...Wieso
Cleveland? Cleveland in Ohio war in den 30er Jahren mal eine der
größten Städte der USA. Aber mit dem Beginn der Ölkrise zu Beginn
der Siebziger gingen etliche große Arbeitgeber aus der Stahl- und
Automobilindustrie Pleite, weil sie mit der internationalen
Konkurrenz nicht mithalten konnten. Legendär war der durch Cleveland
fließende Cuyahoga, dessen Oberfläche durch hemmungslose Einleitung
von Abwässern so verschmutzt war, dass er 1952 und 1969 Feuer fing (den hat z.B. Randy Newman besungen...).
Eine Stadt mit dieser Atmosphäre, aus der in den Siebzigern die
Menschen zu Tausenden abwanderten, die sich als erste US-Stadt nach
der „Großen Depression“ der 30er Jahre 1978 für zahlungsunfähig
erklären lassen musste, ist wahrscheinlich die perfekte Stadt für
die gespenstischen, morbiden, absurden und apokalyptischen Klänge,
die Pere Ubu und Devo erzeugten. Keimzelle von Pere Ubu waren die
Rockets from the Tombs, die einen an MC5 und die Stooges erinnernden
kranken Rock'n'Roll spielten, deren charismatischer Sänger David
Thomas dann Pere Ubu gründete während der Rest der Band als Dead
Boys in der New Yorker Punk-Szene Fuß fasste. Ihre Zeitgenossen Devo
(bedeutet De-Evolution = die Menschheit entwickelt sich nicht
vorwärst sondern zurück) aus dem nahe liegneden Akron teilten
Auftrittsorte, künstlerischen Anspruch und vor Allem den Sinn fürs
Absurde und die Schönheit des Verfalls. Ich denke es ist kein
Wunder, dass Musiker, die in einer solchen Umwelt aufwachsen, die
sich gegenseitig kennen , auch gewisse Gemeinsamkeiten haben. Es gab
also tatsächlich eine Art „Szene“ – wenn so etwas aus der
Gleichzeitigkeit von Einflüssen, Ideen, und den dazugehörigen,
dafür sensiblen Künstlern besteht. Jedenfalls war Cleveland ein
Ort, an dem sich musikalische Eruptionen zu einer bestimmten Zeit
häuften. Und das darf man gerne auch als Szene bezeichnen.
Pere
Ubu
Modern
Dance
(Rough
Trade, 1978)
Pere
Ubu
Dub
Housing
(Chrysalis,
1978)
Pere
Ubu sind eine der eigenständigsten Bands der Post Punk Szene und
inzwischen haben sie die breite Anerkennung gefunden, die sie
verdienen. 1978 klangen sie allerdings ziemlich ungewöhnlich:
Einerseits waren sie eine klassische Garagen-Punk Band mit dem
üblichen Sound aus Gitarre, Bass, Drums, aber zugleich kamen da noch
Allan Ravenstines seltsamen Synthesizer-Effekte hinzu - und David
Thomas' bizarrer, hüpfender Gesang weit ausserhalb jeder Norm. Und
im Gegensatz zu anderen Bands ihrer Generation paarten sie ihre Musik
schon zu Zeiten, als das noch ungewohnt war mit den Stilmitteln von
Krautrock Bands wie Can und NEU! und kreierten aus dieser Kombination
einen sehr eigenständigen Sound. Ein Song wie “Laughing" mit
seiner wandernden Saxophoneinleitung klingt nach Free Jazz, ist aber
zugleich durch die hypnotische Gitarre- & Bass Linien fest im
Punk verankert. Mit pulsierendem Beat beschwören sie das Bild einer
in sich zusammenbrechenden Stadt herauf, einer Stadt, die ihren
Untergang in einer apokalyptischen Party feiert. Kein Wunder, wenn
man weiss, dass in ihrer Heimatstadt Cleveland zu dieser Zeit
vermutlich genau diese Atmosphäre herrschte (Siehe Oben). Aber
obwohl Modern Dance ein Panorama von Neurosen, Paranoia und Phobien
ist, wird daraus kein depressives Album: Hier wird am Rande des
Abgrundes getanzt. Das nachfolgende Album (..auf Chrysalis, der
Heimat von Jethro Tull und dergleichen..!) sollte dann Pere Ubus
Meisterwerk werden - wobei es sich zur Zeit seines Erscheinens
natürlich miserabel verkaufte. Der Albumtitel Dub Housing bezieht
sich auf die gleichförmigen Wohnblocks in Cleveland, die auf dem
Cover abgebildet sind, in denen einige Bandmitglieder zur Zeit der
Aufnahmen leben. Pere Ubu verändern und verdrehen die Songstrukturen
hier noch mehr als auf dem Debüt, David Thomas klingt entweder, als
würde er in Stimmen sprechen, oder als hätte er Schluckauf,
Ravestines Synthies blubbern und zischen, und die Band spielt dazu
neurotische Rockmusik. Ja, es gibt Rockmusik auf Dub Housing, und
„Navvy“ ist sogar fast Pop, „Ubu Dance Party“ ist hüpfender
Spaß, das Titelstück dagegen ist düster, ähnelt in vielem
„Laughíng“ vom Debüt-Album. Einerseites ist Dub Housing die
Fortführung der Musik auf Modern Dance, zugleich wird dieses Album
jedoch zum Endpunkt einer Entwicklung. Pere Ubu existierten zwar
weiter, aber so konsequent ausserhalb aller Normen wie auf ihren
beiden ersten Alben sollten sie nie wieder klingen - auch wenn ich ihr drittes Album sehr empfehlen werde.
Devo
Q:
Are We Not Men ? A: We Are Devo
(Warner
Bros., 1978)
Die
Band aus Akron/Ohio hatte sich in der Umgebung Clevelands einen Namen
gemacht, war bei ihren bald folgenden Auftritten in New York sowohl
David Bowie und Iggy Pop als auch Robert Fripp und Brian Eno so
positiv aufgefallen, dass Letzterer beschloss, die Band auf jeden
Fall zu produzieren. Eno flog sie auf eigene Kosten nach Köln,
setzte sie in Conny Plank's Studio, und nahm dort ihr Debüt mit ihnen
- oder besser gegen sie – auf.... denn die Band ließ sich in ihren
hektischen Roboter-Punk nicht gerne hineinreden. Die meisten von
Eno's Ideen blieben aussen vor – für den Gönner sicher
frustrierend – so dass das Album eben nach einer Mischung aus
Synth-Pop und Punk klingt – ein Sound, der Songs wie
„Uncontrollable Urge”, „Jocko Homo” oder „Gut Feeling /
Slap Your Mammy” ganz hervorragend steht. Dazu kommt Mark
Mothersbaughs Stimme, die klingt wie David Byrne, der eine Clown
verschluckt hat oder wie Jello Biafra auf Speed. Sie covern „(I
Can't Get No) Satisfaction“ von den Stones, und hören sich dabei
so durchgeknallt an, dass man nicht mal an Ironie denkt, sie sind
politisch vollkommen unkorrekt beim Klassiker „Mongoloid“, und
man kann ihnen nicht ansatzweise böse sein, weil sie die gesamte
Menschheit - sich selbst eingeschlossen – für verrückt erklären.
