Die europäische Gesamtwährung „Euro“ wird eingeführt und die EU wird um 10 Mitglieder erweitert. In Mitteleuropa kommt es an Elbe und Donau durch Hochwasser zu riesigen Überschwemmungen, die Hunderttausende kosten . In Afghanistan wird Hamid Karsai „fast“ demokratisch zum Staatsoberhaupt gewählt, das Land selber aber ist noch weit vom Frieden entfernt und teilweise immer noch in der Hand der Taliban. Aus Sympathie zum Terroristen Osama bin Laden fliegt in Tampa in Florida ein 15-jähriger mit einem Kleinflugzeug in ein 42-stöckiges Bankgebäude. Er ist das einziges Opfer dieses Selbstmordattentats. George W. Bush entpuppt sich immer mehr als unfähiger US Präsident, dessen Reaktionen auf Anfeindungen der USA von den erzkonservativen Republikanern seiner Regierung vorgegeben werden. Die Saat für den Terror der kommenden Jahre geht damit in diesen Jahren auf. Alice in Chains' Sänger Layne Staley, John Entwistle (The Who), Joe Strummer von the Clash und Dee Dee Ramone sterben. Viele etablierte Bands und Musiker warten mit hervorragenden Platten auf. Wilco veröffentlichen ihr Meisterwerk auf eigene Verantwortung zunächst ohne Label, die Flaming Lips bleiben auf ihrem hohen Niveau, die New Yorker Rock-Szene ist lebendig wie seit Jahren nicht mehr (Interpol) und bringt uns Post-Post Punk aus Amerika - und aus England kommt postwendend die Antwort (The Libertines). Bruce Springsteen äußert sich und ist damit der erste wichtige amerikanische Musiker der explizit 09/11 behandelt. Johnny Cash's vierter Teil der American Recordings erscheint. Es soll sein letztes Album zu Lebzeiten sein. Freak-Folk beginnt seinen kurzen Hype mit Devendra Banhart und anderen, an den Randbereichen der Rockmusik – wie im Black Metal oder im Noise-Bereich ebenso wie in der elektronischen Musik und im Drone erscheinen hervorragende Alben. Und natürlich gibt es immer noch einiges im Radio-Pop Bereich, das die Medien und die Verkaufs-Charts beherrscht, mich aber eher anwidert. Da macht zum Berispiel Tanzäffchen Justin Timberlake sein Solo-Debut, und Millionen finden das gut, oder da ist der schreckliche Erfolg von Nickelback - die sind 2002 mit Singles ganz groß, und ich verstehe das nicht – genausowenig wie Schmusesänger Ronan Keating, Shania Twain's Country-Pop, Creed's Rrrrock, oder Nelly's und Ashanti's Plastik R'n'B.... die alle werden hier kein Thema sein.
Wilco
Yankee Hotel Foxtrot
(Nonsuch,
2002)
Über Wilco's viertes Album wurde in der Musikpresse seinerzeit viel geschrieben. Die Einen sahen die Gelegenheit für harsche Kritik an der Musikindustrie, die wieder einmal die künstlerische Freiheit beschnitt (und sich damit selbst schadete) indem sie die Band nicht veröffentlichen ließ was sie wollte, Andere sahen in Yankee Hotel Foxtrot den zwanghaften Versuch einer ehemaligen Americana-Band, ihre Entwicklung a la Radiohead Richtung experimentellerer Klänge zu forcieren. Wie sich zeigte, sollte die erste Gruppe recht behalten. YHF ist experimentell, aber es hat zugleich alle Stärken einer exzellenten Band, die schon in den Jahren zuvor die Grenzen der alternativen Countrymusik weit voran geschoben hatte. Auf dem Vorgänger Summer-teeth hatten sie mit den Sounds experimentiert, bei YHF nahm Band-Kopf Jeff Tweedy sein eigenes, Folk-bzw. Americana-informiertes Material komplett auseinander und setzte es mit seiner Band unter Weglassung aller traditioneller Elemente neu zusammen. Dass das funktionierte, ist sowohl den starken Songs als auch den Fähigkeiten der Musiker – insbesondere der Mitarbeit des experimentierfreudigen Sonic Youth Teilzeit - Mitgliedes Jim O'Rourke zu verdanken. So bleiben bei "Ashes of American Flags" nur die spartanischen Vocals und das Feedback der Gitarren übrig – und der Song funktioniert dadurch nicht nur, er hebt regelrecht ab. Die Behauptung, Wilco sind die Radiohead des Alt Country, hebt sie auf ein sehr hohes Podest, aber mit diesem Album verließen sie – tatsächlich ähnlich wie Radiohead es mit Kid A in ihrer Sparte getan hatten – die gewohnten Bahnen ihres Genres. Da war die Begeisterung solch konservativer Beobachter wie Rolling Stone oder Mojo sogar verwunderlich. Und Yankee Hotel Foxtrot ist auch heute noch ein Album, das man ob seiner Songs und seiner klugen Ideen kaum kritisieren will.
