Freitag, 31. Mai 2019

2005 – Merkel wird Kanzlerin, wir sind Papst und Katrina kommt nach Florida – Coil bis Gospel

George Bush ist zum zweiten Mal zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden, mit minimalem Vorsprung vor seinem Widersacher. Im Irak wird die Suche nach Atomwaffen ergebnislos beendet – der vorgebliche Grund für die Invasion des Irak entfällt somit ersatzlos, was aber die konservativen Kräfte in den USA nicht anficht. Der polnische Papst Johannes Paul II stirbt und der Bayer Joseph Ratzinger wird der neue, äußerst altmodische Papst Bendikt XIV. Im Iran wird mit Ahmadinedschad ein körperlich sehr kleiner und sehr konservativer Politiker zum Ministerpräsidenten gewählt, der gegen Israel und seine Verbündeten hetzt und sich überhaupt so groß wie möglich macht. Im August schlägt der Hurrikan Katrina in den USA an der Küste Floridas auf und setzt fast ganz New Orleans unter Wasser. Eine der größten Katastrophen in der Geschichte der USA - George W. Bush bleibt desinteressiert, weil diejenigen, die zu Schaden gekommen sind nicht seine Wähler sind und die Wahl sowieso gelaufen ist. In Frankreichs Vorstädten kommt es zu Unruhen, insbesondere nord-afrikanisch-stämmige Jugendliche sind mit ihrer aussichtslosen Situation in der Gesellschaft unzufrieden. In Deutschland wird mit der CDU Vorsitzenden Angela Merkel erstmals eine Frau Bundeskanzlerin. Überall in der westlichen Welt sind die Konservativen am Steuer, entsprechend ist der Wirtschaftskurs dieser Zeit arbeitgeberfreundlich, weltweit kommt es im Rahmen der Globalisierung zu Entlassungen – und Unruhe in der Gesellschaft. Es ist ein Jahr der katastrophalen Stürme: Hurricane Katrina forderte in New Orleans 1800 Tote, ein noch stärkerer Sturm erreicht die Texanische Küste und richtet gewaltige Schäden an, die Menschen haben sich in Sicherheit gebracht... Musikalisch ist 2005 für mich ein Jahr des Nachklanges, auch wenn - oder vielleicht gerade weil - in diesem Jahr der Video-Kanal YouTube gegründet wird. Die Aufregung um gehypte Bands wie Franz Ferdinand und mit ihr der ganze Post-Post-Punk Hype sinkt auf ein erträgliches Maß, als etliche dieser Bands ihre Zweitlinge veröffentlichen. Es gibt in all den aufgefächerten Bereichen der Musik von Folk über HipHop bis Black Metal etliche tolle Alben, aber Innovation ist – wie in den gesamten 00er Jahren – nicht wirklich in Sicht. Egal, solange es Alben gibt wie Coil's Vermächtnis Ape of Naples etwa. Eine Innovation ist höchstens die immer stärkere Konzentration auf das digitale Format. Der Download von Musik ersetzt – zumindest im Charts-Bereich – immer mehr den Kauf physischer Tonträger – ein Trend, mit dem sich die Musikindustrie ins eigene Knie schießt. Aber das hat die schon mit der CD gemacht, und solche Weicheier wie Coldplay oder der entsetzliche James Blunt haben letztlich auch keine physischen Tonträger verdient... Genausowenig wie Mariah Carey – die sollte einfach aufhören – oder - in Deutschland - Ich + Ich und die scheinbar unsterbliche Nena und dgl. Musik, die Nichts bedeutet und deshalb hier nicht vorkommt.

Coil


The Ape of Naples

(Threshold House, 2005)

Um zu Beginn mal die Musik von Coil zu beschreiben: Als hätten Joy Division zusammen mit Soft Cell den Soundtrack zu „Der Pate“ eingespielt. Dieses Album transportiert den Hörer in eine eigene, wunderbar bizarre Welt. Aber dabei gibt es immer einen bitteren Nachgeschmack, denn The Ape of Naples ist das letzte Album, das zu Lebzeiten des einen Protagonisten von Coil - John Balance - aufgenommen wurde. Der schwer depressive Musiker stürzte Ende 2004 in dem Haus, das er mit seinem musikalischen Partner Peter Christophersen bewohnte, betrunken eine Treppe hinunter, und so wurde die Musik auf The Ape... zum finalen Statement und zugleich zur Zusammenfassung der facettenreichen Karriere von Coil. In den letzten Jahren hatten sie tolle, aber auch etwas uneinheitliche Alben veröffentlicht, The Ape of Naples erinnert wieder an eines der „klassischen“ Coil-Alben (wie etwa Love's Secret Domain oder Musick to Play in the Dark, Vol. 1), dabei ist es zusammengestellt aus Aufnahmen für Trent Reznor's Nothing-Label, die bis in die Mitt-Neunziger zurückreichen, sowie aus Songs die bis dahin nur Live getestet worden waren. Balance und Peter Christopherson werden auf den Tracks von verschiedenen Musikern unterstützt: Danny Hyde, Ossian Brown, Thighpaulsandra, Cliff Stapleton, und Mike Yorke, was bei all den unterschiedlichen Charakteren zur Uneinheitlichkeit führen sollte. Die Magie von Coil aber liegt bei diesem Album – sicher beabsichtigt - darin, dass es ihnen dennoch gelingt einen wunderbaren Flow beizubehalten, wobei das verbindende Element immer Balance's expressive Stimme ist. Er hatte alle Tracks eingesungen, war in Hochform beim Industry-Goth von „Heaven's Blade“, wunderbar in der verdrehten Zirkus-Atmosphäre von „Tattooed Man“ und dann gab es noch den vielleicht traurigsten Song, den Coil je aufnahmen: Den BBC-Theme Song von Are You Being Served, „Going Up“. Der ist Höhepunkt des Albums, im Duett mit Francois Testroy eingespielt, in dem die fatalistischen Zeile „it just is...“ die schmerzliche Akzeptanz einfängt, die sich durch das ganze Album zieht. -- Balance war tot, und Coil mußten ihre Karriere damit beenden. The Ape of Naples ist eines der besten Alben von Coil und auch eines der besten Alben des Jahres 2005 – und wenn man Coil noch nicht kennt, sollte man es schleunigst nachholen – warum nicht mit diesem Album ? - Das ich auf Vinyl sehen will!.



Sufjan Stevens


Come On Feel The Illinoise

(Rough Trade, 2005)

Das Konzept hinter Sufjan Stevens bis dato bestem Album war eine Promotion-Idee – er hatte gesagt, er wolle Musik für jeden einzelnen Staat der Vereinigten Staaten schreiben – aber dass bei dieser vermessenen Idee ein so reichhaltiges und schönes Album herauskommen könnte, das die hochgestochenen Ambitionen seines Machers ebenso erfüllt, wie es sein großes Talent als Musiker herausstellt, war nicht zu erwarten gewesen. Come on Feel the Illinios ist sehr vieles gleichzeitig: Humorvoll, tieftraurig, gespenstisch, fröhlich und kindlich schön.... Die Vision hinter der Musik schien Komplexität zu erfordern, aber Stevens erreicht all das mit einer frappierenden Simplizität. Nehmen wir einen der schönsten Songs auf dem Album, den Song über den aus Illinois stammenden Massenmörder John Wayne Gacy – ausgestattet mit gänsehaut-erzeugend schöner Melodie und pulsierendem Bass erinnert er an eine altertümliche Folk Ballade, dann kommt der Text, der den Hörer in wenigen Zeilen in die Geschichte des Massenmörders, seiner Familie und seiner Opfer hineinzieht. Am Ende wird, statt zu urteilen, der moralische und seelische Zustand des Betrachters/Hörers/Sängers hinter-fragt: „In my best behavior, I am really just like him; look beneath the floor-boards for the secrets I have hid“... Und das ist nur ein Beispiel. Stevens hat ein Händchen für fröhliche Songs, Songs die geradezu euphorisch klingen, hier gibt es mit „Chicago“ ein weiteres Beispiel, einen Song der noch eine weitere Ebene bekommt, nicht simpel als fröhliches Liedchen dahin fliesst. Und „Concerning the U.F.O. Sighting Near Highland Illinois“ sind zwei Minuten pure Schönheit, wie sie allein von Sufjan Stevens gestaltet werden können. Man konnte zu Recht annehmen, dass, sollte er so weiter machen, sein Name bald neben denen von Brian Wilson und den Beatles stehen würde. Zweifellos eines der besten Alben des Jahres.


Antony & the Johnsons


I Am A Bird Now

(Rough Trade, 2005)

Stell' dir ein Album vor, mit Songs wie Velvet Underground's „Candy Says“, gesungen von Nina Simone - oder ein Jeff Buckley Album bei dem statt nach spiritueller nach geschlechtlicher Transzendenz gesucht wird - und du bekommst eine Vorstellung davon, was I Am A Bird Now ist. Antony Hegarty – die sich heute Anohni nennt - war als Kind mit Familie aus England in die USA gekommen, sie hatte sich schon früh als Trans-Gender empfunden und auch offen so gelebt, in New York hatte sie ihre Band The Johnsons (benannt nach der Transgender-Aktivistin Marsha P. Johnson) gegründet, mit einem Demo die Aufmerksamkeit des Musiker David Tibet (dessen Current 93 selber eine immens produktive und singuläre Band sind) erregt, der sie 1998 das sehr gelungenen Debütalbum Antony and the Johnsons auf dem Durtro-Label veröffentlichen ließ. Im Laufe der Zeit wurden Antony's Fans immer namhafter - und ihre Anzahl immer größer. Auf diesem zweiten Album helfen Musiker wie Lou Reed, Boy George, Devendra Banhart und Rufus Wainwright mit - und all die namhaften Begleiter ändern nichts an der Einzigartigkeit von Antony's Musik, können (oder wollen) weder sein Songwriting beeinflussen, noch können sie diese seltsame, gefühlvolle Stimme übertönen, die , sich irgendwo zwischen Nina Simone, Boy George und einem weinenden Engel bewegt. Antony's Gesang ist im wahrsten Sinne des Wortes „soulful“, ohne an einen der klassischen Soulsänger zu erinnern. Wenn Boy George beim wunderschönen „You Are My Sister“ mitsingt, klingt er wie ein Geschwister, Lou Reed's Beitrag zum Gospel von „Fistful of Love“ ist dezent – und gerät nach Antony's Ekstatse am Ende des Songs fast in Vergessenheit. „Spiralling“, das Duett mit Devendra Banhart, stirbt in elegischer Schönheit. Diese Musik bewegt sich zwischen urbanem Barock und Kammermusik, Klavier und Streicher tragen Songs von fast überirdischer Schönheit – einer Schönheit, die aus der Zeit gefallen scheint, sie haben eine Ästhetik, die man nicht wirklich zuordnen kann. Man merkt der Musik und den Texten an, dass Antony's Blick auf seine Umwelt ein komplett eigener ist, er klingt immer ein bisschen fremd – und ist sich dieser Fremdheit offenbar schmerzhaft bewusst. Um dieses Gefühl zu vermitteln, reicht schon ein kurzer Moment des Openers „Hope There's Someone“. Text, Melodie und dieser seltsame Vibrato-Gesang sind herzergreifend. Ein wahrhaft „schönes“ Album.


