Donnerstag, 26. Juli 2018

1978 – Pere Ubu und Devo - Da gab es auch eine Szene in Cleveland

...Wieso Cleveland? Cleveland in Ohio war in den 30er Jahren mal eine der größten Städte der USA. Aber mit dem Beginn der Ölkrise zu Beginn der Siebziger gingen etliche große Arbeitgeber aus der Stahl- und Automobilindustrie Pleite, weil sie mit der internationalen Konkurrenz nicht mithalten konnten. Legendär war der durch Cleveland fließende Cuyahoga, dessen Oberfläche durch hemmungslose Einleitung von Abwässern so verschmutzt war, dass er 1952 und 1969 Feuer fing (den hat z.B. Randy Newman besungen...). Eine Stadt mit dieser Atmosphäre, aus der in den Siebzigern die Menschen zu Tausenden abwanderten, die sich als erste US-Stadt nach der „Großen Depression“ der 30er Jahre 1978 für zahlungsunfähig erklären lassen musste, ist wahrscheinlich die perfekte Stadt für die gespenstischen, morbiden, absurden und apokalyptischen Klänge, die Pere Ubu und Devo erzeugten. Keimzelle von Pere Ubu waren die Rockets from the Tombs, die einen an MC5 und die Stooges erinnernden kranken Rock'n'Roll spielten, deren charismatischer Sänger David Thomas dann Pere Ubu gründete während der Rest der Band als Dead Boys in der New Yorker Punk-Szene Fuß fasste. Ihre Zeitgenossen Devo (bedeutet De-Evolution = die Menschheit entwickelt sich nicht vorwärst sondern zurück) aus dem nahe liegneden Akron teilten Auftrittsorte, künstlerischen Anspruch und vor Allem den Sinn fürs Absurde und die Schönheit des Verfalls. Ich denke es ist kein Wunder, dass Musiker, die in einer solchen Umwelt aufwachsen, die sich gegenseitig kennen , auch gewisse Gemeinsamkeiten haben. Es gab also tatsächlich eine Art „Szene“ – wenn so etwas aus der Gleichzeitigkeit von Einflüssen, Ideen, und den dazugehörigen, dafür sensiblen Künstlern besteht. Jedenfalls war Cleveland ein Ort, an dem sich musikalische Eruptionen zu einer bestimmten Zeit häuften. Und das darf man gerne auch als Szene bezeichnen.

Pere Ubu


Modern Dance

(Rough Trade, 1978)

Pere Ubu


Dub Housing

(Chrysalis, 1978)

Pere Ubu sind eine der eigenständigsten Bands der Post Punk Szene und inzwischen haben sie die breite Anerkennung gefunden, die sie verdienen. 1978 klangen sie allerdings ziemlich ungewöhnlich: Einerseits waren sie eine klassische Garagen-Punk Band mit dem üblichen Sound aus Gitarre, Bass, Drums, aber zugleich kamen da noch Allan Ravenstines seltsamen Synthesizer-Effekte hinzu - und David Thomas' bizarrer, hüpfender Gesang weit ausserhalb jeder Norm. Und im Gegensatz zu anderen Bands ihrer Generation paarten sie ihre Musik schon zu Zeiten, als das noch ungewohnt war mit den Stilmitteln von Krautrock Bands wie Can und NEU! und kreierten aus dieser Kombination einen sehr eigenständigen Sound. Ein Song wie “Laughing" mit seiner wandernden Saxophoneinleitung klingt nach Free Jazz, ist aber zugleich durch die hypnotische Gitarre- & Bass Linien fest im Punk verankert. Mit pulsierendem Beat beschwören sie das Bild einer in sich zusammenbrechenden Stadt herauf, einer Stadt, die ihren Untergang in einer apokalyptischen Party feiert. Kein Wunder, wenn man weiss, dass in ihrer Heimatstadt Cleveland zu dieser Zeit vermutlich genau diese Atmosphäre herrschte (Siehe Oben). Aber obwohl Modern Dance ein Panorama von Neurosen, Paranoia und Phobien ist, wird daraus kein depressives Album: Hier wird am Rande des Abgrundes getanzt. Das nachfolgende Album (..auf Chrysalis, der Heimat von Jethro Tull und dergleichen..!) sollte dann Pere Ubus Meisterwerk werden - wobei es sich zur Zeit seines Erscheinens natürlich miserabel verkaufte. Der Albumtitel Dub Housing bezieht sich auf die gleichförmigen Wohnblocks in Cleveland, die auf dem Cover abgebildet sind, in denen einige Bandmitglieder zur Zeit der Aufnahmen leben. Pere Ubu verändern und verdrehen die Songstrukturen hier noch mehr als auf dem Debüt, David Thomas klingt entweder, als würde er in Stimmen sprechen, oder als hätte er Schluckauf, Ravestines Synthies blubbern und zischen, und die Band spielt dazu neurotische Rockmusik. Ja, es gibt Rockmusik auf Dub Housing, und „Navvy“ ist sogar fast Pop, „Ubu Dance Party“ ist hüpfender Spaß, das Titelstück dagegen ist düster, ähnelt in vielem „Laughíng“ vom Debüt-Album. Einerseites ist Dub Housing die Fortführung der Musik auf Modern Dance, zugleich wird dieses Album jedoch zum Endpunkt einer Entwicklung. Pere Ubu existierten zwar weiter, aber so konsequent ausserhalb aller Normen wie auf ihren beiden ersten Alben sollten sie nie wieder klingen - auch wenn ich ihr drittes Album sehr empfehlen werde. 

 Pere Ubu - Laughing

 Pere Ubu - Navvy


Devo


Q: Are We Not Men ? A: We Are Devo

(Warner Bros., 1978)

Die Band aus Akron/Ohio hatte sich in der Umgebung Clevelands einen Namen gemacht, war bei ihren bald folgenden Auftritten in New York sowohl David Bowie und Iggy Pop als auch Robert Fripp und Brian Eno so positiv aufgefallen, dass Letzterer beschloss, die Band auf jeden Fall zu produzieren. Eno flog sie auf eigene Kosten nach Köln, setzte sie in Conny Plank's Studio, und nahm dort ihr Debüt mit ihnen - oder besser gegen sie – auf.... denn die Band ließ sich in ihren hektischen Roboter-Punk nicht gerne hineinreden. Die meisten von Eno's Ideen blieben aussen vor – für den Gönner sicher frustrierend – so dass das Album eben nach einer Mischung aus Synth-Pop und Punk klingt – ein Sound, der Songs wie „Uncontrollable Urge”, „Jocko Homo” oder „Gut Feeling / Slap Your Mammy” ganz hervorragend steht. Dazu kommt Mark Mothersbaughs Stimme, die klingt wie David Byrne, der eine Clown verschluckt hat oder wie Jello Biafra auf Speed. Sie covern „(I Can't Get No) Satisfaction“ von den Stones, und hören sich dabei so durchgeknallt an, dass man nicht mal an Ironie denkt, sie sind politisch vollkommen unkorrekt beim Klassiker „Mongoloid“, und man kann ihnen nicht ansatzweise böse sein, weil sie die gesamte Menschheit - sich selbst eingeschlossen – für verrückt erklären. Sie parodieren Progressiven Rock genauso wie Punk und das mit Können, Witz und Selbstironie. Q: Are We Not Men ? A: We Are Devo war nie der große Erfolg beschieden, den sich die Band wünschte - sie wollten schließlich die Welt erobern, aber es ist einer der witzigsten Startpunkte für etwas oft doch so Ernstes wie Post-Punk.

Devo - Mongoloid 




1978 – The Clash bis Vibrators - und was vom Punk übrig bleibt...

