Dienstag, 18. Juni 2019

2012 – Bankenkrise, Wetterextreme und der arabische Frühling ertrinkt im Blut – Kendrick Lamar bis Converge

Wie 2011 steht auch 2012 im Zeichen des arabischen Frühlings – viele Menschen in den arabischen Ländern hoffen auf den demokratischen Wandel – andere wollen einen islamischen Staat, und diese Differenzen werden nun in Ägypten, Syrien, Saudi-Arabien etc blutig ausgetragen. Letztlich sind insbesondere die Fundamentalisten in diesen Ländern nicht bereit, Demokratie zu praktizieren. Europa hat derweil zu viel mit seinen eigenen, durch hemmungslosen Wirtschaftsliberalismus losgetretenen Problemen zu tun. Euro-Krise, Bankenpleite, Staatsschulden – die mit genug Geld werden in der Krise noch reicher, der Rest bezahlt – und somit scheitert die „soziale“ Marktwirtschaft, was wiederum viele Menschen in rechten oder linken Extremismus treibt. Zwar schaffen wir es, eine Sonde auf den Mars zu schicken, die uns Bilder einer roten Wüste schickt, aber das Klima hier auf Erden spielt weiter ungehindert verrückt. In der Karibik und den USA etwa richtet Hurricane Sandy gewaltige Schäden an und im Sommer kommt es in den USA zu einer Jahrhundert-Dürre während in Europa im Februar 600 Menschen bei einer Kältewelle sterben und in der Arktis das Eis im Rekordtempo schmilzt. Die Toten im Pop-Business: Adam Yauch von den Beastie Boys stirbt. Ebenso Terry Callier und Donald „Duck“ Dunn von Booker T. & the MG's. 2012 ist nicht mit musikalischen Innovation gesegnet, aber das ist ja schon lange nicht mehr zu erwarten. Die Ausformulierung, Kombination und Ergänzung von Stilen scheint das probate Mittel zu sein, Neues zu schaffen. Natürlich ist elektronische Musik in allen Nischen immer wieder mit tollen Alben, Mixtapes oder EP's dabei. 2012 ist aber auch das Jahr der alten Männer: Dylan, Young, Donald Fagen und nach 30 Jahren auch Bill Fay machen schöne Platten. Auch die Swans mit The Seer sind keine jungen Spunde. Lana Del Rey macht als YouTube Phänomen, das jetzt auch Geld verdienen will, Alles richtig und wird nach kurzem Hype von den Hipstern für Aussehen und kalkuliertes Image beschimpft. Im Black Metal ist es – für die, die das mögen – ein gutes Jahr, im HipHop gibt es mit Kendrick Lamar einen wirklichen Innovator, der – wie Andere (Frank Ocean...) - zuvor Mixtapes ins Netz stellte, und auf diesem Wege Popularität fand. Es gibt etliche Künstler, die sich aller möglichen Stilmittel bedienen – insbesondere an den „Rändern“. Man muß nur suchen - und findet dann Schätze wie die junge Folksängerin Angel Olsen oder den alten Folkmusiker Steve Tilston, oder oder... oder auch Müll wie den süüüßen Teenie-Star Justin Bieber, oder die ach so niedlichen Owl City, oder Muse's inzwischen unerträglich aufgeblähten Stadion Pomp, oder die sportlichen Schönlinge von Maroon 5, die allesamt das Radio und die Download Charts beherrschen. Im Vergleich sind Adele mit ihrem 21 - Album oder Taylor Swift mit ihrem Country-Pop auf Red wenigstens erträglich.

Kendrick Lamar


good kid, m.A.A.d city

(Interscope, 2012)

Keine Innovation in 2012? - Denkste! - Immerhin gibt es Kendrick Lamar, den 25-jährigen aus Compton/CA, der schon früh als K-Dot diverse MixTapes auf die Welt losgelassen hat, der 2011 unter seinem bürgerlichen Namen mit Section.80 ein erstes Studioalbum veröffentlichte – zunächst nur als Download – der vom Who's Who des HipHop zu Recht gelobt und hofiert wird, der dem HipHop tatsächlich neues Leben einhaucht. Auch wenn er so gesehen doch nichts Neues macht? Der Erfolg von Section.80 führt zum Major-Vertrag und als good kid, m.A.A.d city erscheint, ist der Hype um Lamar schon so weit gediehen, dass es kein Wunder wäre, wenn das Album eine Enttäuschung wäre. Aber nichts da – Auf seinem Debüt hatte Lamar das Lebensgefühl seiner „Generation Z“ einfühlsam, klug und elegant beschrieben, das Leben in Zeiten von Polarisierung, Politisierung, wirtschaftlichem Niedergang, systematischem Unrecht insbesondere gegenüber Schwarzen, mit seinen Symptomen wie Drogenmissbrauch, Gewalt, Wahnsinn dargestellt... und er hatte all das so beschrieben, dass man zuhören musste. Das neue Album nun ist autobiographischer geprägt. Lamar beschreibt seine Jugend in Compton, in den von Gangs, Drogenhandel und Polizeigewalt beherrschten Strassen, er nutzt seine beträchtlichen Skills, um aus verschiedenen Perspektiven diverse Personen und Situationen zum Leben zu erwecken, er hat die Story und er hat die Texte und er bietet eine eine erlesene Gästeliste auf - mit Drake, Jay Rock und Dr. Dre (der auch aus Compton stammt). All das wird noch getoppt von Genre-Grenzen überschreitenden, ideenreich produzierten Tracks wie „The Art of Peer Pressure“ oder „Good Kid“. good kid, m.A.A.d city ist eine glaubhafte Coming-of-Age Story im klassischen Sinn, musikalisch auf dem neusten Stand, klug und elegant. Dass Lamar seine Stadt und seine Familie mit einer Mischung aus Liebe, Solidarität und Enttäuschung sieht, ist völlig authentisch, die Lyrics werden nicht umsonst bald in akademischen Kreisen als Lehrmaterial herumgereicht. Die Tatsache, dass Lamar's Stimme (in meinen Ohren) nicht die angenehmste ist, hat mir den Zugang zunächst schwer gemacht, die schiere Musikalität von good kid, m.A.A.d city aber ist überwältigend, man MUSS allerdings die Lyrics lesen und verstehen, um den kompletten Zugang zu finden. Dann wird es nicht nur zu einem modernen Klassiker des HipHop, sondern zu einem Klassiker der modernen populären Musik.


Frank Ocean


channel ORANGE

(Def Jam, 2012)