Sie parodieren Progressiven Rock genauso wie Punk und das mit Können,
Witz und Selbstironie. Q: Are We Not Men ? A: We Are Devo war nie der
große Erfolg beschieden, den sich die Band wünschte - sie wollten
schließlich die Welt erobern, aber es ist einer der witzigsten
Startpunkte für etwas oft doch so Ernstes wie Post-Punk.
Punk
ist - wie gesagt 1976/77, also sofort nach seiner „Geburt“ - mit
einem feuchten „Plopp“ implodiert, hat dabei aber mächtig
Eindruck hinterlassen, indem er etlichen jungen Menschen die sehr
positive Erkenntnis vermittelt hat, dass man auch ohne jede
Vorkenntnisse oder gar Virtuosität, dafür mit Vision, Wut und
Engagement interessante Musik machen kann. So gibt es zum Ende der
Sex Pistols im United Kingdom einige weitere Bands, die mit ihren
Singles in den ersten paar Stunden des Punk hoch gespült wurden (The
Adverts). Es gibt die, die fälschlicherweise in die Sparte „Punk“
geschoben wurden (The Stranglers, Saints) und es entstehen ab '77
reihenweise Bands, deren Kenntnis von Musiktheorie, Gitarre, Bass und
Schlagzeug gering - deren Innovationskraft und Idealismus dafür um
so größer ist (Wire, Siouxie & the Banshees, X-Ray Spex etc).
Das wiederum sind oft Musiker, die mit dem selbstzerstörerischen
Nihilismus der Pistols Wenig bis Nichts am Hut haben. Zur gleichen
Zeit und aus gegebenem Anlass kommen etliche „gestandene“ Musiker
auf die Idee, ihre vorhandene Virtuosität den einfacheren Strukturen
dieser neuen Art von Musik unterzuordnen (Vibrators, The Only
Ones...). Und all diese Bands – so z.B. auch Public Image Ltd. um
den Ex-Sex Pistol John Lydon - machen letztlich die Art von Musik,
die ganz passend unter dem Begriff New Wave oder Post Punk
zusammengefasst werden wird – sie machen die Musik, die zunächst
noch als Gegenentwurf zum Rock der Siebziger steht, die im Laufe der
Zeit Dinosaurier wie Led Zeppelin oder Yes überflüssig macht und
die musikalischen Entwicklungen in den 80ern und 90ern (Hardcore,
Grunge, Alternative Rock etc...) auf den Weg bringen wird – und die
ganz nebenbei dann mit Bands wie U2 oder den Simple Minds eigene
Dinosaurier hervorbringen wird. Hier nun ein paar der wichtigsten und
besten Alben des Jahres '78 aus dem Bereich, den man Post-Punk/New
Wave nennt – Ein Bereich der Musik, der auf beiden Seiten des
Atlantik mindestens bis '82 extrem fruchtbar sein wird.
The
Clash
Give
'em Enough Rope
(CBS,
1978)
Nach
ihrem fantastischen Debüt – einem der definitiven „Alben“ des
Punk – bei dem doch eigentlich nur die Single zählt – hatten The
Clash in England ziemlichen Aufruhr verursacht. Die einzelnen
Bandmitglieder mussten nach diversen Untaten immer wieder in den
Knast: Gründe waren Vandalismus in dieser und jener Form und absurde
Vergehen wie „Kopfkissendiebstahl“. Aber neben all dem Unsinn
begannen sie sich tatsächlich auch noch stärker politisch zu
engagieren, spielten bei „Rock Against Racism“ auf und wetterten
gegen Thatcher und die von ihr eingeführte soziale Kälte und
Ungerechtigkeit - und nahmen nun mit dem „Ex Blue Öyster Cult
Hit-Produzenten“ Sandy Pearlman ihr zweites Album mit richtiger,
„glatter“ Produktion auf. Ein Vergehen, das ihnen die Punk-Szene
äußerst übel nahm. Aber heute kann man's ja sagen: Give 'em Enough
Rope ist durchaus ein würdiger Nachfolger des Debüts – das zu
übertreffen ja sowieso unmöglich war. Insbesondere die erste Hälfte
des Albums mit „Safe European Home“, „English Civil War“ und
vor allem „Tommy Gun“ ist schön kraftvoll und rotzig, der
bessere Sound beraubte die Band nicht ihrer Energie und der von
vielen Dogmatikern als skandalös angesehene Umstand, dass sie
inzwischen erkennbar über den Tellerrand des Punk hinwegsahen,
erwies sich bald als Segen. Give 'em Enough Rope gilt aber auch im
Nachhinein zu Recht als eines der letzten wichtigen Manifeste des
Punk.
