Montag, 26. November 2018

2010 - Eyjafjallajökull, Deepwater Horizon, Erdbeben in Haiti – Joanna Newsom bis Deerhunter

Ein weiteres Jahr der Naturkatastrophen: Bei Überschwemmungen in Pakistan kommen Tausende um, in Russland führt Trockenheit zu Wald- und Torfbränden, in Polen kommt es am Flußlauf der Oder zu Überschwemmungen. Der Vulkan Eyjafjallajökull in Island bricht aus und legt den Flugverkehr europaweit lahm und bei einem katastrophalen Erdbeben im bettelarmen Haiti kommen 220.000 Menschen um und Eine Million wird obdachlos. US-Präsident Obama bekommt von seinen politischen Widersachern immer mehr Gegenwind, was die Politik in seinem Land lähmt, die Weltwirtschaftskrise allerdings schwächt sich ab, Nord- und Süd Korea geraten wieder aneinander, der islamistische Terror in Afghanistan, im Irak und Pakistan ist ungebrochen, im Golf von Mexiko explodiert die Teifsee-Ölbohr-Plattform Deepwater Horizon und verseucht das Meer in noch nie da gewesenem Maß - die Welt ist unruhig. Don Van Vliet (Captain Beefheart) stirbt, Mark Linkous (Sparklehorse) begeht Selbstmord , Solomon Burke und die wunderbare Kate McGarrigle sterben. Die Tendenz zu immer weniger physischen Tonträgern und immer mehr Downloads ist ungebrochen, dabei gibt es doch immer wieder und immer noch Künstler, die als komplette Werke gedachte Alben (die 3-CD Box von Joanna Newsom) veröffentlichen. Shoegaze, Psychedelik, Surf-Pop, Girl Group-Pop und Noise füren zu interessanten Kombinationen. Irgendwie scheint jeder irgendetwas aus verschiedensten Phasen der Popmusik zitieren zu müssen, mit psychedelischen Wolken versehen zu müssen, um das Ganze dann mit der allgegenwärtigen Elektronik zu vermischen. Richtig neu ist so nichts mehr, aber die Kunst des Zitierens führt zu immer neuen und gelungenen Ergebnissen. Kanye West macht sein bestes Album bislang, Arcade Fire reduzieren ihr Pathos, Grime, Dub-Step, Elektronische Musik, aber auch Folk, ob Freak- oder nicht, und purer Pop sind mit positiven Beispielen dabei. Nichts ist richtig „neu“, aber das Alte ist gut. Und es gibt natürlich solche Phänomene wie Lady Gaga, die heuer mit „Pokerface“ oder „Alejandro“ und einem dazugehörigen Album und diversen Verkleidungen die Charts stürmt, oder Shakira, die hauptsächlich super mit dem Hintern wackelt, oder David Guetta, von dem ich gar nicht weiss, was er macht – aber ist auch egal. Die Charts eben – in diesen Zeiten frei von Musik, die intensiveres Zuhören lohnt. Angefüllt mit Unterhaltungsmusik für den Moment – und das ist ja auch ok so.

Joanna Newsom


Have One On Me

(Drag City, 2010)