Als ich die drei Mixtapes von The Weeknd im „Hauptartikel“ des Jahres 2011 beschrieb, habe ich postuliert: R'n'B hat inzwischen eine Relevanz, die ich bislang vermisste. Christopher Edwin Breaux aka Frank Ocean's 2011er MixTape Nostalgia, ULTRA ist fast genauso gelungen wie The Weeknds Trilogie – und auch wie Kendrick Lamar's Section.80 – aber er veröffentlicht 2012 mit channel ORANGE ein noch besseres Album. Ocean hatte zunächst als Songwriter für andere – u.a. John Legend - gearbeitet, hatte sich 2010 dem innovativen HipHop-Kollektiv Odd Future angeschlossen, dessen Earl Sweatshirt auf channel ORANGE mitwirkt. Ocean bezieht sich mit dem Titel auf das Phänomen der Synästhesie – der sinnlichen Verbindung von Gefühlen mit Farben – in seinem Falle die Verbindung der Gefühle seiner ersten Liebe mit der Farbe Orange. Es muss ein sehr schöner Sommer gewesen sein – das Album fühlt sich an, wie eine lange warme Sommernacht mit Freunden und dem/der Geliebten. Um seine sexuelle Orientierung machte Ocean keinen Hehl – das Thema wurde nach der Veröffentlichung des Albums via Tumblr ausführlicher behandelt, als vielleicht nötig, es lenkte zeitweise von seiner Musik ab – aber die Liebe, von der er hier singt, verstehe ich als universell. Die Art WIE er dieses Album gestaltet, ist beeindruckend. Mal singt er im Falsett („Pink Matter“ - mit Cameo von OutKast's Andre 3000), mal erinnert er an Marvin Gaye, wenn er mit sich selber im Duett singt, er verbindet – genauso undogmatisch wie Kendrick Lamar – Pop, HipHop und Psychedelic mit Soul und R&B und er beweist ein ums andere Mal sein Talent als Songwriter, der sich nicht um althergebrachte Strukturen scheren will. Das zentrale „Pyramids“ verbindet feine Melodik mit psychedelischen Sound-Exkursen, das darauf folgende „Lost“ wäre eine formidable Hit-Single, lässt beste Erinnerungen an Prince - zu der Zeit, als er noch richtig aufregend war – aufkommen, aber der als Single ausgewählte Opener „Thinkin Bout You“ steht dem mit seiner Melodie incl. Widerhaken in Nichts nach. Man kann auch diesem Album das Wissen um Jahrzehnte Popmusik anhören, aber wenn ein solcher Brocken an Kreativität das Ergebnis all diesen Wissens ist... channel ORANGE überschreitet genau wie good kid, m.A.A.d city mühelos stilistische Grenzen – und beide Alben treffen sich irgendwo in der Mitte – dort wo Musik einfach als Musik existiert. Beide Alben sind unersetzlich und gehören zu den Wichtigsten ihrer Zeit.


Swans


The Seer

(Young God, 2012)

Seit Michale Gira die Swans 2010 wieder aktiviert hat, hat er eine erstaunliche, verspätete „Karriere“ hingelegt. Auf einmal scheint es so, als würde der Noise Rock der Swans, der doch früher immer zu kompromisslos für breitere Massen war, nun ein Publikum finden, das zwar immer noch nicht Mainstream ist, das aber doch so groß ist, dass folgerichtig auch Medien und Zeitschriften verstärkt über die Band berichten, die sie sonst nur von ferne beobachtet haben - was dann wieder dazu führt dass ihre Alben über den Klee gelobt werden. Die Frage ist – sind die Swans massenkompatibler geworde, oder ist da eine neue, junge Generation von Musikhörern herangewachsen, die offenere Ohren für Extreme hat? Ich vermute Letzteres und denke, man kann als Beweis dafür ganz trefflich The Seer anführen. Wirklich viel hat Michael Gira an seiner Musik nicht geändert: Auf den Studioalben der Swans sind es simple Tonfolgen – machmal gar nur zwei Töne – die sich zu riesigen Ungetümen aufbauen können, die variiert, verkleinert, wieder erhöht und zum Zusammenbruch gebracht werden. Dazu dystopische Lyrics oder Satzfragmente, die Michael Gira als Wanderprediger und Scharlatan den Gläubigen vor die Füße wirft. Der Unterschied zu den legendären Konzerten ist klar erkennbar. Live wird nicht mit Dynamik gespielt – es gibt nur sehr laut und noch viel lauter. Man badet von Anfang an in einem Meer aus Noise. Auf den Alben aber gibt es ruhige Momente, die Dynamik ist viel wichtiger, manche der weniger ausgedehnte Stücke rücken durch bewusste Reduktion in Richtung Folk-Musik – auch Das gewiss von Michael Gira geplant. Dafür ist das über 30-minütige Titelstück – aufgebaut auf einem einzigen Ton – nah an den Tonnengewichten eines Konzertes. Der Unterschied: Die Instrumente klingen differenzierter - was insbesondere der Lap-Steel von Kristof Hahn gut steht - und man kann die Lautstärke wählen. Das tribalistische Drumming von Thor Harris macht dessen Vornamen Ehre, beim regelrecht „schönen“ und kurzen „Song for a Warrior“ gastiert Karen O von den Yeah Yeah Yeah's, dafür sind die beiden finalen Jam's „A Piece of the Sky“ und „The Apostate“ mit jeweils ca 20 Minuten Länge wieder gewaltige Brocken. The Seer ist zwei Stunden Musik, die wirklich in jeder Hinsicht anstrengend sind. Es ist meiner Meinung nach ein großartiges Album, aber die Swans haben sich tatsächlich nicht groß verändert. Frühere Alben wie Soundtracks for the Blind oder Children of God ('87) kommen im Grunde mit ähnlichen Mitteln zu vergleichbaren Ergebnissen. Damals wie heute könnte man den Swans vorwerfen, sie blähen ein Nichts zu unendlicher Größe auf – oder man verliert sich in ihrem Meer aus Lärm. Da ist Michael Gira ehrlich. Bei seiner Musik war und ist das Ziel Katharsis.


Godspeed You ! Black Emperor


'Allelujah! Don't Bend! Ascend!

(Constellation, 2012)

Eine andere Band (mit viel kürzerer Historie) ein ähnliches Ziel. Die Musiker des Kollektives Godspeed You! Black Emperor haben vor 'Allelujah ! Don't Bend ! Ascend ! ebenfalls zehn Jahre pausiert bzw. sind diversen Nebenprojekten nachgegangen, auch ihrer Musik wird eine kathartische Qualität nachgesagt – nach dem Hören ihrer Musik ist man zugleich erschöpft und erlöst, aber wo Swans einen Koloss auf tönerne Füße stellen, damit er zusammenbricht, da lassen Godspeed einen hölzernen Koloss in Flammen aufgehen. Heißt: Ihre Musik klingt organischer, ihr Ansatz ist immer ein gesellschafts-politischer oder ökologischer, und ihre Musik formuliert diese Kritik ohne Textblatt. Sie drehen sich nicht so sehr um sich selber und um das Prinzip „laut – und dann noch lauter“, sie sind dynamisch – und waren das von vorne herein, weshalb sie in der Post-Rock Schublade abgelegt werden. Aber für diese Schublade waren sie immer zu groß, zu vielschichtig, was sie wiederum in eine ähnliche Position wie die Swans hebt. So beginnt 'Allelujah ! Don't Bend ! Ascend ! mit dem Titel „Mladić“, bezogen auf den bosnisch.serbischen General, der im Serbien-Krieg das Massaker an Männern, Frauen und Kindern in Srebrenica befahl, der die mörderische, vierjährige Belagerung von Sarajevo mit einer Unzahl an zivilen Opfern befehligte. Und bei Godspeed reichen der Titel und die instrumentale Darstellung, um Mladić's Gesicht und die schrecklichen Kriegsbilder wach zu rufen. Die folgenden Stücke sind nicht so expliztit betitelt, aber ihre Sound-Ästhetik ist eine ähnlich dunkle – im Vergleich zu Swans waren Godspeed immer etwas variabler, hier nutzen sie Elemente osteuropäischer Musik, es gibt ruhige Passagen, allein mit Violine, Bass und Percussion, man hält ständig den Atem an und erwartet eine neue Explosion. 'Allelujah ! Don't Bend ! Ascend ! mag nicht ganz so überwältigend sein wie das 2000er Meisterwerk Lift Your Skinny Fists Like Antennas To Heaven, allein schon weil es kürzer ist – sowohl kürzer als Antennas als auch als The Seer - aber Godspeed sind wieder nah dran. Wenn man so selten Alben veröffentlicht, dann sollte jedes Neue auch groß sein, und das zumindest ist ihnen hier gelungen. Neben The Seer der zweite schwere Brocken des Jahres 2012.