The
Adverts
Crossing
The Red Sea With The Adverts
(Bright,
1978)
Wie
in der Einleitung gesagt: Punk war '78 Geschichte, und die Bands die
nun ein Album veröffentlichten, hatten das Wichtigste zuvor auf
ihren Singles gesagt: The Adverts zum Beispiel gehören zu den
Pionieren des Genres, sie hatten als Live-Act Im Roxy ganz zu Anfang
des Hypes bestanden, ihre Singles - „No Time to be 21“, „One
Chord Wonders“ und vor Allem „Gary Gilmore's Eyes“ (über einen
Mörder, der seine Augen nach Vollzug der Todesstrafe der Medizin
spenden wollte) hatten zu Recht für Furore gesorgt. Tatsächlich
soll der verehrte John Lydon sie später als eine der wenigen
Punk-Bands erwähnt haben, die Gnade vor seinen Augen fand. Zu ihrem
Ruhm mag auch beigetragen haben, dass sie mit Gaye Advert (eigentlich
Black) eine Bassistin in ihren Reihen hatten – in der doch sehr
chauvinistischen Szene eine Ausnahme. Ihr nun verspätet
veröffentlchtes Debüt Crossing the Red Sea with the Adverts ist
tatsächlich so etwas wie das (unbekanntere) Pendant zu den
Debütalben der Pistols und der Clash. Es ist eines der wenigen Alben
seiner Zunft, bei denen neben den Singles auf LP-länge noch weitere
gelungene Songs zu finden sind – Songs, die das Album tatsächlich
komplett genießbar machen: „Bored Teenagers“, „Bombsite Boy“
und der „Great British Mistake“ hätten als Singles genauso gut
funktioniert, die Band bekam von Produzenten John Leckie einen für
Punk recht „cleanen“ Sound, der aber den Genuss erhöht, zumal
die Energie der Adverts doch regelrecht aus den Boxen spritzt. Die
Texte mögen sehr selbst-referentiell sein – es geht eben um junge,
desillusionierte Menschen – aber so waren sie eben, und Punk war
nur eine kurze Explosion. Um so besser, dass davon etwas so
genießbares übriggeblieben ist.
Public
Image Ltd.
Public
Image / First Issue
(Virgin,
1978)
John
Lydon als Idealist: Während die restlichen Sex Pistols noch als
Ruine des Punk weitermachten, hatte er die Band nach der desaströsen
US-Tour verlassen, um mit anderen Leuten andere Musik zu machen. Er
rekrutierte mit John Wardle einen Freund aus College-Tagen als
Bassisten. Der benannte sich um in Jah Wobble – Jah als Bezug zum
von ihm geliebten Dub-Reggae und seinen abgrundtiefen Bässen. Dazu
kam der Gitarrist Keith Levene – der Gründungsmitglied bei The
Clash gewesen war, und dessen Gitarrenspiel vielleicht nicht im
althergebrachten Sinn virtuos war, der dafür aber Splitter in die
Ohren des Publikums schoss.– und der Kanadier Jim Walker als
Drummer. Dass Lydon von Punk, und von den Anhängern aus Sex Pistols
Tagen und dem Ausverkauf der ganzen Szene aufs Äußerste angewidert
war, hatte er schon bei den Pistols deutlich zum Ausdruck gebracht.
Nun machte er auch Musik, die genau diese Abscheu und Ablehnung
vermitteln sollte: Er verband Noise, Sound Collagen, Dub und durchaus
auch Elemente des progressiven Rock auf First Issue zu etwas, das man
in bald Post-Punk nennen würde (Ein Begriff, zu dem er sicherlich
auch einen passenden Kommentar hätte...). Dass man Public Image Ltd.
mit den Pistols in Verbindung bringen würde, konnte er nicht
verhindern. Sein „Gesangs“-Stil war nun einmal unverkennbar ,
aber Songs wie der neun-minütige Opener „Theme“ haben mit Punk
genau soviel zu tun, wie mit Jimi Hendrix. Und da ist vor Allem der
massive, tiefergelegte Bass-Sound von Jah Wobble, der das Album so
besonders macht. So ein Sound war bislang außerhalb des (damals noch
ziemlich unbekannten) Dub-Reggae noch nicht da gewesen. P.I.L. wurden
tatsächlich vom Label gezwungen, First Issue wegen seiner
„Andersartigkeit“ für den amerikanischen Markt teilweise neu
aufzunehmen – aber auch diese Aufnahmen wurden aufgrund „mangelnder
Kommerzialität“ bis 2013 nicht in den USA veröffentlicht..!
Ignoranz ist zeitlos.
Siouxie
& The Banshees
The
Scream
(Polydor,
1978)
Siouxie
& the Banshees entstehen – wie viele Post Punk Bands - um '76,
nachdem sich die junge Susan Janet Ballion aka Siouxie Sioux und der
Gitarrist Steven Severin bei einem Konzert von Roxy Music
kennenlernen. Beide hängen bald im hippen Umfeld der Sex Pistols
herum, Sid Vicious spielt mal kurz bei den Banshees mit, Visionär
und Radio-DJ John Peel liebt ihre Singles (die als 81er Compilation
Once Upon a Time gesammelt unverzichtbar sind) aber die Banshees
bekommen erst '78 auf Druck ihrer Fans den gewünschten
Plattenvertrag und veröffentlichen die erfolgreiche Single „Hong
Kong Garden“ und ihr großartiges Debüt-Album Scream. Und
was soll man sagen – hier ist auch wieder all das vertreten, was
Post-Punk zur Frischzellenkur für die lahmende Pop-Musik der
Siebziger macht: Simplizität, Furor, Stil. Siouxie's selbstbewusste,
schneidende Stimme nimmt den neuen Typus Sängerinnen kommender Jahre
vorweg, drohend grummelnder Bass, marschierende Drums, uneitel
jangelnde Gitarren – und dazu das wichtigste Element – diese
Songs. Die Singles haben sie tatsächlich nach alter britischer
Tradition aussen vor gelassen, aber keiner der Tracks der LP bleibt
unter dem Niveau der „Hits“. Egal ob „Jigsaw Feeling“,
„Carcass“ oder „Mirage“, alles spannende Songs, äußerst
dynamisch und dramatisch. Dass Siouxie and the Banshees als Begründer
der Gothic-Szene gelten, hat sowohl mit ihrem düsteren Sound als
auch mit ihren polarisierenden Auftreten zu tun. Dass Siouxie bei
Konzerten Nazi-Symbole als modische Accessoires trägt, prägt das
Gothic Image, hat mit politischer Gesinnung aber nichts zu tun. Sie
widmen den Song „Metal Postcard (Mittageisen)“ dem
Foto-Collagen-Künstler John Heartfield, der als ausgewiesener Gegner
der Nazi's 1933 aus Deutschland geflohen war. Scream ist ein
eigenständiges, prägendes und eines der wichtigsten Alben des
Post-Punk – und Siouxie and the Banshees werden in den folgenden
Jahre etliche weitere tolle Alben veröffentlichen, durch die sie
gleichberechtigt neben The Cure, Joy Division, Gang of Four etc
stehen.