Punk ist - wie gesagt 1976/77, also sofort nach seiner „Geburt“ - mit einem feuchten „Plopp“ implodiert, hat dabei aber mächtig Eindruck hinterlassen, indem er etlichen jungen Menschen die sehr positive Erkenntnis vermittelt hat, dass man auch ohne jede Vorkenntnisse oder gar Virtuosität, dafür mit Vision, Wut und Engagement interessante Musik machen kann. So gibt es zum Ende der Sex Pistols im United Kingdom einige weitere Bands, die mit ihren Singles in den ersten paar Stunden des Punk hoch gespült wurden (The Adverts). Es gibt die, die fälschlicherweise in die Sparte „Punk“ geschoben wurden (The Stranglers, Saints) und es entstehen ab '77 reihenweise Bands, deren Kenntnis von Musiktheorie, Gitarre, Bass und Schlagzeug gering - deren Innovationskraft und Idealismus dafür um so größer ist (Wire, Siouxie & the Banshees, X-Ray Spex etc). Das wiederum sind oft Musiker, die mit dem selbstzerstörerischen Nihilismus der Pistols Wenig bis Nichts am Hut haben. Zur gleichen Zeit und aus gegebenem Anlass kommen etliche „gestandene“ Musiker auf die Idee, ihre vorhandene Virtuosität den einfacheren Strukturen dieser neuen Art von Musik unterzuordnen (Vibrators, The Only Ones...). Und all diese Bands – so z.B. auch Public Image Ltd. um den Ex-Sex Pistol John Lydon - machen letztlich die Art von Musik, die ganz passend unter dem Begriff New Wave oder Post Punk zusammengefasst werden wird – sie machen die Musik, die zunächst noch als Gegenentwurf zum Rock der Siebziger steht, die im Laufe der Zeit Dinosaurier wie Led Zeppelin oder Yes überflüssig macht und die musikalischen Entwicklungen in den 80ern und 90ern (Hardcore, Grunge, Alternative Rock etc...) auf den Weg bringen wird – und die ganz nebenbei dann mit Bands wie U2 oder den Simple Minds eigene Dinosaurier hervorbringen wird. Hier nun ein paar der wichtigsten und besten Alben des Jahres '78 aus dem Bereich, den man Post-Punk/New Wave nennt – Ein Bereich der Musik, der auf beiden Seiten des Atlantik mindestens bis '82 extrem fruchtbar sein wird.

The Clash


Give 'em Enough Rope

(CBS, 1978)

Nach ihrem fantastischen Debüt – einem der definitiven „Alben“ des Punk – bei dem doch eigentlich nur die Single zählt – hatten The Clash in England ziemlichen Aufruhr verursacht. Die einzelnen Bandmitglieder mussten nach diversen Untaten immer wieder in den Knast: Gründe waren Vandalismus in dieser und jener Form und absurde Vergehen wie „Kopfkissendiebstahl“. Aber neben all dem Unsinn begannen sie sich tatsächlich auch noch stärker politisch zu engagieren, spielten bei „Rock Against Racism“ auf und wetterten gegen Thatcher und die von ihr eingeführte soziale Kälte und Ungerechtigkeit - und nahmen nun mit dem „Ex Blue Öyster Cult Hit-Produzenten“ Sandy Pearlman ihr zweites Album mit richtiger, „glatter“ Produktion auf. Ein Vergehen, das ihnen die Punk-Szene äußerst übel nahm. Aber heute kann man's ja sagen: Give 'em Enough Rope ist durchaus ein würdiger Nachfolger des Debüts – das zu übertreffen ja sowieso unmöglich war. Insbesondere die erste Hälfte des Albums mit „Safe European Home“, „English Civil War“ und vor allem „Tommy Gun“ ist schön kraftvoll und rotzig, der bessere Sound beraubte die Band nicht ihrer Energie und der von vielen Dogmatikern als skandalös angesehene Umstand, dass sie inzwischen erkennbar über den Tellerrand des Punk hinwegsahen, erwies sich bald als Segen. Give 'em Enough Rope gilt aber auch im Nachhinein zu Recht als eines der letzten wichtigen Manifeste des Punk. 

The Clash - Tommy Gun 

The Adverts


Crossing The Red Sea With The Adverts

(Bright, 1978)

Wie in der Einleitung gesagt: Punk war '78 Geschichte, und die Bands die nun ein Album veröffentlichten, hatten das Wichtigste zuvor auf ihren Singles gesagt: The Adverts zum Beispiel gehören zu den Pionieren des Genres, sie hatten als Live-Act Im Roxy ganz zu Anfang des Hypes bestanden, ihre Singles - „No Time to be 21“, „One Chord Wonders“ und vor Allem „Gary Gilmore's Eyes“ (über einen Mörder, der seine Augen nach Vollzug der Todesstrafe der Medizin spenden wollte) hatten zu Recht für Furore gesorgt. Tatsächlich soll der verehrte John Lydon sie später als eine der wenigen Punk-Bands erwähnt haben, die Gnade vor seinen Augen fand. Zu ihrem Ruhm mag auch beigetragen haben, dass sie mit Gaye Advert (eigentlich Black) eine Bassistin in ihren Reihen hatten – in der doch sehr chauvinistischen Szene eine Ausnahme. Ihr nun verspätet veröffentlchtes Debüt Crossing the Red Sea with the Adverts ist tatsächlich so etwas wie das (unbekanntere) Pendant zu den Debütalben der Pistols und der Clash. Es ist eines der wenigen Alben seiner Zunft, bei denen neben den Singles auf LP-länge noch weitere gelungene Songs zu finden sind – Songs, die das Album tatsächlich komplett genießbar machen: „Bored Teenagers“, „Bombsite Boy“ und der „Great British Mistake“ hätten als Singles genauso gut funktioniert, die Band bekam von Produzenten John Leckie einen für Punk recht „cleanen“ Sound, der aber den Genuss erhöht, zumal die Energie der Adverts doch regelrecht aus den Boxen spritzt. Die Texte mögen sehr selbst-referentiell sein – es geht eben um junge, desillusionierte Menschen – aber so waren sie eben, und Punk war nur eine kurze Explosion. Um so besser, dass davon etwas so genießbares übriggeblieben ist.

 The Adverts - Great British Mistake


Public Image Ltd.


Public Image / First Issue

(Virgin, 1978)

John Lydon als Idealist: Während die restlichen Sex Pistols noch als Ruine des Punk weitermachten, hatte er die Band nach der desaströsen US-Tour verlassen, um mit anderen Leuten andere Musik zu machen. Er rekrutierte mit John Wardle einen Freund aus College-Tagen als Bassisten. Der benannte sich um in Jah Wobble – Jah als Bezug zum von ihm geliebten Dub-Reggae und seinen abgrundtiefen Bässen. Dazu kam der Gitarrist Keith Levene – der Gründungsmitglied bei The Clash gewesen war, und dessen Gitarrenspiel vielleicht nicht im althergebrachten Sinn virtuos war, der dafür aber Splitter in die Ohren des Publikums schoss.– und der Kanadier Jim Walker als Drummer. Dass Lydon von Punk, und von den Anhängern aus Sex Pistols Tagen und dem Ausverkauf der ganzen Szene aufs Äußerste angewidert war, hatte er schon bei den Pistols deutlich zum Ausdruck gebracht. Nun machte er auch Musik, die genau diese Abscheu und Ablehnung vermitteln sollte: Er verband Noise, Sound Collagen, Dub und durchaus auch Elemente des progressiven Rock auf First Issue zu etwas, das man in bald Post-Punk nennen würde (Ein Begriff, zu dem er sicherlich auch einen passenden Kommentar hätte...). Dass man Public Image Ltd. mit den Pistols in Verbindung bringen würde, konnte er nicht verhindern. Sein „Gesangs“-Stil war nun einmal unverkennbar , aber Songs wie der neun-minütige Opener „Theme“ haben mit Punk genau soviel zu tun, wie mit Jimi Hendrix. Und da ist vor Allem der massive, tiefergelegte Bass-Sound von Jah Wobble, der das Album so besonders macht. So ein Sound war bislang außerhalb des (damals noch ziemlich unbekannten) Dub-Reggae noch nicht da gewesen. P.I.L. wurden tatsächlich vom Label gezwungen, First Issue wegen seiner „Andersartigkeit“ für den amerikanischen Markt teilweise neu aufzunehmen – aber auch diese Aufnahmen wurden aufgrund „mangelnder Kommerzialität“ bis 2013 nicht in den USA veröffentlicht..! Ignoranz ist zeitlos. 