Fiona Apple


Extraordinary Machine

(Epic, 2005)

Fiona Apple hatte mit ihren beiden vorherigen Alben Tidal ('96) und When the Pawn... ('99) als erfolgreiche junge Songwriterin reüssiert, war sogar kommerziell sehr erfolgreich gewesen, und dann begann sie 2002 mit ihrem Freund und Produzenten Jon Brion dieAufnahmen zum Nachfolger Extraordinary Machine. Zunächst war sie mit den Ergebnissen unzufrieden, wusste nicht mehr weiter, bekam Streit mit der Plattenfirma, die mehr „Hit-Material“ verlangte, das Album wurde zurück gestellt – und Fiona Apple verzog sich nach Hause. Erst Protestaktionen ihrer Fans bewirkten, dass sie es erneut versuchte, sie nahm 2004 die meisten Songs neu auf und durfte das Album nun veröffentlichen. Die „alten“ Aufnahmen mit John Brion wurden zum größten Teil neu produziert (… waren allerdings zuvor im Internet geleakt worden...) und mit Musikern wie dem Roots-Drummer Questlove instrumental neu ausgearbeitet. Apple hatte viele der Songs nicht komplett zu Ende komponiert, war wohl auch kreativ ausgebrannt, dem Album allerdings hört man die Probleme nicht an. Apple's Klavierspiel ist perfekt, und ihre Stimme hatte in der Zeit seit dem Debüt dazugewonnen, die klugen Lyrics mögen schwer in die Rhythmik der Songs einzupassen sein, aber ihre dunkle Stimme legt sich mühelos über die komplexen Melodien. Die Texte sind nicht mehr ganz so düster wie auf den beiden Vorgängern, Apple hat zu einem komischen Sarkasmus gefunden, wenn sie im Chorus von „Window“ singt „Better that I break the window/Than him or her or me“. Viele Songs sind sehr rhythmus-betont, der neue Produzent Mike Elizondo arbeitet wohl nicht umsonst mit Musikern wie Dr.Dre oder Eminem zusammen und die ausgefeilten Arrangements bei Tracks wie „O Sailor“, „Not About Love“ oder „Red Red Red“ dürften auf das Konto des zweiten Produzenten Brian Kehew gehen, der ansonsten mit anderen klugen Pop-Musikern wie Aimee Mann oder Matthew Sweet arbeitet. Im allgemeinen wird Extraordinary Machine als Rückschritt gegenüber den beiden Vorgängern bezeichnet, aber ich würde es mit Jon Brion halten, dem die Umgestaltung der von ihm produzierten Tracks offenbar nichts ausgemacht hatte, und der sinngemäß sagte: „Es ist ihre Musik, ich bin Fan und man sollte eine Künstlerin wie Fiona Apple in ihrer Kreativität unterstützen, statt ihr Steine in den Weg zu legen“. Extraordinary Machine ist sicher kein „einfaches“ Pop-Album, aber die Songs haben Widerhaken, setzen sich im Ohr fest, Stimme und Texte sind klug und schön - und Besseres kann man über Pop-Musik nicht sagen. Für mich ist Extraordinary Machine das nächste Fiona Apple-Album, das zu den besten seines Jahrgang's zählt – und somit hier hin gehört.


Ryan Adams & The Cardinals


Cold Roses

(Lost Highway, 2005)

Ryan Adams & The Cardinals

Jacksonville City Lights

(Lost Highway, 2005)

Ryan Adams


29

(Lost Highway, Rec. 2004, Rel. 2005)

Seit einigen Monaten (in 2019) ist es schwer für mich Ryan Adams' Musik unvoreingenommen zu hören: Ich mag seine Musik, vor Allem die drei Alben, die er 2005 hintereinander heraushaut sind Meisterwerke des „Psychedelic/ Alternative Country“, aber er hat sich 2018 nach offenbar berechtigten Vorwürfen gleich mehrerer Frauen bzw. Musikerinnen wegen sexueller Belästigung unter Ausnutzung seiner Beziehungen im Business aufs übelste disqualifiziert – und das bleibt mir im Kopf. Es gibt keine Entschuldigung für solches Verhalten und ein Mensch, der sich so verhält, hat weder Verständnis noch Support verdient. Andererseits kann ich nicht sagen, wie Adams sich in der Zeit 14 Jahre zuvor verhalten hat, genauso wenig wie ich beurteilen kann, ob jeder Vorwurf gegen ihn berechtigt ist. Klar ist, dass er immer ein schwieriger Mensch war, dass er immer als erratischer Künstler galt – aber eben auch, dass er ein immens talentierter Songwriter und Musiker ist, aus dessen Kopf Songs anscheinend im Stunden-Takt sprudeln. Und weil das unbestreitbar Fakt ist, weil ich seine Musik aus der Mitte der 00er Jahre liebe, will ich diese Alben weiter hören - und insbesondere sein erstes Album mit den Cardinals empfehlen. Dabei kann man Adams durchaus zu Recht als Plagiator bezeichnen – seine Band Whiskeytown hatte vor 2000 drei wundervolle Alternative-Country Alben zustande gebracht – mit Musik, die sich klar auf Vorbilder aus den Siebzigern bezog, gepaart mit einer Prise Punk- Aufsässigkeit. Sein Solo-Debüt Heartbreaker (2000) fuhr auf dem gleichen Feld noch reichere Ernte ein, wieder gab es Songs von berückender Schönheit und Cleverness, aber erst mit den Cardinals fielen Talent, Können und Inspiration perfekt zusammen. Zum süffigen Sound-Amalgam aus Parsons, Springsteen, Young und Uncle Tupelo gesellte sich mit den vier virtuosen Begleitern eine kräftige Prise Psychedelik a la Grateful Dead. Dass Adams zum Übertreiben neigt, sieht man schon allein daran, dass das erste Album mit den Cardinals direkt eine Doppel CD/LP wurde. Cold Roses hat genug Material für zwei bis drei Alben, mit „Magnolia Mountain“, „When Will You Come Back Home“, „Let It Ride“ oder dem Titelsong würden andere Musiker ganze Karriere-Phasen füllen, hier ordnen sich diese vier Highlights neben kaum schwächere Songs wie „Sweet Illusion“, „Mockingbird“ und „Easy Plateau“ unter einem enrom kraftvollen und saftigen Sound aus glühender Steel, psychedelisch verwickelten Gitarren und einem kraftvoll federnden Rhythmus-Fundament ein. Dazu hat Ryan Adams selten besser gesungen, seine Stimme hat Charakter, bricht mitunter vor Begeisterung und Emphase, das Album glüht regelrecht. Dass er als Songwriter manchmal ein bisschen ZU clever ist, dass seine Musikalität überschwappt, könnte man beklagen, aber die Band holte ihn offensichtlich immer wieder auf den Boden zurück – nachdem er fliegen durfte. Natürlich ist Cold Roses nicht „revolutionär“ - aber hier schimmert eine Facette einer alten Musik in bunten und neuen Farben. Und natürlich war ein Album Ryan Adams nicht genug: Knapp vier Monate später kam mit Jacksonville City Lights ein weiteres Album mit den Cardinals in die Läden. Mit dem Titel bezog er sich nicht zum ersten Mal auf seine Heimatstadt, die Songs enstammten seinem offenbar unerschöpflichen Reservoir an noch nicht realisierten Ideen – Ideen, die sich für Jacksonville... auf Vorbilder aus der guten alten Country-Musik beziehen. Besoffene Hymnen wie „A Kiss Before I Go" oder „The End“ bedienen genauso klassisches Terrain wie das Norah Jones Duett „Dear John“. Bei Songs wie „My Heart is Broken“ scheut er sich nicht vor üppigem Zuckerguss, John Graboff's Steel weint das komplette Album voll, Jacksonville... könnte in der goldenen Zeit des Country Mitte der Siebziger entstanden sein, zumal es hörbar live eingespielt wurde, was die Qualität seiner Begleiter noch einmal bestätigte – aber wieder gab es den Vorwurf, dass er ein Plagiator sei, dem ein Qualitäts-Kontrolle nicht schaden würde – eine Ansicht, die ich wieder nicht teile. Ryan Adams und Überschwang gehören zusammen, und wenn man so viel klassisches Material zur Hand hat, muss es 'raus. Man muss bedenken, dass es in den Siebzigern (auf die sich seine Musik immer bezieht) durchaus üblich war, mindestens zwei Alben im Jahr zu veröffentlichen... Drei Alben allerdings waren auch damals erstaunlich. Aber tatsächlich kam Ende 2005 mit 29 das dritte Album in die Läden – diesmal ein Solo-Album, dass er 2004 noch ohne die Cardinals aufgenommen hatte. Mag sein, dass der Versuch einen Rekord zu brechen eine Rolle bei dieser Flut an Veröffentlichungen eine Rolle gespielt hat. Mag auch sein, dass Adams seine Ideen auf 29 noch nicht so sorgfältig ausformuliert hatte, wie auf den beiden später aufgenommenen Alben. Der Opener und Titeltrack des Albums bedient sich immerhin schon am Vorbild Grateful Dead, aber manche der folgenden Songs klingen nach Improvisation, sind sehr locker hingeworfen. 29 wurde von und gemeinsam mit dem Produzenten Ethan Johns in dessen New Yorker Studio aufgenommen, Adams hatte tatsächlich gerade mal zwei Songs fertig, als er ins Studio ging und er wollte alles so spontan wie möglich aufnehmen. Das dürfte manchen von ausgefeilter Studiotechnik verwöhnten Hörer abgeschreckt haben, aber auch hier finde ich - genau das beleuchtet doch eine der vielen Facetten des Künstlers Ryan Adams – und einen Track wie „Night Birds“ würde ich nie missen wollen.. Zu dieser Zeit musste Adams buchstäblich neu Gitarre spielen lernen, er hatte sich im Jahr zuvor beim Sturz von der Bühne das Handgelenk gebrochen – und so musste er vermehrt auf's Klavier zurückgreifen. Das entfernt 29 vom Country, macht es zu einem klassischen Singer/Songwriter-Album, es ist ein loses Konzept-Album, in dem jeder Song für eines der Jahre in seinen „Twenties“ steht. Die eher hingetuschten Songs sind sehr entspannt, 29 drängt sich nicht auf, aber es zeigt einen Musiker auf dem Weg zu einem Höhepunkt seiner Kunst. Dass 29 vor Cold Roses und Jacksonville City Lights entstand, sollte man allerdings berücksichtigen..


Sleater-Kinney


The Woods

(Sub Pop, 2005)

2005 kam der Verdacht auf: Sleater-Kinney, eine der ganz großen Bands des Riot Grrrl/Post-Punk hatten beschlossen, ihre Karriere zu beenden - und als Abschluss wollten sie ein echtes Opus Magnum liefern. Ein Album, Hüsker Dü oder die Minutemen es dereinst gemacht hatten, eine Art Rundumschlag, eine Darstellung der eigenen Kreativität im fast schon ZU großen Format – damit man es auch wirklich bedauern würde, wenn sie nicht mehr da wären. Freilich hatte das Trio aus Carrie Brownstein, Corin Tucker und Janet Weiss inzwischen einen regelrechten Rock-Star-Status erreicht, sie waren mit Pearl Jam auf Tour gewesen, hatten mit den drei vorherigen Alben stilistisch und kommerziell fast den Mainstream tangiert, natürlich immer in geschmackvoller Form. Dass es ihnen gelang, mit The Woods tatsächlich einen kreativen Gipfel zu erreichen, ist nicht das kleinste Verdienst dieses Albums. Sie waren auf Sub Pop gelandet, hatten mit David Fridman einen namhaften, krediblen und sehr fähigen Produzenten und sie waren traumhaft eingespielt. Kein Zweifel mehr, dass das Trio alle Stereotypen von „Frau in der Rockmusik“ mit Stil, Würde und Kraft konterkarierten, keine Frage, dass sie musikalisch eine DER Bands ihrer Generation waren, völlig unabhängig vom Geschlecht – sie wollten all diese Tatsachen nur noch mal in ein Album giessen. Und so ist The Woods lauter, verzerrter und energetischer als Alles, was sie zuvor gemacht hatten. David Fridman war für den donnernden Sound natürlich der Richtige, aber dass ihr Zwei Gitarren/ Drums/ Stimmen-Sound solche Wucht bekommen könnte, war neu. Dazu hatten sie (wieder einmal) hervorragende Songs. Tracks wie der Opener „The Fox„ oder „Entertain“gehören zum Besten, was sie in ihrer Karriere geschrieben haben. Man hört dem Album an, dass es fast komplett live eingespielt wurde, und zuletzt kommt auf der dritten Seite des Albums (...Seite 4 ist „etched“) das 11-minütige Epos „Let's Call It Love“, bei dem die ganze Kraft, der ganze Schweiss und alle Wucht in einer wunderbaren Kakofonie mündet, ehe das Album mit dem in einem Zug durchgespielten, 3-minütigen „Night Light“ ausläuft. The Woods erschöpft, es ist die Kombination aus Jimi Hendrix und Sonic Youth, es ist einer der Höhepunkte – und ein Endpunkt – des Noise/Indie Rock. 2006 kuratierten die Drei noch ein Festival und kündigten dann einen nicht festgelegten Hiatus an. Dass sie zehn Jahre später doch weiter machten ist fast Schade.