X-Ray
Spex
Germfree
Adolescents
(EMI,
1978)
Und
à propos Frauen im (Post)-Punk – es gibt einige erfreulich
selbstbewusste Musikerinnen in der doch sehr patriarchalischen und
macho-haften Szene jener Zeit. Da hat eine gewisse Marianne Elliott
Said aka Poly Styrene zusammen mit der Saxophonistin Susan Whitbyam
aka Lora Logic + männlichem Bassist, Gitarrist und Drummer –
wieder mal nach dem Besuch eines Sex Pistols Konzertes übrigens...
1977 die X-Ray Spex gegründet um Punk mit besagtem Blasinstrument
und psychedelischen Ausbrüchen zu vereinen. Und damit wird ihr Debüt
Germfree Adolescents zu einem weiteren Solitär in der Musik seiner
Zeit. Man
kann die Ursprünge der Clash und der Pistols ja problemlos erkennen
– die X-Ray Spex hingegen scheinen komplett fertig aus dem Orkus
entsprungen zu sein. Insbesondere Poly Styrene nutzt die neu
geschriebenen Regeln des Punk um nichts anderes als sie selbst zu
sein, sie ist eine hervorragende Texterin, die die moderne
Konsum-Gesellschaft zugleich anspuckt und feiert, fasziniert
betrachtet und sich vor ihr ekelt. Das Album enthält mit „Oh
Bondage! Up Yours!“ einen der anthemischen Punk-Songs dieser Zeit –
eine als zynische Aufforderung verpackte Kritik an grenzenlosem
Konsum, und das komplette Album ist voll solcher energetischer,
lustvoller Ausbrüche. Das Saxophon – übrigens meist von Rudi
Thompson gespielt, weil Lora Logic bei den Aufnahmen zum Album gerade
mal 17 war – lässt die X-Ray Spex natürlich aus der Masse
herausragen – genau wie Poly Styrene's opernhafter, schriller
Gesang, der für die Szene erstaunlich virtuos ist. Mit Germfree
Adolescents hatte die Band allerdings auch in einer regelrechten
Explosion alles gesagt, was zu sagen war. Im folgenden Jahr löste
sie sich auf und nach einem Solo-Album schloss sich Poly Styrene der
Hare Krishna Bewegung an. 1995 kam es zu einem weiteren Album, aber
Germfree Adolescents ist ein Album, das keine vergleichbaren
Nachfolger(…höchstens
die Riot Grrrls der Neunziger...)
oder Vorläufer hat, und die weiteren Highlights hier – der
Titelsong, „Identity, „Plastc Bag“ und so weiter – machen es
als komplettes Ding delektabel.
The
Saints
Eternally
Yours
(Harvest,
1978)
The
Saints
Prehistoric
Sounds
(Harvest,
1978)
Ein
bisschen unfair ist es ja schon, die Australier The Saints in diesen
Topf hier zu werfen: Sie waren '77 mit ihrem Album I'm Stranded
einfach nur zur rechten Zeit am richtigen Ort (London's Punk-Szene) –
aber ihre Inspiration kam erkennbar von Bands aus den Siebzigern wie
den Stooges oder den MC5 (... was sie andererseits mit vielen ihrer
Zeitgenossen teilen...) und die beiden Bandköpfe Chris Bailey und Ed
Kuepper hatten von Anfang an mehr im Sinn, als den limitierten Sound
von Punk – was I'm Stranded letztlich zum zeitlosen Klassiker macht
– und was die beiden nachfolgenden Alben zwar einerseits noch
weiter vom Punk entfernt, sie aber zu gleichermaßen hörenswerten
Alben macht. Bailey's arrogantes Genöle ist das einzige Element, das
die Saints in die Schublade Punk passen lässt, ihr zweites Album
Eternally Yours hat schon etliche Inhaltsstoffe, die im „reinen“
Punk ein No Go gewesen wären: Da gibt es akustische Gitarren,
Tempowechsel, Bläserparts, ja, sogar regelrechtes Singer/Songwriter
Material, wie etwa das von Ed Kuepper geschrieben „Memories are
Made of This“. Natürlich gibt es auch schnelle, harte Punk
Nummern, die an etwas komplexere Ramones erinnern mögen („No, Your
Product“), aber dieses Changieren zwischen Wildheit und Kontrolle,
Punk und hartem Rock macht das Album nicht so sehr zum
Punk-Standardwerk, als vielmehr zum gelungenen Album seiner Zeit. Und
im selben Jahr noch gingen die Saints noch weiter in Richtung Jazz
und Blues australischer Prägung. Prehistoric Sounds klingt gar
nicht mehr nach Punk, stattdessen haben wir Ed Kueppers ausgefeilte
Bläsersätze, Songs wie „Church of Indifference“ oder die Hymne
an die Heimatstadt Brisbane – und mit „Swing for the Crime“ und
„All Times Through Paradise“ zu Anfang zwei Stücke, die den Rest
dummerweise etwas zu sehr überstrahlen. Was Prehistortic Sounds ist?
Jedenfalls kein Punk... Es ist Rockmusik, bei der Bläser
gleichberechtigt neben den Gitarren stehen und ein Vorbild für
spätere Bands wie etwa Rocket from the Crypt bilden. Aber es ist
auch keine „normale = banale“ Rockmusik, dafür schimmert das
Unkonventionelle und die Kraft des Punk doch zu sehr durch. Chris
Bailey übrigens war nicht entzückt, und er und Ed Kuepper trennten
sich. The Saints blieben als Bailey's Solo-Vehikel produktiv, Kuepper
machte mit den Laughing Clowns und dann alleine weiter.
The
Buzzcocks
Another
Music In A Different Kitchen
(United
Artists, 1978)
The
Buzzcocks
Love
Bites
(United
Artists, 1978)
Die
Buzzcocks sind mit ihrem schlauen (Pop)-Punk eine der Bands der
ersten Stunde gewesen. Ihre Debüt EP Spiral Scratch (von 1977) ist
so genial wie ihr Titel: Neun Minuten, in denen alles gesagt ist. Ihr
Sänger Howard Devoto verließ die Band sofort nach dieser ersten EP,
um mit Magazine ebenso tolle Musik zu machen (siehe folgendes
Review), wie Mitbegründer Steve Shelley es dann weiterhin mit der
Ursprungsband machen sollte – ein Split also zum Nutzen der
Musikhörer. Die Beschreibung: "Punks with design school cred and
pop hooks.“ ist zutreffend. Den Buzzcocks mag die Häme der Sex
Pistols oder die politische und gesellschaftskritische Wut von The
Clash fehlen, aber dafür konnte keiner jugendliches Ungestüm und
sexuelle Verwirrungen so gut in kurzen, knackigen Songs ausdrücken.