Anders,- aber anders Anders als ich es vermutet hätte. Joanna Newsom's Ys - vier Jahre zuvor erschienen - war sehr strukturiert, durch die delikate Orchestration von Van Dyke Parks und die langgezogenen Spannungsbögen in den wenigen Songs hatte das Album einen klaren Charakter und man hätte nicht erwartet, dass sie noch einmal so ausladend werden würde, ohne sich zu übernehmen - aber sie tat genau das und machte dabei ein weiteres Mal alles richtig (Schließlich ist sie ja Everybody's Indie-Folk Darling...). Das neue Album Have One on Me ist amorph, ellenlang, es mäandert vor sich hin – und es überwältigt durch genau diese Eigenschaften - und durch seine emotionale Direktheit. Müsste ich Musikerinnen und ihre Stilistik zum Vergleich heranziehen, so fielen mit Joni Mitchell's Art-School Chic in Verbindung mit der Erdigkeit Carol King's ein, dazu die grelle Brillianz einer Dagmar Krause (Sängerin bei Slapp Happy, falls man sie nicht kennt..) und natürlich die barocke Kunst einer Kate Bush, deren Individualismus Newsom ja sowieso teilt. Sie springt auf diesem Album nun von Appalachian Folk über Country, Soul und Gospel bis zum Pop, und sie hat das berechtigte Selbstvertrauen, all diese Elemente unter ihren ureigenen Hut zu bringen, denn ihre Stimme, ihre Art Songs zu schreiben und ihre Arrangements halten Alles problemlos zusammen. Diesmal spielt das Klavier neben der Harfe eine gleichberechtigte Rolle, und dann sind da wieder Songs wie der elf-minütige Bluegrass/Blue Eyed Soul-Titeltrack, das wunderschöne „Go Long“ oder der Kammerpop von „Kingfisher“ oder das Joni Mitchell-hafte „Soft as Chalk“... Die Summe all seiner Teile macht Have One On Me zu einem der fraglos besten Alben 2010. Und das trotz einer Dauer von über zwei Stunden – etwas, an dem andere Künstler gescheitert wären.

Joanna Newsom - Soft as Chalk 


Kanye West


My Beautiful Dark Twisted Fantasy

(Roc-A-Fella, 2010)

...und das ist jetzt eines der fragwürdigsten und zugleich tollsten Alben in der Geschichte des... Rap? Der Rockmusik? Egal. Kanye West hatte sich in den letzten Jahren immer mehr zum durchgeknallten Angeber mit erstaunlichen Fähigkeiten entwickelt. Seine Egomanie in Verbindung mit seiner Verehrung für fragwürdige Ideen (und Politiker - siehe Trump... aber das kommt ja erst noch) macht ihn und alles was er macht immer wieder schrecklich unsympathisch. Aber sympathische Genies gibt es kaum – Picasso, Hemingway, Mozart – sie alle sollen auch ziemliche Idioten gewesen sein. Und mit My Beautiful Dark Twisted Fantasy gab Kanye seiner Selbstüberschätzung doch tatsächlich Substanz. Diese Substanz glänzt und glitzert natürlich, … Fantasy ist eine Ansammlung all dessen, was im HipHop und im Neo-Soul überhaupt möglich ist. Die Gästeliste ist so illuster wie nur irgend möglich: Sie reicht von den Pop-Sternchen Rihanna und Nicki Minaj über gestandene Rap-Stars wie RZA, Raekwon, Kid Cudi, Pusha T und Jay-Z bis zum Soul-Meister John Legend und zum Indie-Held Bon Iver – und Alle packt Kanye unter einen passenden Hut. Die Produktion auf diesem Album ist so perfekt, dass jeder Sampel, jeder Beat vor Perfektion und Kraft platzen will. Dass Kanye selber nicht einmal der beste Rapper unter der Sonne ist, ist nicht nur zu vernachlässigen – nein – das ist AUCH richtig so. Oft sind HipHop-Alben uneben – haben die zwei, drei Über-Tracks und den üblichen, etwas mittelmäßigen Rest. Nicht so hier: Die „Songs“ - und so muss man sie nennen - sind vom Ersten bis zum Letzten hervorragend „komponiert“, abwechslungsreich, interessant, spannend. Die eingesetzten Samples sind vom Feinsten, mitunter wird ungewöhnliches Material gewählt - „21st Century Schizoid Man“ von King Crimson wird eingebaut, Black Sabbath werden gesampelt, diverse Soul-Künstler – und alles wird in einen komplett neuen und eigenen Zusammenhang gestellt. Dass Kanye alle vier Singles mit heftigem Medien-Hype veröffentlicht, (Kurzfilm zu „Runaway“), das komplette Album wird mit zusätzlichen Tracks zum Download auf der extra dafür geschaffenen GOOD Friday Website gehyped. Und dass all das egal ist, dass all der Hype und die Luxus-Ausstattung dem Album nur nutzt, ist der größte Verdienst, den ich Kanye West zuspreche. Höre den Opener „Dark Fantasy“ mit Mike Oldfield-Sample. Höre „Power“, mit dem logisch eingebauten King Crimson Sample. Oder die Art, wie Justin Vernon's (Bon Iver..) Gesang eingebaut wird. My Beautiful Dark Twisted Fantasy ist zwar aus HipHop geboren, aber es ist ein Spiegel seiner Zeit und es reflektiert weit mehr als diesen einen Stil.