Animal Collective


Feels

(Fat Cat, 2005)

Infos zuerst: Die Brooklyner Animal Collective begannen einst eher als Kollektiv denn als Band. Zunächst hatten Avey Tare (David Portner) un Panda Bear auf dem 200er Album Spirit They're Gone Spirit They've Vanished zusammen gearbeitet, bald kamen Deakin (Josh Dibb), und Geologist (Brian Weitz) in diversen Kombinationen dazu, aber seit dem 2003er Album Here Comes the Indian arbeiteten die vier regelmäßig zusammen, hatten mit dem Feels-Vorgänger Sung Tongs aus dem Vorjahr erste auch kommerzielle Erfolge und konsolidierten ihren enorm eklektizistischen Stil jetzt mit einem echten Meisterstück. 2003 wurde das Collective noch als Teil des Freak-Folk Movements wahrgenommen (das sich selber wohl kaum als solches bezeichnet hätte), aber ihre Art Folk war nicht ländlich-psychedelich wie bei den Six Organs of Admittance oder Sunburned Hand of the Man, sondern von futuristischem Glitzern durchsetzt, näher am Pop als Freaks wie die Freunde von Jackie-O-Motherfucker etwa. Feels nun ist eine psychedelische Glitzerkugel, die eine Vielzahl an Einflüssen widerspiegelt, bei der die Erfahrungen aus den vorherigen Alben und Nebenprojekten mit einfliessen. Mich erinnert Feels an Boces von den Flaming Lips - aber dem Animal Collective geht die dunkle Seite des Wahnsinns völlig ab. Bald würde man die Beach Boys Einflüsse von Panda Bear deutlich heraushören, aber auch hier erkenne ich sie schon. Vieles wirkt noch ungeordnet, Feels klingt, wie ein chaotischer Haufen aus buntem Spielzeug aussieht – wenn man aber genau hinhört, entsteht eine gewisse Ordnung: Als gutes Beispiel mag das fast 7-minütige „The Purple Bottle“ herhalten – mit Tribal-Drumming, mit mindestens zwei einander abwechselnden Kinder-Melodien, reichhaltiger und sehr organischer Instrumentierung und mit entsprechend naivem Gesang. Das darauf folgende „Bees“ schwebt wie ein Pusteblumen-Samen dahin, mit gestrichener Autoharp und herab-perlenden Piano-Akkorden, über die komische Lyrics gemurmelt werden. „Banshee Beat“ klingt wie die Beschwörung einer Natur-Gottheit. Faszinierend an all dem Durcheinander ist, dass doch immer die Band zu erkennen ist, dass sie hier schon ihre eigene Sprache sprechen – noch etwas ungeordnet und neu, aber vielleicht gerade dadurch reizvoll. Die beiden Nachfolger Strawberry Jam und Merriweather Post Pavillion erweitern dann noch das Spektrum ohne zu zerfließen, auf Feels ist das Animal Collective noch in der Erde verwurzelt – aber sie lösen sich schon um abzuheben.


Broadcast


Tender Buttons

(Warp, 2005)

Auch Broadcast tauchen zum wiederholten Male an dieser prominenten Stelle, im „Hauptartikel“ 2005 auf. Auch deren vorheriges 2003er Album HaHa Sound war in meinen Ohren eines der besten seines Jahrganges, mit seiner Verwendung alter Stilmittel und Sounds, um etwas Neues zu erschaffen, waren sie typische Vertreter der postmodernen Populärmusik, denen es gelang, dennoch innovativ zu klingen. Dass der Nachfolger Tender Buttons zum nächsten Triumph werden würde, war aber doch überraschend. Broadcast waren zum Duo geschrumpft, nur noch Bassist James Cargill und Chanteuse Trish Keenan waren übrig, und mit dem Wegfall der Drums von Neil Bullock schien ein eminent wichtiges Element ihres Sounds verloren. Aber Nichts da! Schließlich sind Cargill und Keenan nicht nur Begründer, sondern auch das Nervenzentrum der Band, sie ersetzten den Drummer durch Drum-Machines, Keenan's yé-yé-Gesang rückte in intime Nähe, die Reduktion des Sounds entpuppte sich als Gewinn. Dabei könnte ein ganzes Album mit analogen Synthies, Fuzz-Gitarren, prominentem Bass und freundlich-gleichgültigem Gesang ja auch langweilig werden, aber die Beiden hatten genug Ideen, die Spannung hoch zu halten, genug „Songs“, um Eintönigkeit zu vermeiden. Tender Buttons wird als Meisterwerk des „Dream Pop“ wie des „Space Pop“ bezeichnet, die Band wird immer wieder (zu Recht) mit Stereolab verglichen, aber sie verweigert sich Kategorien genau so, wie sie sich von anderen Bands durch ihren furchtlosen Experimentierwillen unterscheidet. Da ist „America's Boys“ ein kleiner, unverschämter, verzerrter Hit, da lassen sie darauf den Folk von „Tears in the Typing Pool“ folgen, um dann die freundliche Melodie von „Corporeal“ mit fauchende Synthies zu konterkarieren, und dann endet das verträumte „Arc of a Journey“ in formlosem Noise. Wo HaHa Sound warm und freundlich war, da zerkratzt jetzt teutonisch-strenger Noise die nette Oberfläche – unter der man in beiden Fällen immer schon eine bedrohliche Tiefe geahnt hatte. Der Kontrast zwischen Keenans allzu menschlicher Stimme und den avantgardistischen 60ies/70ies Synth-Sounds – das macht Tender Buttons zum Meisterwerk.


Kanye West


Late Registration

(Roc-A-Fella, 2005)

Heute kennt man Kanye West als größenwahnsinnigen, politisch wirren, musikalisch genialen HipHop/Soul-Künstler, bei dem Alles überlebensgroß ist. Aber auf seinem ersten Album (College Dropout, '04) wie auf dem zweiten Album Late Registration war er noch nicht völlig over the top, aber schon genauso genial. Es ist das letzte Pre-Mad Kanye West-Album – und somit ein hervorragendes Albumbzwischen HipHop, Neo Soul und R'n'B. Das ist von Beginn an eine von West's größten Qualitäten: Er verbindet alle Facetten schwarzer Musik zu einem Amalgam, das Kanye ausdünstet. Er nutzt Samples aus verschiedensten Ecken so geschickt, dass man die Herkunft kennen MUSS, der Track aber immer nach ihm klingt. Kanye West gilt nicht als großartiger Rapper, aber er sucht sich formidabel Gäste aus (Hier Leute wie Lupe Fiasco, Nas, Common, Jay Z oder Adam Levine von den blöden Maroon 5) die sich dann problemlos dem Konzept Kanye West unterordnen. Man kann dem Album – und Kanye's Musik insgesamt – Oberflächlichkeit vorwerfen, die Tracks sind allesamt super-slick, jeder Sample sitzt und ist aus edelstem Stoff, dazu hat er hier mit Jon Brion (siehe Fiona Apple!!) einen Produzenten an der Seite, der sich mit Texturen auskennt, aber eigentlich fehlt allen Kanye West Alben Tiefe, nenn' es meinetwegen consciousness, die andere - wie The Roots etwa - haben. Aber das kann man auch als Haltung oder Stil betrachten, das ist Hedonismus in aller Pracht. Und eben diese Pracht überwältigt mich immer wieder. Die Hits hier sind Perfektion: Vor allem „Touch the Sky“ mit Lupe Fiasco ist einer von diesen HipHop-Tracks die für immer im Ohr bleiben. Und dann gibt es auch das riesige „Diamonds from Sierra Leone“ - passend zur Dimension mit Gast-Beitrag von Jay Z und mit Shirley Bassey-Sample aus dem 007-Soundtrack Diamonds Are Forever. Da deutet sich West's Größenwahn schon an. Dass die Non-Single Tracks genauso glänzen, macht Late Registration dann doch zum besten HipHop-Album 2005. Es gibt noch andere Gute, aber dazu schreibe ich woanders mehr.


Gospel


The Moon is a Dead World

(Level Plane, 2005)

2005 gibt es z. B. das zweite, sehr bekannte Album der Math-Rock Institution The Mars Volta, das auch eine Lobes-Hymne verdient hat – aber besser noch und unverdientermaßen unbekannt ist The Moon is a Dead World der New Yorker Screamo/Math-Core/Whatever Band Gospel. Die sind 2003 als Trio aus der Screamo-Band Helen of Troy hervorgegangen, holten sich noch einen Keyboarder und Gitarristen dazu, änderten den Namen in Gospel um und feilten so lange an einem neuen, aufregenden Sound herum, dass letztlich ein Album entstand, das jegliche Grenze sprengt. Die Mitte der 00er Jahre bietet in dieser „Sparte“ der Rockmusik einiges – junge Musiker mit beträchtlichen Instrumentalen Fähigkeiten und Kenntnisse um Hardcore, Noise, Math-Rock etc bauen sich Musik aus allen möglichen Bestandteilen zusammen, erschaffen dabei gerne ganz komplexe Musik, die bald leider oft in technoides Gefrickel abgleitet. Aber dieses eine Album von Gospel hat die Unschuld und Wucht, die mitunter entsteht, wenn junge Musiker neue Landschaften erkunden und sich noch nicht so sehr um Perfektion bei der technischen Umsetzung scheren. Nicht missverstehen – was hier an den Instrumenten geboten wird, ist sehr beeindruckend: Screamo fordert einiges von Musikern, und so prügelt sich Drummer Vinnie Rosenbloom trotz komplexester Rhythmen die Seele aus dem Leib, die Vintage Synthesizer von John Pastir lassen an die alten Space-Rocker Hawkwind denken, aber deren straighte Einfachheit wird immer wieder mit komplexen Strukturen von Rhythmus und Melodie aufgebrochen, Ich habe den Eindruck, hier versucht sich eine Hardcore Band an King Crimson-artigem Prog-Rock – und damit liege ich vermutlich nicht falsch. Die Vergangenheit im Screamo ist am Geschrei von Adam Dooling immer zu erkennen, aber die ruhigen Passagen im 9-minütigen Epos „Golden Dawn“ sind mächtiger progressiver Hardcore. The Moon is a Dead World trägt zweifellos Bestandteile einer Musik in sich, die genau so „altmodisch“ ist wie Ryan Adams' Country. Dieser ausgefeilte progressive Rock auf den Gospel sich (auch) beziehen, hatte sein hohe Zeit Anfang der Siebziger – aber es sind eben auch Elemente in Tracks wie dem Instrumental „Opium“ hörbar, die ohne weiteres auch in Alben mit modernem Hardcore, Screamo, progressivem Metal zu finden sind. Und was das Album dann so ganz besonders macht? Das ist wie im Jazz – ICH höre da eine Begeisterung, eine Inspiration heraus, die selten zu finden ist, die die Musik transzendiert und zu mehr macht, als dem Vorzeigen der eigenen Virtuosität als Selbstzweck. Es passt, dass Gospel sich nach diesem Album und einer Tour auflösten. Ein zweites Album wäre weder als Vertiefung noch als reine Wiederholung interessant, es wäre sehr wahrscheinlich instrumentales Gewichse geworden. Also, wenn du virtuose Musik aus dem Jahr 2005 hören willst, dann würde ich The Moon is a Dead World empfehlen...






