehr guten Doom-Alben auch damit zu tun hat, dass sich das Genre seit dem Beginn der Neunziger in immer extremere Ecken ausgebreitet hat. Das krasseste Extrem wird dann wohl besagter Funeral Doom – und 1994 ist das Jahr, in dem die ersten regulär veröffentlichten Alben dieser Art hervor krochen. Es gab natürlich zuvor ein paar Demo's von Acts wie Mordor oder Funeral (und das Album der Auastralier diSEMBOWELMENT...), aber jetzt trennte sich die Spreu vom Weizen, und ein paar Bands bekamen einen Plattenvertrag. Funeral Doom Alben sind ein Risiko: Die Musik beruht auf Wiederholungen, die Tracks sind ellenlang, ein bis zwei Riffs werden minutenlang wiederholt, der Gesang ist herunter gedrosseltes Death-Metal Growling, das sich nach langem Rülpsen anhört., Wenn da die Atmosphäre verlorengeht und nicht mit anderen Mitteln für etwas Abwechslung gesorgt wird, dann ist so ein 3-4-Track Album mit 60 Minuten Spielzeit kreuz-langweilig. Aber wenn Funeral Doom gelingt (und es gibt seit dieser Zeit fast jedes Jahr ein bis zwei Beispiele dafür), dann ist diese Musik markerschütternd beeindruckend. 1994 gibt es mit dem einzigen Album von Thergothon und mit dem ersten offiziellen Album der Funeral Doom-Meister Esoteric mindestens zwei „Klassiker“ ihrer Art.


Thergothon

Stream from the Heavens

(Obscure Plasma Rec., 1994)

Dass die hier beschriebenen Bands und ihre Musik seinerzeit (...bzw bis heute...) keine so breite Fanbasis fanden wie Metallica, Iron Maiden etc., mag ncht verwundern, wenn man ein Album wie Stream From the Heavens hört. Diese Art Metal war – laut einer Beschreibung, die ich gelesen habe – nur etwas für „seriously demented doom metal customers who are willing to cope with utmost strangeness“. Es hatte – wie weiter oben erwähnt – im Vorjahr das zäh dahinfließende Debüt-Album der Australier diSEMBOWELMENT gegeben, aber das dürften damals nur wenige gehört haben, auch wenn es auf Relapse erschienen ist. Und die Finnen von Thergothon haben schließlich auch eine Vergangenheit: Sie sind 1990 entstanden, haben zunächst relativ „normalen“ Death Metal gespielt, den immer mehr verlangsamt und dann beschlossen, dass sich ihr Kram nicht Live aufführen lässt. Nach einem Demo bekamen sie einen Plattenvertrag und nahmen 1993 Stream from the Heavens auf. Noch im selben Jahr löste die Band sich auf, die Veröffentlichung verzögerte sich bis ins Jahr '94 und das Album verkaufte sich weltweit zunächst nur ein paar Tausend mal, aber es wurde im Laufe der Zeit zum Kult-Klassiker. Wie gesagt: Diese Art von Metal ist nicht jedermanns Sache. Die Produktion ist primitiv, Thergothon setzen Stilmittel aus Psychedelic, Ambient und progressivem Rock ein, der Gesang von Niko „Skorpio“ Sirkiä wechselt zwischem rülpsenden Death Metal Growls und Passagen, in denen er mit klarer Stimme Rituale murmelt. Dazu kommen monotone Orgel-Sounds, für Funeral Doom seltsam körperlose Gitarren und schleppende Rhythmen. So etwas gab es zuvor nicht, und in der Tat – den „normalen“ Death Metal Fan dürfte diese Musik eher abgeschreckt haben. Aber Stream From the Heavens hat Atmosphäre galore, die Tracks – die für diese Art Musik recht kurz sind – wirken fast statisch, klingen wie metallische Drones. Bestes Beispiel - und am nächsten am Songformat - ist „Who Rides the Astral Wings“, bei dem die hervorgekratzten Vocals gemeinsam mit klarem Gesang seltsam schockierend im Vordergrund stehen. Stream From the Heavens gilt zurecht als Pionier-Tat – und ist zugleich ein ganz einzigartiges, Funeral Doom-Album.