Boards of Canada
Geogaddi
(Warp,
2002)
Michael Sandison und Marcus Eoin, die beiden Schotten von Boards of Canada mögen nicht die Erfinder von Ambient sein, da ist Brian Eno, da ist Aphex Twin – aber die Beiden haben dieser Musik nach der Jahrtausendwende einen erstaunlichen Popularitätsschub gegeben. Das Vorgängeralbum Music Has the Right to Children (1998) und die EP Twoism von '95 waren mit ihren Kindermelodien, ihrer verträumten Atmosphäre, mit der Verbindung von Elektronik, Pop, TripHop und Intellekt bahnbrechend – und Boards of Canada äußerst erfolgreich. Aber wie würde der langersehnte Nachfolger jetzt klingen? In der elektronischen Musik, in IDM, Downtempo, Ambient wird es schwierig, aus einer definierten Ecke herauszurücken, ohne unkenntlich zu werden – wenn man nicht, wie Boards of Canada – einen bestimmten Charakter = einen klar erkennbaren Sound hat. Und das war immer der Vorteil, den BoC anderen Acts ihres Genres voraus hatten. Bei aller Elektronik, sie klingen immer seltsam analog – nach den Ruinen alter Computer und Klangerzeuger aus den Siebzigern, nach „Mensch“, sie klingen warm: Siehe „Alpha and Omega“, dessen Sounds an Jean Michel Jarre's Oxygene erinnern, das durchsetzt ist von Stimmen und orientalischen Flöten und den Störgeräuschen alter PC's, Oder das liebliche „1969“ - mit kosmischen Computerklängen und körperlosen Stimmen, die den Chorus trillern, bei „Sunshine Recorder“ berichtet ein Vocal-Sample von blumenartigen Gewächsen, die Tiefseeroboter am Boden des Ozeans fanden, während sich ein TripHop Rhythmus langsam voranschiebt. Geogaddi ist voll solcher Einzelteile, was es doch eigentlich – bei einer Dauer von über einer Stunde – etwas zerrissen klingen lassen sollte. Aber selbst die kurzen Zwischenstückchen von 20 Sekunden bis zu anderthalb Minuten erfüllen ihren Zweck und fügen sich ein wie kleine Sandkörner zwischen Steinen. Es ist kaum noch verwunderlich, dass Eoin und Sandison so einen langen Zeitraum brauchten, um Geogaddi zu erschaffen. All die kleinen Teile zu einem Ganzen zusammenzusetzen, dass einen solchen „Flow“ hat, muss Ewigkeiten gedauert haben.