Sonntag, 19. Mai 2019

1956 – Frank Sinatra bis Helen Merrill – Mitten im Golden Age of Vocal Jazz

Zu den diversen Unterströmungen, in die sich der Jazz in den Fünfzigern verzweigt, gehört auch die Form, bei der die Stimme das Solo-Instrument ist. Auch der Song-orientierte Vocal-Jazz hat seine Wurzeln in der Musik der 20er und 30er Jahre. Damals haben Sängerinnen wie Ma Rainey, Bessie Smith oder Marion Harris Blues und Jazz – die da noch einträchtig zusammen existierten – mit ihren Stimmen bereichert, bei diesen Sängerinnen stand erstmals die instrumentale Begleitung im Hintergrund, Storie und Gesangs-Vortrag hatte mindestens die gleiche Bedeutung, wie die Leistungen der Instrumentalisten, ihre Stimmen waren mindestens so wichtig, wie der Song selber. Der Trompeter – und Sänger (!) - Louis Armstrong popularisierte in dieser Zeit den sog. Scat-Gesang – die sinnfreie Aneinander-Reihung von Silben, um die Melodie zu begleiten – was die Stimme eindeutig zum Instrument macht. Mit Aufkommen und Erfolg der Big Bands in den 30ern/40ern stiegen auch etliche Jazz-Sänger/innen zu gefeierten Solisten auf, die mit Jazz-Standards Musical-Titeln und traditionellem Pop berühmt wurden. Da kommen schon die Namen zum Vorschein, die wir in den 50ern wiederfinden: Billie Holiday, Ella Fitzgerald, Anita O'Day, Frank Sinatra und Sarah Vaughan traten mit den Bands von Duke Ellington, Benny Goodman, Count Basie oder Tommy Dorsey auf und wurden zu Stars. Aber dann kam - auch weil Tourneen und Gagen von Big Bands unerschwinglich wurden - nach dem Krieg die Phase, in der Jazzmusiker begannen, in kleinen Comob's aufzutreten. Ein Schritt, der bald auch von etlichen der damit arbeitslos gewordenen Vokalisten getan wurde. Insbesondere der Impressario und Label-Gründer Norman Granz überzeugte etliche der oben genannten Künstler davon, dass komplette Alben mit Jazz-Standards in kleinem Setting eine lohnende Sache seien. Nicht, dass alle damit einverstanden gewesen wären – Sinatra etwa hielt bis zuletzt am Big Band-Sound der Swing Ära fest, aber selbst der ließ sich auch mit kleiner Band aufnehmen. Viele dieser Künstler hatten also schon eine lange Karriere hinter sich, aber der intimere Sound forderte ihnen eine neue Technik ab. Phrasierung, Intonation, Ausdruck waren in kleinem Rahmen wichtiger noch, als in der Big Band-Zeit. Man kann sagen, dass hier erstmals der Klang der Stimme an sich entscheidend wurde. Ein Faktor, der in die populäre Musik der kommenden Jahrzehnte übernommen wurde. Als sich Jazz in den Sechzigern in immer experimentellere Gefilde wagte, konnten die meisten der Vocal-Jazz-Künstler nicht folgen, spätestens ab der Mitte der Sechziger war ihre Zeit vorbei, waren alle Standards gesungen. Aber natürlich gibt es auch in den späten Sechzigern zum Beispiel mit Nina Simone eine Sängerin, die Vocal-Jazz mit Soul und gesellschaftlichem Protest paart, Acts wie Manhattan Transfer oder Al Jarreau und Bobby McFerrin machen in den 80ern und 90ern Jazz mit der Stimme als Lead Instrument – diese Art des Gesangs stirbt nie ganz, und in den 90ern und 00er-Jahren haben Vocal-Jazz Künstler wie Cassandra Wilson, Madeleine Peyroux und insbesondere Norah Jones großen künstlerischen und kommerziellen Erfolg – aber das goldene Zeutalter des Vocal-Jazz – und damit die besten Alben – sind in den Jahren zwischen 1954 und 1959 zu finden. Im Hauptartikel '56 habe ich schon Ella Fitzgerald und Billie Holiday behandelt – hier folgen sechs weitere Klassiker des Genre's aus diesem speziellen Jahrgang – sowie am Ende die unvermeidliche subjektive Auswahl der zehn besten Vocal-Jazz-Alben...

Frank Sinatra


Songs for Swingin’ Lovers

(Capitol, 1956)

Im Vorjahr hatte Frankieboy mit dem sinistren In the Wee Small Hours die dunklen Stunden nach Mitternacht und ihre Stimmungen ausgeleuchtet. Melancholischer ging es eigentlich nicht - was ihn bewogen haben mag - nun ebenfalls mit Nelson Riddle als Arrangeur – ein Album mit seiner eigentlichen Lieblings-Musik – ein echtes Swing-Album aufzunehmen. Songs for Swingin' Lovers ist ohne Zweifel eines der ganz großen Alben Sinatras, das beste dieser Art, und es zeigt ganz deutlich, wie wenig sich Sinatra für die neue Mode, für den Rock'n'Roll – den er einfach Krach nannte - interessierte. Auch Jazz – insbesondere der Vocal Jazz der Keller-Clubs mit kleiner Combo wie er hier im Folgenden besprochen wird, war nicht das, was ihn hier interessierte. Sinatra war mit seinen 41 Jahren ein Unterhalter alter Schule – und Songs for Swingin' Lovers ist diese Art von Unterhaltung auf höchstem Niveau. Die Songauswahl – schon im Vorjahr sorgfältigst getroffen – besteht aus Musical- und Musikfilm-Stücken aus den 30er und 40er Jahren – aus der Musik mithin, mit der er zu Beginn seiner Karriere Erfolg gehabt hatte, was natürlich ganz deutlich macht, dass Frankie-Boy ein herzlich konservativer Mensch war. Die Musiker für dieses Album waren somit auch allesamt erprobte Könner aus den inzwischen oft aufgelösten Swing Orchestern und Big Bands, die ansonsten inzwischen an Bedeutung verloren hatten. Und sie würden Frankie-Boy die nächsten Jahre weiterhin begleiten. Sinatras Sangeskunst immerhin war 1956 auf der Höhe. Er spielt mit den Lyrics, variiert hier rund dort, und alles klingt so leicht und cool, dass auch die modernen Jazzer seiner Zeit hier genau hinhörten. Diese LP wird – zusammen mit dem Vorgänger und ein paar Alben, die noch kommen werden – inzwischen als kostbares Kulturgut angesehen und ist Teil des Great American Songbook. Songs wie „You Make Me Feel So Young“, „You’re Getting to Be a Habit with Me“, Cole Porters „I've Got You Under My Skin“ und „Makin' Whopee“ sind im kollektiven Gedächtnisgeblieben. So etwas nennt man wohl Klassiker.


Julie London


Lonely Girl

(Liberty, 1956)

Wenn Julie Londons Debüt vom Vorjahr schon „zurückgelehnt“ war, dann liegt sie bei Lonely Girl vollkommen flach. Auf Julie Is her Name hatte sie als Begleitung nur den Gitarristen Barney Kessel und Ray Leatherwood am Bass und klang dezent jazzig. Der spätere Sinatra Gitarrist Al Viola spielte auf ihrem zweiten Album nun ein paar karge, fast spanisch anmutende Triolen, und Julie's Stimme erhob sich kaum noch über ein sanftes Raunen. Was ihr natürlich gut stand – Ihre Stimme, immer ein bisschen heiser – muss man als unterschwellig erotisch bezeichnen, die Musik ist so etwas wie Twee-Jazz und die Gefahr bestünde, dass ein Album von der „heutigen“ Spielzeit > 35 Minuten langweilig würde. Aber hier sind zwölf Songs versammelt, die selten die Drei-Minuten Marke überschreiten und die - als LP auf zwei Seiten verteilt - wunderbar genossen werden können. Das Material ist natürlich - wie es sich gehört - erlesen: Vier mal Irving Berlin, dessen „What'll I Do“ besonders heraussticht, der Produzent und späterer Ehemann Bobby Troup steuert das Titelstück bei, und das Label Liberty tat gut daran, die Schauspielerin und Sängerin einfach machen zu lassen – und sie auf dem Cover-Shoot entsprechend sehnsüchtig blickend abzulichten (Schon allein wegen der Cover sind ihre Alben inzwischen gesuchte Sammler-Stücke) . Der für die Plattenfirma überraschende Erfolg des Debüts wurde tatsächlich wiederholt: Mit Recht, denn die Musik strahlt eine fast hypnotische Ruhe aus, und man hätte vermutet, so würde es weiter gehen. Troup und London allerdings ließen Lonely Girl dann erst mal eine orchestriertes Werk folge.


Anity O'Day


Pick Yourself Up With

(Verve, 1956)

Über Anita O'Day zu schreiben, ist fast schwieriger, als Worte zu den Alben der weit bekannteren Billie Holiday zu finden. Dabei steht sie mit ihrer Stimmfarbe und ihrem Ausdruck, mit ihrer stupenden Technik und ihrem Gefühl für Rhythmus auf der selben Ebene wie Ella und Billie. Auch Anita O'Day hat Mitte der Fünfziger ein Leben hinter sich, das nicht nur angenehm war und auch sie ist in dieser Zeit Heroin-abhängig – was aber ihrer Stimme (noch) nicht schadete. Aber aus verschiedenen Gründen - vielleicht weil sie weiss war oder weil sie bis ins kommende Jahrtausend überlebte – ist ihr Name nur denen geläufig, die sich den Vocal-Jazz der 50er etwas genauer anschauen. Anita O'Day hatte sich in der vorherigen Dekade in den Big Bands von Gene Krupa und Stan Kenton einen Namen gemacht, der unvermeidliche Norman Granz holte sie 1955 zu Verve und ließ sie mit kleiner Besetzung ihre Version des „neuen“ vokalen Jazz einspielen. Schon das letztjährige Debüt war von großer Klasse, auf Pick Yourself Up With... wurde auf einigen Songs wieder das große Besteck aufgelegt, bei etlichen Songs wird sie von Buddy Bregman & his Orchestra begleitet – und da kennt sie sich natürlich aus, ist seit den großen Big Band Zeiten sogar an Erfahrung reicher geworden. Ihre whiskey-raue aber dennoch feminine Stimme bereichert allein schon jeden Song, dazu sind ihre Interpretationen von Jazz-Standards wie „Let's Face the Music and Dance“ von Irving Berlin oder von „Stars Fell on Alabama“ voller Spannung und Kraft. Bekanntestes und interessantester Track dürfte „Sweet Georgia Brown“ sein, der nur mit Drums und ihrer Stimme beginnt, eher er fast in Rock'n'Roll übergeht. Dass die vier Tracks mit der Jazz-Combo von Trompeter Harry Edison keine Wünsche offen lassen, weil hier ihre Stimme nochmehr im Mittelpunkt steht, dass sie diesen Solo-Gesang regelrecht genießt, zeugt von ihrer Klasse. Letztlich sind alle ihre Verve-Alben hörenswert. Ich empfehle besonder den 57er Nachfolger Anita Sings the Most und das '62er Album Trav'lin Light.