Paramæcium

Exhumed of the Earth

(R.E-X., 1994)

Bei der britischen Band Paramæcium wiederum bin ich mir nicht sicher, ob ein Verfechter der reinen Lehre des Funeral Doom die überhaupt auf seinem Friedhof dulden würde. Ihre Musik ist von Death Metal und Gothic beeinflusst, sie integrieren Violinen und weiblichen Opern- Gesang in ihre Songs, der mich an blasse Frauen in weissen Gewändern im Nebel denken lässt und vor Allem: Ihre Songs haben christlich-religiöse Themen und Lyrics. Andererseits klingen sie mitunter so minimalistisch und hart, dass der Vergleich mit Bands wie Paradise Lost oder Cathedral (die hier auch hin passen würden, wenn sie '94 ein Album gemacht hätten) nicht ganz passt. Ich finde, Exhumed of the Earth hat mehr mit Esoteric gemein (siehe unten), als mit Asphyx oder The Obsessed – und die christliche Thematik passt angesichts etlicher Brutalitäten in der Bibel ganz gut zu dieser Musik. Der Sound ist viel sauberer als bei Thergothon, viele der enorm langen Songs schwanken zwischen schnellem DM-Passagen und den im Funeral Doom üblichen lang gezogenen Riffs Bassist/Sänger und Bandkopf Andrew Tompkins growlt aus tiefster Kehle und seine christliche Botschaft geht bei dieser Musik (für denjenigen, den das stört) sowieso unter. Ganz nebenbei: Tompkins nannte sich selber im Interview eher interessiert als gläubig. Der Typ ist Anatomie-Professor, Arbeitet als Immunologe und Transplantations-Arzt – ist also eher Wissenschaftler als Priester. All das beiseite geschoben ist Exhumed of the Earth auch eines dieser Alben zwischen den Stühlen. Die religiöse Konnotation hat einen noch so kleinen Erfolg vermutlich behindert, dabei sind Tracks wie der über 17-minütige epische Opener „The Unnatural Conception in Two Parts: The Birth and the Massacre of the Innocents“ (der Titel allein...) mit opernhaftem Beginn, krachenden Gitarren und massiv dahinrollender Rifflawine oder das Funeral-Epos „Haemmorhage of Hatred“ abwechslungs- und einfallsreicher Death/Doom, der für Begräbnisse vielleicht zu schnell, aber finster genug ist.


Esoteric

Epistemological Despondency

(Aesthetic Death, 1994)