William Basinski
The Disintegration Loops
(2062,
2002)
Die Disintegration Loops hier in einer Reihe mit Yankee Foxtrot Hotel und anderen „Rockmusik“ Alben zu besprechen, mag seltsam erscheinen. William Basinski ist eher „bildender Künstler“ als „Rockmusiker“. Er erschafft Klangräume – er baut Klanginstallationen und bewegt sich dafür im Bereich der seriellen Musik, des Minimalismus, der Tape-Musik – was aber wiederum seit Brian Eno's Ambient Alben – seit seiner Definition von Musik als Einrichtungs - Accessoir in bestimmten Kreisen der „pop(uläre) Musik - Hörenden“ wohlwollend wahr-genommen wird. Seine Musik ist natürlich avantgardistisch, sie hat mit dem, was Wilco oder die Libertines machen wenig bis gar nichts zu tun, aber der oben genannte Begriff „populäre Musik“ erfasst seit den vergangenen 50 Jahren ein so weites Feld, dass es Sinn macht, wenn man auf diesen Bereich hinweist – zumal bald andere, durchaus auch vergleichbare Alben von Musikern wie Robert Rich oder Max Richter - aber auch die Drone-Epen von Earth oder Birchville Cat Motel ein ähnliches Feld beackern. Die Fakten zu den Disintegration Loops (... von Vieren ist dies der erste Teil...): Der Komponist William Basinski wollte ein paar Tonbänder mit Loops aus dem Jahre 1982 digitalisieren, und musste feststellen, dass beim „abrollen“ der Tapes die Oberfläche der Bänder abblätterte, und die Musik sich so immer mehr in ihre Fragmente auflöste. Die pastoralen Klavier-Melodiebögen „desintegrierten“ in eine immer geisterhafter wirkende Ambient-Struktur (...und sind sie somit auch ein Zufallsprodukt - wie die Idee Brian Eno's zu seinen Ambient-Alben, die ihm kam, als er – nach einem Unfall ans Bett gefesselt - nicht in der Lage war das leiernde Tape im Kassettenrekorder zu stoppen - und da auf den Gedanken kam, Musik zu verfremden). Basinski bemerkte den Reiz dieser Klänge im Sommer 2001, und als er ihnen am dubiosen 11.09.2001 auf dem Dach seines Appartements in Brooklyn lauschte, rasten die beiden von Terroristen gesteuerten Flugzeuge in die nicht weit entfernten Twin-Towers des World Trade Centers. Dieses Ereignis verlieh den Loops einen fatalen Subtext, der sie inzwischen bei Ausstellungen über 09/11 in New York zur beliebten Sound-Tapete machen. Tatsache ist allerdings auch, dass ich, als ich die Disintegration Loops erstmals hörte, von diesem Subtext nichts wusste, mich aber dem Reiz der beiden 63 – bzw. 11 Minuten langen „Stücke“ nicht entziehen konnte. Mir schien es, als wäre es jemandem gelungen, das vergehen von Zeit hörbar zu machen – und zwar auf eine zugleich traurige, unheimliche wie ermutigende Weise. Die zu Beginn hörbare Melodie löst sich langsam, fast unmerklich (über 63 Minuten ! ) in Ihre Bestandteile auf, man „sieht“ buchstäblich, wie sie zu Staub zerfällt. Das macht so manchen potentiell aggressiv, mich hielt es in andauernder Spannung, nach einer gewissen Zeit wusste nur noch ich selber, was zu Beginn zu hören war, jeder der neu hinzukam, hatte die ursprüngliche Schönheit und Ruhe der Klänge nicht mehr vor Augen (...bzw. Ohren...), ich aber verfolgte gebannt, wie gleichsam vom ursprünglichen Blatt eines Laubbaumes allmählich das fragile Gerippe übrig blieb, das sich dann auch noch langsam zersetzte. Das war wunderbar - Ich wollte mehr – und bekam noch die Teile II bis IV.