Kanye West - Power 


Ariel Pink's Haunted Graffiti


Before Today

(4AD, 2010)

Ariel Marcus Rosenberg aka Ariel Pink macht schon seit Ende der 90er Musik. Er hat einen Haufen sehr unterschiedlicher Alben, EP's und Singles auf Mini-Labels, als Cassetten oder Download veröffentlicht. Er hat jedes Feld zwischen Lo-Fi, Power Pop, Psychedelic, Garage, Synth Pop und Folk irgendwann irgendwie beackert und wurde dann Mitte der 00er Jahre bekannter, als er auf Paw Tracks - dem Label der ähnlich eklektizistischen Animal Collective - sein Album Doldrums veröffentlichte. 2010 zündet er die nächste Stufe seiner Karriere – er kommt bei 4AD unter und macht mit seiner Band Haunted Graffiti ein Album, das in gewisser Weise seine bisherige Karriere zusammenfasst. Die Nerd/Kenner-Zeitschrift The Wire bezeichnet die Musik des exzentrischen Einzelgängers als „Hypnagogic (= hallizunativen) Pop“ und bewertet Before Today in ihrem Jahres-Poll hoch. Eine andere Bezeichnung für diese Musik wäre Chillwave, gemeint ist Musik die einerseits ein Anachronismus, andererseits aber hochmodern ist. Dass Ariel Pink seine Musik zunächst alleine am Laptop zusammenbaut, dass er aus dem unerschöpflichen Baukasten im Internet und Streaming-Diensten schöpfen kann, dass die Vermischung aller Kenntnisse zu „neuer“ Musik führen kann - das ist möglicherweise das „Moderne“ an Chillwave/Hypnagogic Pop... Aber (für mich ) gilt erneut - ob modern oder altmodisch – was zählt ist der Song: Und DA haben Ariel Pink's Haunted Graffiti einiges zu bieten, was durchaus auch vor 35 Jahren beeindruckt hätte. Das Kreiseln bei „Round and Round“ ist psychedelisch, die Sounds erinnern an den Soft-Rock von 10CC, auch „Fright Night“ klingt nach den Sparks und nach XTC, wenn sie psychedelisch werden – und damit wieder nach '67 und dem UFO-Club. Und trotz (oder wegen) all der Bezüge sind all das Songs, auf die jedes Vorbild stolz sein könnte. Man mag sich als Auskenner in den Dekaden vor 2000 an Beach Boys, Steely Dan, Eagles, Fleetwood Mac und Earth, Wind and Fire erinnert fühlen, aber der Multi-Vitamin-Saft der da entsteht, ist in seiner Kombination neu und zweitens schmackhaft. Dass Before Today zum Bedauern alter Fans nun besser produziert, mit „echten“ Musikern eingespielt und von einem etablierten Label veröffentlicht ist, halte ich persönlich für erstens verdient und zweitens vorteilhaft.