Und somit machten sie von Anfang an nicht Punk (das machte doch
eigentlich Keiner) sondern Power-Pop, an den frühen Beatles
geschult, an der gesellschaftlichen Realität ihrer Zeit gehärtet.
Another Music in a Different Kitchen jedenfalls hat die reduzierte
Virtuosität, die die hier beschriebenen entscheidenden Alben der
End-Siebziger auszeichnet. Da sind die Propeller-Drums von John
Maher, effektive Gitarren von Steve Diggle – ohne unnötigen
Ballast auf den Punkt gespielte Songs die meist unter der
Drei-Minuten Marke bleiben, und Steve Shelley's Lyrics über Teenage
Angst und bittersüße Liebe. Das ist nicht in dem Sinne aggressiv,
aber es ist perfekte, harte, schnelle Popmusik. Und das gleiche kann
man auch über den flugs hinterher geschossenen Nachfolger Love Bites
sagen: Womöglich sind die „Punk“ Spuren hier noch weniger
erkennbar, vielleicht gibt es kleine Abnutzungsspuren nach so kurzer
Zeit, in der die Band im Schnellschußverfahren ein weiteres Album
einspielen musste – aber man bedenke: Die Beatles haben damals auch
oft zwei gleichwertige Alben in einem Jahr aufeinander folgen lassen
– und Songs wie „Sixteen Again“ oder das perfekte und
programmatische „Ever Fallen in Love (With Someone You
Shouldnt've)“ lassen jede Kritik kleinlich erscheinen. Dies ist
Power-Pop im Punk Tempo mit einem Sinn für Melodien, wie man ihn nur
von britischen Bands kennt.
Magazine
Real
Life
(Virgin,
1978)
Eigentlich
hatte Howard Devoto die Buzzcocks verlassen, um sein Studium zu
beenden, aber dann hörte er Ende '77 die neuen, revolutionären
Alben von David Bowie (Low ) und Iggy Pop (Idiot) und beschloss, doch
weiter Musik zu machen. Er suchte sich ein paar Musiker zusammen,
verkündete groß und breit, dass er mit Punk Nichts am Hut habe, und
hatte innerhalb kürzester Zeit die Presse hinter sich und einen
Plattenvertrag bei Virgin Records in der Tasche. Tatsächlich ist
Real Life einige Schritte von Punk entfernt – und zugleich ist das,
was das Album so besonders macht, die Reduktion, die nur aus dem
Beben entstand, das Punk erzeugte. Es ist Post-Punk und Art Rock –
um es in Kategorien zu beschreiben - und es hat die Eigenschaft, die
in jeder Musik entscheidend ist – und die zu dieser Zeit so einige
Alben herausragen lässt: Es ist einzigartig und unverwechselbar.
Howard Devoto – auf der Bühne meist weiss geschminkt – hatte
eine Attitüde, die eher aristokratisch war, passte damit zwar in
eine Form, die z.B. Peter Gabriel vorgestanzt hatte, war für den
normalen Prog-Rock Fan aber doch zu futuristisch, kühl und
fremdartig. Und die Musik auf Real Life mag das Drama eines Peter
Hammill und die Experimentierlust eines Brian Eno haben, aber sie
wird eben auch durch die Energie des Punk ergänzt. Beim Opener
spielen die moody Keyboards des Könners Dave Formula eine 60ies
Melodie, dann verkündet Devoto's androgyne Stimme „Clarity has
reared its ugly head again. So this is real life" und die
Sixties-Sounds werden von dissonantem Piano unterbrochen. Devoto
spricht mit Dämonen („My Tulpa“) und mit Gott - dem „Great
Beautician in the Sky“. Mit „Shot By Both Sides“ hat er einen
unwiderstehlichen Song, der die Rasanz der Buzzcocks mit seiner
neu-gefundenen Artyness verbindet. Oder man höre das sich steigernde
„Motorcade“ - um zu erkennen, was Devoto's Magazine von den
Buzzcocks unterscheidet (das Ausladende, die Theatralik...) Für mich
verbindet Real Life den Pop der Buzzcocks mit der Konsequenz von Wire
– was jedem, der die beiden nicht kennt dazu bringen sollte, die
Alben aller drei Bands aus dieser Zeit zu erforschen. Diese Musik ist
erstaunlich zeitlos (...was für die meisten Alben hier gilt...)
The
Stranglers
Black
& White
(EMI,
1978)
Ich
nehme ja an, dass die Stranglers – wie so viele Bands dieser
Generation – nicht die Absicht hatten, „Punk“ zu sein. Sie
haben den Hype genutzt - ob freiwillig oder unfreiwillig - und dabei
mit den Mitteln und Ideen ihrer Zeit ihre eigene Art von (Pop-oder
Rock-) Musik gemacht. Ihre vorherigen beiden Alben (siehe 1977 - Sex Pistols bis Kraftwerk ) gelten trotz
komplexer Sound- und Rhythmus- Strukturen, ausgefeilter Songs und
virtuoser instrumentaler Könnerschaft als Grundpfeiler des Punk. Da
spielt ihr Name, der textliche Zynismus und ihr Auftreten im Gefolge
anderer Bands wohl die größere Rolle. Und auch auf ihrem dritten
Album Black & White findet kein Punk statt. Im Gegenteil – die
Art, wie sich hier die Gitarren von Hugh Cronwell und die Keyboards
von Dave Greenfield umspielen, würde jeder Progressive-Rock Band zur
Ehre gereichen. Das 5+minütige „Toiler on the Sea“ hat
tatsächlich eine fast zwei-minütige instrumentale Einleitung –
aber auf der anderen Seite schieben der Knochenbrecher-Bass von
Jean-Jaques Brunel und die No-Fun-Stimme von Cronwell die Musik der
Stranglers weit aus jeder Kitsch-Ecke heraus. Dass X-Ray Spex
Saxophonistin Lora Logic bei „Rise of the Robots“ aushilft zeigt
die Verflechtung der Post-Punk-Szene – und passt natürlich zur
erkennbaren Absicht der Stranglers, mehr zu machen, als nur ein
weiteres Album in der Art der beiden Vorgänger. Man könnte
kritisieren, dass der Versuch, das Spektrum zu erweitern auf Kosten
des Songwritings gegangen ist. Black & White gilt als schwächeres
Album als die Vorgänger und der Nachfolger The Raven – aber unter
den Experimenten verbergen sich immerhin Songs wie „Nice N' Sleazy“
oder das schicke „Sweden (All Quiet on the Eastern Front)“. Und
im erschaffen einer regelrecht beängstigenden Atmosphäre sind sie
immer besser geworden. Als Beispiel dient mir da das ansonsten etwas
schlichte „In the Shadows“. Im Quartett der ersten Alben der
Stranglers also das ungeliebte Kind – aber auch das hat seinen
finsteren Charme.