Public Image Ltd.- Theme 



Siouxie & The Banshees


The Scream

(Polydor, 1978)

Siouxie & the Banshees entstehen – wie viele Post Punk Bands - um '76, nachdem sich die junge Susan Janet Ballion aka Siouxie Sioux und der Gitarrist Steven Severin bei einem Konzert von Roxy Music kennenlernen. Beide hängen bald im hippen Umfeld der Sex Pistols herum, Sid Vicious spielt mal kurz bei den Banshees mit, Visionär und Radio-DJ John Peel liebt ihre Singles (die als 81er Compilation Once Upon a Time gesammelt unverzichtbar sind) aber die Banshees bekommen erst '78 auf Druck ihrer Fans den gewünschten Plattenvertrag und veröffentlichen die erfolgreiche Single „Hong Kong Garden“ und ihr großartiges Debüt-Album Scream. Und was soll man sagen – hier ist auch wieder all das vertreten, was Post-Punk zur Frischzellenkur für die lahmende Pop-Musik der Siebziger macht: Simplizität, Furor, Stil. Siouxie's selbstbewusste, schneidende Stimme nimmt den neuen Typus Sängerinnen kommender Jahre vorweg, drohend grummelnder Bass, marschierende Drums, uneitel jangelnde Gitarren – und dazu das wichtigste Element – diese Songs. Die Singles haben sie tatsächlich nach alter britischer Tradition aussen vor gelassen, aber keiner der Tracks der LP bleibt unter dem Niveau der „Hits“. Egal ob „Jigsaw Feeling“, „Carcass“ oder „Mirage“, alles spannende Songs, äußerst dynamisch und dramatisch. Dass Siouxie and the Banshees als Begründer der Gothic-Szene gelten, hat sowohl mit ihrem düsteren Sound als auch mit ihren polarisierenden Auftreten zu tun. Dass Siouxie bei Konzerten Nazi-Symbole als modische Accessoires trägt, prägt das Gothic Image, hat mit politischer Gesinnung aber nichts zu tun. Sie widmen den Song „Metal Postcard (Mittageisen)“ dem Foto-Collagen-Künstler John Heartfield, der als ausgewiesener Gegner der Nazi's 1933 aus Deutschland geflohen war. Scream ist ein eigenständiges, prägendes und eines der wichtigsten Alben des Post-Punk – und Siouxie and the Banshees werden in den folgenden Jahre etliche weitere tolle Alben veröffentlichen, durch die sie gleichberechtigt neben The Cure, Joy Division, Gang of Four etc stehen. 

Siouxsie And The Banshees - Jigsaw Feeling 

X-Ray Spex


Germfree Adolescents

(EMI, 1978)

Und à propos Frauen im (Post)-Punk – es gibt einige erfreulich selbstbewusste Musikerinnen in der doch sehr patriarchalischen und macho-haften Szene jener Zeit. Da hat eine gewisse Marianne Elliott Said aka Poly Styrene zusammen mit der Saxophonistin Susan Whitbyam aka Lora Logic + männlichem Bassist, Gitarrist und Drummer – wieder mal nach dem Besuch eines Sex Pistols Konzertes übrigens... 1977 die X-Ray Spex gegründet um Punk mit besagtem Blasinstrument und psychedelischen Ausbrüchen zu vereinen. Und damit wird ihr Debüt Germfree Adolescents zu einem weiteren Solitär in der Musik seiner Zeit. Man kann die Ursprünge der Clash und der Pistols ja problemlos erkennen – die X-Ray Spex hingegen scheinen komplett fertig aus dem Orkus entsprungen zu sein. Insbesondere Poly Styrene nutzt die neu geschriebenen Regeln des Punk um nichts anderes als sie selbst zu sein, sie ist eine hervorragende Texterin, die die moderne Konsum-Gesellschaft zugleich anspuckt und feiert, fasziniert betrachtet und sich vor ihr ekelt. Das Album enthält mit „Oh Bondage! Up Yours!“ einen der anthemischen Punk-Songs dieser Zeit – eine als zynische Aufforderung verpackte Kritik an grenzenlosem Konsum, und das komplette Album ist voll solcher energetischer, lustvoller Ausbrüche. Das Saxophon – übrigens meist von Rudi Thompson gespielt, weil Lora Logic bei den Aufnahmen zum Album gerade mal 17 war – lässt die X-Ray Spex natürlich aus der Masse herausragen – genau wie Poly Styrene's opernhafter, schriller Gesang, der für die Szene erstaunlich virtuos ist. Mit Germfree Adolescents hatte die Band allerdings auch in einer regelrechten Explosion alles gesagt, was zu sagen war. Im folgenden Jahr löste sie sich auf und nach einem Solo-Album schloss sich Poly Styrene der Hare Krishna Bewegung an. 1995 kam es zu einem weiteren Album, aber Germfree Adolescents ist ein Album, das keine vergleichbaren Nachfolger(…höchstens die Riot Grrrls der Neunziger...) oder Vorläufer hat, und die weiteren Highlights hier – der Titelsong, „Identity, „Plastc Bag“ und so weiter – machen es als komplettes Ding delektabel. 

X-Ray Spex - Oh Bondage! Up Yours! 


The Saints


Eternally Yours

(Harvest, 1978)

The Saints


Prehistoric Sounds

(Harvest, 1978)

Ein bisschen unfair ist es ja schon, die Australier The Saints in diesen Topf hier zu werfen: Sie waren '77 mit ihrem Album I'm Stranded einfach nur zur rechten Zeit am richtigen Ort (London's Punk-Szene) – aber ihre Inspiration kam erkennbar von Bands aus den Siebzigern wie den Stooges oder den MC5 (... was sie andererseits mit vielen ihrer Zeitgenossen teilen...) und die beiden Bandköpfe Chris Bailey und Ed Kuepper hatten von Anfang an mehr im Sinn, als den limitierten Sound von Punk – was I'm Stranded letztlich zum zeitlosen Klassiker macht – und was die beiden nachfolgenden Alben zwar einerseits noch weiter vom Punk entfernt, sie aber zu gleichermaßen hörenswerten Alben macht. Bailey's arrogantes Genöle ist das einzige Element, das die Saints in die Schublade Punk passen lässt, ihr zweites Album Eternally Yours hat schon etliche Inhaltsstoffe, die im „reinen“ Punk ein No Go gewesen wären: Da gibt es akustische Gitarren, Tempowechsel, Bläserparts, ja, sogar regelrechtes Singer/Songwriter Material, wie etwa das von Ed Kuepper geschrieben „Memories are Made of This“. Natürlich gibt es auch schnelle, harte Punk Nummern, die an etwas komplexere Ramones erinnern mögen („No, Your Product“), aber dieses Changieren zwischen Wildheit und Kontrolle, Punk und hartem Rock macht das Album nicht so sehr zum Punk-Standardwerk, als vielmehr zum gelungenen Album seiner Zeit. Und im selben Jahr noch gingen die Saints noch weiter in Richtung Jazz und Blues australischer Prägung. Prehistoric Sounds klingt gar nicht mehr nach Punk, stattdessen haben wir Ed Kueppers ausgefeilte Bläsersätze, Songs wie „Church of Indifference“ oder die Hymne an die Heimatstadt Brisbane – und mit „Swing for the Crime“ und „All Times Through Paradise“ zu Anfang zwei Stücke, die den Rest dummerweise etwas zu sehr überstrahlen. Was Prehistortic Sounds ist? Jedenfalls kein Punk... Es ist Rockmusik, bei der Bläser gleichberechtigt neben den Gitarren stehen und ein Vorbild für spätere Bands wie etwa Rocket from the Crypt bilden. Aber es ist auch keine „normale = banale“ Rockmusik, dafür schimmert das Unkonventionelle und die Kraft des Punk doch zu sehr durch. Chris Bailey übrigens war nicht entzückt, und er und Ed Kuepper trennten sich. The Saints blieben als Bailey's Solo-Vehikel produktiv, Kuepper machte mit den Laughing Clowns und dann alleine weiter. 

 Saints - Memories Are Made Of This

 Saints - Swing For The Crime

The Buzzcocks


Another Music In A Different Kitchen

(United Artists, 1978)

The Buzzcocks

Love Bites

(United Artists, 1978)