Ariel Pink's Haunted Graffiti - Fright Night (Nevermore) 


Dessa


A Badly Broken Code

(Doomtree, 2010)

Dessa – das ist Margaret Wander, eine amerikanisch/Puerto Ricanerische Musikerin/Literatin/Poetin mit Philosophie-Studium aus Minneapolis, eine der wenigen weiblichen MC's im HipHop, eine, die sich im Bereich irgendwo zwischen Rap, Soul, Singer/Songwriter und Spoken Word aufhält und von Beginn an äußerst eigenständig klingt. Sie hat Mitte der 00er Jahre die Rapper des tollen und stylischen Doomtree-Kollektives kennengelernt, sich den Künstlern und ihrem Label angeschlossen und 2005 mit ihrer EP False Hopes direkt die eigene Duftmarke gesetzt. Nun folgt fünf Jahre später mit A Badly Broken Code ein komplettes Album zwischen diversen Stühlen. So wie sie bei den Alben anderer Doomtree-Künstler mitmacht, so lässt sie sich her von Lazerbeak, Paper Tiger und dem nicht zu Doomtree gehörigen MK Larada produzieren. Und die DJ's leisten einen guten Job, ihre Beats sind mal jazzig, mal swingen sie oder haben ein Downtempo/TripHop Flair, das sehr gelungen ist - wenn auch nicht revolutionär. Das Alleinstellungs-Merkmal hier ist unzweifelhaft Dessa's Stil: Ihr Flow ist enorm melodisch, selbst wenn sie eindeutig „rappt“ klingt es nach Gesang, jedes Wort bekommt eine zusätzliche Bedeutung, was die Tracks sehr abwechslungsreich und komplex macht – und ihre Lyrics sind äußerst hörens- bzw. lesenswert. Man bemerkt kaum, wie sie vom Rap zum Gesang wechselt, ihre Stimme ist eigen und un-kitschig – und ihr Art sie auf Tracks wie der ausgekoppelten Single „Dixon's Girl“ über einem Swing-Background abwechselnd zu singen und zu rappen, kann man nur virtuos nennen. Höhepunkt auf diesem Album ist für mich „Seamstress“, TripHop und HipHop in Perfektion, mit jagendem Puls und äußerst bildhaften Lyrics, die mal nach Spoken Word Performance, mar nach Rap klingen. Fast genau so gut ist „Mineshaft II“. Eher „Song“ als HipHop-Track, aber weit weg von allem Gewöhnlichen. A Badly Broken Code braucht - vielleicht wie alle gute Musik, ein- zwei Spins ehe es sich einfrisst, aber dann erkennt man, dass es in (s)einer eigenen Kategorie ist.

Dessa - Seamstress 


Janelle Monáe


ArchAndroid

(Bad Boy, 2010)