The
Only Ones
s/t
(CBS,
1978)
Die
Only Ones befinden sich um noch einiges mehr außerhalb der üblichen
Punk-Kategorien – wurden aber wegen der zeitlichen Gegebenheiten in
diese Schublade gesteckt. Sie sind so Punk wie die Stranglers, die
Soft Boys oder Television. Die Musiker sind allesamt schon weit über
der Mitte der Zwanziger, haben in England bei diversen Rock- und
Art-Rock Band gespielt und steigen jetzt mit ihrem neuen Projekt und
– man muss es so nennen – mit einer epochalen Single in das
Punk-Karussell ein. „Another Girl, Another Planet“ ist ein
Behemoth von einem Song, neben dem noch so gute Begleiter verblassen.
Also: diesen Track vielleicht auch mal überspringen, um der Klasse
von sparsamen Schleichern wie „Breaking Down“ - mit den
bezeichnenden Textzeilen „It's the pains inside my head that worry
me“ - oder des monolithischen „The Beast“ gewahr zu werden. The
Only Ones hat vieles mit dem Debüt von Television gemein –
insbesondere natürlich die nasale Stimme von Sänger und Songwriter
Peter Perrett erinnert an Tom Verlaine, aber auch der klare, sparsame
Sound der versierten Band, der Verzicht auf Blues-Anleihen, die sich
windenden Gitarren und das kluge Songwriting lassen an die New Yorker
denken. Dass „Another Girl, Another Planet“ die Klasse der
anderen Songs überdeckt, ist regelrecht tragisch – man darf nicht
das Album wegen eines Songs überhören. Das weitere Schicksal
krankte jedenfalls an dem einen Hit – und an Perrett's
galoppierender Drogensucht. Dass sie in den folgenden zwei Jahren
zwei genauso gelungene Nachfolger machten, grenzt an ein Wunder.
Sollte man nur ein Album der Band wollen, wäre The Only Ones wohl
das Album der Wahl. Es ist in seiner Art bezeichnend für die Zeit
„nach Punk“ - als auf einmal alles möglich war, weil etliche
Musiker sich nun auf's Wesentliche beschränkten – eine Idee, den
Song und die Energie, die Popmusik wieder zu einem Ereignis macht.
The
Vibrators
V2
(Epic,
1978)
Auch
die Vibrators gehören zu den Bands, denen das Punk-Korsett
eigentlich zu eng ist. Aber wegen ihrer Vergangenheit im Vorprogramm
von Chris Spedding und Iggy Pop, wegen ihrer Auftritte im Roxy Club
und wegen des Erfolges solcher Singles wie „Pogo Dancing“ und
„Baby Baby“ gelten sie als Punk Band der ersten Stunde. So sind
sie 1978 schon regelrechte Veteranen, und V2 ist schon das zweite
Album der Band. Und wie das bei Punk oft so ist - eine komplette LP
ist auch hier ein bisschen zu viel. Das Debütalbum Pure Mania gehört
noch zu den durchgehend anhörbaren Alben seiner Zunft, auf V2 wurde
dann möglicherweise einfach etwas zu viel probiert. Wo die Vibrators
gut sind, da sind sie sehr gut - „24 Hour Party People“ klingt
nach Chuck Berry und ist entsprechend energetisch, „Feel Alright“
ist feiner Garagen-Rock, und sobald die Vorbilder des Punk
unverstellt zu erkennen sind, sind die Vibrators wirklich wunderbar –
spielen eine harte Version des zeitlosen Power-Pop. Ähnlich wie die
Stranglers, mit denen sie auch die Bühne teilten, ist das
Punk-Korsett zu eng für diese Band (vor Allem für Gitarrist John
Ellis, der dann auch bald bei Leuten wie Peter Gabriel und Peter
Hammill aushelfen sollte), aber im Gegensatz zu anderen, länger
kreativen Bands hatten sie nicht die Abenteuerlust - oder die
Unverschämtheit – sich weiter zu entwickeln und blieben zu guter
Letzt auf der Strecke. Ihre ersten beiden Alben aber sollte man
hören, wenn man nicht genug hat von Single-Compilations wie No
Thanks! 70's Punk Rebellion und den fünf bis zehn durchgehend
lohnenden Alben ihrer „Gattung“.
Klar,
da ist auch Post-Punk in den USA!
Natürlich
gibt es '78 noch weitere herausragende Alben, die man Punk oder
Post-Punk oder New Wave nennen kann/muss. Hier beschränke ich mich
auf Bands aus dem United Kingdom, andere Meisterwerke dieser Art
Musik – insbesondere aus den USA – werden unter einer anderen
Überschrift anderswo beschrieben. Ich verweise auf den kurzen
Artikel über Punk in Cleveland (Pere Ubu, Devo) und auf den "Hauptartikel" mit den Bands aus dem Umfeld des CBGB's. Und '78 gibt
es natürlich noch etliche Alben die Post-Punk nur streifen, die gar
nichts damit zu tun haben, aber trotzdem toll sind etc. Kommt alles
noch irgendwo anders.