Blossom Dearie


s/t

(Verve, 1956)

Wie gesagt, Vocal Jazz hatte in dieser „kleinen Form“ gerade begonnen, sein Publikum zu finden, und es gab ein bestimmtes Rezept, das offenbar einen gewissen Erfolg garantierte. Eine kleine Besetzung, gute Songs, Klassiker des Jazz und der Unterhaltungsmusik und eine schöne Stimmen. Chet Baker's Gesangsalben passen in diese Reihe genauso wie Ella Fitzgerald's Songbooks; das Spektrum reicht von bluesigem bis zu Easy Listening mit Stil. In letztere Kategorie wird Blossom Dearie gerne gesteckt – aber sie damit als Leichtgewicht abzuqualifizieren wäre ein fatales Missurteil. Ja, ihre Stimme klang im Vergleich zu Ella Fitzgerald oder Sarah Vaughan mädchenhaft – eine Eigenschaft, die sie übrigens bewusst einsetzte, ihre Technik allerdings war genauso ausgefeilt wie die der oben genannten Kolleginnen. Ihr Understatement, ihr Können und ihre Sanftheit gaben ihrem Vocal-Jazz eine ganz eigene Anmutung. Dazu war Dearie eine hervorragende Pianistin, hatte in Bars in Frankreich ihren leichtgewichtigen Anschlag entwickelt und wurde auf Blossom Dearie, ihrem ersten Album für Norman Granz' Verve Records - mit Herb Ellis (Guit.), Ray Brown (B) und Jo Jones (Dr) von versierten Musikern begleitet. Mit der französichen Version von „Lullabye at Birdland“ hatte sie auf dem Kontinent einen Hit gehabt, und ihre Interpretationen bekannter Standards wie „'Deed I Do“, „Lover Man“ und vor Allem „Everything I Got“ sind voller... Verve – wollen mit Stil unterhalten und nicht 'runterziehen. Bei „Lover Man“ gelingt es ihr die Traurigkeit des Songs in Emotionen umzuwandeln, die genauso tief-blau sind, aber zugleich Hoffnung enthalten. Norman Granz hatte ein weiteres Mal ein gutes Händchen bewiesen, als er sie eingeladen hatte, dieses Album aufzunehmen und Dearie hatte auch zu Recht kommerziellen Erfolg damit. Blossom Dearie würde ich sogar noch eher als Twee Jazz bezeichnen, als Lonely Girl von Julie London, da deren Musik weniger blumig, eher schwül klingt. Bei Dearie ist die Atmosphäre frühlingshaft und das Album klingt dadurch einzigartig - und ist äußerst hörenswert.


Chris Connor


s/t

(Atlantic, 1956)

All die hier besprochenen Sängerinnen hatten schon in den Jahren vor '55 eine Karriere in diversen Big Bands gehabt, bevor sie Solo-Alben in kleiner Besetzung aufnahmen. Und so war auch Chris Connor schon eine „etablierte“ Künstlerin, als sie '56 beim Atlantic-Label einen Plattenvertrag unterschrieb. Sie war tatsächlich die erste „weisse“ Künstlerin, die die Ertegun Brüder aufnahmen. Sie hatte schon zu Beginn der Fünfziger mit dem Orchester von Stan Kenton reüssiert und ab '54 auf dem Bethlehem Label Musik aufgenommen, die durchaus hier hin passen würde. Ob man den Vorsprung an Erfahrung hört? Nein. - Ist die Musik und ihr Sanges-Vortrag besser als bei Julie London oder Blossom Dearie? Nun, Chris Connor ist eine Künstlerin mit einer eigenen, etwas technischeren Stimme. Was macht sie und dieses Album zu etwas Besonderem? Der Klang dieser Stimme ist etwas tiefer, manchmal rau, sie singt äußerst expressiv, man merkt, dass sie an traditionellem Jazz geschult ist, da der Eindruck entsteht, dass sie „mehr“ herausholen könnte. Sie scheint ihre Kraft zu unterdrücken – was ihren Gesang aber gerade so reizvoll macht. Meist ist das instrumentale Backing ebenso minimal wie bei Blossom Dearie etwa, aber ab und zu bricht noch ein Orchester hervor. Bestes Beispiel unter Gleichen, ihre Version von „I Get a Kick Out of You“ – eine nette Gelegenheit hier auch mal zu hören, wie Vocal Jazz sich in den Jahren zuvor präsentierte. Und dagegen gestellt – ihre Version von „Anything Goes“ - noch mit Bläsern, aber schon vollkommen konzentriert auf den rhythmischen Gesang. Und dann das nur mit Gitarre- und Bass-Begleitung eingespielte „Everytime“ Es gibt eine Vielzahl an tollen Alben mit Vocal Jazz in diesen Jahren – und in den folgenden 3-4 Jahren ging das so weiter und mir fällt es schwer, zu sagen welches Album „essentiell“ ist – zumal man ja via Internet quasi Alles hören kann. Chris Connor jedenfalls ist einer meiner Favoriten.


Helen Merrill


Dream of You

(EmArcy, 1956)

Eines der Dinge, die Helen Merrill von den anderen Jazz-Chanteusen ihrer Zeit unterscheidet ist ihr eindeutig dramatischer Gesangsstil. Ihr kraftvolles Phrasieren, die langgezogenen Noten und der strahlende Ton ihrer Stimme scheint eher an den Broadway zu passen, als in einen Jazz-Club. Ihr 56er Album Dream of You findet allerdings genau den richtigen Mittelweg. Merrill klingt melodramatisch, swingt aber zugleich wunderbar zu den dunklen, sehr räumlichen und zugleich ökonomischen Arrangements des Miles Davis-Intimus Gil Evans'. Da passen natürlich die klug gewählten Balladen und Torch-Songs – auf der dramatischeren Seite „Where Flamingos Fly“ und das durch Billie Holiday so bekannte „I'm a Fool to Want You“ - eingesungen mit Grandezza und technischer Variabilität. Gedämpfter klingen dann Songs wie „I've Never Seen“ oder „He Was Too Good to Me“, während Songs wie „People Will Say We're In Love“ oder „By Myself“ das Album mit hemmungslosem Swing schön ausbalancieren und dabei Merrill's fließendem Gesang wunderbar zu Gesicht stehen. Und dann sind da noch Midtempo Stücke wie „Anywhere I Lay My Hat Is Home“, „Just a Lucky So and So“ und vor Allem „A New Town Is a Blue Town“, die mit geschmackvoll und unkitschig arrangierten Bläsern und Streichern glühende Südstaaten-Szenen á la Tennessee Williams vor dem inneren Auge entstehen lassen. Da hört man nicht nur eine der großen Vocal Jazz Sängerinnen, da wird mit diesem Album auch die Saat des späteren Miles Davis Kollaborateurs Gil Evans ausgebracht.


The 10 Best Albums in Vocal-Jazz



Wie versprochen - hier die unvermeidlichen 10 wichtigsten Alben des Vocal-Jazz. Eine Anleitung für die paar Leute, die angefixt wurden, ohne zu wissen, was man sich so anhören muss, um mitreden zu können. Natürlich ganz objektiv ausgesucht und in Stein gemeisselt:



Peggy Lee - Black Coffee With Peggy Lee (1953)



Chet Baker – Chet Baker Sings (1954)



Helen Merrill - Helen Merrill (1955)



Sarah Vaughan – s/t (1955)



Billie Holiday - Lady Sings the Blues (1956) – von der gibt es einige Klassiker...



Ella Fitzgerald & Louis Armstrong - Ella and Louis (1956)



Anita O'Day – Anita Sings the Most (1957)



Frank Sinatra - Frank Sinatra Sings for Only the Lonely (1958)



Abbey Lincoln – Straight Ahead (1961) auch Post Bop



Nina Simone - Pastel Blues (1965)



und um zu zeigen, dass es auch im nächsten Millenium noch geht...



Norah Jones - Come Away With Me (2002)



ich muss darauf hinweisen, dass eigentlich jeder der hier genannten Künstler etliche gleich-gelungene Alben hinterlassen hat. Ella Fitzgerald's komplettes American Songbook, Billie Holiday's und Anita O'Day's 50er-Alben, Sinatra's dunkelblaue Alben... ich könnte so weiter machen, aber das hier soll als erste Dosis reichen.












Samstag, 18. Mai 2019

1957 – Sputnik und Rassismus – Miles Davis bis B.B. King

Im Burmesischen Kalender ist es das Jahr 1319. In England wird Harold MacMillan Premierminister. Die Sowjetunion startet die erste Interkontinentalrakete, und später im Jahr mit „Sputnik“ den ersten Satelliten, der den Mond umkreist. In Little Rock, Arkansas, lässt der republikanische Gouverneur die Nationalgarde aufmarschieren um schwarze Schüler aufgrund seiner faschistoiden Vorstellungen von „Rassenhygiene“ am Besuch der Schule zu hindern – Eine Einstellung, die es leider in den USA (und anderswo) bekanntermaßen auch heute noch gibt. Immerhin erzwingt Präsident Eisenhower daraufhin deren Zugang zur Schule – für diese Zeit regelrecht revolutionär. In Windscale / England brennt es in einem Atomkraftwerk, ein erster schwerer atomarer Zwischenfall, der aber im öffentlichen Bewusstsein noch nicht als gefährlich wahrgenommen wird. Immerhin: Albert Schweizer plädiert bei seiner Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für den Verzicht der Nutzung von Atomkraft – vergeblich wie wir wissen. In Liverpool eröffnet der Cavern Club, in ein paar Jahren eine der Wiegen der „Beatmusik“. Die „West Side Story“ von Leonard Bernstein wird in New York uraufgeführt. Die noch ganz jungen Liverpooler Burschen John Lennon und Paul McCartney lernen sich bei einem Schulfest kennen. Sid Vicious (irgendwann mal Sex Pistols), Butch Vig (Produzent z.B. Nirvana) und Paddy McAloon (Prefab Sprout) werden geboren. Rock'n' Roll erlebt gerade eine erste kurze Blüte mit vier No.1 Singles von Elvis, und mit den als Alben veröffentlichten Hit-Compilations von Johnny Cash (Der gilt 1957 als Rock'n'Roller!). Und da sind Buddy Holly, Little Richard, Gene Vincent, Eddie Cochran etc.... High Time für die Rock'n'Roll-LP, auch wenn die meisten Protagonisten bald verschwinden. Und auch im Jazz erscheinen wegweisende LP's. Insbesondere Miles Davis, Thelonius Monk und Sonny Rollins haben in den Jahren zuvor bei diversen Sessions in den unterschiedlichsten Kombinationen miteinander kollaboriert – die Ergebnisse dieser Sessions werden nun publik gemacht – verspätet, aber immerhin... Und mit John Coltrane tritt ein Jahrhundert-Genie hervor – zunächst oft als Begleiter von Miles Davis, bald als Solo-Künstler, der '57 sein erstes Solo-Album Blue Train aufnimmt (das erst '58 veröffentlicht werden wird.). Aber auch Weicheier wie Paul Anka oder Pat Boone befriedigen den weniger avantgardistischen Geschmack eines breiten, weniger abenteuerlustigen Publikums.