Die Buzzcocks sind mit ihrem schlauen (Pop)-Punk eine der Bands der ersten Stunde gewesen. Ihre Debüt EP Spiral Scratch (von 1977) ist so genial wie ihr Titel: Neun Minuten, in denen alles gesagt ist. Ihr Sänger Howard Devoto verließ die Band sofort nach dieser ersten EP, um mit Magazine ebenso tolle Musik zu machen (siehe folgendes Review), wie Mitbegründer Steve Shelley es dann weiterhin mit der Ursprungsband machen sollte – ein Split also zum Nutzen der Musikhörer. Die Beschreibung: "Punks with design school cred and pop hooks.“ ist zutreffend. Den Buzzcocks mag die Häme der Sex Pistols oder die politische und gesellschaftskritische Wut von The Clash fehlen, aber dafür konnte keiner jugendliches Ungestüm und sexuelle Verwirrungen so gut in kurzen, knackigen Songs ausdrücken. Und somit machten sie von Anfang an nicht Punk (das machte doch eigentlich Keiner) sondern Power-Pop, an den frühen Beatles geschult, an der gesellschaftlichen Realität ihrer Zeit gehärtet. Another Music in a Different Kitchen jedenfalls hat die reduzierte Virtuosität, die die hier beschriebenen entscheidenden Alben der End-Siebziger auszeichnet. Da sind die Propeller-Drums von John Maher, effektive Gitarren von Steve Diggle – ohne unnötigen Ballast auf den Punkt gespielte Songs die meist unter der Drei-Minuten Marke bleiben, und Steve Shelley's Lyrics über Teenage Angst und bittersüße Liebe. Das ist nicht in dem Sinne aggressiv, aber es ist perfekte, harte, schnelle Popmusik. Und das gleiche kann man auch über den flugs hinterher geschossenen Nachfolger Love Bites sagen: Womöglich sind die „Punk“ Spuren hier noch weniger erkennbar, vielleicht gibt es kleine Abnutzungsspuren nach so kurzer Zeit, in der die Band im Schnellschußverfahren ein weiteres Album einspielen musste – aber man bedenke: Die Beatles haben damals auch oft zwei gleichwertige Alben in einem Jahr aufeinander folgen lassen – und Songs wie „Sixteen Again“ oder das perfekte und programmatische „Ever Fallen in Love (With Someone You Shouldnt've)“ lassen jede Kritik kleinlich erscheinen. Dies ist Power-Pop im Punk Tempo mit einem Sinn für Melodien, wie man ihn nur von britischen Bands kennt.

 Buzzcocks - Spiral Scratch (Full EP)

 Buzzcocks - Ever Fallen In Love (With Some You Shouldn't)

Magazine

Real Life
(Virgin, 1978)

Eigentlich hatte Howard Devoto die Buzzcocks verlassen, um sein Studium zu beenden, aber dann hörte er Ende '77 die neuen, revolutionären Alben von David Bowie (Low ) und Iggy Pop (Idiot) und beschloss, doch weiter Musik zu machen. Er suchte sich ein paar Musiker zusammen, verkündete groß und breit, dass er mit Punk Nichts am Hut habe, und hatte innerhalb kürzester Zeit die Presse hinter sich und einen Plattenvertrag bei Virgin Records in der Tasche. Tatsächlich ist Real Life einige Schritte von Punk entfernt – und zugleich ist das, was das Album so besonders macht, die Reduktion, die nur aus dem Beben entstand, das Punk erzeugte. Es ist Post-Punk und Art Rock – um es in Kategorien zu beschreiben - und es hat die Eigenschaft, die in jeder Musik entscheidend ist – und die zu dieser Zeit so einige Alben herausragen lässt: Es ist einzigartig und unverwechselbar. Howard Devoto – auf der Bühne meist weiss geschminkt – hatte eine Attitüde, die eher aristokratisch war, passte damit zwar in eine Form, die z.B. Peter Gabriel vorgestanzt hatte, war für den normalen Prog-Rock Fan aber doch zu futuristisch, kühl und fremdartig. Und die Musik auf Real Life mag das Drama eines Peter Hammill und die Experimentierlust eines Brian Eno haben, aber sie wird eben auch durch die Energie des Punk ergänzt. Beim Opener spielen die moody Keyboards des Könners Dave Formula eine 60ies Melodie, dann verkündet Devoto's androgyne Stimme „Clarity has reared its ugly head again. So this is real life" und die Sixties-Sounds werden von dissonantem Piano unterbrochen. Devoto spricht mit Dämonen („My Tulpa“) und mit Gott - dem „Great Beautician in the Sky“. Mit „Shot By Both Sides“ hat er einen unwiderstehlichen Song, der die Rasanz der Buzzcocks mit seiner neu-gefundenen Artyness verbindet. Oder man höre das sich steigernde „Motorcade“ - um zu erkennen, was Devoto's Magazine von den Buzzcocks unterscheidet (das Ausladende, die Theatralik...) Für mich verbindet Real Life den Pop der Buzzcocks mit der Konsequenz von Wire – was jedem, der die beiden nicht kennt dazu bringen sollte, die Alben aller drei Bands aus dieser Zeit zu erforschen. Diese Musik ist erstaunlich zeitlos (...was für die meisten Alben hier gilt...) 

Magazine - Shot By Both Sides 

The Stranglers


Black & White

(EMI, 1978)

Ich nehme ja an, dass die Stranglers – wie so viele Bands dieser Generation – nicht die Absicht hatten, „Punk“ zu sein. Sie haben den Hype genutzt - ob freiwillig oder unfreiwillig - und dabei mit den Mitteln und Ideen ihrer Zeit ihre eigene Art von (Pop-oder Rock-) Musik gemacht. Ihre vorherigen beiden Alben (siehe 1977 - Sex Pistols bis Kraftwerk ) gelten trotz komplexer Sound- und Rhythmus- Strukturen, ausgefeilter Songs und virtuoser instrumentaler Könnerschaft als Grundpfeiler des Punk. Da spielt ihr Name, der textliche Zynismus und ihr Auftreten im Gefolge anderer Bands wohl die größere Rolle. Und auch auf ihrem dritten Album Black & White findet kein Punk statt. Im Gegenteil – die Art, wie sich hier die Gitarren von Hugh Cronwell und die Keyboards von Dave Greenfield umspielen, würde jeder Progressive-Rock Band zur Ehre gereichen. Das 5+minütige „Toiler on the Sea“ hat tatsächlich eine fast zwei-minütige instrumentale Einleitung – aber auf der anderen Seite schieben der Knochenbrecher-Bass von Jean-Jaques Brunel und die No-Fun-Stimme von Cronwell die Musik der Stranglers weit aus jeder Kitsch-Ecke heraus. Dass X-Ray Spex Saxophonistin Lora Logic bei „Rise of the Robots“ aushilft zeigt die Verflechtung der Post-Punk-Szene – und passt natürlich zur erkennbaren Absicht der Stranglers, mehr zu machen, als nur ein weiteres Album in der Art der beiden Vorgänger. Man könnte kritisieren, dass der Versuch, das Spektrum zu erweitern auf Kosten des Songwritings gegangen ist. Black & White gilt als schwächeres Album als die Vorgänger und der Nachfolger The Raven – aber unter den Experimenten verbergen sich immerhin Songs wie „Nice N' Sleazy“ oder das schicke „Sweden (All Quiet on the Eastern Front)“. Und im erschaffen einer regelrecht beängstigenden Atmosphäre sind sie immer besser geworden. Als Beispiel dient mir da das ansonsten etwas schlichte „In the Shadows“. Im Quartett der ersten Alben der Stranglers also das ungeliebte Kind – aber auch das hat seinen finsteren Charme.

The Stranglers - Sweden (All Quiet on the Eastern Front) 


The Only Ones


s/t

(CBS, 1978)

Die Only Ones befinden sich um noch einiges mehr außerhalb der üblichen Punk-Kategorien – wurden aber wegen der zeitlichen Gegebenheiten in diese Schublade gesteckt. Sie sind so Punk wie die Stranglers, die Soft Boys oder Television. Die Musiker sind allesamt schon weit über der Mitte der Zwanziger, haben in England bei diversen Rock- und Art-Rock Band gespielt und steigen jetzt mit ihrem neuen Projekt und – man muss es so nennen – mit einer epochalen Single in das Punk-Karussell ein. „Another Girl, Another Planet“ ist ein Behemoth von einem Song, neben dem noch so gute Begleiter verblassen. Also: diesen Track vielleicht auch mal überspringen, um der Klasse von sparsamen Schleichern wie „Breaking Down“ - mit den bezeichnenden Textzeilen „It's the pains inside my head that worry me“ - oder des monolithischen „The Beast“ gewahr zu werden. The Only Ones hat vieles mit dem Debüt von Television gemein – insbesondere natürlich die nasale Stimme von Sänger und Songwriter Peter Perrett erinnert an Tom Verlaine, aber auch der klare, sparsame Sound der versierten Band, der Verzicht auf Blues-Anleihen, die sich windenden Gitarren und das kluge Songwriting lassen an die New Yorker denken. Dass „Another Girl, Another Planet“ die Klasse der anderen Songs überdeckt, ist regelrecht tragisch – man darf nicht das Album wegen eines Songs überhören. Das weitere Schicksal krankte jedenfalls an dem einen Hit – und an Perrett's galoppierender Drogensucht. Dass sie in den folgenden zwei Jahren zwei genauso gelungene Nachfolger machten, grenzt an ein Wunder. Sollte man nur ein Album der Band wollen, wäre The Only Ones wohl das Album der Wahl. Es ist in seiner Art bezeichnend für die Zeit „nach Punk“ - als auf einmal alles möglich war, weil etliche Musiker sich nun auf's Wesentliche beschränkten – eine Idee, den Song und die Energie, die Popmusik wieder zu einem Ereignis macht.