Dass ich sog. „Contemporary R&B“ so exponiere, ist neu. Aber seit den 00er und spätestens 10er Jahren wird aus dieser Musik durch Integration neuer Stilmittel und durch ein „Mehr“ an Bedeutung langsam wirklich innovative und spannende Musik mit klugen Aussagen. Die Neo-Soul Clique um D'Angelo, Erykah Badu etc hat da schon Bedeutendes geleistet, Bald werden Frank Ocean und sogar Beyonce und Solange Knowles Alben machen, die mehr sind als bloße Unterhaltung – weil diese Künstler auf eine gesellschaftliche Krise und „Black Lives Matter“ in den USA reagieren müssen. Und schon 2010 legt die Sängerin und Schauspielerin Janelle Monáe nicht nur musikalisch die Latte ganz hoch. Sie hatte zunächst Schauspiel und Theater studiert, sich dann aber auf Musik konzentriert und 2007 mit Metropolis, Suite I: The Chase eine EP hingelegt, die die Grenzen des R&B in alle Richtungen auseinander gesprengt hatte. Dass es ihr gelang, drei Jahre später ihre futuristische Konzept-Story auf noch höherem Niveau weiter zu führen ist noch das kleinste Verdienst von ArchAndroid. Monáe ist jetzt auf Bad Boy, dem Label von Sean „P Diddy“ Combs, sie hat u.a. mit Antwan „Big Boi“ Patton von OutKast einen Grenzgänger und Könner neben sich an den Reglern sitzen – und sie hat Songs, die mit oder ohne Verkleidung eigenständige, kluge Popmusik sind. Dass sie auch noch eine extrem cleane, perfekte Stimmen ihr eigen nennen kann - eine Stimme, die mit dem Konzept hinter ihrer Selbst-Darstellung (siehe Covershoot) wunderbar zusammenspielt - macht ihr neues Album noch schlüssiger. Auf ArchAndroid geht es um Liebe und die Verwirklichung einer eigenen Identität, sie stellt sich selber als Android dar, der zu einer Art Messias wird, es ist ein Konzept-Album, auf dem ein selbstbewusster Afro-Futurismus gefeiert wird – ein Bild der Zukunft, das in den inzwischen sehr zerrissenen USA eine hoch-politische Bedeutung bekommt. Und unabhängig von dieser Bedeutung wird hier so perfekt mit den Stilmitteln R&B, Funk, Dance und Psychedelic Pop gespielt, dass ich sofort dachte „Wenn Prince das wüsste...“ (auf dem folgenden Album macht er mit...) Aber nicht missverstehen: Janelle Monáe imitiert nicht – sie nimmt den Ball auf und wirft ihn weiter. Man höre den rasanten Hit „Tightrope“, man höre den Psychedelic Pop von „Wondaland“ oder den Album-Closer „BabopbyeYa“... und das sind nur drei Titel einer Reihe gleichwertiger Tracks. ArchAndroid ist perfekter Pop mit Hirn, ein eingelöstes Versprechen und das Versprechen, dass da noch mehr kommen wird. Wenn Janelle Monáe die Zukunft des R&B ist, will ich mehr davon hören.

Janelle Monáe - Wondaland 


Pantha Du Prince


Black Noise

(Rough Trade, 2010)

Was „elektronische“ Musik angeht, sind die letzten 10-15 Jahre wohl das goldene Zeitalter: Die schiere Anzahl von innovativen Künstlern und Alben, von neuen Ideen und Stilistiken ist fast unüberschaubar. Es gibt hunderte von Individualisten, die jeder für sich eine neue Facette aufleuchten lässt – und ich könnte für jedes Jahr mindestens drei bis vier komplette Alben an dieser Stelle meines Blogs exponieren. 2010 gefällt mir: Four Tet's There Is Love in You oder Flying Lotus' Cosmogramma oder Caribou oder Demdike Stare... aber das 10er Album der Wahl ist jetzt Black Noise von Henrik Weber aka Pantha Du Prince. Der hatte schon 2007 mit This Bliss seine sehr eigene und elegante Art von melancholischem, sphärischem Techno präsentiert, eine elektronische Musik geschaffen, die zugleich klar, kalt und organisch klingt. Für Black Noise war Weber in die Alpen gereist, hatte Feldaufnahmen gesammelt, sein Arsenal an Percussion-Sounds erweitert und ein paar Gäste aus seinen Kollaborationen mit Indie-Musikern wie Animal Collective und !!! dazu geholt. Aber nicht, dass Pantha Du Prince jetzt beliebig geworden wäre – seine Art mit Dub-Bässen, Glocken und Klingeln, gedämpften Beats und Clicks, pulsierenden House Beats und verwaschenen Synthies Siehe „Bohemian Forest“) sowohl den Dancefloor als auch den „Zuhörer“ zu bedienen, ist einzigartig. Dass auf „Stick to My Side“ Noah Lennox/ Panda Bear vom Animal Collective singt, missfällt so manchem Puristen - das organische Element „Stimme“ kann man als Fremdkörper empfinden – oder als passende Ergänzung zu den organischen Klängen von Weber's Samples und Sounds. Black Noise klingt (für mich) nach purem Spaß am Klang – es ist Kraftwerk mit Seele, ähnlich romantische Musik wie Gas' Pop, nur mit House-Rhythmen und im mir so lieben Songformat. „Satellite Snyper“ ist tanzbarer elektronischer Pop, „Abglanz“ wiederum ist pure Ambient – und alles passt zusammen, hat einen angenehmen Flow, der Black Noise zu einem Album im Sinne der Definition macht: Man kann - und ich will - bis zum Ende zuhören.