Miles Davis


Jeru/Birth Of The Cool

(Capitol, Rec. 49/50, Rel. 02-1957)

Unter den Alben, die für mich das Jahr 1957 beherrschen, sind ganze fünf (!) Aufnahmen von und mit Miles Davis in Zusammenarbeit mit diversen Künstler-Kollegen, mit denen er zum Teil schon seit Ende der 40er die Grenzen dessen, was Jazz IST, weit voran geschoben hatte. Tatsächlich ein Anfangspunkt dafür ist Birth of the Cool - eigentlich eine Zusammenstellung von Singles aus Sessions von 1949 und 1950, aus der Zeit, in der Davis mit Charlie Parker arbeitete, in der er aber auch seine eigene Vision des Jazz - jenen „Cool Jazz“, der mit seinem Namen verbunden bleiben wird - verwirklichen wollte. Wie sehr er damit damals seiner Zeit voraus war, sieht man daran, dass Capitol diese Aufnahmen erst sieben Jahre später - tatsächlich als “Longplayer“ - veröffentlichte. Das Nonett mit Arrangeur Gil Evans und mit Schwergewichten wie u.a. Gerry Mulligan (b-sax), Max Roach (dr) und Lee Konitz (s-sax) klingt dabei nie wie neun Musiker, sondern wie Ein Klangkörper. Der Ton ist verhalten, man spielt mit einer lässigen Leichtigkeit, improvisiert über elastischem Rhythmusfundament ohne aus der Fasson zu geraten, konzise und - eben „cool“. Gerry Mulligan ist es, der hier die kompositorischen Marken mit „Jeru“ und „Venus de Milo“ setzt - Klassikern des Cool Jazz mithin, von denen übrigens keiner über vier Minuten lang ist. Oh, du heilige Konzentration auf's Wesentliche... Die tragende Säule, der Ideengeber über Allem aber ist natürlich Miles Davis mit seinem vibrato-losen Trompetenspiel und mit dem Konzept, unter das sich seine Musiker, ihre instrumentalen Beiträge und die Kompositionen problemlos unterordnen. An diesem Album erkennt man es deutlich: Miles Davis war nie der „virtuose“ Instrumentalist (obwohl sein leichtes, schwebendes Spiel auf der Trompete in seiner Art extrem gekonnt und gut wiedererkennbar ist), aber er ist der Mann mit den Konzepten, und er ist einer, der die unterschiedlichsten Musiker miteinander vereint und zu Höchstleistungen motivieren kann. Diese Fähigkeit wird ihn bis weit in die Siebziger zum wichtigsten Innovator und zum populärsten Jazz-Musiker seiner Generation machen. Birth of the Cool ist ein passendes Album, um in seinen Kosmos einzudringen.


Miles Davis


Round About Midnight

(Columbia, Rec. 55/56, Rel. 03-1957)

Dann veröffentlicht Davis neue Plattenfirma Columbia einen Monat später ein aktuelleres Werk des Jazz-Impulsgebers. Round About Midnight wurde zwischen dem 26. Oktober '55 und dem 10. September '56 aufgenommen. Für die ersten Aufnahmen für das neue Label hatte Davis ein Quintett versammelt, das allein schon wegen der Namen der Beteiligten aufhorchen lässt: Saxophon-Gigant John Coltrane ist dabei – und mit Red Garland (p), „Philly Joe“ Jones (dr) und Paul Chambers (b) sind Musiker an Bord, die selber in den kommenden Jahren (u.a. als Coltranes' Begleiter) bei einem ganzen Haufen von Jazz-Klassikern mitspielen werden. Round About Midnight ist so gesehen auch ein guter Einstieg in Davis' Musik, die Klasse seiner Mitspieler lässt alles, was hier geboten wird, so leicht und mühelos klingen, dass man sich wundert, warum es nicht mehr Musik von dieser Klasse gibt – aber es gibt eben nur einen Miles Davis – der hier verschiedene Fremd-Kompositionen auf seine unnachahmlich coole Art interpretieren lässt. Dass er Coltrane und Jones erst kurz vorher kennen gelernt hatte höre ich nicht heraus, die unnachahmliche Art, in der Coltrane eine Kraft zeigt, gegen die Davis seine lyrische Schönheit stellt, sollte noch etliche weitere Alben zu Höhepunkten das Jazz machen. Dass ein Teil der Tracks – insbesondere Charlie Parker's „Ah Leu Cha“ - schon '55 aufgenommen wurde – mit dem Personal, das sich da gerade erst kennen lernte, dass der Rest der Tracks dann bei den Prestige-Sessions (siehe Cookin'...) fast ein Jahr später aufgenommen wurden, erkennt man nicht. Das Zusammenspiel war von vorne herein inspiriert. Mit der hier vorgestellten Version des Jazz-Klassikers „Bye Bye Blackbird“, mit „Dear Stockholm“, einer von Stan Getz bearbeiteten Version eines schwedischen Volksliedes und mit dem Titeltrack sind auf Round About Midnight Stücke versammelt, die exemplarisch zeigen, wie Jazz in den späten 50ern aussah – welches Lebensgefühl da vermittelt wurde – und wie wichtig die Klasse der Musiker sein kann, wenn sie es - wie hier – ganz schlicht nicht nötig haben, sich zu profilieren. Round About Midnight ist ein Jazz-Album, auf dem die Musiker eine magische Einheit bilden. Allein die Tatsache, dass Davis noch bessere und visionärere Alben machen würde, lässt dieses Album heute so „normal“ klingen.


The Miles Davis Quintet


Cookin' With the Miles Davis Quintet

(Prestige, Rec. 10-1956, Rel. 07-1957)

Dies hier ist ein Kandidat für die Top 10 unter den Miles Davis-Alben. Aufgenommen wurde Cookin' With the Miles Davis Quintet gemeinsam mit seinen Companion-Alben Steamin'... Workin'... und Relaxin'... innerhalb von sensationellen zwei Tagen Ende Oktober '56 (...mit einigen Tracks von Round About Midnight...). Davis hatte sich zu Beginn der Fünfziger noch in den Klauen einer massiven Heroin-Sucht befunden – und galt schon als abgeschrieben. Dann aber gelang es ihm mit Hilfe seines Vaters und indem er New York erst einmal verließ, seine Sucht zu besiegen, dann trat er '55 unangekündigt beim Newport Jazz Festival auf und riss das komplette Publikum – und den CBS-Verantwortlichen George Avakian – so sehr mit, dass er ein Vertrags-Angebot von Columbia bekam. Da er noch bei Prestige unter Vertrag stand, einigte man sich darauf, vier Alben in einer einzigen Session einzuspielen. Dafür tat Davis sich wieder mit den bei den '55er Aufnahmen zu Round About Midnight erprobten Musikern zusammen. John Coltrane am Saxophon, Paul Chambers am Bass, Philly Jo Jones an den Drums und Red Garland am Klavier... allesamt - wie man gehört hatte - Könner an ihren Instrumenten. Die vier Prestige Alben kann man somit zusammen mit Teilen von Round About... durchaus als einen „body of work“ betrachten. Die Tatsache, dass alle bei diesen Dates eingespielten Tracks – oft Standards des Jazz - in einem Zug aufgenommen wurden, führte nicht zur Qualitäts-Minderung. Das Zusammenspiel war traumhaft, es herrschte eine nervöse Energie, die selbst Balladen wie den definitiven Take von „My Funny Valentine“ unter Spannung hielten. Das Rhythmus-Gespann Jones, Chambers und Garland spielte auf lustvolle Art einfallsreich, Davis' Trompete war zu der Zeit noch nicht ganz so lyrisch, er zeigte mitunter mehr Temperament, aber Chef im Ring war oft der junge John Coltrane. Davis meinte irgendwann mal, er suche immer nach einem Gegenpart, der ihn herausfordere, und mit Coltrane (wie später mit Wayne Shorter) gab es da jemanden, der ihn offensichtlich forderte - und den er förderte, bis dessen Heroin- und Alkohol-Sucht eine weitere Zusammenarbeit unmöglich machte... Die Art wie die beiden sich hier gegenseitig herausfordern, ist perfekt bemessen. Bester Track auf Cookin'... ? Fraglos das erwähnte „My Funny Valentine“.


MilesDavis + 19


Miles Ahead

(Columbia, Rel. 10-1957)

Miles Ahead wiederum ist das Album, das tatsächlich im gleichen Jahr von Columbia veröffentlicht wird, in dem es aufgenommen wird – Es zeigt somit, wo Davis inzwischen angekommen ist – und es ist die erste von drei ausdrücklich erkennbar gemachten Kollaborationen Davis' mit dem Arrangeur Gil Evans. Wie Porgy and Bess und Sketches From Spain handelt es sich bei den zehn recht kurzen Tracks ganz schlicht um eine Serie von Duetten zwischen Davis typisch „coolem“ Trompeten-Sound und dem von Evans arrangierten und dirigierten Orchester. Einziger Begleiter aus dem aktuellen Quintet ist hier Bassist Paul Chambers, der ein wundervoll federndes Rhythmus Fundament legt. Gil Evans wiederum hatte eindeutig seine Vorbilder in der klassischen Musik Europas, so lyrisch und reduziert Miles Davis Trompete hier spielt, so cool und elegant sind Evans Orchester-Arrangements, egal ob es sich um flottere Tracks wie den Opener „Springsville“ handelt, bei dem das Orchester Davis in fließendem Tempo zu verfolgen scheint, oder ob es sich beim ganz ruhigen „My Ship“ erst allein auf die See heraus wagt, ehe Davis mit schlichten Tönen folgen darf. Miles Davis war gewiss der Star, dessen Name auf dem Cover hervorstechen sollte, aber Gil Evans Beitrag zu diesem und den folgenden oben genannten Klassikern – und zur (Jazz) Musik war profund. Er vereinte auf diesen Alben amerikanischen Jazz und europäische Klassik zu etwas Neuem, Wunderschönem. Und auch hier finde ich das, was Jazz (und jede andere Musik-Richtung) für mich interessant macht: Ich habe das Gefühl, dass die Musik zu mehr wird, als der schlichten Summe ihrer Teile, dass hier Musik mit Bedeutung gemacht wurde.



Miles Davis


Bags Groove

(Prestige, Rec. 1954, Rel. 10-1957)

Zuletzt noch einmal Vertrags-Erfüllung. Miles Davis hatte Prestige Ende '55 davon überzeugen können, dass das weit größere Columbia-Label mit seiner Werbung die Prestige-Alben mitziehen würde – und so veröffentlichte Prestige neben Cookin'... noch eine Compilation aus diversen Tracks von '54 und '55. Bags Groove enthält (für Buchhalter...) die komplette '54er 10'' Miles Davis With Sonny Rollins, einen alternativen Take von “But Not For Me“, „Bags' Groove“ vom 55er Miles Davis All Stars - Vol. 1, sowie einen zweiten Take desselben Tracks. Der Titeltrack wurde Weihnachten '54 zusammen mit Thelonius Monk aufgenommen – der in den Ohren der Jazz-Informierten allmählich vom Verrückten zum Visionär wurde. Auch die Rollins' Session zeigt, wie sehr Davis und Kollegen aufblühen, wenn gesunde Konkurrenz herrscht. Da herrschte eine fast telepathische Verbindung, da spielt Horace Silver mit, der zu dieser Zeit schon zu den ganz Großen zählt. Da ist der Bassist Percy Heath dabei, der sonst beim Modern Jazz Quintet mitmacht und der bei „Oleo“ ziemlich ausrastet. Bei „Aeregin“ nutzt Davis Latin-Rhythmen und Strukturen, die demnächst bei den Sketches of Spain wieder auftauchen würden. Dass auch schon '54 – obwohl es Davis da wegen seiner Heroin-Sucht gesundheitlich ziemlich angeschlagen war – Jazz gemacht wurde, der enorm inspiriert ist, dass er auch da schon als Fusions-Reaktor funktionierte, wird auch auf eines so losen Zusammenstellung deutlich. Bags Groove mag nicht Miles Davis wichtigstes Album sein, schöner 50er Jahre-Jazz ist es allemal.