In
den USA wird mit dem Demokraten Barack Obama erstmals ein
Afro-Amerikaner zum Präsidenten gewählt. Er ist Hoffnungsträger
vieler fortschrittlicher Amerikaner, wird aber an den Strukturen des
konservativen Amerika verzweifeln, die meisten Hoffnungen nicht
einlösen können und vor Allem Politik und Gesellschaft der USA in
unversöhnliche Lager spalten. Die Olympischen Spiele finden dieses
Jahr in China statt und werden von Protesten gegen die chinesische
Regierung begleitet. In Österreich wird der Inzestfall des Josef
Fritzl aufgedeckt, der seine Tochter 24 Jahre in seinem Keller
gefangen hielt und sieben Kinder mit ihr hatte. Seit 2007 belastet
die von spekulationswütigen Banken eingeleitete Finanzkrise die
Weltwirtschaft – diejenigen, die dafür zahlen sind diejenigen, die
am wenigsten Schuld tragen. Der Fluch der Globalisierung eben:
Risiken lohnen sich für Konzerne und Banken, Lasten werden von
diesen aber nicht getragen... Auch der Klimawandel wird immer
deutlicher erkennbar. 2008 war das neunt-wärmste Jahr seit Beginn
der Wetterstatistik und auch Europa wird von Orkanen heimgesucht, in
Süd-China sterben bei einem Erdbeben 70.000 und bei einem Zyklon in
Myanmar kommen 80.000 Menschen um. Musikalisch ist 2008 geprägt von
der triumphalen Rückkehr einiger etablierter Acts (Portishead, Sigur
Ros, Randy Newman etc.) und einigen hervorragenden Debütalben. Bands
wie Vampire Weekend oder Foals bringen Disco und afrikanische
Einflüsse in die alternative Popmusik. Die Fleet Foxes hingegen
machen Americana in memoriam The Band wieder salonfähig. Auch 70er
Disco-Sound kommt in Verbindung mit elektronischer Musik wieder zum
Vorschein. Verlangsamte extreme Musik in Form von Drone, Funeral
Doom, Black Doom etc. ist dieses Jahr mit etlichen ganz großen Alben
vertreten. Der „The-Bands“ Hype incl. Vereinfachung des Indie
Rock mag vorbei sein, aber es tauchen immer noch Bands auf, die dem
Post-Punk neue Facetten abgewinnen. Freak Folk ist etabliert, James
Blackshaw lässt American Primitivism mit reinen Gitarrenklängen neu
erstrahlen, Fucked Up paaren Punk und Pink Floyd... Kurz: Es ist ein
weiteres Jahr mit einem eklektizistischen Mix an guter Musik – die
allerdings in den Charts oder im Radio kaum stattfindet. Musik wird
inzwischen hauptsächlich im Netz via Downloads und Streaming
konsumiert, aber da gibt es genau die gleiche Menge an schlechter
Musik, wie etwa Leona Lewis Konfektionspop mit Casting Stimme oder
Paul Potts, das britische „Supertalent“ mit Opernstimme incl.
rührendem Schicksal, oder die Teenie Schwärme Jonas Brothers und
haufenweise Pop-Produkte a la Rihanna, Pink, Mariah Carey und der ach
so entspannte Surfer und Langweiler Jack Johnson... So was VERKAUFT
sich eben...
Portishead
Third
(Island,
2008)
In
solch (musikalisch) postmodernen Zeiten war es nicht verwunderlich,
dass das beste Album des Jahres nicht von einer neuen Band kam,
sondern von Portishead, einer Band aus den Neunzigern, bei der man
sich gefragt hatte, ob es sie überhaupt noch gäbe - und ob sie ihre
Musik in die 00er Jahre übersetzen kann. Aber dann stellt sich unter
dem regen Getrommel der Musikpresse heraus, dass Portishead sich in
den Jahren zwischen Portishead und Third offensichtlich mehrfach
gehäutet hatten und dass es ihnen sogar gelungen war, ihre bekannten
Qualitäten in die heutige Zeit zu übersetzen. Ihr mit
geschmackvoll- minimalistischem Coverdesign ausgestattetes drittes
Studio-Album nach immerhin elf Jahren Pause ist zwar von denselben
Musikern eingespielt, aber die Musik darauf ist definitiv kein
altbekannter 90er TripHop mehr, vielmehr changiert Third zwischen
Folk, gespenstischen Elektronik-Tracks und düsterem Industrial. Hier
ist nichts „freundlich“ (aber das waren Portishead sowieso nie),
nichts beugt sich kommerziellen Erwägungen oder ist gar als
Hintergrundmusik für Tiefsee-Doku's geeignet (...was man der Musik
der wunderbaren Vorgängeralben immer wieder gerne angetan und auch
angelastet hatte...). Nun kam mit der ersten Single „Machine Gun“
eine ratternde Kriegs-Kakophonie daher, die alle möglichen
Unbequemlichkeiten beinhaltet, aber ganz gewiss keinen „Hitcharakter“
hat, und auf dem Album wird es auch nicht gemütlicher: „We Carry
On“ ist Portishead als Joy Division, „Deep Water“ beleiht mit
Ukulele sinistre Folk-Musik, die zweite Single „The Rip“ (und der
erste „Hit“ des Albums, den die Sender mehr als einmal zu spielen
wagten) beginnt ebenfalls als kreiselnde Folk-Weise um dann in reiner
Katharsis zu enden und etliche Tracks paaren Krautrock statt
Drum'n'Bass (endlich wieder) mit der unglaublichen Stimme von Beth
Gibbons. Um es kurz zu halten: Das komplette Album ist
meisterlich, aber nicht einfach. Und damit ein kommender Klassiker.
Sigur
Ros
Með
suð í eyrum við spilum endalaust
(EMI,
2008)
Natürlich
darf ein jeder der Ansicht sein, das 2008er Album der isländischen
Institution Sigur Ros sei besser als Portishead's Rückkehr-Album
Third, aber letztlich sind beide Alben nahezu gleichwertig – und
man darf sie beide lieben. Portishead waren in ihrer Abenteuerlust
nur ein paar Schritte weiter gegangen als Sigur Ros – dabei haben
beide Bands ein Feld besetzt, dass scheinbar wenig
Variationsmöglichkeiten bietet. Aber so ist das mit ausgezeichneten
Bands, die einen ganz eigenen Stil haben – sie können auf dem
eigenen Feld gerne mal Haken schlagen und ihre Beobachter
überraschen. In den Jahren zuvor waren Sigur Ros sicher nicht für
ihr überbordendes Temperament oder gar Albernheiten bekannt. Aber
auf Með suð í eyrum við spilum endalaust (Übersetzt: With a
Buzz in our Ears, We Play Endlessly) wurde ihre ausufernde Musik,
wurden ihre langgezogenen Instrumentalpassagen und die träumerischen
Melodiebögen hier und da tatsächlich von so etwas wie Humor und
Licht durchbrochen. So ist zum Beispiel der lautmalerische Opener
„Gobbeldigook“ ein echter Pop-Song, kommt „Festival“ mit
dröhnend marschierenden Drums daher. Das melancholische „All
Right“ wiederum basiert auf einfachen, für Sigur Ros so typischen
Melodiefiguren, aber man ließ einzelne Instrumente deutlich
erkennbar hervorscheinen, statt den Song in rauschhaft ineinander
fließenden Soundschichten zu ertränken. Sigur Ros hatten also ihren
Sound radikal vereinfacht, waren aber - und das ist vor allem das
Verdienst von Sänger/Gitarrist und Bandkopf Jonsi – immer noch
eindeutig als sie selbst erkennbar. Das war ein mutiger und richtiger
Schritt, um ihr bestes Album seit ( ) zu machen.