The Flaming Lips
Yoshimi Battles The Pink Robots
(Warner
Bros., 2002)
Anstatt zu versuchen, das leuchtende Meisterwerk The Soft Bulletin zu wiederholen, vereinfachten die Flaming Lips auf dem Nachfolger Yoshimi Battles The Pink Robots ihren Sound und schafften es zugleich variabler als zuvor zu klingen. Das Album hat eine beseelte, fließende Schönheit, die auch bei solchen Meilensteinen wie Astral Weeks, Pet Sounds oder Revolver findet. Aber Sound und Konzept sind originär Flaming Lips'. Ihre Fusion aus elektronischen Texturen und purem Pop mag nicht „neu“ sein, aber diese Art von Musik wurde selten so meisterhaft und zugleich exzentrisch ausgeführt wie auf Yoshimi.... Hier werden philosophische Betrachtungen, die verdrehte Pop-Sensibilität der Lips und ihre kindliche Experimentierlust zu perfektem psychedelischem Pop verschmolzen. Die Single „Do You Realize“ ist traurig und positiv zugleich indem sie die nackte Tatsache der Sterblichkeit in Engels-Chöre und Wolken aus Streichern kleidet. Beim überbordenden Chaos von „Yoshimi Battles the Pink Robots, Pt. 2“ donnern mächtige Drums gegen den Gesang des Japaners Yoshimi P-We an – seines Zeichens Mitglied der Noise-Veteranen und Brüder im Geiste Boredoms. Und der wunderschöne Opener „Fight Test“ zitiert Cat Stevens' „Father and Son“. Angeblich ist die Grundthematik des Album's – die Sterblichkeit und der Kampf ums (Über)Leben beeinflusst von der Korrespondenz mit einem jungen, krebskranken japanischen Fan – was einerseits nicht überraschen würde, wenn man sieht, aus welchen Quellen die Flaming Lips ihre Inspirationen ziehen, was andererseits aber dem seltsam psychotischen Image, hinter dem sich insbesondere Bandkopf Wayne Coyne versteckt, widersprechen würde – er selber verneinte die Frage nach einem Konzept immer wieder. Letztlich ist es ja auch egal, denn Yoshimi Battles the Pink Robots ist unabhängig davon ein Meisterwerk des modernen psychedelischen Rock.
Sonic Youth
Murray Street
(DGC,
2002)
Der in dieser Zeit omnipräsente Jim O'Rourke ist möglicherweise der Hauptgrund für die Wiedererstarkung der Indie-Institution Sonic Youth zu Beginn der 00er Jahre. O'Rourke hatte schon den Vorgänger NYC Ghosts & Flowers produziert, man verstand sich gut, und nun verkündeten die vier Insdie-Veteranen, dass er ihr neues, fünftes Mitglied sei... - und das ist dann auch eigentlich das Neueste an Murray Street – denn letztlich kann man zu Recht sagen, dass Sonic Youth hier zum Sound und zum Konzept ihres Meisterwerkes Daydream Nation zurückkehrten. Natürlich mit moderneren Mitteln, mit den Texturen, die ein erfinderischer Geist wie Jim O'Rourke unterlegen kann, mit der zusätzlichen Erfahrung und meinetwegen auch Altersweisheit, die sie seit 1988 erlangt hatten – aber die „Maschine“ Sonic Youth und ihre inzwischen traumwandlerische Fähigkeit, bei Improvisationen aufeinander einzugehen, macht eine eventuelle Routiniertheit in diesem Falle wett. Und ich denke, sie hatten Nichts mehr zu beweisen, waren locker und zugleich unter Spannung. Die Aufnahmen in New York hatten vor 09/11 begonnen, waren durch das Attentat auf das World Trade Center und nachfolgende Benefiz-Auftritte unterbrochen, und vielleicht ist das Gedenken an die Opfer und die Trotzreaktion auf den Anschlag auf die Kultur, für die auch Sonic Youth stehen, ein Grund für die Energie in der Musik auf Murray Street. Mit „Karen Revisited“ wird dem Idol Karen Carpenter ein weiteres mal gehuldigt und zugleich ein Bogen in die eigene Vergangenheit geschlagen (...siehe „Tunic ( Song for Karen)“ vom '90er Album Goo...). Und mit „Rain on Tin“ ist einer ihrer stärksten Songs überhaupt dabei – inklusive Television/ Marquee Moon Gitarrensolo. Ja – sie benutzten Mittel, die man von Ihnen kannte, aber sie taten das mit großer Effektivität und Energie. So ist Murray Street nach ein paar - relativ – schwachen Alben eine Rückkehr zu alter Form. Von dieser Art Musik gibt es nie zu viel..