Lana Del Rey


Born To Die

(Universal, 2012)

Lana Del Rey – zuvor als Lizzy Grant unterwegs – ist eines der musikalischen Phänomene, die in dieser Form nur im YouTube-Zeitalter entstehen können. Sie ist die personifizierte Teen-Girl Fantasie, aufgeladen mit den 50er-Jahre US-Symbolen einer (damals noch) heilen Welt, über der aber schon bedrohliche Wolken aufziehen. Eine Pop-Vision, zusammengebaut aus Bildern von David Lynch, Marilyn und Disney. Sie eroberte 2011 das Internet mit unscharf verwackelten, angeblich mit der Webcam selbst-aufgenommen-Videos, mit dem ersten Hit „Video Games“, mit einer Unschuld, die von Hipstern erst geliebt und dann als aufgesetzt und manipulativ gedisst wurde. Dass sich die Missgunst der Glaubwürdigkeits-Dogmatiker schnell gegen Lana Del Rey's (… allein der Name... stylish...) Äußerlichkeiten richtete, zeigt, wie billig sie ist. Denn unabhängig von den möglicherweise ja wirllich ausgedachten image-bildenden Massnahmen lieferte sie mit Born To Die ein komplettes Album ab, das die Klasse der fehlerlosen Singles noch einmal bekräftigte. Das Tempo des Albums ist entweder langsam oder sehr langsam, man wiegt sich vom Opener „Born to Die“ bis zum abschliessenden „This Is What Makes Us Girls“ in einer lauen Sommer-Brise, Del Rey's Stimme klingt melancholisch bis leicht gelangweilt, sie hat sich mit ihrer Rolle als schönes, tragisches bad girl abgefunden, kann nicht anders. Die Singles „Video Games“, „Blue Jeans“ und „Summertime Sadness“ haben sich als erstaunlich robust erwiesen, sind bis heute nicht abgenutzt – obwohl sie im Radio zu Tode gespielt wurden. Der Sound des Albums verbindet Elemente des Twin Peaks Soundtracks mit 50er Jahre Twang, üppige Orchestrierung mit klug versteckten Elektronik-Spielereien. Aber es sind sehnsüchtige Songs wie „National Anthem“, die sogar ohne ikonische Videos ganze Film-Scripts ablaufen lassen. Die Tatsache, dass es ausser Lana Del Rey niemanden gibt, der ein solches Image hat, dass ihre Musik eigenständig blieb und auch noch für weitere Ideen und Alben reichte, sollte Zweifler davon überzeugen, dass es vielleicht doch nicht so schlecht ist, seine Karriere auf einem durchdachten Image aufzubauen – zumal wenn es auf einem stabilen musikalischen Fundament ruht. Schließlich ist das doch ein Prinzip von Pop...


Tame Impala


Lonerism

(Modular, 2012)

Wenn ich Lonerism von Tame Impala, (= Kevin Parker...) als eines der besten Alben des Jahres 2012 bezeichne, setze ich mich wohl dem Vorwurf aus, ein konservativer Sentimentalist zu sein. Denn das Fundament, auf dem das zweite Album des Australiers ruht, reicht von Schönheiten wie Animal Collective über die Flaming Lips bis hinab zu den Beatles ca. Magical Mystery Tour. Und dieses Fundament ist weithin sichtbar, vom Image bis in kleinste Sound-Details – zumal Flaming Lips-Mitglied und Produzent David Fridmann hier – nach dem Debüt wieder auf Wunsch Parkers – seine Hände im Spiel hat. Dass Parker sich bei den Aufnahmen zu Lonerism von Todd Rundgren's A Wizard, A True Star beeinflusst fühlte, ist nur noch eine weitere passende Referenz. Er hatte nach dem Erfolg des Erstlings Innerspeaker zwischen Auftritten in der ganzen Welt Song-Ideen auf dem IPad gesammelt (diesen zwischendurch verloren und wieder bekommen...) die Schnipsel dann in Paris und seiner Heimatstadt Perth zu Songs zusammengebaut, die er dann von Fridmann mixen ließ. Seine Idee war, mehr Experiment und zugleich mehr Plastik, mehr Chaos und mehr Pop zu wagen. Laut eigenen Aussagen wollte er die Erwartungen der Indie-Gemeinde unterlaufen, fühlte sich durch deren Dogmatismus herausgefordert und wollten Britney Spears mit Komplexität und Psychedelik verbinden. So kamen hier verstärkt Synthesizer zum Einsatz, nur auf zwei Tracks ließ Parker sich von seinem Tour-Begleiter Jay Watson helfen, machte sonst alles allein. Umso besser, dass ihm die Quadratur des Kreises gelang: Lonerism hat synth-lastige Pop-Momente, die Songs könnten als purer Synth-Pop durchgehen, aber dann werden doch immer wieder psychedelisch-komplexe Melodien gesetzt, dann donnern Fridmann's typische Drums und Parkers mit Delay und Reverb behandelte Stimme verschwindet in Nebelschwaden. Wie bei einigen Alben der Flaming Lips gibt es auch auf Lonerism mit „Be Above It“ einen herausragenden Opener, der John Lennon-Gedächtnis Gesang mit den Lips verbindet. Die Single „Elephant“ kann man mit T.Rex meets Animal Collective-Referenzen beschreiben – aber letztlich sind alle Stempel unnötig, denn das Album kann als moderne Psychedelik gut allein stehen, „Apocalypse Dreams“, „Mind Mischief“ oder „Nothing That Has Happened“ mögen Vorbilder haben, aber sie sind auch ohne tolle Songs. Ich sag's mal so: Wer die Vorbilder nicht kennt, bekommt klugen, abwechslungsreichen Prog-Pop zu hören... und wer die Vorbilder kennt auch.



Grizzly Bear


Shields

(Warp, 2012)

Grizzly Bear haben 2009 mit Veckatimest ein besonders hoch-gelobtes Indie-Album gemacht, sie stehen musikalisch für mich in einer geschmackvollen Reihe mit ein paar anderen Modernisierern der „Indie-Musik welcher Art auch immer... und ich brauchen dennoch immer etwas länger, um ihre Alben zu mögen. Es ist das gleiche Problem, wie bei Tame Impala: Musik, bei der ich ständig denke „Das klingt wie..., dies klingt wie...“ geht zunächst oft an mir vorbei. Dabei sind Grizzly Bear doch so eigenständig, dass ich die ständige Suche nach Referenzen nur mit dem Umstand erklären kann, dass wir nun einmal das Jahr 2012 – und damit 50 Jahre Geschichte populäre Musik hinter uns haben. Nach der Tour zum Erfolgs-Album hatten die vier Musiker sich eine Pause gegönnt, hatten die Zeit teils mit Solo-Projekten, teils mit schlichtem Nichtstun verbracht, und kamen dann mit kurzen Unterbrechungen in Texas und zuletzt in Cape Cod zusammen, um das neue Album aufzunehmen. Der Erfolg und die Pause hatten den Musikern offensichtlich gut getan. Waren die ersten Sessions in Texas noch nicht ganz befriedigend, so griffen die Zahnräder im Haus der Großmutter von Sänger Ed Droste in Cape Cod ineinander. Erstmals wurden Songs gemeinsam geschrieben, man half sich gegenseitig, kritisierte sich gegenseitig und schuf Songs, die die Grenzen des Indie-Folk in allen Richtungen sprengten. Man kann die Musik von Grizzly Bear durchaus als unauffällig bezeichnen – es gibt keine Extreme, die Songs sind melodisch, mit netten Details verziert, auch der Einsatz von elektronischen Strukturen ist dezent und geschmackvoll – und man könnte genau das langweilig nennen. Der Vorgänger Veckatimest war da vermutlich das größere Wagnis – auch wenn das Ergebnis nur für ungeübte Ohren revolutionär war, Shields baut auf den Erfahrungen dieses Albums genauso auf, wie auf den Erfahrungen von Yellow House, aber Songs wie der Opener „Sleeping Ute“, „Yet Again“ oder „Speak in Rounds“ sind inzwischen von einer Schönheit und Klarheit, die fast kitschig werden könnte, wären sie nicht so sorgfältig ausgearbeitet und so intelligent. Man kann sich in Shields vertiefen, wie in ein gutes Buch. Es mag aufregendere Alben geben, aber für mich steht Shields stellvertretend für die paar klugen Bands, die in dieser Zeit noch hörenswerten Indie-Pop/Folk/Rock zustande bringen... Bands wie Fleet Foxes, Bon Iver oder Sufjan Stevens. Und so fällt dieses Album aus den Moden heraus – auch wenn solche Musik vor zehn Jahren nicht hätte entstehen können.