The Only Ones - The Beast 


The Vibrators


V2

(Epic, 1978)

Auch die Vibrators gehören zu den Bands, denen das Punk-Korsett eigentlich zu eng ist. Aber wegen ihrer Vergangenheit im Vorprogramm von Chris Spedding und Iggy Pop, wegen ihrer Auftritte im Roxy Club und wegen des Erfolges solcher Singles wie „Pogo Dancing“ und „Baby Baby“ gelten sie als Punk Band der ersten Stunde. So sind sie 1978 schon regelrechte Veteranen, und V2 ist schon das zweite Album der Band. Und wie das bei Punk oft so ist - eine komplette LP ist auch hier ein bisschen zu viel. Das Debütalbum Pure Mania gehört noch zu den durchgehend anhörbaren Alben seiner Zunft, auf V2 wurde dann möglicherweise einfach etwas zu viel probiert. Wo die Vibrators gut sind, da sind sie sehr gut - „24 Hour Party People“ klingt nach Chuck Berry und ist entsprechend energetisch, „Feel Alright“ ist feiner Garagen-Rock, und sobald die Vorbilder des Punk unverstellt zu erkennen sind, sind die Vibrators wirklich wunderbar – spielen eine harte Version des zeitlosen Power-Pop. Ähnlich wie die Stranglers, mit denen sie auch die Bühne teilten, ist das Punk-Korsett zu eng für diese Band (vor Allem für Gitarrist John Ellis, der dann auch bald bei Leuten wie Peter Gabriel und Peter Hammill aushelfen sollte), aber im Gegensatz zu anderen, länger kreativen Bands hatten sie nicht die Abenteuerlust - oder die Unverschämtheit – sich weiter zu entwickeln und blieben zu guter Letzt auf der Strecke. Ihre ersten beiden Alben aber sollte man hören, wenn man nicht genug hat von Single-Compilations wie No Thanks! 70's Punk Rebellion und den fünf bis zehn durchgehend lohnenden Alben ihrer „Gattung“. 

The Vibrators - Feel Alright 


Klar, da ist auch Post-Punk in den USA!


Natürlich gibt es '78 noch weitere herausragende Alben, die man Punk oder Post-Punk oder New Wave nennen kann/muss. Hier beschränke ich mich auf Bands aus dem United Kingdom, andere Meisterwerke dieser Art Musik – insbesondere aus den USA – werden unter einer anderen Überschrift anderswo beschrieben. Ich verweise auf den kurzen Artikel über Punk in Cleveland (Pere Ubu, Devo) und auf den "Hauptartikel" mit den Bands aus dem Umfeld des CBGB's. Und '78 gibt es natürlich noch etliche Alben die Post-Punk nur streifen, die gar nichts damit zu tun haben, aber trotzdem toll sind etc. Kommt alles noch irgendwo anders.
















Mittwoch, 4. Juli 2018

2008 - Obama und die Finanzkrise der Banken - Portishead bis TV On The Radio

In den USA wird mit dem Demokraten Barack Obama erstmals ein Afro-Amerikaner zum Präsidenten gewählt. Er ist Hoffnungsträger vieler fortschrittlicher Amerikaner, wird aber an den Strukturen des konservativen Amerika verzweifeln, die meisten Hoffnungen nicht einlösen können und vor Allem Politik und Gesellschaft der USA in unversöhnliche Lager spalten. Die Olympischen Spiele finden dieses Jahr in China statt und werden von Protesten gegen die chinesische Regierung begleitet. In Österreich wird der Inzestfall des Josef Fritzl aufgedeckt, der seine Tochter 24 Jahre in seinem Keller gefangen hielt und sieben Kinder mit ihr hatte. Seit 2007 belastet die von spekulationswütigen Banken eingeleitete Finanzkrise die Weltwirtschaft – diejenigen, die dafür zahlen sind diejenigen, die am wenigsten Schuld tragen. Der Fluch der Globalisierung eben: Risiken lohnen sich für Konzerne und Banken, Lasten werden von diesen aber nicht getragen... Auch der Klimawandel wird immer deutlicher erkennbar. 2008 war das neunt-wärmste Jahr seit Beginn der Wetterstatistik und auch Europa wird von Orkanen heimgesucht, in Süd-China sterben bei einem Erdbeben 70.000 und bei einem Zyklon in Myanmar kommen 80.000 Menschen um. Musikalisch ist 2008 geprägt von der triumphalen Rückkehr einiger etablierter Acts (Portishead, Sigur Ros, Randy Newman etc.) und einigen hervorragenden Debütalben. Bands wie Vampire Weekend oder Foals bringen Disco und afrikanische Einflüsse in die alternative Popmusik. Die Fleet Foxes hingegen machen Americana in memoriam The Band wieder salonfähig. Auch 70er Disco-Sound kommt in Verbindung mit elektronischer Musik wieder zum Vorschein. Verlangsamte extreme Musik in Form von Drone, Funeral Doom, Black Doom etc. ist dieses Jahr mit etlichen ganz großen Alben vertreten. Der „The-Bands“ Hype incl. Vereinfachung des Indie Rock mag vorbei sein, aber es tauchen immer noch Bands auf, die dem Post-Punk neue Facetten abgewinnen. Freak Folk ist etabliert, James Blackshaw lässt American Primitivism mit reinen Gitarrenklängen neu erstrahlen, Fucked Up paaren Punk und Pink Floyd... Kurz: Es ist ein weiteres Jahr mit einem eklektizistischen Mix an guter Musik – die allerdings in den Charts oder im Radio kaum stattfindet. Musik wird inzwischen hauptsächlich im Netz via Downloads und Streaming konsumiert, aber da gibt es genau die gleiche Menge an schlechter Musik, wie etwa Leona Lewis Konfektionspop mit Casting Stimme oder Paul Potts, das britische „Supertalent“ mit Opernstimme incl. rührendem Schicksal, oder die Teenie Schwärme Jonas Brothers und haufenweise Pop-Produkte a la Rihanna, Pink, Mariah Carey und der ach so entspannte Surfer und Langweiler Jack Johnson... So was VERKAUFT sich eben...

Portishead


Third

(Island, 2008)

In solch (musikalisch) postmodernen Zeiten war es nicht verwunderlich, dass das beste Album des Jahres nicht von einer neuen Band kam, sondern von Portishead, einer Band aus den Neunzigern, bei der man sich gefragt hatte, ob es sie überhaupt noch gäbe - und ob sie ihre Musik in die 00er Jahre übersetzen kann. Aber dann stellt sich unter dem regen Getrommel der Musikpresse heraus, dass Portishead sich in den Jahren zwischen Portishead und Third offensichtlich mehrfach gehäutet hatten und dass es ihnen sogar gelungen war, ihre bekannten Qualitäten in die heutige Zeit zu übersetzen. Ihr mit geschmackvoll- minimalistischem Coverdesign ausgestattetes drittes Studio-Album nach immerhin elf Jahren Pause ist zwar von denselben Musikern eingespielt, aber die Musik darauf ist definitiv kein altbekannter 90er TripHop mehr, vielmehr changiert Third zwischen Folk, gespenstischen Elektronik-Tracks und düsterem Industrial. Hier ist nichts „freundlich“ (aber das waren Portishead sowieso nie), nichts beugt sich kommerziellen Erwägungen oder ist gar als Hintergrundmusik für Tiefsee-Doku's geeignet (...was man der Musik der wunderbaren Vorgängeralben immer wieder gerne angetan und auch angelastet hatte...). Nun kam mit der ersten Single „Machine Gun“ eine ratternde Kriegs-Kakophonie daher, die alle möglichen Unbequemlichkeiten beinhaltet, aber ganz gewiss keinen „Hitcharakter“ hat, und auf dem Album wird es auch nicht gemütlicher: „We Carry On“ ist Portishead als Joy Division, „Deep Water“ beleiht mit Ukulele sinistre Folk-Musik, die zweite Single „The Rip“ (und der erste „Hit“ des Albums, den die Sender mehr als einmal zu spielen wagten) beginnt ebenfalls als kreiselnde Folk-Weise um dann in reiner Katharsis zu enden und etliche Tracks paaren Krautrock statt Drum'n'Bass (endlich wieder) mit der unglaublichen Stimme von Beth Gibbons. Um es kurz zu halten: Das komplette Album ist meisterlich, aber nicht einfach. Und damit ein kommender Klassiker.