Pantha Du Prince - Bohemian Forest 


Beach House


Teen Dream

(Bella Union, 2010)

In der Einleitung deute ich es an: Psychedelic Rock/Pop ist in 2010 omnipräsent, und bei Janelle Monáe, bei Pantha Du Prince und selbst in Kanye West's HipHop-Gemischtwaren-Laden meine ich psychedelischen Nebel zu sehen. Jedenfalls hätte ich unter die meiner Meinung nach besten Alben dieses Jahres ohne weiteres mit Tame Impala's Innerspeaker ein weiteres Neo Psychedelic-Referenzwerk neben Ariel Pink's Before Today und Deerhunter's Halcyon Digest stellen können. Aber ich habe das dritte Album von Beach House ein ganz kleines bisschen lieber als das Debüt von Tame Impala. Zumal Erbsenzähler Teen Dream eher Dream Pop nennen dürfen – was ein bisschen – nur ein bisschen – was Anderes ist als Psychedelic Pop. Das Duo aus Baltimore ist für die Aufnahmen zu Teen Dream in eine New Yorker Kirche gezogen (wie dereinst die formidablen Cowboy Junkies), und hat die dortige Atmosphäre sehr gelungen in den eigenen Sound und die passenden Songs eingebaut. Ihre Musik war schon immer sanft, verträumt, aber auch hymnisch und ein bisschen gespenstisch. Und gerade die letzten beiden Charakteristika werden nun hervorgehoben. Der große Kirchen-Raum schwingt mit, Hall und Echo versetzen Stimmen und Instrumente in eine verschlafene Distanz. Dass Sängerin/ Keyboarderin Victoria Legrand und Background-Sänger/ Gitarrist/ Keyboarder Alex Scally mit Reduktion umzugehen wissen, dass sie inzwischen zu tollen Songwritern in ihrem Metier gereift sind und auf diesem Album die Versprechungen der beiden vorherigen Alben einlösen, macht Teen Dream zum so sehr empfehlenswerten Album. Beach House spielen mit den für sie so typischen Drum-Machine-Rhythmen, Victoria Legrand's Stimme erinnert an eine emotionale Nico, sie klingt nun sicher und sich ihrer individuellen Stärke bewusst. Obwohl das Album aus einem Guss ist, würde ich die Single „Norway“, „Lover of Mine“, „10 Mile Stereo“ und den Opener „Zebra“ besonders hervorheben. Dass man mit einem so reduzierten Sound so reiche Musik machen kann, erstaunt mich immer wieder. Teen Dream ist sicher ein spezielles Album – das ist keine Konsens-Musik hier, und in ihrer Verschlafenheit kann man auch gelangweilt versinken. Aber WENN man zuhört.... Ich denke, das hier hat zeitlose Qualität.

Beach House - 10 Mile Stereo 


Deerhunter


Halcyon Digest

(4ad, 2010)