Wadada Leo Smith


Ten Freedom Summers

(Cuneiform, 2012)

Ha! Wer ist Kamasi Washington..? Es gibt seit den späten 00er Jahren eine junge Generation von Jazzmusikern/ innen, die das hermetische Genre mit sehr weltzugewandter Bedeutung füllen, die Jazz mit einer Motivation und Inspiration spielen, die ihm in den 80er und 90ern meiner Wahrnehmung nach fehlte – als Technik oft wichtiger war, als die Aussage der Musik. Und dann kommt 2012 der 70-jährige Trompeter, Komponist, Rastafari und Kompositions-Lehrer Wadada Leo Smith daher, und zeigt der jungen Generation, dass auch die Älteren noch immer etwas zu sagen haben. Ten Freedom Summers ist tatsächlich (s)ein Lebenswerk, eine Zusammenfassung all dessen, was Smith in den Jahren seit dem Ende der Sechziger gelernt und gelebt hat. Er mag nicht die Bedeutung mancher Zeitgenossen gehabt haben, er arbeitete mit Anthony Braxton, Henry Threadgill oder Henry Kaiser zusammen – aber die kennt nur derjenige, der sich im FreeJazz der Siebziger auskennt. Sein '79er ECM-Album Divine Love immerhin sei hier erwähnt... Aber wie soll man ein über 4 1/2-stündiges Album beschreiben, das sich ohne Texte mit der Geschichte der Schwarzen in den USA seit der Mitte der Fünfziger befasst? Smith war dabei – das kann man sagen - „I was born in 1941 and grew up in segregated Mississippi and experienced the conditions which made it imperative for an activist movement for equality“ und so behandeln die 19 Suiten dieses Albums musikalisch verschiedenste Aspekte des historischen Kampfes der afro-amerikanischen Bevölkerung der USA um Gleichberechtigung. Es Begann 1977 mit Smith's Komposition über den 1963 in Mississippi von einem Polizisten ermordeten Bürgerrechts-Aktivisten Medgar Evers, dessen Mörder bis 1994 straffrei blieb. Es gibt Kompositionen mit Titeln wie „Rosa Parks and the Montgomery Bus Boycott, 381 Days“, „Martin Luther King, Jr: Memphis, the Prophecy“ oder – kaum weniger eindeutig - „Freedom Riders Ride“. Über Tracks wie „Emmett Till, Defiant, Fearless“ muss man sich informieren – und stösst auf rassistisches Unrecht, das unfassbar und zugleich erschreckend aktuell ist. Dazu lässt Smith sein eingespieltes Quartett aus zwei Drums, Bass und Klavier sowie das neun-köpfige Southwest Chamber Music Ensemble teils über vorgegebene Themen improvisieren, teils durchdachte Kompositionen abspielen. Dass allen Beteiligten das Thema am Herzen liegt, dass hier Klassik, freie Improvisation und kontrollierter Jazz aufeinander treffen, als würde Miles Davis mit Ornette Coleman zusammenarbeiten, dass die einzelnen Elemente der Musik einander durchdringen und ein äußerst komplexes Geschichtsbild zeichnen, macht Ten Freedom Summers zu einem dieser Jazz-Alben, die Bedeutung und Können mit Spaß zusammenführen. Die 4 ½ Stunden allerdings sind am Stück kaum durchhörbar – aber in Portionen ist das Ganze äußerst spannend und interessant.


Shackleton


Music for the Quiet Hour/The Drawbar Organ EP's

(Woe to the Septic Heart, 2012)

Meine Vorliebe für die düstereren Aspekte in der „elektronischen“ Musik wird an dieser Stelle immer wieder deutlich: Die Alben, die ich empfehle, sind quasi nie tanzbar, sondern abstrakt oder erzählerisch und vor Allem düster. So haben die beiden 2011er Andy Stott-EP's Passed Me By/We Stay Together mit Shackleton's Doppel EP-Release Music for the Quiet Hour/The Drawbar Organ EP's nicht nur das Format gemeinsam. Auch der Brite Sam Shackleton hat sich in den letzten Jahren einen Kosmos aus Beats, Sounds und Ideen geschaffen, der dunkelrot getönte Bilder malt. Seine 2009er Album Three EP's (aha!) war schon meisterlich in seiner Kombination von tribalistischen Drum-Programmierungen, Voice Samples aus dem Dschungel, regennassen Großstadt-Sounds und dunklen Dub-Bässen. Diese neue Doppel-CD mit 126 Minuten UK-Bass/Dubstep/Tribal Ambient ergänzt und führt das, was Shackleton in den letzten Jahren gemacht hatte, zum Gipfel. Man kann die Musik auf dem ersten Teil dieses Doppel-Albums als Sound-Collage bezeichnen. Das Music for the Quiet Hour genannte Album besteht aus fünf bis zu 21 minütigen Tracks, in denen Sprachsamples mit den geloopten Sounds von Xylophon, Marimba, Glocken etc rhythmisiert werden. Die Stücke werden zu hypnotischen Dauerschleifen, die mich eher an eine Mischung aus Krautrock und Elektronik denken lassen, als an Dubstep a la Burial. Das Ganze ist hochkomplex und wird bei aller Länge nie langweilig. Das seltsame Klingeln im Hintergrund erzeugt Spannung - eine unheimliche Stimmung, die in flirrender Hitze entstehen mag. Shackleton arbeitet beim zentralen „Music for the Quiet Hour Part IV“ mit dem Spoken Word Künstler Vengeance Tenfold zusammen, der nach einigen Minuten zu unentschieden dahin wandernden Beats und Sounds als Großvater seinem Enkel einen Brief diktiert. Ein Diktat, das in beängstigende Fragmente zerhackt wird. Die Drawbar Organ EP's gab es tatsächlich als drei Einzel-Releases, sie sind näher an The Three EP's, sind konventioneller, wenn man bei Shackleton von Konvention sprechen will. Die Klangfülle ist reicher – und damit auch etwas beliebiger, es gibt regelrechte Songs und Sounds, die an Industrial gemahnen – nicht zu Unrecht, da Shackleton mit Künstlern aus dem Throbbing Gristle/Coil Umfeld sympathisiert und deren Ästhetik durchaus teilt. Da ist „Seven Present Tenses“, das mit ein paar S/M Bezügen trefflich auf einem Coil-Album Platz gefunden hätte. Bester Track ist für mich „Katyusha“, bei dem das für die EP's titel-gebende Hammond Organ Kindermelodien spielt, die sich in einem verwilderten Dschungel aus Rhythmus und Sound immer weiter zu entfernen scheinen. Es mag sein, dass es 2012 von Burial, Actress oder Flying Lotus bessere Alben mit elektronischer Musik gibt. Aber die werden auch irgendwo ihren Platz finden. Hier und jetzt lobe ich Music for the Quiet Hour/The Drawbar Organ EP's.