Portishead - The Rip 

Sigur Ros


Með suð í eyrum við spilum endalaust

(EMI, 2008)

Natürlich darf ein jeder der Ansicht sein, das 2008er Album der isländischen Institution Sigur Ros sei besser als Portishead's Rückkehr-Album Third, aber letztlich sind beide Alben nahezu gleichwertig – und man darf sie beide lieben. Portishead waren in ihrer Abenteuerlust nur ein paar Schritte weiter gegangen als Sigur Ros – dabei haben beide Bands ein Feld besetzt, dass scheinbar wenig Variationsmöglichkeiten bietet. Aber so ist das mit ausgezeichneten Bands, die einen ganz eigenen Stil haben – sie können auf dem eigenen Feld gerne mal Haken schlagen und ihre Beobachter überraschen. In den Jahren zuvor waren Sigur Ros sicher nicht für ihr überbordendes Temperament oder gar Albernheiten bekannt. Aber auf Með suð í eyrum við spilum endalaust (Übersetzt: With a Buzz in our Ears, We Play Endlessly) wurde ihre ausufernde Musik, wurden ihre langgezogenen Instrumentalpassagen und die träumerischen Melodiebögen hier und da tatsächlich von so etwas wie Humor und Licht durchbrochen. So ist zum Beispiel der lautmalerische Opener „Gobbeldigook“ ein echter Pop-Song, kommt „Festival“ mit dröhnend marschierenden Drums daher. Das melancholische „All Right“ wiederum basiert auf einfachen, für Sigur Ros so typischen Melodiefiguren, aber man ließ einzelne Instrumente deutlich erkennbar hervorscheinen, statt den Song in rauschhaft ineinander fließenden Soundschichten zu ertränken. Sigur Ros hatten also ihren Sound radikal vereinfacht, waren aber - und das ist vor allem das Verdienst von Sänger/Gitarrist und Bandkopf Jonsi – immer noch eindeutig als sie selbst erkennbar. Das war ein mutiger und richtiger Schritt, um ihr bestes Album seit ( ) zu machen.

 Sigur Rós - All Alright


Have A Nice Life


Deathconsciousness

(Enemies List, 2008)

Es sind inzwischen für mich oft die Unbekannten, die Studiotüftler, die ihre Alben dann kleinen Stückzahlen veröffentlichen, die wirklich Großes zuwege bringen - gerade weil sie ihre Kunst nicht generalstabsmäßig planen. So wie Tim Macuga und Dan Barrett aus Middletown, Connecticut. Die existieren seit ca. 2000 als Have a Nice Life und haben sich und ihr Label Enemies List ausdrücklich gegen die ihrer Definition nach toten Major- Labels und deren Mechanismen positioniert. Sie erschaffen ihre Musik mit den heute zur Verfügung stehenden technischen Mitteln im privaten Umfeld und geben sich (und Label-Genossen) dafür unbegrenzte künstlerische Freiheit und Zeit. Da kann natürlich obskurer Mist herauskommen – aber mit ihrem ersten Album Deathconsciousness entstand aus dieser Freiheit ein echtes Meisterwerk. Es ist ein Doppel-Album, aufgeteilt in zwei Teile - The Plow That Broke the Plains und The Future – die musikalisch die persönlichen Vorlieben der beiden Musiker wiedergeben: Einflüsse aus Post-Punk + Gothic (Joy Division, Bauhaus), Post-Rock, Shoegaze, Industrial und Black Metal vereinen sich auf's organischste. Die Produktion mag „Bedroom“, oder Lo-Fi sein, aber ich höre das nicht. Hier ist alles so ausgefeilt und durchdacht, wie es die Idee hinter der Kunst verspricht. Sie trauen sich an ein Konzeptalbum a la Pink Floyd (The Wall) oder Mars Volta (De-Loused in the Comatorium) – und verheben sich damit nicht ! Die Story um den obskuren mittelalterlichen Häretiker Antiochus wird in einem beigefügten 70-seitigen Buch erklärt, sie mag schwierig (zu verstehen) sein, aber die Atmosphäre aus finsterem Mittelalter, religiösem Fanatismus und Mord und Totschlag wird musikalisch vielfarbig und modern abgebildet. Sie spielen mit Dynamik, bersten vor Kraft und Wut, haben lyrische Passagen in ihrer Musik – und sind dabei manchmal sogar auf gewisse Weise poppig. Der erste Teil des Albums ist fast perfekt, besonders „The Big Gloom" ist epischer Shoegaze mit dunklen und hellen Schattierungen, erhebend und finster zugleich. Das über 11-minütige „Earthmover“ beendet die Songkollektion auf ähnliche Art mit einer letzten, vier-minütigen Chord-Progression von majestätischer Monotonie. „Holy Fucking Shit - 40,000” klingt wie ein abgedrehter Flaming Lips-Outtake, hat einen nervösen Zusammenbruch eher er in fröhlichem Akustik-Gitarren Geklingel endet. Deathconsciousness ist abwechslungsreich, anstrengend, atmosphärisch, zu lang, reichhaltig und überkandidelt – und all das muss so sein. Aber - das muss man hören, das kann man nicht wirklich beschreiben. Also: siehe Bandcamp...

Have A Nice Life - The Big Gloom 


Deerhunter


Microcastle/Weird Era Continued

(4ad, 2008)

Das passt irgendwie gut zu Have a Nice Life. Deerhunter – die Band um Bradford Cox aka Atlas Sound – sind auch seit Beginn der 00er Jahre aktiv, auch sie sind musikalisch wenig kompromissbereit – aber sie arbeiten immerhin im Umfeld „normaler“ Labels (4AD bzw. Kranky – soweit die normal sind...). Cox leidet am Marfan-Syndrom, einem Gendefekt, der das Bindegewebe schädigt und der mit bestimmten Deformationen des Körpers einhergeht. Diese Krankheit – und die frühe Trennung seiner Eltern – hatte ihn zu einem Einzelgänger gemacht... der sich insbesondere mit Musik befasst hat, die „heartbreaking or nostalgic or melancholy“ ist. Er muss hunderte von Tapes aufgenommen haben (die er für sein Solo Incognito Atlas Sound nutzt) und gründete mit 20 mit ein paar Interessierten Deerhunter. Seine Art Musik und Texte zu machen beruht auf dem Prinzip des stream of consciousness – was man kaum glauben mag, wenn man ein Album wie Microcastle hört. Er verwendet – wie Have a Nice Life – die Stilistiken, die ihm gerade ins Zeug passen, ob Shoegaze, Noise, Doo-Wop, Psychedelia oder Post-Rock – nur mit Metal hat er's nicht – aber auch ihm gelingt es, all seine Einflüsse zu einem schlüssigen Ganzen zu verschmelzen (Eine Fähigkeit, die in dieser Generation von Musikern oft genug vorkommt). Weil dieses – das dritte Album der Band – zwei Monate vor Erscheinen im Internet geleakt wurde, ergänzten Deerhunter Microcastle um das Zusatzalbum Weird Era Continued – und setzten so ein Doppelalbum in die Welt. Dass hier Musik spontan entstanden ist, ist wie gesagt nicht erkennbar, Cox stellt seinen drei Kollegen seine Ideen vor, und dann setzt eine Magie ein, die aus dem Wirrrwarr konzisen Dream-Pop macht, der sich an die Flaming Lips und an My Bloody Valentine zugleich anlehnen mag, der aber extrem eigenständig ist. Cox beweist auf Microcastle /Weird Era Cont. durchaus Songwriter-Qualitäten - „Agpraphobia“ oder „Twilight at Carbon Lake“ sind versponnen und … angenehm schön... zugleich. Dabei sind seine Lyrics von Gedanken an seine Außenseiter-Rolle und an den Tod durchzogen, machen das Album textlich zu einer finsteren Angelegenheit, die durch die Shoegaze und Dream-Pop Elemente sozusagen in Watte gepackt wird. Das Zusatz-Album fügt dem Ganzen noch einen sympathisch unfertigen Garagen-Charme hinzu und macht das Album nur besser. Bradford Cox hatte einen Lauf – und ich hoffe, dieses Album wird auch in 20 Jahren noch als das Meisterwerk erkannt, als das ich es jetzt sehe.