Deerhunter sind (bei mir) schon mit ihrem 2008er Album Microcastle in die Riege der „Klassiker“ gehoben worden – ob zu Recht, wird sich in kommenden Jahrzehnten zeigen (...aber gilt das nicht für alle Alben, die seit Beginn der 00er-Jahre entstanden sind..?) Ihr nachfolgendes Album Halcyon Digest könnte man als schlichte Fortsetzung von Microcastle herabwürdigen – und täte der Klasse von Bradford Cox' Songs und dem wunderbaren und ein bisschen zufälligen Konzept seiner Musik unrecht. Auch Halcyon Digest ist dunkel, fiebrig, wie ein Traum, der ins alptraumhafte abgleitet. Bandkopf Bradford Cox hatte sich nach eigener Aussage mit der Inkosistenz von Erinnerungen beschäftigt – wie sehr diese sich im Laufe der Zeit zum Guten oder auch zum Schlechten verändern. Insofern nannte er den Album-Titel Halcyon Digest (etwa „Eine Sammlung friedlicher Erinnerungen“) irreführend. Schon auf Microcastle ging es um Vereinzelung, es war ein düsteres Album, Halcyon Digest ist weniger depressiv, man könnte es treffender als melancholisch bezeichnen. Die Band lässt ihre Kenntnis um Shoegaze, Folk und Pop immer wieder in anderen Facetten aufschimmern, zitiert die Everly Brothers und natürlich My Bloody Valentine, lässt die eigenen Lo-Fi Wurzeln aber immer wieder durchscheinen. Mal ist das Gewicht auf regelrecht erdigen Sounds („Coronado“), mal schimmert die Band wie einer der typischen 4AD-Dream-Pop Diamanten a la Cocteau Twins („Helicopter“) - und immer bleiben sie als Deerhunter erkennbar. Bradford Cox' Songwriting ist inzwischen zu großer Klasse gereift. Wenn er im Album-Closer „He Would Have Laughed“ an den kurz zuvor verstorbenen Jay Reatard erinnert, ist da keinerlei weinerliche Sentimentalität zu hören – nur Würde, Trauer und ein bisschen Trotz. Dass dieses Album bei allem thematischen Anspruch ein herz-ergreifendes Hör-Erlebnis ist – vom sparsamen, mit rückwärts aufgenommenen Percussion und verwaschenen Gitarren veredelten Opener „Earthquake“ bis zum beschriebenen Abschluss – zeigt die Klasse dieser Band. Auch hier glaube ich an bleibenden Wert.

Deerhunter - Helicopter 


Deathspell Omega


Paracletus

(Norma Eavngelium Diaboli, 2010)

So völlig fern der Psychedelic-Welle dieses Jahres ist der chaotische, furchterregende, dissonante Black Metal der Franzosen Deathspell Omega nicht. Die haben mich 2007 Fas – Ite, Maledicti, In Ignem Aeternum überzeugt, 2010 erscheint der letzte Teil ihrer Trilogie über das Verhältnis zwischen Mensch, Gott und Teufel. Das Wort „Paracletus“ ist eine andere Form des griechischen „Parakletos“ = Heiliger Geist... und man kann annehmen, dass Deathspell Omega's geheimnisvolle, unbekannte Mitglieder diesen nicht sehr positiv betrachten. Sie sind sehr deutlich in der Bibel bewandert und verhöhnen und hassen mit theologischem Hintergrundwissen. Sie sagen, der Mensch wird von Gott gezwungen, gegen seine innersten Triebe und Grundsätze zu handeln. Wäre dieses Konzept Alles, dann hätte ja auch ein schriftliches Pamphlet gereicht – aber dem Teufel sei Dank ist ihre Wut/Häme/Kritik so durchdacht wie ihre auf den ersten Eindruck so chaotische Musik. Wobei Paracletus sogar ihr konventionellstes Album seit Prä-Trilogie Tagen ist. Nach wie vor ist ihre Musik extrem aggressiv, die Gitarren rasen, brechen mal in dissonante Post-Punk Gefilde auf, sind dann wieder weisses Rauschen a la Black Metal, die klaren weibliche Vocals des Vorgängers, die Choral-Passagen und die unheimlichen Momente absoluter Stille sind Geschichte – Die Songstrukturen sind nach wie vor komplex, Rhythmen wechseln im Minuten-Takt, aber es gibt Passagen, die erholsam nah an der Konvention bleiben (man höre die ersten zwei Minuten von „Dearth“) Gesungen wird in Französisch, Latein und Englisch – teils sehr nah an im Black Metal un-üblicher Verständlichkeit – und all das ist so mitreissend, dass man sich der Wucht nicht entziehen kann. In gewisser Weise ist Paracletus (für Deathspell Omega) eine notwendige Rückkehr zu den Wurzeln des Black Metal – ohne die inzwischen erarbeiteten Charakteristika der Band zu verraten. Es ist dann also eine Frage des Geschmacks, ob man dieses Album oder seinen Vorgänger bevorzugt. Ich würde ja die komplette Trilogie empfehlen... 