Interpol
Turn On The Bright Lights
(Matador,
2002)
Dies ist die Zeit, in der der Post Punk der Beginnenden 80er der angesagte Scheiß ist, die Zeit, in der Bands wie Joy Division, Gang of Four, PIL etc. von einem jungen Publikum wiederentdeckt werden... oder genauer: Deren Sound wird wiederentdeckt und mit den Mitteln moderner Studiotechnik reproduziert. Allerdings sind nicht nur die 30 Jahre Zeitunterschied zwischen Interpol und den im Zusammenhang mit den New Yorkern immer genannten Joy Division eine gewaltige Kluft. Der prägnante Sound Joy Divisions war aus den eingeschränkten Mitteln ihrer Zeit und ihrer Situation beim Factory Label entstanden und nicht nur gewähltes Stilmittel. Die Themen der Songs, die Düsternis und Kälte spiegelten das gesellschaftliche Klima England's in den Thatcher-Jahren wider - Interpol's Düsternis scheint im Vergleich eher Pose als gefühlte Frustration. Die Frage stellt sich, ob diese Tatsachen Turn on the Bright Lights - das Debütalbum von Interpol – disqualifizieren ? Die Antwort muss Lauten: Nein, es mag sein, dass Interpol in ihrem „Design“ konservativ sind, die Ästhetik des Album schreit regelrecht „1980“, auch wenn sie so perfekt ist, wie kein Album der Vorbilder je geklungen hat, aber – ganz einfach – zu jeder Zeit haben sich Musiker auf Vorbilder einer vorherigen Generation berufen. Dass Interpol das nun in solcher Perfektion schaffen, ist auch der Tatsache geschuldet, dass inzwischen durch das Internet jede Musik eingehend studiert werden kann. Und dann: Der New Wave der beginnenden 80er war keine kommerziell vielversprechende oder gar erfolgreiche Musik, sondern ein Wagnis. Um diese Musik ins neue Jahrtausend zu tragen braucht man keinen Masterplan sondern Leidenschaft. Eine Leidenschaft, die man dem Album bei aller Perfektion anhört. Und Interpol beziehen sich auf IHR New York, auf ihre Situation und ihre Geschichte – mit musikalischen Mitteln, die erfreulich reduziert sind, die man kennt, wenn man Joy Division etc kennt, die aber immer sinnvoll und ästhetisch waren, die vielleicht zwischendurch mal aus der Mode kamen, die aber eben jetzt wieder passen. Bands wie die Strokes oder Franz Ferdinand oder The National zitieren ebenfalls – und sie tun es – jedenfalls mit ihren ersten Alben – auf sehr gekonnte Weise, und sich hinzustellen, und zu sagen „die Originale waren besser“ ist angesichts solcher Songs wie „Hands Away“ oder „Say Hello to the Angels“ arrogant, dumm und reaktionär. Ich sage: Was zählt sind die famosen Songs, ist die wunderbar ausbalancierte Atmosphäre. Wären Interpol 32 Jahre früher zur Welt gekommen, so wären sie auch eine der „großen“ Bands geworden. Turn on the Bright Lights mag nicht innovativ sein, aber es ist schön. Das ist eine Qualität, die gerne unterschätzt wird. Dass sie so ernst klingen, macht sie nicht automatisch unglaubwürdig.