Deerhunter - Twilight at Carbon Lake 

Grouper


Dragging a Dead Deer Up a Hill

(Type, 2008)

Grouper – das ist die Musikerin Liz Harris, eine junge Künstlerin aus San Francisco, die ihren Moniker ihrer Kindheit in einer Kommune entliehen hat, die sich seit Mitte der 00er Jahre mit anderen experimentellen Freigeistern wie Mayo Thompson, Roy Montgomery oder Xiu Xiu verlustierte und in dieser Zeit eher Musik gemacht hatte, die den Prinzipien von Noise und Drone verpflichtet war. Aber dann kam Dragging a Dead Deer Up a Hill und aus einer obskuren Unbekannten wurde eine immer noch obskure Berühmtheit. Dabei ist der Wechsel von der durch Feedback und Drones übertönten Stimme zu dieser regelrecht folkigen Stimme – und Musik - durchaus logisch nachvollziehbar. Sie nutzte auf ihrem ersten Album für's Type-Label Einflüsse aus British Folk und Gothic, um ihre Stimme und ihr akustisches Gitarrenspiel im Songformat zu präsentieren. Das könnte man als kommerzielles Zugeständnis werten – aber mitnichten – dazu ist ihre Musik zu unbequem, zu unheimlich, sind die Erfahrungen und Kunstgriffe aus Drone und Noise zu präsent in diesen ruhigen Tracks. Und Liz Harris' hier oft gedoppelt und ge-dreifachte Stimme IST hörenswert, ihr Songwriting hat es verdient, aus dem Geräusch-Dickicht der vorherigen Alben hervorzutreten – auch wenn die Songs manchmal so verschreckt wirken, wie das titelgebende Reh kurz vor seinem Tod. Harris erschafft mit geringsten Mitteln mitunter eine Atmosphäre, die dem Hörer den Hals zuschnürt. Die knapp drei Minuten von „Heavy Water/I'd Rather Be Sleeping“ sind so luftig arrangiert, dass es fast verschwinden will – man nennt solche Musik auch ganz treffend Dream-Pop/ Ethereal Wave (ätherisch...) - nur dass die Romantik hier düster ist – und das, ohne dass man die Lyrics verstehen würde - oder müsste. Ein Album, das auch wieder als Ganzes funktioniert und auf Atmosphäre aufbaut. Ein Kunstwerk – mit einem passend unheimlichen Covershoot.

Grouper - Heavy Water/I'd Rather Be Sleeping 


Fleet Foxes


Sun Giant EP

(Sub Pop, 2008)

Fleet Foxes


s/t

(Sub Pop, 2008)

Für die weniger experimentierfreudigen - oder sagen wir's doch: die älteren - Hörer sicher die beste(n) Alben dieses Jahres: Die Fleet Foxes kamen irgendwie aus dem Nichts und wurden mit ihrem an The Band, Brian Wilson, CSN&Y, Apallachian Folk und Indie-Rock angelehnten Americana-Sound überraschend aber verdient im Rolling Stones/Mojo Segment der 30-50 jährigen Musikhörenden erfolgreich. Ihre Musik ist herzlich altmodisch, die Songs gemahnen in Struktur und Instrumentierung an die Siebziger, und ihr melodischer Reichtum spiegelt sich durchaus treffend im Computer-Historienspiel-Cover der EP und im Hieronymus Bosch Abdruck des LP-Covers wieder. Das Herausragende und meiner Meinung nach Zeitlose an Fleet Foxes - und an der bald mit der LP zum Doppelalbum ergänzten EP Sun Giant - ist das hörbar symbiotische Zusammenspiel der Musiker, sind die wunderschönen Gesangsharmonien und insbesondere die klare Stimme von Lead-Sänger Robin Pecknold, dessen Gesang mich an den von Jim James von My Morning Jacket erinnert. Eine Referenz, die gut zur Musik der Fleet Foxes passte. Auch bei der Band aus Seattle sind diese frei fließenden Melodiebögen wiederzufinden, kann und soll man eine gewisse Sehnsucht in den Songs fühlen. die Fleet Foxes neigen nur nicht ganz so dazu ihre Musik ins Unendliche ausufern zu lassen wie die Psychedeliker My Morning Jacket. Und all die Stilistik wäre akademisch ohne die gelungenen Melodien. Die EP hat mit „Mykonos“ einen der besten Songs der Band an Bord – und es ist allein schon wegen dieses Tracks sinnvoll, nach dem Doppelalbum zu suchen - auch wenn die Band zu diesem Zeitpunkt ihr Sound-Konzept noch nicht zur Vollendung gebracht hat. Aber auf Fleet Foxes sind es dann der pastorale Hit „White Winter Hymnal“ oder das ebenfalls wunderschöne „Your Protector“ die herausragen – zum Glück nicht so weit, dass sie den Rest des Albums überstrahlen. Man könnte höchstens beklagen, dass die Musik der Fleet Foxes ZU schön ist – aber sie schaffen es, Schönheit und Anspruch auf's trefflichste zu verbinden. Nur wirklich gewagt oder experimentell – und damit „modern“ – ist hier nichts.

 Fleet Foxes - Mykonos

 Fleet Foxes - Your Protector


Fennesz


Black Sea

(Touch, 2008)

Irgendwie habe Ich den Österreicher Christian Fennez – Gitarrist und „elektronischer“ Musiker - als moderne Version von Klaus Schulze im Kopf. Ist aber natürlich Unsinn. Beide haben allerhöchstens gemeinsam, dass sie Mittels elektronischer Instrumente recht ausgedehnte Klanglandschaften entstehen lassen – aber die Mittel, die Fennesz nutzt sind inzwischen technisch so weit fortgeschritten, dass Schulze in einer Ahnenreihe mehrere Generationen vor Fennesz steht. Der Österreicher hatte an der Hochschule Kunst studiert, und sich auf Klangkunst konzentriert, er hatte 2001 mit Endless Summer ein ähnlich gelungenes Album gemacht, mit diversen namhaften Musikern kooperiert (Jim O'Rourke, David Sylvian, Sakamoto etc...) mit dem '04er Album Venice ein bisschen gelangweilt – aber jetzt veröffentlichte er mit Black Sea eines DER instrumentalen, elektronischen Drone- Ambient- Glitch- whatever Alben seiner Art. Seine Musik basiert auf gesampelten Gitarren-Sounds, elektrisch und akustisch, diversen Percussion-Mustern, die aber nie zum durchgehenden Rhythmus werden und breiten Klangflächen. Ich könnte mir vorstellen, dass er seine Tracks eher als Klang-Skulpturen denn als „Songs“ begreift, das Ergebnis jedenfalls ist reduziert, warm und durchaus erzählerisch – was mich bei Musik dieser Art immer am meisten begeistert. Der titelgebende Opening Track wäre Black Sea als Mikrokosmos – oder eher Makrokosmos, da er über zehn Minuten dauert: Es beginnt mit Schichten aus Feedback, die langsam tröpfelnden melodischen Klängen weichen um in mäandernde Gitarrenmelodien auszulaufen. Dabei werden durch Fennesz geschickten Umgang mit Dynamik Brücken über alle Stimmungen von goßer Ruhe über kathartische Ausbrüche bis zu regelrechter Euphorie geschlagen. Und insofern mag Fennesz wieder etwas mit Klaus Schulze gemein haben – der ebenfalls meisterlich mit Dynamik umging und mit seiner Musik Stimmungen solcher Art zu erzeugen wusste.