Und wer Funeral Doom hören will, wie ICH ihn meine, der möge jetzt aufmerken: Esoteric, die britische Band aus Birmingham, gehören wie Thergothon und diSEMBOWELMENT zu den Pionieren dieses Sub-Genres und sie sind (IMO) diejenigen mit dem konsequentesten Sound und dem größten Stilbewusstsein – und nebenbei diejenigen mit den spannendsten Alben. Schon ihr '93er Demo Esoteric Emotions - The Death Of Ignorance (das diverse Male zu Recht wieder-veröffentlicht wird) zeigt eine Band, die den Doom von Bands wie Cathedral zum absoluten Extrem verlangsamt, regelrecht versteinert hat, und damit irgendwo far out landet. Den Fast-Stillstand zelebrieren die Musiker um Front-Growler Greg Chandler mit äußerster Kraft, in psychedelischen Wolken gehüllt, mit Gitarren, die vor Kraft zu bersten scheinen, dann wieder mit fast warmer Melodik psychedelisch mäandern. Mir gefallen die weit auseinander liegenden Pole bei Esoteric besonders: Der Gesang von Chandler ist ein Knirschen, die Gitarren klingen mal wie Granit-Lawinen, zugleich durchweht diesen minimalistischen Klang eine süße Wolke Marihuana. Das Schwarz-Weiss Mandala Motiv auf dem Cover ihres ersten regulären Albums Epistemological Despondency (...erkenntnisbasierte Verzweiflung – wer's wissen will...) passt hervorragend zur Musik. Sie sind das musikalische Äquivalent zu harten Downern, sie erzeugen eine halluzinogene Atmosphäre, sind im Rausch aber völlig geordnet. Als Beispiel reichen die ersten fünf Minuten des über zwanzig minütigen Openers “Bereft”: Elektronische Störgeräusche wechseln mit verhallten Gitarren, tastenden Drums, uuuultra-langsamem Bass, einer Stimme, die eher knirscht als “growlt”... Hört man unvermittelt in den Track herein, so gibt es nur unheimliche Geräusche – folgt man dem Song, so ist jeder Ton, jedes Geräusch, das sich da tektonisch voranschiebt klug ausgedacht und notwendig. Dieser Doom ist so weit abstrahiert, dass man Epistemological Despondency durchaus auch anderen Genre's zuordnen könnte, aber die Gitarrensounds und der “Gesang” weisen auf die Herkunft aus dem extremen Metal. Der in zwei Minuten voranströmende nachfolgende Track “Baresark (Only Hate)” hat bei allem “Tempo” mit Death Metal nichts zu tun, sondern ist genauso misanthropisch und abstrakt, wie das darauf folgende “The Noise of Depression” (sic!). Das komplette Album (Doppel CD/LP) dauert 1 ½ Stunden, die bizarr, depressiv, misanthrop aber eben auch völlig einmalig sind. Die (bislang) fünf nachfolgenden Alben sind genauso gut, das 2004er Subconscious Dissolution Into the Continuum gehört für mich über alle Genre's hinweg zu den besten Alben des Jahres, aber man kann bedenkenlos jeden Ton dieser Band hören – wenn man in den Abgrund schauen will... und wenn man Noise als Genre mag.


10 Best of Doom


Hierbei decke ich mal alle Varianten des Sub-Genre's Doom ab (also Funeral, Death, Traditional etc...), lasse aber die Urväter des Doom (Black Sabbath natürlich...) aussen vor, weil deren erste vier Alben sowieso JEDER kennen sollte. Und natürlich wieder die Bemerkung: Müsste ich die dubiosen zehn Alben in einer Stunde noch einmal benennen, so würde ich mindestens fünf andere finden, die genauso toll sind wie...

Saint Vitus – Saint Vitus (1985) Die haben die Fahne hoch gehalten...

Candlemass - Epicus Doomicus Metallicus (1986) majestätische Traditionalisten aus Schweden

Winter - Into Darkness (1990) Einzigartig zähe Hardcore/Doom Extremisten aus NY

Cathedral - Forest of Equilibrium (1991) Doom vom Ex-Napalm Death Grunzer – sehr eigen...


My Dying Bride - Turn Loose the Swans (1993) Extrem stylishe Death Metal/Doom Meister.

Skepticism - Lead and Aether (1997) Eine der wenigen Alternativen zum Funeral Doom Esoterics

Electric Wizard – Dopethrone (2000) Wie der Titel schon sagt: Dope Doom

Sleep – Dopesmoker (2003) ...und das was Electric Wizard machen, noch einmal bekiffter. EIN Riff über 60 Minuten...

Esoteric - Subconscious Dissolution Into the Continuum (2004) wie hier zuvor beschrieben. Alles von Esoteric ist toll, dies ist noch ein bisschen toller

Bell Witch - Mirror Reaper (2017) und auch in den 10er Jahren gibt es extremen, eigenständigen Doom.


und dann will ich...


The Obsessed – The Church Within

Buzzov•en - Sore (beide 1994 - siehe weiter oben)

Harvey Milk - Courtesy and Good Will Toward Men (1996)

Celtic Frost – Monotheist (2006)

diSEMBOWELMENT - Transcendence Into the Peripheral (1993)


...doch NICHT vergessen. Wie gesagt, wenn ich will, kann ich diese Liste auf mindestens fünf Plätzen sofort verändern...