Sun Ra


Jazz By Sun Ra Vol.1

(Transition, 1957)

Sun Ra and his Arkestra


Super-Sonic Jazz

(El Saturn Records, 1957)

Dies sind die ersten von mindestens 90 Alben des Keyboarders, Komponisten und Exzentrikers Sun Ra. Sun Ra war 1914 als Herman Poole Blount per Geburt auf unserem Planeten gelandet und nannte sich nach einem geheimnisvollen, nie klar datierten religiösen Erweckungserlebnis samt Trip zum Saturn nur noch Sun Ra. Fakt war jedenfalls – nach diesem Trip verschrieb er sich komplett der Musik, verweigerte den Militärdienst, kam in den Knast, in die Irrenanstalt, begleitete diverse Blues-Musiker am Klavier und wurde im Laufe der Jahre immer mehr zu einer Art Institution – die dann im Vorjahr endlich eine eigene LP aufnehmen durfte. Es war ein gewisser Tom Wilson, der seine Musik so beeindruckend fand, dass er ihn seine erste LP machen ließ. Der Produzent und Eigentümer der kurzlebigen Transition Records war als junger Schwarzer selber eine Ausnahme-Erscheinung – er ist derjenige, der später Velvet Underground, Bob Dylan, Zappa, Simon & Garfunkel und Eric Burdon produzieren würde... Aus heutiger Sicht mag Jazz By Sun Ra Vol.1 nicht mehr ganz so far out klingen, wie das 1957 der Fall war – aber selbst jetzt wird man die Exzentrik von Tracks wie „Call for All Demons“, „Brainville“ oder dem „Sun Song“ mindestens an den Titeln erkennen. Und all das wäre nur kurios, wären da nicht die futuristischen Klänge, verbürgen sich hinter den Titeln nicht ausgefeilte Kompositionen und verrückte, aber eben auch tolle Ideen. Das fängt schon beim Opener „Brainville“ an, der mit dem tiefen Hupen von Pat Patricks Baritone-Saxophon erschrickt. Da sind schräge Tonfolgen, die an orientalische Musik erinnern mögen – oder vom Saturn stammen. „Call for Demons“ überrascht mit einem Pauken(!) Solo, überall hupt, klappert, trötet es und Sun Ra legt ein Klavier/ Hammond-Fundament darunter. Jazz By Sun Ra Vol.1 ist mindestens ungewöhnlich - und das mit Absicht. Dass Sun Ra in den Jahren seit seiner „Erweckung“ wie verrückt komponiert und mit seinen Kollaborateuren gespielt hatte, ist überdeutlich. Sun Ra hatte eine Botschaft. Nur verstehen musste man sie. Dieses – wie viele andere Alben von Sun Ra und seinem Arkestra wurde in verschiedenster Form und unter unterschiedlichen Titeln von diversen Labels wiederveröffentlicht – was auch auf das ebenfalls '57 veröffentlichte Album Super-Sonic Jazz zutrifft. Hierfür hatte Sun Ra mit seinem Freund Alton Abraham das streng DIY/schwarze Label El Saturn Records gegründet, auf dem seine Alben in extrem geringen Stückzahlen selbst gefaltet und vertrieben wurden. Die Musik für Super-Sonic Jazz war im Jahr zuvor in Chicago's RCA Studios aufgenommen worden, das Personal entspricht in etwa dem von Jazz By Sun Ra, Vol.1, er hatte einen Stamm von Musikern um sich geschart, der ähnlich ungewöhnlich wie er selber war. Menschen, die vielleicht nicht ganz die Virtuosität von Miles' Begleitern hatten, die aber eine große Sensibilität für Sun Ra's seltsame Song-Strukturen, Ausbrüche und seinen Willen zur freien Improvisation teilten und auch mithalten konnten. Das Arkestra swingt ungemein, die Soli der Saxophonisten Charles Davis und John Gilmore oder vom Trompeter Art Hoyle weisen schon in Free-Jazz Gefilde - und Sun Ra setzt hier verstärkt auf seltsame Sounds aus der Hammond und auf Klavier-Kluster, die selbst Monk normal erscheinen lassen. Wieder stellt der Opener „India“ klar, dass das hier wenig mit dem gewohnten Hard Bop der Zeit zu tun hat. Und mit „Blues at Midnight“ ist ein Track dabei, den Sun Ra noch des öfteren abwandeln würde. Super-Sonic Jazz ist von beiden das strangere Album. Mehr Exotik geht in dieser Zeit nicht.


Anita O'Day


Anita Sings the Most

(Verve, 1957)

Hier meine Wahl für das '57er Vocal-Jazz-Album, Musik in einer Art die in dieser Zeit sehr populär ist, die inzwischen fast vergessen scheint. Ich exponiere Anita O'Day hier, weil ich nicht jedes Jahr der 50er mit einem Artikel über die große Billie Holiday langweilen will – weil Anita O'Day genauso großartige Musik gemacht hat und mit Ella und Billie in einer Reihe steht – weil ihr Leben ähnlich interessant war, wie das der Ikone des Vocal-Jazz. Die 1919 geborenen Anita Belle Colton hatte sich als junges Mädchen in O'Day umbenannt, weil dies ein Slang-Ausdruck für Geld ist. Sie hatte seit Ende der Dreißiger in Big Bands gesungen, war eine der wenigen Frauen, die im Musik-Business dem artigen „Girl Singer“ Image einen selbstbewussten Feminismus entgegensetzte – zumal sie als weisse Frau in der schwarzen Jazz-Szene eine Ausnahme war. Sie war eine großartige Sängerin mit erstaunlichem Rhythmusgefühl und einer eigenen, leicht angerauten Stimme, mit ihren inzwischen fast Vierzig Jahren sehr erfahren und wie Billie Holiday gerne dem Trend als Vocal-Jazz Solo-Künstlerin gefolgt, die sich auf ihren Alben nun von einer kleinen Combo begleiten ließen, wenn sie die üblichen Jazz-Standards interpretierten. Anita O'Day hatte eine massive Heroin-Sucht entwickelt, die sie diverse Male in Konflikt mit dem Gesetz brachte, sie sah Heroin als perfekten Ersatz für Alkohol (… ja, so naiv waren Menschen in den 50ern mitunter...) aber immerhin würde sie später deutlich die furchtbaren Auswirkungen der Sucht und ihren Beinahe-Tod wegen einer Überdosis im Jahr '68 beschreiben. O'Day machte bis in die Neunziger(!) Musik und hatte offenbar nicht nur einen eisernen Willen, sondern auch die entsprechende Konstitution. Gegen Ende der Fünfziger ist ihre Musik in voller Blüte, ihr '57er Alben Anita Sings the Most ist ein großartige Beispiele für eine Art Vocal-Jazz, die seither scheinbar verschwunden ist. ...Sings the Most ist ein intimes Album, die Big Band hat ausgedient und O'Day lässt sich vom erfolgreichen Trio des Pianisten Oscar Peterson begleiten, der mit dem Gitarristen Herb Ellis und dem Drummer Ray Brown ihren Gesang in den Vordergrund stellt. Die Songs dauern selten mehr als drei Minuten, es werden Versionen von Gershwin's „S'Wonderful“ oder von Hart/Rodgers „Bewitched, Bothered and Bewildered“ gegeben und das beeindruckende „Them There Eyes“ ist eine Art Leistungsschau für die Band und Anita's Scat-Gesang. ...Sings the Most ist kurzweilig, knapp über eine halbe Stunde Vocal-Jazz, wie er damals modern war und es ist vor Allem Anita O'Day's Stimme, die begeistert: Nicht mädchenhaft, sondern rau und whiskey-gestählt – dabei dennoch feminin und von einer coolen Mühelosigkeit. Ihr Gesang ist so locker, dass ich mir wünschte, Generationen von Soul/R'n'B-Sängerinnen hätten sich das zum Vorbild genommen – aber das muss man erst einmal können.



The “Chirping” Crickets


s/t

(Coral, 1957)

Es fällt heute kaum noch auf – aber dieses Album läuft unter dem Namen einer Band – es trägt nicht den Namen des Sängers der „Grillen“. The „Chirping“ Crickets ist das erste - und neben den nachfolgenden Solo-Album - auch das einzige Album, das Buddy Holly in seinem kurzen Leben veröffentlichen würde, und als es veröffentlicht wurde, war er Teil einer Band, die am Erfolg dieses Albums den gleichen Anteil hatte wie er. Die Crickets hatten in den Monaten vor dem Album-Release mit den Singles „That'll Be the Day“ und „Oh Boy“ die Charts gestürmt, Ersterer war ein Track, den Holly schon zuvor mit den Three Tunes aufgenommen hatte, der in der Version mit den Crickets den Erfolg brachte, Letzterer ist nicht von Buddy Holly verfasst, wird aber heutzutage automatisch mit ihm verbunden. The „Chirping“ Crickets war – wie in dieser Zeit üblich – eine Compilation der Singles, ihrer B-Sides und einiger eilig dazugestellten Tracks – aber Buddy Holly erwies sich als fähiger Songwriter, sein „Not Fade Away“ und sein „Maybe Baby“ sind wegweisende Tracks an der Schnittstelle zwischen Rock'n'Roll und Power Pop. Zusätzlich erwies sich Holly mit seinem „Hiccup“-Gesang auch als stilprägender Sänger. Dazu kommt die glasklare Produktion (und das Mitwirken als Songwriter) von Holly's Produzenten und Manager Norman Petty, die dieses Album letztlich zu einem weiteren Block im Fundament der Rockmusik machte. Man wird einige Tracks dieser LP in einigen Jahren auf den Alben der Stones und der Beatles wiederfinden, und auch Holly's Einfluss auf Musiker wie Elton John oder Elvis Costello ist unbestritten. Noch war er Teil einer Band, aber der Sprung in die Solo-Karriere lag nahe. Dass Holly im folgenden Jahr bei dem tragischen Flugzeugabsturz am „Day the Music Died“ umkam, ist tragisch. Er war gerade mal 22 Jahre alt als er starb.


Johnny Cash


With His Hot And Blue Guitar

(Sun, 1957)

Auch Johnny Cash hatte in den Monaten vor seinem ersten Album einen erfolgreichen Sound entwickelt, auch sein erstes Album – der erste komplette Longplayer eines Künstlers auf dem Ex-Elvis-Label Sun – war eine Zusammenstellung von Singles plus B-Sides und ein paar zusätzlichen Tracks. Und auch dieses Album kann man getrost neben The „Chirpng“ Crickets, die After School Sessions oder Elvis Presley stellen. Johnny Cash hatte zunächst versucht, sich bei Sam Phillips als Gospel-Sänger anzudienen, der aber wollte etwas originelleres – und bekam den ikonisch-simplen „boom-chicka-boom“-Sound von Cash's beiden Begleitern Luther Perkins (g)und Marshall Grant (b), er bekam den da schon granitenen Bariton von Johnny Cash und Songwriting-Qualitäten, die Klassiker in Reihe produzierten. Tracks wie „Cry, Cry, Cry“, „ I Walk the Line“ und „Folsom Prison Blues“ bewegen sich in dem Feld, das Cash in den kommenden Jahrzehnten immer neu beackern würde: Johny Cash With His Hot and Blue Guitar steht im Niemandsland irgendwo zwischen Hillbilly, Country und Rock'n'Roll – und dieses Gebiet wurde zu Johnny-Cash Land. Es mag auch auf diesem Album - wie damals üblich - ein paar schwächere Füll-Tracks geben, aber alles wird durch den Sound zusammengehalten, Cash's Songs neigen sich mal mehr Richtung Gospel („I Was There When It Happened“), mal Richtung Country („The Wreck of the Old '97“) - aber sie stehen immer aufrecht. Nach diesem Album verließ Cash Sun Richtung Columbia und wurde zur Legende, andere Sun Aufnahmen wurden auf der Compilation Sings: The Songs that Made Him Famous und auf etlichen weiteren Zusammenstellungen verbraten. Aber Johny Cash With His Hot and Blue Guitar reicht schon, um zu erkennen, dass der Cash der Fünfziger sich kaum vom altersweisen Cash der 00er Jahre unterscheidet... Im Zeitalter der CD ist das Album natürlich um weitere Singles und B-Sides angereichert, von denen insbesondere „Get Rhythm und „Hey Porter“ die Anschaffung wert sind.