Fennesz - Perfume for Winter 

Flying Lotus


Los Angeles

(Warp, 2008)

Dem Los Angelino Steven Ellison aka Flying Lotus (auch noch aka Captain Murphy – als HipHop-Künstler) wurde die Musik wohl in die Wiege gelegt. Er ist der Großneffe von Alice Coltrane und Enkel der Songwriterin Marilyn McLeod (die u.a. für Diana Ross Hits geschrieben hat) – und er geht seit dem '06er Debüt-Album 1983 seine eigenen musikalischen Wege. Beeinflusst durch Jobs beim HipHop-Label Stones Throw, durch asiatische Musik und die Geschichte seiner Verwandten hatte er nach Kunst- und Musik-Studium zuerst in Heimarbeit besagtes Debüt fabriziert, welches das ehrenwerte Warp-Label veranlasste, ihn unter Vertrag zu nehmen. Spätestens nach der letztjährigen EP Reset war klar, dass Warp wieder einen Stein für das Fundament des guten Geschmacks eingebaut hatte. Flying Lotus liegt auf Los Angeles musikalisch und soundmäßig irgendwo zwischen dem abstrakten Techno von Autechre und Aphex Twin – oder meinetwegen auch zwischen Madlib und Dilla's schlauen Beats. Er verschmilzt all seine Einflüsse zur Musik der Zukunft ohne sich um Genre-Grenzen zu scheren. Und weil er tatsächlich hoch-musikalisch ist, gelingt all das so mühelos, so dynamisch, so eigenständig, dass keine Langeweile aufkommen kann, dass nichts bemüht wirkt oder gar akademisch. Los Angeles ist tatsächlich wie die Stadt, nach dem es benannt ist – Ein Schmelztiegel. Dass – wie bei J Dilla – für das Album 17 kurze Tracks mit hunderten von Ideen aufeinander folgen, machen Los Angeles zu einem sehr kurzweiligen Vergnügen. Da werden dubbige Bas-Linien mit nervösen Beats und harten Breaks kombiniert, „Roberta Flack“ ist moderner, verträumter Soul, „Beginners Falafel“ hüpft mit Dance-Grooves voran, Los Angeles ist die Zukunft, und die ist scheinbar sehr bunt. Und Ja – man KANN dem Album eine gewisse Zerrissenheit nicht absprechen. Manchem Hörer mag der durchgehende Faden fehlen. Aber den kann man dann auf den nachfolgenden Alben Cosmogramma (2010) und beim Future-Free-Jazz von You're Dead (2014) aufnehmen. Zum Abschluss hier (wieder) der Hinweis, dass es 2008 durchaus noch einigen Alben vergleichbarer Art und Klasse gibt. Aber es wird ein egens Kapitel geben, dass die anderen wichtigen Alben mit Minimal House, IDM, Glitch Hop, Synth-Pop etc behandelt. 

Flying Lotus - Beginners Falafel 


Erykah Badu


New Amerykah Part One (Fourth World War)

(Motown, 2008)

Gegen die vorherigen beiden Innovatoren ist die Neo-Soul Queen Erykah Badu eine Veteranin. Sie hat Mitte der Neunziger zusammen mit Kollegen wie D'Angelo, Common und den Roots begonnen, Soul wieder mit Inhalt und Bedeutung zu füllen, sie musste zu Beginn der 00er Jahre eine fiese Schreibblockade überwinden um dann mit HipHop Produzenten wie Questlove, Madlib, J Dilla und Q-Tip neue Tracks zu entwickeln, die sie dann endlich Ende Februar 2008 unter dem Beziehungsreichen Titel New Amerykah Part One (Fourth World War) veröffentlichte. Und es ist alles da, was Baduizm und Mama's Gun vor Jahren so einzigartig gemacht hat... und ein bisschen mehr. Noch immer bezaubert ihre coole, samtige Stimme, noch immer bezieht sie auf ihre ureigene Weise gesellschaftliche, politische, feministische Positionen, noch immer sind es Soul und HipHop in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen, die das musikalische Setting bestimmen – und natürlich reagiert sie auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit. Sie klingt dabei wieder zugleich angepisst, aggressiv und halb-bekifft. Und der „Konzept“-Titel des Albums ist durchaus schlüssig – Kosmology, Die Verehrung des Ankh, Afrozentrismus – all das verbindet sich organisch mit Kritik an den Verhältnissen innerhalb und ausserhalb der black community. "The Cell" reflektiert über Sucht in der eigenen Familie („Momma hopped up on cocaine / Daddy on space ships with no brain / Sister gone numb the pain the same / Why same DNA cell?"). „The Healer“ preist die Kraft des HipHop und der schwarzen Identität, die hinter ihm steht, bei „Soldier“ nähert sie sich Lauryn Hill an, ihre politischen Aussagen sind zwar verschlüsselt, aber immer präsent, der Sound des Albums ist die logische Weiterentwicklung ihrer vorherigen Alben – die acht Jahre Pause seit dem letzten „echten“ Album mit eingerechnet. Erykah Badu hatte mit diesem Album ihre Relevanz erneut bewiesen. New Amerykah ist ein bewegendes Album, gesättigt mit Kraft und Engagement. Und es belebt Soul (wieder einmal) als relevante Musik neu. Dass sie am Ende den Ausblick auf das folgende Album – die Fortsetzung - Part Two (Return of the Ankh) gewährt ist ein tatsächlich willkommenes Versprechen.

Erykah Badu - The Cell 


Ein Paar Worte zur Auswahl der Alben


So leicht es in den 60er, 70ern und sogar 80ern für mich ist, die 10 besten und wichtigsten Alben eines jeweiligen Jahres zu erwählen, so schwer finde ich das in den 00er und 10ern. Ich kann nur vermuten, dass die hier oben empfohlenen Alben wirklich auch in 20 Jahren noch gehört werden – und als „wichtig“ empfunden werden. Ich versuche da ja tatsächlich - auch – den Trend hin zur sog. "elektronischen" Musik von vereinzelten Laptop-Künstlern zu berücksichtigen und die Breite der Stilisiken zu erfassen, ich finde Erykah Badu's Neo-Soul-Wiederbelebung aus Prinzip zukunftsweisend, ich halte Portishead und Sigur Ros für zeitlos – und damit „klassisch“... aber in diesem Jahr z.B. bin ich unsicher - weil 2008 nicht SO viele Alben bereithält, die mich völlig begeistert haben. Have a Nice Life sind ja schon recht speziell, und dass die altmodischen Fleet Foxes nur von 40+-jährigen als interessante Innovatoren abgefeiert werden, halte ich für wahrscheinlich. So wähle ich jetzt voller Zweifel ein zehntes Album, das ich in einer Woche gegen ein anderes austauschen könnte. Aber – und das ist tröstlicher als man meinen könnte – ich darf das, ich kann es ändern wann immer ich will und die hier beschriebenen Alben für 2008 sind bis auf Third, Með suð í eyrum við spilum endalaust und Deathconsciousness ganz einfach nur vorläufig als Klassiker zu bezeichnen – und das finde ich gut so.


TV On The Radio


Dear Science

(4AD, 2008)

das ist also so ein Fall. TV On The Radio's Sound stellte 2008 die modernste Art „Rock“-Musik dar. Nun – 10 Jahre später – ist Rockmusik per se irgendwie alt(modisch) – und die sehr variantenreiche sog. Elektronische Musik ist DAS Ding. Die Musik, gegen die wie auch immer geartete Vereinigungen von Musikern mit den traditionellen Kenntnissen an Bass, Drums, Keyboards/Synth's und/oder Gitarren nicht ankommen. Die althergebrachte Form des Herstellens von populärer Musik hat sich durch die Möglichkeiten der digitalen Klangerzeugung und Manipulation völlig verschoben – und jeder, der die früheren Methoden anwendet wird zum Artefakt. Daher erscheint Dear Science von TV On The Radio heute kaum noch so beeindruckend, wie seinerzeit – und auch 2008 war dieses Album keine Überraschung mehr – der perfekte postmoderne Sound von TV On The Radio war auch da schon nicht mehr so neu wie auf dem Debüt oder dem '06er Album Return to Cookie Mountain. Dennoch ist Dear Science ein Beispiel für den extrem eigenständigen und modernen Sound der New Yorker. Sie gelten als Band für's 21. Jahrhundert und ihre extrem dynamischen Dance Punk Tracks sind durchzogen von hippen elektronischen Sounds. Auf Dear Science wird noch Afro-Beat und HipHop integriert, es entsteht ein Crossover-Sound, der Nichts mit dem gleichnamigen, aus HipHop, Hardcore und Metal zusammengebauten Genre der 90er zu tun hat. „Stork and Owl“ extrahiert die Reste eines R&B Songs, überlagert ihn mit einer Neo-klassischen Aura und setzt einen Touch Indie obenauf.. „Love Dog“ und „DLZ“ sind vielleicht die besten Beispiele für das makellose – und mitunter durchaus auch nachvollziehbar poppige Songwriting von TV on the Radio. „Love Dog“ ist das klagendere, expressivere Stück, „DLZ“ ist der explosivere, feurigere Song, einer der besten des Jahres. Ich stelle eben nur immer wieder fest, dass diese Musik die Kälte hat, die bei zu großer Perfektion eintritt. TV On The Radio sind wie der Klassenprimus im Gymnasium, der sogar im Sport glänzt – und der irgendwie ZU cool ist, um sich wirklich ein echter Freund zu sein. Dear Science ist ein perfektes Amalgam aus hunderten von Bands – ich muss es aber immer wieder anhören um es zu durchschauen... und ich muss in der Stimmung für Rrrrrockmusik sein.