Converge


All We Love We Leave Behind

(Epitaph, 2012)

Im Metal – oder in der „harten“ Musik – greift in der Zeit nach der Jahrtausendwende das gleiche Problem wie in fast allen anderen Musikrichtungen mit längerer Geschichte: Die Musik wird beliebig, zu einem weissen Rauschen, das alle Experimente und Ideen der letzten 30-40 Jahre irgendwie zusammenfasst - zu einer undefinierbaren Brühe. Das Einzige, was noch Charakter und die so sehr gewünschte Differenzierbarkeit erzeugt, sind identifizierbare Songs und/oder ein eigener Stil. Und gerade bei Metal und Artverwandtem ist das inzwischen schwer zu finden. Alle Härtegrade sind durchprobiert, der Sound der Bands ist von sumpfig über ultra-heavy bis glasklar durchdekliniert – auch die Besten ihrer Zunft zitieren eigentlich nur noch, man muss mit Vergleichen arbeiten, um sie zu beschreiben. 2012 hat mir das achte Studio-Album der Metal-Core Institution Converge am besten gefallen (...wobei ich allerdings den Black Metal auf Nachtmystium's Silencing Machine oder den Doom von Bell Witch's Longing fast genau so gut finde). Converge haben ihren Stil inzwischen auf's Feinste ausgefeilt, sie sind eine Macht, sie haben mit Kurt Ballou einen Bandkopf, der als Gitarrist, Songschreiber und Produzent inzwischen Alles kann, ihr Schrei-Sänger Jacob Bannon ist ein Energiebündel – was ihn zwar nicht von etlichen anderen unterscheidet, aber auf All We Love We Leave Behind bringt er seine persönlichsten Texte mit maximalem Engagement und ohne Auto-Tune oder ähnliche Sperenzchen zum Vortrag. Dass Converge in diesem auf Härte konzentrierten Genre auch noch wiedererkennbare – und spannende - Songs schreiben können, haben sie vorher schon mit Klassikern wie dem 2001er Album Jane Doe oder der 2009er Axe to Fall bewiesen. So könnte man jammern, dass All We Love... auch „nur“ ein paar weitere Metal-Core Perlen auf die Schnur fädelt. Aber dass diese Band nach einer über 20-jährigen Karriere immer noch so massiv und kraftvoll klingt, spricht für sie. Dass sie immer noch Überfälle wie das 50-sekündige „No Light Escapes“ starten - ganz klassischen Hardcore – den immer noch interessant strukturiert, dass auch ein langsamer Track wie „Coral Blue“ sich hier einfügt, ohne peinlich zu werden, dass sie mit dem Opener „Aimless Arrow direkt mal beweisen, dass Metal-Core immer noch spannend sein kann – melodisch, hart, glaubwürdig – beweist, dass sie zu den ganz Großen wie Metallica, Slayer, Death, Wolves in the Throne Room gehören. Eine Band, die ein Genre definiert und immer weiter ausformuliert hat. Keine Revolution. Aber das ist im Metal letztlich auch gar nicht mehr möglich. Schlicht großartiger Metal ist auch schön.







Mittwoch, 12. Juni 2019

1997 – Souled American bis Acetone – Wenn die Töne nur noch kriechen

Ich wollte diesen Artikel bewusst NICHT mit dem Begriff „Slowcore“ überschreiben – weil die Bands, die in diesem Artikel diese wunderbar langsame Musik machen, nicht im selben Topf köcheln, wie die Protagonisten des Slowcore, und weil selbst die den Begriff „Slowcore“ eher misstrauisch bis ablehnend betrachtet haben. Red House Painters, Low, Codeine und auch der American Music Club gelten als Hauptlieferanten einer Musik, die gegen den Lärm des Hardcore-beeinflussten Indie-Rock/Grunge der frühen 90er Langsamkeit – manchmal fast so etwas wie „Stille“ - gesetzt haben. Und diese Haltung und die daraus resultierende Musik wurde gehört, anerkannt, und sicher von dem einen oder anderen Musiker als Inspiration genutzt. Die Musik von Leuten wie Bill Callahan aka Smog oder Will Oldham aka Palace... hat aber auch Wurzeln in anderen Stilarten – vor Allem hörbar in Folk und Country (wo sich auch der American Music Club zuhause gefühlt haben dürften) – aber eben auch der Slowcore von Low oder Codeine hat bei ihnen Spuren hinterlassen (wenn man davon ausgeht, dass all diese Musiker nicht taub durch die Welt laufen). So haben die Alben hier unten – neben der Tatsache, dass sie oft mit Chicago'er Post-Rock/ Hardcore/ Alt. Country-Musikern und dem Label Drag City verbunden sind - ihren Bezug zum Folk und ihre Bedächtigkeit gemeinsam – und eine Langsamkeit, die im Gegensatz zu vielen anderen Alben ihrer Zeit steht. Ich unterstelle, dass dieses gedrosselte Tempo bei allen hier vertretenen Musikern eine bewusste Entscheidung ist, ein Stilmittel, das ihren Folk auf eine eigene Ebene versetzt, und das sie bei aller Unterschiedlichkeit miteinander verbindet. Und das ist ja das Prinzip, nach dem ich Alben in solchen Kapiteln miteinander kombiniere: Wem Souled American gefällt, dem könnte auch Smog, Appendix Out, Edith Frost, Movietone oder Acetone gefallen. Dass all diese Alben ganz wunderbare Facetten des (verlangsamten) Indie-Rock der Neunziger beleuchten, dass sie zeigen, wie unterschiedlich „Indie“ in dieser Zeit war, das rufe ich damit gerne in Erinnerung. Viele dieser Alben sind erstaunlich zeitlos, weil auf's Notwendige reduziert und ohne modischen Firlefanz gemacht. „Hip“ werden sie allerdings erst wieder, wenn verlangsamte Musik wieder gehyped wird.

Souled American


Notes Campfire

(Moll Tonträger, 1997)

Souled American waren Zeit ihrer Existenz wahrlich nicht vom Glück verfolgt - was eine gewisse Logik hat, bei einer Art von Musik, die nicht unbedingt mit den positivsten Emotionen spielt. Sie sind zwar ('87 gegründet...) wie Low und Codeine Vorläufer oder gar Mitbegründer des sog. SlowCore, sind aber obskurer geblieben als diese beiden und gehören irgendwie nicht wirklich dorthin, ihre Musik spielt dafür zuviel mit Jazz, Reggae und vor Allem Country-Versatzstücken, ist zu abseitig und dadurch zuguterletzt vollkommen eigenständig. Notes Campfire sollte das letzte gemeinsame Album des Trios werden, danach verließ Gitarrist Scott Tuma seine beiden Mitstreiter, Chris Grigoroff und Joe Adducci, was den Sound der Band dann komplett skelettiert hätte. Schon drei Jahre zuvor hatten Souled American mit Frozen ihren Country-Folk bis zur Bewegungslosigkeit eingefroren, auf Notes Campfire wurde die Musik wieder etwas wärmer, aber nicht weniger abstrakt. „Before Tonight“ kommt noch als überraschend flotter Einstieg, wird aber mitten im Song auf halbes Tempo zurückgefahren und mag so als Beispiel für die Arbeitsweise von Souled American dienen. Mit „Set In“ und „Flat“ folgen zwei Stücke, bei denen sich die Songstrukturen langsam auflösen, um in Klangmalerei von nahezu überirdischer Schönheit aufzugehen. Wie Bassist Adducci und die beiden Gitarristen Chris Grigoroff und Scott Tuma ohne rhythmische Unterstützung traumhaft sicher die Töne verweben, läßt beim Hören oftmals an einen Drahtseilakt denken, bei dem trotz höchster Spannung niemals Absturzgefahr besteht. Bei „All My Friends" kommen dann die Country-Sentiments, die immer die Basis der Band gebildet hatten, wieder deutlich zum Zuge, und vor allem Grigoroffs Stimme ist anzuhören, wie sehr er es genießt, sich mal wieder in einer schnapsgetränkten Ballade suhlen zu dürfen. Souled American's abstrakter Sound findet sich nur in Spurenelementen im Sound anderer Bands wieder, es gilt ihre Einmaligkeit bekannter zu machen, sie aus der Ecke der Musician's Musicians herauszuholen.