Gene Vincent


Gene Vincent & The Blue Caps

(Capitol, 1957)

Gleich vorab: Auch die anderen vier LP’s die Gene Vincent in den Fünfzigern veröffentlichte, sind fraglos famos, doch ist es seine Zweite, Gene Vincent & The Blue Caps, die sein Außenseiter-Image als der mürrische, hartgesottene Rebell am eindrucksvollsten mit musikalischem Leben füllt. Er hatte - wie beim Review zum Debüt beschrieben - tatsächlich schon üble Schläge erlitten, hatte 1955 – damals noch bei der Navy - einen schweren Motorradunfall gehabt, und musste seitdem mit Schmerzmitteln leben, da sein linkes Bein zerschmettert worden war. Mit seiner Band hatte er mit „Be-Bop-A-Lula“einen ersten großen Hit gehabt und jetzt, beim zweiten Album, waren Vincent und seine Blue Caps auf dem Zenith ihres Könnens angelangt. Vor allem Gitarrist Cliff Gallup glänzt auf diesem Album mit seinem innovativen, quecksilbrigen Spiel, mit dem er hunderte von Gitarristen in den folgenden Jahrzehnten beeinflusst hat (siehe etwa Jeff Beck...). Und auch Gene Vincent selbst war gesanglich in Hochform, und das Material auf diesem Album hochklassig, von Vincents eigenem “Cat Man” über Paul Peek's “Pink Thunderbird” bis zur tiefempfunden gesungenen, glasklar produzierten Version des Delmore Brothers Klassikers “Blues Stay Away From Me”. Zitieren wir einfach die Liner Notes:” Urged on by his Blue Caps, Gene rocks and rolls at his mightiest in songs just right for his exciting vocal style, No kidding". Der einzige Wermutstropfen war, dass Cliff Gallup die Band nach diesem Album endgültig verließ. Er war schon bei den Aufnahmen nur Gast gewesen, das ständige Touren ließ sich für ihn als Ältestem in der Band nicht mehr mit dem Familienleben vereinbaren – er kehrte tatsächlich bis zu seinem Tod 1988 in seinen „normalen“ Beruf zurück und spielte nur noch hobby-mäßig Gitarre!


Eddie Cochran


Singin' To My Baby

(Liberty, 1957)

Dass Eddie Cochran nie die gleiche Reputation und Berühmtheit wie die anderen Rock'n'Rollern der 50er Jahre erhalten hat, ist sicher verwunderlich. Es lag möglicherweise zum Einen daran, dass er mit seinem Arbeitsethos nicht so rebellisch schien – obwohl er ein weit kompletterer Musiker war als all die anderen – vielleicht liegt es auch daran, dass er kurz nach seinen ersten großen Charts-Erfolgen 1960 viel zu früh bei einem Autounfall ums Leben kam – aber das hat er doch mit Buddy Holly gemein...? Es dürfte aber sicher so sein, dass er schlicht ein-zwei Jahre zu spät dran war mit seinem Rock'n'Roll. Auf seiner ersten (und einzigen zu Lebzeiten veröffentlichten...) LP Singin' To My Baby jedenfalls steht schon all das in voller Blüte, was er sich in den Jahren zuvor mit seinem Namensvetter Hank Cochran unter dem Moniker „Cochran Brothers“ (wobei dieser nicht mit ihm verwandt war !) erarbeitet hatte. Cochran war ein formidabler und innovativer Gitarrist, ein ideenreicher Produzent des eigenen Materials und als Sänger fast so gut wie Elvis, und er hatte die meisten Stücke auch noch selber komponiert: Dabei kamen veritable Hits heraus wie „Sittin' on the Balcony“ oder das ominöse „Twenty Flight Rock“ (zunächst nicht auf diesem Album enthalten...) welches die beiden Teenager John Lennon und Paul McCartney in ihrer Schulzeit zusammengeführt haben soll. Ganz unabhängig von jeder Story genügt sich Singin' To My Baby selber, ist es ein Album, das neben den oben genannten Klassikern mühelos bestehen kann – weil es einen distinktiven, zeitlosen Sound und großartige Songs auch neben den Hits hat und so als komplettes Album funktioniert. Man höre nur das Gitarrensolo auf „One Kiss“. Timeless.



Little Richard


Here’s Little Richard

(Specialty, 1957)

Richard Wayne Penniman aka Little Richard aus Macon, Georgia war - verglichen mit Jerry Lee Lewis etwa, dessen Album/Hit-Compilation 1958 erscheinen wird - vielleicht nicht der wildeste, ganz bestimmt aber der lauteste Rock'n'Roller der Fifties. Begonnen hatte er seine Karriere ein paar Jahre vorher als urbaner Blues-Sänger, aber bald er reicherte seine Musik mit Soul- und R&B-Elementen an, bevor er '55 mit „Tutti Frutti“ seine erste – wahrlich bahnbrechende - Single veröffentlichte. Wie alle Rock'n'Roll-LP's dieser Zeit ist natürlich auch Here's Little Richard - und seine beiden Nachfolger auf dem Specialty Label - eine Compilation aus den seit '55 aufgenommenen, und auf Singles und EP's veröffentlichten Hits. Da ist natürlich „Tutti Frutti“, das ist „Long Tall Sally“ oder „Rip it Up“ sowie ein paar eigens für die LP aufgenommenen Filler wie etwa „Miss Ann“ oder „Jenny Jenny“ - die mehr Furor und Eigenleben haben, als ganze LP's so mancher anderer anämischer Konkurrenten. Womit keineswegs nur ein Leichtgewicht wie Pat Boone gemeint ist. Little Richard's rauer Gesang und sein wildes Bühnengebaren fand etliche Nachahmer von James Brown bis Paul McCartney. Allerdings war sein Stil von Beginn an weniger selbstzerstörerisch, positiver und kontrollierter als der von Jerry Lee Lewis – auch wenn er wilder auf das Piano eindrosch als jener. Und er mag seinerzeit in den USA gnädiger beurteilt worden sein, da er 1957 zu Gott fand, nachdem die Russen zum Mond flogen und er einen Beinahe- Flugzeugabsturz erlebt hatte... Ende '57 jedenfalls brach es jäh zusammen, das Powerhouse des Mr. Penniman, was dieses und die folgenden Alben zu Rückschauen macht. Auf Here's Little Richard und den beiden vom erfreulichen Ergänzungen von '58 und '59 war die Lyrik noch nicht sehr christlich, was Penniman selber zunächst nicht sonderlich zu schätzen wusste, da er zu Gott gefunden hatte – vielleicht zum Schaden der Welt.


Chuck Berry


After School Sessions

(Chess, 1957)

Auch hier soll erwähnt werden: Als Chess zuguterletzt diese LP veröffentlichte, war Chuck Berry schon seit drei Jahren beim Blues-Label unter Vertrag und hatte etliche Single Hits hinter sich - und er hatte mit diesen Hits tatsächlich auch als erster die Gitarre zum Lead-Instrument gemacht – womit der Ausdruck „Erfinder der Rockmusik“ tatsächlich Bedeutung bekommt... Muddy Waters hatte den zu der Zeit schon über 30jährigen Songwriter zum Chicago'er Blues Label geholt und so ist die After School Session – genau wie die anderen hier besprochenen Alben – eine Best Of Compilation. Ein Punkt, der diese LP im Vergleich zu anderen hervorheben mag, ist ihre stilistische Bandbreite: Blues, Country, Calypso, Gospel, Rock'n'Roll,– Berry vermischte alles, und für alles hatte er die passenden Songs parat. Dazu traf er mit seinen Texten und seiner Musik auch noch einen Ton, von dem sich junge Weisse begeistern ließen! Das war in einer Zeit, in der die Rassentrennung insbesondere im Süden der USA faktisch noch bestand, nicht selbstverständlich. Und dann sind da natürlich die Songs: Die Singles: „Too Much Monkey Business“, der „Brown Eyed Handsome Man“, der quasi Titelsong „School Day (Ring Ring Goes the Bell“), dazu etliche kaum weniger beeindruckende Songs wie die Höllenfahrt „Downbound Train“ oder das feine Country/Blues Instrumental „Deep Feeling“. Sein erster Hit, das unsterbliche „Maybelline“ fehlt auf der Original-LP und ist auf den Re-Releases hinzugefügt. Die Tatsache, dass er mindestens als Mit-Erfinder des Rock'n'Roll gilt, sei mit diesem Album zementiert und die Anzahl von Musikern, die er als innovativer Songwriter, Gitarrist und Performer beeinflusst hat – von Keith Richards über Hendrix bis Stevie Ray Vaughan – ist Legion. After School Sessions sollte seine beste – weil am besten durchhörbare - reguläre LP bleiben. Gleichauf steht sie für mich nur noch neben der Compilation Chuck Berry is on Top von 1959. Ich zitiere - wie so oft in diesem Artikel - Rolling Stone Autor W. Doebeling: „Chuck Berry erstmals auf LP als Dichter und Riffmeister.“


B.B.King


Singin' the Blues

Crown, 1957

Zu guter Letzt noch ein Album, das den Blues als Gattung vertritt - und auch dieses ist eine Compilation: Singin' the Blues war nach Jahren mit Singles und EP's der erste Longplayer von B.B.King. Hier war es das Crown Label, das Tracks aus den Jahren 1951 bis 1956 auf einem Album versammelte. Da war B.B. King noch ein junger Sänger und Gitarrist mit einem wunderbar lyrischen Gitarrenton, einem innovativen Stil und einer Art von Blues, die eher sanft und soulig als urban (wie Muddy Waters) oder gar archaisch (wie John Lee Hooker) klang. Fünf Chart-Topper aus den vorherigen Jahren sind auf der LP enthalten (auf CD natürlich um diverse Tracks erweitert): „Bad Luck“, „Everyday I Have the Blues“, „Crying Won't Help You“, „Sweet Little Angel“... und auch – wie in den vorher beschriebenen Fällen - einige Non-Single Tracks, die mithalten können: „You Upset Me Bay“ zeigt exemplarisch was seine Musik so unwiderstehlich macht. Der Blues hier ist nicht mean, da stehen ebensoviel Soul und Lebensfreude wie Traurigkeit neben einanader - und B.B.Kings Gitarrenspiel war für die damalige Zeit revolutionär. Er spielt fast keine Chords, dafür umspielt er die Melodie, mal verzerrt, mal klar, aber immer rhythmisch und melodisch – gespeist aus den Tatsachen, dass er weder Noten lesen konnte, noch singen und gleichzeitig spielen konnte... Und King's Stimme war in diesen jungen Jahren (1957 war er 32 Jahre alt) in Höchstform. Auf Singin' the Blues hört man, wo der Ruhm, der B.B. King in den folgenden Jahrzehnten begleiten sollte, seine Wurzeln hat. Und die folgenden „regulären“ Alben übrigens sind kaum schlechter...