The Libertines
Up The Bracket
(Rough
Trade, 2002)
...und hier noch eine Band mit Zitat-Post-Punk. The Libertines gelten als die erste britische Band, die eine ernsthafte Konkurrenz für die „The“-Bands aus den USA darstellten und ihr Debüt Up The Bracket schien die direkte Antwort auf This Is It von den Strokes. Natürlich waren die Vorbilder der Briten eben nicht The Velvet Underground oder die Stooges sondern die Bands der Mod-, Punk- und Brit-Pop-Szene und passender-weise war Mick Jones (einstmals The Clash) der Produzent dieses Albums. Die exzellente Debut-Single „What a Waster“ kam - wie es sich im United Kingdom gehört - zunächst nicht auf das Album, wurde aber auf späteren Versionen hinzugefügt. Die Songs auf Up the Backet zeigen die Libertines zu diesem Zeitpunkt in einer perfekten, aber auch deutlich fragilen Brillianz. Bei „Vertigo“, „Death on the Stairs“ oder dem großartigen „Boys in the Band“ wechselten die Gitarren zwischen Merseybeat und Garagenrock und die Cockney-Vocals klingen mal nach Brit-Pop, mal nach Punk-Snarls. Aber in der Kombination der Elemente war das alles hier zwar postmodern, klang aber auch so herrlich pathetisch und frisch, dass der Hype berechtigt war: Vor Allem weil die Libertines in ihrer gloriosen Energie und Großmäuligkeit – aber auch an Musikalität - an Bands wie The Who The Jam oder die Kinks heranzureichen vermochten. Ob sie dabei beabsichtigten, auf eine „Welle“ aufzuspringen, wage ich zu bezweifeln. Sie klingen so, als könnten sie einfach nicht anders, und es ist meiner Meinung nach eher so, dass sie zur rechten Zeit am rechten Ort waren. Leider brach die Band – insbesondere aufgrund der Unberechenbarkeit von Enfant Terrible Pete Doherty im folgenden Jahr nach einem zweiten, glorreich desolaten Album auseinander. Auf Up The Bracket allerdings sind sie – wie das Insekt im Harztropfen - in aller Perfektion eingefangen.
Broken Social Scene
You Forgot It In People
(Arts
& Crafts, 2002)
Bei Erscheinen dieses Albums war die Broken Social Scene noch völlig obskur – ein Side Projekt der beiden kanadischen Musiker (.. genauer, aus Toronto...) Brendan Canning und Kevin Drew, die 2001 schon ein ambient-artiges Album titels Feel Good Lost veröffentlicht hatten, das mit seinen sanften Klängen keineswegs darauf vorbereitet hatte, was hier kommen würde. Das Rezept zum zweiten Album: Man holt einfach einen ganzen Haufen Musiker/Freunde aus der regen Toronto'er Indie-Rock Szene zusammen - gerne mit ganz unterschiedlicher musikalischer Ausrichtung - und versucht das Beste aus Allem, was diese Gruppe zusammenbraut zu destillieren. Ein Konzept, das ganz übel in die Hose gehen kann, hier aber vortrefflich gelang. Die ersten beiden Tracks erinnern noch an das erste Album des Projektes, der Opener kommt gar ohne Gesang aus, aber spätestens bei „Stars and Suns“ wird klar, dass hier ganz groß Pop 'drauf geschrieben wird. Die Songs bekommen Stimme und Chorus, der Rhythmus wird schneller - ein bisschen ist You Forgot It In People so etwas wie eine Compilation voller wohlüberlegter und -ausgeführter Beispiele für kraftvollen Indie-Rock – von noisy Blowouts („Almost Crimes“) über Improv-Jams („Looks Just Like The Sun“) bis zu delikaten Pop-Tunes wie „Anthems For A Seventeen-Year-Old Girl“'. Dass die Zehn+ Teilnehmer an diesem Projekt sich nicht gegenseitig die Show stehlen, mag an gegenseitiger Achtung liegen, oder an Freundschaft, oder vielleicht sind die beiden Begründer von Broken Social Scene kluge Diktatoren, aber bei den Sessions hat jeder selbstlos seinen Beitrag geleistet, und