Lullabye For The Working Class


I Never Asked For Light

(Bar/None, 1997)

Einen - zumindest was die Atmosphäre betrifft - vergleichbaren Sound hat diese kleine Band aus Nebraska. Die Musiker von Lullabye for the Working Class sollten bald im Umfeld der Bright Eyes auftauchen, insbesondere Multi-Instrumentalist und Arrangeur Mike Mogis würde bei Connor Oberst' Band weit größere Bekanntheit erlangen als mit seiner eigenen Band. In einer losen Kombination von Musikern hatte er sich mit dem Sänger/Gitarristen Ted Stevens zusammengetan und schon mit dem Vorläufer Blanket Warm zumindest Kritiker beeindruckt. Das zweite Album verfeinerte den Sound aus rein akustischer Instrumentierung, klassisch anmutenden Arrangements und kammermusikalischem Folk. Man hört Gitarren, Ukulelen, Mandolinen und Dulcimer, dazu Streicher und Bläser – und all das auf die lose Art zusammengestellt, die eher an Talk Talk und Mark Hollis' Solo-Album erinnert, bei der eher Klangtextuern gewebt werden, als dass sie Melodien tragen. Dass sie in einem Atemzug mit Smog und Palace (Music oder was auch immer) genannt wurden hat eher mit einer ähnlichen Ausrichtung in den Wurzeln ihrer Musik zu tun, als mit dem letztlich erzielten Ergebnis. Man kann I Never Asked for Light vorwerfen, dass zu sehr im Klang gebadet wird, dass den Songs selber nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet wird. Aber es gibt immerhin die Preziose „Hypnotist“, es gibt unter der feinen Klangmalerei Songs wie „Jester's Siren“ oder „Descent“ zu entdecken . Dass das Album mit Vogelgezwitscher beginnt (aufgenommen auf der Veranda des Hauses von Mike und A.J. Mogis) und mit dem Klang der Brandung an der Westküste der USA endet (Bei ihrer ersten Tour dort aufgenommen) spricht für die romantische Sicht auf das eigene Schaffen, die das Album so reizend und reizvoll macht.

Smog


Red Apple Falls

(Drag City, 1997)

Bill Callahan alias Smog hatte sich in den Jahren zuvor durch perfekte und enorm stilsichere Musik in eine fast unangreifbare Position gebracht. The Doctor Came at Dawn, der Vorgänger zu Red Apple Falls, war so bis auf die Knochen reduziert, dass eine Wandlung hin zu einem süffigen Klangbild Pflicht sein musste. Und so bot Red Apple Falls das auch – in Maßen. Wobei die Ankündigung der Plattenfirma Bill Callahan hätten ein Pop-Album gemacht, natürlich ein absurder Witz war. Wenn so etwas Pop ist, muss James Blunt aus einer anderen Realität stammen. Worte wie "A Wood red bird lies in the woods/ Weeping into dead leaves" werden nie zum täglich Brot des Format-Radio Konsumenten, Und natürlich ist die Musik dazu immer noch so karg wie ein verlassener Parkplatz, hier und da gibt es eine Pedal-Steel oder ein Waldhorn, das sich über das nackte Scheppern erhebt, und ja, dann wird man tatsächlich wachsam, es könnte fast so etwas wie ein tröstliches Sich-Abfinden mit der Verzweiflung des Lebens entstehen. Der nackte Minimalismus der Vorgänger wurde ein bisschen möbliert, aber das Songwriting und die Texte blieben auf hohem Niveau. Auf jedem Album von Bill Callahan/Smog findet auch jeder seinen ganz besonderen Song; Der Titel-Cut ist karg und brüchig, „I Was a Stranger“ hingegen bietet seufzende Steel Gitarren und wunderbare Textzeilen wie; „Why do you women in this town let me look at you so bold?/You should have seen what I was in the last town/Or in the last town/I was worse than a stranger/I was well known.“ Der beste Song für mich ist „Ex-Con“, eine seltsame Vermischung von Country und New Wave mit Horn und Synthesizer und den Worten: „Out on the streets/I feel like a robot by the river/Looking for a drink“. Wer Berechenbarkeit befürchtet hatte, konnte sich trösten: Die Songs waren zu gut und Callahan's Humor zu schwarz.


Palace Music


Lost Blues and Other Songs

(Domino, 1997)


Der andere König des Minimalismus und der gepflegten Trübsal. Will Oldham war '97 so freundlich, uns zwei Alben zu schenken, wobei das eine – noch ganz logisch unter dem Namen Palace Music (mit dem Oldham sich ganz einfach nur hinter einem Begriff versteckt) - „nur“ eine Compilation ist. Aber was für eine: Palace Music/ Brothers hatten in den Jahren zwischen 1993 und 1997 etliche Singles veröffentlicht, die die Klasse der regulären LP-Cuts durchaus noch zu übertreffen vermochten. Dem inflationären Schaffensdrang Will Oldham's zu folgen war (und ist bis heute) schwierig und teuer, da tat eine Zusammenstellung wie Lost Blues & Other Songs einfach not. Von der ersten ("Ohio River Boat Song" von '93) bis zu neuesten Single („Little Blue Eyes“ von '97) über EP-Tracks und alternate takes diverser Album-Tracks wird hier ein großer Zeitraum und damit auch Palace's breites stilistisches Spektrum abgedeckt – und dennoch widerspricht sich hier Nichts. Oldham's Stimme und sein Songwriting geben allen Variablen einen deutlich erkennbaren Stil, der Lost Blues and Other Songs als konzises Album bestehen lässt. So findet man hier verschiedene Highlights versammelt, die von abgebranntem akustischen Folk über einer wattige Psychedelik bis zu regelrechtem „Rock“ verschiedene Sprachen versammeln, die aber dennoch deutlich von EINEM Musiker gesprochen werden. Der seltsame Folk des Will Oldham findet sich in Songs wie dem sehr schönen „Valentine's Day“, bei dem bislang unveröffentlichten „Lost Blues“ oder beim leiernden „Marriage“. Da gibt es eine noch kaputtere Version von “Riding“, einem der Songs des Debüt-Albums und die beiden Seiten der Single „West Palm Beach / Gulf Shores“, die an die Red House Painters erinnen mögen. Und dass Oldham auch freemde Songs in seinen Kosmos holen kann, zeigt das Cover des Mekon's Songs „Horses“. Der wird eindeutig zu Palace Music.