Deathspell Omega - Dearth 


Yellow Swans


Going Places

(Type, 2010)

Dass ich Lärm mag, ist ja an der Auswahl der meiner Meinung nach wichtigsten Alben all der vergangenen Jahre deutlich erkennbar. 2010 ist das Jahr, in dem das mit dem US-Duo Yellow Swans (Pete Swanson und Gabriel Saloman) einer der besten, produktivsten und wichtigsten Acts der Noise/Drone-Szene seine Zusammenarbeit beendet. Yellow Swans haben in den letzten zehn Jahren über 50 CD's, Cassetten, Alben in allen möglichen Formen veröffentlicht. Mal gemeinsam mit anderen Künstlern, mal unter Aliassen, bei denen ein „D“-Wort vorangestellt wird (z.B. als Drill Yellow Swans 2005...) um die Veränderbarkeit der eigenen Musik zu kennzeichnen. Sie arbeiteten mit strengem DIY-Ethos und ihnen ist es inzwischen tatsächlich gelungen, ein Destillat aus Free Improvisation, Dub, Hardcore, Noise, Industrial und moderner Kompositions-Technik zu erschaffen. Ihre Alben waren oft nur in Miniatur-Auflagen zu bekommen, aber seit sie mit dem Type-Label zusammenarbeiten, kann man ihre Alben etwas problemloser auffinden – und Going Places wurde zu dem Album, das die Band vielen Hörern bekannt machte. Es gibt inzwischen einige Bands, die sich mit Noise-Rock in all seinen Facetten einen Namen gemacht haben und Noise hat inzwischen weit mehr Hörer, als man meinen könnte – ist sicherlich noch immer nicht im „Mainstream“ angekommen (und wird und will das auch nicht), aber Bands wie Sightings, Mouthus, Wolf Eyes oder die Altmeister Fushitsusha aus Japan werden von den Coolen gehört. Going Places ist „traditioneller“ Noise, es gibt keine jazzigen Drum-Patterns, verträumte Stimmen oder Pop-Anmutungen, das Duo baut Wände aus Sound und benutzt dazu elektronische Instrumente, Soundfragmente und Gitarren, aber wo Merzbow oder Prurient ihren Noise brutalisieren, da klingt Going Places zwar laut, aber auch warm – zumindest nie nach sog. Harsh Noise. Bei „Opt Out“ steht man in einem Schneegestöber aus sich immer mehr aufeinander auftürmendem Rauschen, der Titeltrack – tatsächlich das letzte Stück Musik, dass Yellow Swans produzierten – ist tatsächlich „hart“, baut sich aus immer mehr Sound-Details auf und wird ungeheuer laut, ehe er unter seinem eigenen Gewicht zusammenbricht. „Foiled“ und „Limited Space“ dagegen haben untergründige Rhythmen, bleiben im Vergleich fast sanft. Ich fand den Begriff Brown Noise ganz zutreffend. Ein komplettes Album, das als ganzes funktioniert, der perfekter Abschied einer Band, die Noise geprägt hat.


P-S. - Das Cover wurde vom Label-Kollegen Jefre Cantu-Ledesma gestaltet – der mit seinem Solo-Album Love is a Stream in diesem Jahr ein vergleichbar gelungenes Album voller Noise gemacht hat.

Yellow Swans - Foiled