es ist sogar so, dass sich im Nachhinein kaum verifizieren ließ, Wer Wann Was gespielt hatte. Man höre nur, wie die Stimmen von Kevin Drew und Leslie Feist beim „Hit“ „Almost Crimes“ umeinander kreisen – da ist kein Versuch den anderen zu übertreffen, da wird dem Song gedient. Selbst bei mäandernden Jams wie „Shampoo Suicide“ - einem experimentell Song bei dem Sänger Kevin Drew scheinbar in Stimmen spricht - hält das Musik-Kombinat die Spannung hoch. Und da ist Sängerin Emily Haines – die bald eine recht erfolgreiche Karriere mit ihrer Synth-Post-Punk-Pop Band Metric hinlegen würde – die der Musik mit ihrer luftigen Stimme eine gewisse Sexyness verleiht. Und da ist natürlich auch die oben genannte Leslie Feist, die hier erstmals auf sich aufmerksam machte und bald eine veritable Karriere als moderne Indie – Singer/ Songwriterin machen würde. You Forgot it in People ist das perfekte Beispiel dafür, dass eine große Menge an Musikern ihre Talente wie verschiedene Variablen zu einer Gleichung zusammenführen können, die tatsächlich aufgeht. Der Reiz dieses Albums ist schwer zu beschreiben: Es ist ja eigentlich nur Indie-Rock – inzwischen ein sehr abgenutzter Begriff – aber dieser ist so ausgezeichnet gelungen, dass er weit aus der Masse herausragt.
Isis
Oceanic
(Ipecac,
2002)
Die Bostoner Band Isis war Ende der Neunziger als eine Art Neurosis Rip-Off gestartete. Keine Häme - die Hardcore Innovatoren hatten es verdient, dass sich jemand an ihrem Sound orientiert und abarbeitet, zumal Isis doch schon bald die notwendige Abzweigung vom Sludge/ Hardcore-Pfad fanden. Das 2000er Debüt Celestial klang noch etwas hölzern, hatte aber durch elektronische Störgeräusche schon seinen eigenen Charakter, aber dann kam der Wechsel zum experimentellen Noise-Label Ipecac des Hyperaktiven Mike Patton - und damit der Start in stilistisches Neuland – wobei auch hier gilt – ganz Neu ist alles, was hier zusammenkommt nicht. Die einzelnen Bestandteile kennt man: Von Neurosis, von den Melvins, von den schottischen Post-Rockern Mogwai, meinetwegen auch von Grindcore-Veteranen wie Napalm Death – wenn man deren Singles auf 33 1/3 abspielen würde... aber die Kombination lässt etwas entstehen, das man nur Post-Metal nennen kann. Diese Mischung und die Intensität, in der die Sounds auf Oceanic gegen die Klippen brandet ist neu. Das maritime Thema mag im Metal gern genommen werden, aber Isis gaben all dem einen intellektuellen Anstrich und vor Allem: Sie hatten die Songs, die Kraft und die Technik, um den Ozean aufbranden oder still da liegen zu lassen, ohne dass der Gedanke an eine Flaute aufkommt. Laut Aussage des Bandkopfes Aaron Turner entstanden die Songs in komplizierten Probe-Sessions, ein Weg, der ihnen dank des Labels eröffnet war, das sie einfach manchen ließ und das Endprodukt unzensiert veröffentlichte. Die Typologie dieser Songs wird schon mit dem Opener „The Beginning and the End“ vorgegeben: Hardcore Brüllgesang wechselt sich mit langsamen, atmosphärischen Passagen ab, das Schlagzeug klopft wie von Steve Albini produziert, der Metal-Kenner wird die Riffs bewundern, der Jazz-Liebhaber kann die rhythmischen Komplexitäten einfach nicht verleugnen, und all das wird von Melodiebögen zusammengehalten, die sich auf kluge Weise hier und da wiederholen. Isis mögen aus alten Quellen geschöpft haben, aber der „Blend“, der dabei herauskam, war nicht nur sehr wohlschmeckend, sondern auch so neu, dass bald Nachfolger wie Pelican oder Rosetta sie wiederum nachahmen wollten.
Beth Gibbons & Rustin' Man
Out Of Season
(Go
! Beat, 2002)