Will Oldham

Joya

(Domino, 1997)

Warum Will Oldham dann im Oktober '97 das erste Mal ein komplettes Album unter eigenem Namen veröffentlichte, kann ich nicht sagen – da finde ich auch keine Informationen. Joya ist nicht „anders“ als das Vorgänger-Album Arise Therefore (unter dem Namen Palace Music), oder als das Nachfolge-Album I See a Darkness (dann als Bonnie „Price“ Billie) – und da könnte der Grund liegen. Vielleicht wusste Oldham '97 ganz einfach noch nicht, wie er sich nach Palace... nennen sollte. Joya selber ist einfach eine Fortsetzung seiner Arbeit zuvor, ein Schritt in eine bestimmte Richtung – einer von etlichen möglichen, die er ja offenbar aus Prinzip in diversen personellen Kombinationen, Formaten und stilistischen Ausprägungen macht. Oldham probiert, so klingt seine Musik auch dann, wenn er sie zu einem vorläufigen Ende gebracht hat, er legt sich nicht so richtig fest, ihm wird – auch für Joya – eine Affinität zum Apallachian Folk und zum Country bescheinigt, aber er hat auch eine erkennbare Vergangenheit in der Indie- und Post-Rock Szene Chicago's, dort findet er seine Kollaborateure – hier den Gitarristen David Pajo und den Produzenten Rian Murphy sowie den Gitarristen und Schriftsteller Bob Arellano. Joya wird aber - genau wie all die anderen Alben - von Oldhams brüchiger Un-Stimme, von den oft so ungefähr klingenden Melodien und den schlauen Lyrics bestimmt. Ich könnte darauf hinweisen, dass dieses Album mehr nach 90er Indie-Rock klingt, dass sich Tracks wie „Antagonism“ und „Apocalypse, No“ mehr in Richtung Slowcore als in Richtung Country/Folk biegen, aber Will Oldham hat die Fähigkeit, immer nach sich selbst zu klingen, egal welche Facette seiner Musik er gerade ausleuchtet. Das – und seine Neugier - wird ihm in den kommenden Jahren ein unerschöpflicher Brunnen der Kreativität sein. Dass er dazu ein ausgefuchster Songwriter geworden ist, macht diese Musik so spannend. Joya ist vielleicht nicht Oldham's bestes Album – Lost Blues... ist interessanter – aber es ist sehr gut. Der Klassiker wird '99 mit I See a Darkness folgen.


Appendix Out


The Rye Bears a Poison

(Drag City, 1997)

Und weiter folge ich dem Prinzip – Wer Will Oldham mag, sollte unbedingt den Glagewian Alasdair Roberts bzw. seine damalige Band Appendix Out kennenlernen. Vereinfacht gesagt: Das ist die schottische Version von Palace... Aber die Musik ihres ersten Albums The Rye Bears a Poison verdient weit mehr, als einen schlichten Vergleich. Ali Roberts hatte Will Oldham tatsächlich bei einem Konzert in Glasgow kennengelernt, ihm ein Tape mit Musik seines damaligen Trios aufgedrängt – und ein paar Monate später den Vertrag mit dem Chicago'er Label Drag City bekommen. Nach einer Single kam dieses Debüt-Album zustande, in Glasgow mit ein paar Freunden aufgenommen kann man sich gut vorstellen, dass Will Oldham dieser Typ und seine Musik gefallen hat. Roberts ist klar der Kopf von Appendix Out, er hat - bis auf einen - alle Songs allein geschrieben, sein an britischem Folk geschultes Gitarrenspiel definiert die Band genauso, wie sein wackeliger Gesang. Diese Stimme kann man authentisch nennen, oder sich an ihrer scheinbaren Unsicherheit stoßen – das Songwriting aber ist sogar auf diesem Debüt schon ganz erstaunlich. Manche Songs haben nicht nur Titel, die an alte Folk-Weisen aus dem England des 16.-17- Jhdt. Stammen könnten, sie klingen auch so. „Lassie, Lie Near Me“ wird ausnahmsweise von der Drummerin Eva Peck gesungen, ist vergleichsweise upbeat, erinnert aber eben auch an die Folksongs aus Old England. „Brazil“ und „Autumn“ sind die schönsten Tracks, die britischen Folk mit „modernem“ Slow-Mo-Lo-Fi-Indie verbinden. Dass Appendix Out mit den folgenden beiden Alben immer besser wurden, und dass Roberts danach eine künstlerisch beachtliche Karriere in der jungen Folk-Szene Englands machen würde, war hier eigentlich schon zu ahnen. Aus dem (unfreiwillig geworfenen) Schatten Oldhams war er schon hier heraus getreten.


Edith Frost


Calling Over Time

(Drag City, 1997)

Sie gilt als eine der großen Songwriterinnen ihrer Generation – und hat bis 2005 gerade mal vier Alben gemacht, ehe sie verstummte. Edith Frost (das ist ihr richtiger Name) kam aus Texas, ging in den Neunzigern nach New York und als sie einen Vertrag bei Drag City bekam zuletzt nach Chicago, wo sie dann ihr erstes reguläres Album Calling Over Time veröffentlichte. Ihre Musik mit Bill Callahan oder Will Oldham zu vergleichen, wäre zwar nicht ganz falsch, aber es erweckt den Eindruck, sie lehne sich an deren „Vorbild“ an – was sie ganz gewiss nicht nötig hat. Sie selber nannte ihre Musik mal „pensive (= nachdenklich...) countrified psychedelia“ - was ihre Einflüsse ganz gut beschreiben dürfte. Die Songs haben gerade auf Calling Over Time deutliche Country-Anklänge, Frost's Stimme erinnert mich manchmal an die Art, wie Patsy Cline klagte, und sie hat auch Anklänge an manche Folk-Sängerin der Siebziger, aber die Songs hier haben einen harten Kern, stehen nicht nur auf Country-Boden, sondern auch im New Yorker Underground. Ich finde, dass das Album-Cover mit der verregneten Hochhaus-Kulisse den Geist dieser Songs besser wiedergibt, als jedes Foto der Musikerin. Dass mit Jim O'Rourke, David Grubbs, Sean O'Hagan die wichtigsten Chicago'er Post-Rock-Musiker mittun, dass Rian Murphy (der mit Will Oldham, Smog und Appendix Out gearbeitet hat) produziert, mag den Stellenwert erkennbar machen, den Edith Frost's Musik in Kenner-Kreisen hat – und ist auch ein Grund warum dieses Album hier hin passt. Ein Song wie „Denied“ mit droniger Orgel und dumpfem Bass paart die Velvets mit Country, der „Pony Song“ wiederum startet als klassischer, verlangsamter Country, bei Songs wie dem Titeltrack oder beim Opener „Temporary Loan“ erblüht aus kargen Klängen eine wunderschöne Melodie – warum Edith Frost als so große Songwriterin gilt, hört man aus jedem Song heraus. Dass hier Alles ein bisschen unauffälliger ist, als es sein könnte, mag dem Charakter Edith Frost's entsprechen – aber diese fehlende Dringlichkeit könnte ihr Schweigen nach 2005 erklären.


Julie Doiron


Loneliest in the Morning

(Sub Pop, 1997)

Die Franko-Kanadierin Julie Doiron war bis ins Vorjahr Sängerin und Bassistin von Eric's Trip gewesesn – einer der vielen Underground Bands der 90er, die mehr Aufmerksamkeit vetrdient hätten, als sie letztlich bekamen – aber wer hätte all die Musik hören sollen... Immerhin war ihr Name in Musiker-Kreisen bekannt und mit guter Reputation versorgt. Schon zu Band-Zeiten hatte sie Solo-Lo-Fi-Aufnahmen unter dem Moniker Broken Girl veröffentlicht. Nachdem sich Eric's Trip aufgelöst hatten arbeitete sie nun unter eigenem Namen – und für ihr Solo-Album Loneliest in the Morning bekam sie einen Vertrag bei Sub Pop, ging nach Memphis und holte sich mit Dave Shouse und vor Allem mit Howe Gelb (Giant Sand) fähige Begleiter ins Studio. Nicht dass deren Einfluss irgendetwas überlagern würde. Doiron's Stimme und ihr bei Eric's Trip erprobtes folkiges Songwriting bleibt unangetastet, sie hat eine Stimme, die ein bisschen an Joni Mitchell erinnert, nicht ganz so jazzig, ungeschulter, die Songs sind allesamt langsam und Lo-Fi und der Vergleich mit Chan Marshall aka Cat Power ist naheliegend, aber sie hat ihre eigene Art Songs zu schreiben und sie singt mit einer Art unterdrückter Emotionalität, die hervorragend zu diesen Songs passt. Der Opener „So Fast“ ist natürlich nicht „fast“, er basiert auf geschruppter kaum verstärkter Gitarre und ihrem gedoppelten Gesang – der Songtitel „Creative Depression“ passt gut zur Musik. Loneliest in the Morning ist ein unauffälliges Album, aber Songs wie der Album-Closer „Le Soleil“ - natürlich in französische gesungen – sind einfach schöner Lo-Fi/Slowcore, der jedem gefallen sollte, der von Cat Power und Eric's Trip nicht genug bekommt.


The Sonora Pine


II

(Quarterstick, 1997)

The Sonora Pine waren eines von mehreren Projekten der Multi-Instrumentalistin Tara Jane O'Neil. Einer kompletten Künstlerin, die als Musikern, Malerin, Produzentin im Laufe der Zeit ein immer größere Reputation erlangte. The Sonora Pine war ihre zweite Station nach den Post-Rockern Rodan. Sie hatte gleichzeitig noch die Band Retsin am Laufen (deren letztjähriges Album Egg Fusion ich hiermit empfehle...), es hatte schon ein Debüt-Album mit Sonora Pine gegeben, auf dem sie mit dem Lungfish Gitarristen Sean Meadows und der Geigerin Samara Lubelski den Post-Rock ihrer ersten Band Richtung Kammer-Musik verschoben hatte. Meadows verließ die Band, Ex-Rodan Drummer Kevin Coultas stieß dazu, sie holte sich noch ein paar Gäste und auf The Sonora Pine II setzte sie die Verlangsamung ihrer Musik fort. Ihr Songwriting wurde immer besser, durch die Verwendung von Cello, Geige und Akkordeon verlor das Album jeden Bezug zum „Rock“ in Post-Rock und mit O'Neil's wunderbarer, vielleicht etwas zu leise aufgenommener Stimme bekamen Songs wie „Long Ago Boy“ eine Luftigkeit, die nur noch von Coultas' Drums am Boden gehalten wurde. Und wenn der beim Album-Closer „Linda Jo“ auch noch zur Gitarre wechselt, dann sind SlowCore, Post-Rock und Country zu einem Klang verschmolzen. Wenn man so will, kann man die Musik auf diesem Album als perfekte Verbindung zwischen Post-Rock und SlowCore bezeichnen. Letztlich helfen solche Etikette bekanntermaßen nur bei der ungefähren Beschreibung von Musik. Hören muss man das schon selber, die sich langsam wandelnden Eigenarten von Tara Jane O'Neil's Musik sind der Entdeckung wert – zumal sie mit Bands wie Rodan, Retsin, The Naysayer und als Solo-Künstlerin genug Material geschaffen hat.


Movietone


Day and Night

(Domino, 1997)

.die hier sind jetzt ganz nah am auf den Alben zuvor nur angedeuteten Prinzip des „Slowcore“: Bis auf die Knochen skelettierte Songs, minimalistische Arrangements, langsame Tempi und nachdenkliche bis depressive Texte – ein Gemisch, das trügerisch einfach klingt, das evtl. sogar die Gefahr birgt, langweilig zu werden – aber keine Sorge – es gibt neben den Protagonisten Low und Codeine noch eine Handvoll weniger bekannter Acts, die Slowcore mit einer eigenen Schattierung versehen haben. Da sind Duster, Idaho, Bedhead, Spain... und Movietone. Die stammen aus Bristol, haben aber mit ihrem zweiten Album – in Europa auf Domino veröffentlicht – in den USA das Label Drag City als Heimat gefunden – die Post-Rock/Slowcore-Spezialisten, zu denen sie sehr gut passen. Ihr Slowcore hat mit Country oder Folk nichts zu tun, was man auf Day and Night zu hören bekommt, ist Kunst-Musik a la Talk Talk, schleichend langsam und jeden Ton bewusst geatmet. Ein Track wie „Summer“ beruht auf herab-perlenden Klavier-Akkorden, dem Drone einer Viola und gemurmelten Lyrics. „Night of the Acacias“ hat einen komplexen Rhythmus, der an alte Spy-Movies erinnert, Störgeräusche von Gitarren und die schönen Klarinetten-Improvisationen von Rachel Brooks - und tatsächlich wurde das Album „Recorded on an 8-track at the Albany Centre (Cafe Mono) and in houses...“ Der schönste Track dürfte das schlichte „Noche Marina“ sein, auf dem Bass, Gitarre, Piano und Kate Wright's dezente Stimme sich umeinander winden. Zum Abschluss lassen Movietone neun Minuten lang genau das geschehen, was der Songtitel beschreibt: „The Crystallisation of Salt at Night“. Wie man sieht - Musik, die mindestens so sehr auf Stimmung, Sound und Struktur basiert, wie auf „Songs“ - und daher eigentlich unmöglich zu beschreiben. Day and Night ist ein hervorragendes Beispiel für die reine Lehre des Slowcore.


Acetone


s/t

(Vapor, 1997)

Der in diesem Kapitel behandelten Musik sagt man ja eine gewisse Weltmüdigkeit nach – was ich eigentlich nicht ganz fair finde: Slow-Motion muss nicht automatisch Trauer heissen - aber getragene Rhythmen passen nun einmal zu gedeckten Farben. Acetone allerdings sind das Vehikel des Songwriters, Sängers und Basisten Richie Lee, der sich im Jahr 2001 aufgrund seiner Depressionen umbrachte – und man merkt der Band und ihrem vierten Album die tiefen Depressionen auch an, in denen Lee zu dieser Zeit schon gefangen war. Wenn er Zeilen singt wie: “It’s getting later every day / I’m not sure what I’m still waiting for / Doesn’t make much difference anymore.” - dann ist sicher klar, dass hier wenig Hoffnung bleibt. Das Album variiert kaum in seiner Stimmung – wie auch - Lee hatte nur noch wenig Positives im Sinn – aber er war noch nicht so tief in seine Depressionen versunken, dass keine Kreativität geblieben wäre. Songs wie „Germs“ taumeln mitunter ähnlich dahin, wie man es bei Souled American hört (siehe ganz zu Anfang dieses Artikels...), das Leben scheint so ausgewaschen, wie die Jeans auf dem CD-Cover – aber Schönheit ist immer noch da. Um zu begreifen, wie sich die Stimmung ihres Haupt-Songwriters in den Jahren seit Gründung der Band geändert hatte, ist es geraten, sich ihr Debüt-Album Cindy (von '93) anzuhören. Da klangen sie wie die Grunge-Version von Crazy Horse und Spacemen 3, mit deren Nachfolgern Spiritualized waren sie auf Tour, aber ein vergleichbarer kommerzieller Erfolg war ihnen nicht vergönnt. Auf den seit dem Debüt veröffentlichten Alben wurden sie immer dunkler, minimalistischer und rückten näher an die Countrymusik heran – aber ihre Songs wurden dabei nicht schwächer. Faszinierend, dass Lee's Songwriter-Fähigkeiten nicht verloren gingen. Man mag die eierigen Gitarren und den trägen Rhythmus bemängeln, man mag die bewusst neben den Tönen liegenden Vocal-Harmonies von Lee und Gitarrist Mark Lightcap beklagen – aber ein Track wie „All You Know“, mit weinender Steel und perfekter Interaktion zwischen Bass und Gitarre ist von wunderbar schludriger Schönheit - und klingt wie ein letztes Aufbäumen. 2001 veröffentlichten sie das noch desperatere York Blvd. Dann starb Lee und die Band löste sich auf.