Have
A Nice Life
Deathconsciousness
(Enemies
List, 2008)
Es
sind inzwischen für mich oft die Unbekannten, die Studiotüftler,
die ihre Alben dann kleinen Stückzahlen veröffentlichen, die
wirklich Großes zuwege bringen - gerade weil sie ihre Kunst nicht
generalstabsmäßig planen. So wie Tim Macuga und Dan Barrett aus
Middletown, Connecticut. Die existieren seit ca. 2000 als Have a Nice
Life und haben sich und ihr Label Enemies List ausdrücklich gegen
die ihrer Definition nach toten Major- Labels und deren Mechanismen
positioniert. Sie erschaffen ihre Musik mit den heute zur Verfügung
stehenden technischen Mitteln im privaten Umfeld und geben sich (und
Label-Genossen) dafür unbegrenzte künstlerische Freiheit und Zeit.
Da kann natürlich obskurer Mist herauskommen – aber mit ihrem
ersten Album Deathconsciousness entstand aus dieser Freiheit ein
echtes Meisterwerk. Es ist ein Doppel-Album, aufgeteilt in zwei Teile
- The Plow That Broke the Plains und The Future – die musikalisch
die persönlichen Vorlieben der beiden Musiker wiedergeben: Einflüsse
aus Post-Punk + Gothic (Joy Division, Bauhaus), Post-Rock, Shoegaze,
Industrial und Black Metal vereinen sich auf's organischste. Die
Produktion mag „Bedroom“, oder Lo-Fi sein, aber ich höre das
nicht. Hier ist alles so ausgefeilt und durchdacht, wie es die Idee
hinter der Kunst verspricht. Sie trauen sich an ein Konzeptalbum a la
Pink Floyd (The Wall) oder Mars Volta (De-Loused in the Comatorium) –
und verheben sich damit nicht ! Die Story um den obskuren
mittelalterlichen Häretiker Antiochus wird in einem beigefügten
70-seitigen Buch erklärt, sie mag schwierig (zu verstehen) sein,
aber die Atmosphäre aus finsterem Mittelalter, religiösem
Fanatismus und Mord und Totschlag wird musikalisch vielfarbig und
modern abgebildet. Sie spielen mit Dynamik, bersten vor Kraft und
Wut, haben lyrische Passagen in ihrer Musik – und sind dabei
manchmal sogar auf gewisse Weise poppig. Der erste Teil des Albums
ist fast perfekt, besonders „The Big Gloom" ist epischer
Shoegaze mit dunklen und hellen Schattierungen, erhebend und finster
zugleich. Das über 11-minütige „Earthmover“ beendet die
Songkollektion auf ähnliche Art mit einer letzten, vier-minütigen
Chord-Progression von majestätischer Monotonie. „Holy Fucking Shit
- 40,000” klingt wie ein abgedrehter Flaming Lips-Outtake, hat
einen nervösen Zusammenbruch eher er in fröhlichem Akustik-Gitarren
Geklingel endet. Deathconsciousness ist abwechslungsreich,
anstrengend, atmosphärisch, zu lang, reichhaltig und überkandidelt
– und all das muss so sein. Aber - das muss man hören, das kann
man nicht wirklich beschreiben. Also: siehe Bandcamp...
Deerhunter
Microcastle/Weird
Era Continued
(4ad,
2008)
Das
passt irgendwie gut zu Have a Nice Life. Deerhunter – die Band um
Bradford Cox aka Atlas Sound – sind auch seit Beginn der 00er Jahre
aktiv, auch sie sind musikalisch wenig kompromissbereit – aber sie
arbeiten immerhin im Umfeld „normaler“ Labels (4AD bzw. Kranky –
soweit die normal sind...). Cox leidet am Marfan-Syndrom, einem
Gendefekt, der das Bindegewebe schädigt und der mit bestimmten
Deformationen des Körpers einhergeht. Diese Krankheit – und die
frühe Trennung seiner Eltern – hatte ihn zu einem Einzelgänger
gemacht... der sich insbesondere mit Musik befasst hat, die
„heartbreaking or nostalgic or melancholy“ ist. Er muss hunderte
von Tapes aufgenommen haben (die er für sein Solo Incognito Atlas
Sound nutzt) und gründete mit 20 mit ein paar Interessierten
Deerhunter. Seine Art Musik und Texte zu machen beruht auf dem
Prinzip des stream of consciousness – was man kaum glauben mag,
wenn man ein Album wie Microcastle hört. Er verwendet – wie Have a
Nice Life – die Stilistiken, die ihm gerade ins Zeug passen, ob
Shoegaze, Noise, Doo-Wop, Psychedelia oder Post-Rock – nur mit Metal
hat er's nicht – aber auch ihm gelingt es, all seine Einflüsse zu
einem schlüssigen Ganzen zu verschmelzen (Eine Fähigkeit, die in
dieser Generation von Musikern oft genug vorkommt). Weil dieses –
das dritte Album der Band – zwei Monate vor Erscheinen im Internet
geleakt wurde, ergänzten Deerhunter Microcastle um das Zusatzalbum
Weird Era Continued – und setzten so ein Doppelalbum in die Welt.
Dass hier Musik spontan entstanden ist, ist wie gesagt nicht
erkennbar, Cox stellt seinen drei Kollegen seine Ideen vor, und dann
setzt eine Magie ein, die aus dem Wirrrwarr konzisen Dream-Pop macht,
der sich an die Flaming Lips und an My Bloody Valentine zugleich
anlehnen mag, der aber extrem eigenständig ist. Cox beweist auf
Microcastle /Weird Era Cont. durchaus Songwriter-Qualitäten -
„Agpraphobia“ oder „Twilight at Carbon Lake“ sind versponnen
und … angenehm schön... zugleich. Dabei sind seine Lyrics von
Gedanken an seine Außenseiter-Rolle und an den Tod durchzogen,
machen das Album textlich zu einer finsteren Angelegenheit, die durch
die Shoegaze und Dream-Pop Elemente sozusagen in Watte gepackt wird.
Das Zusatz-Album fügt dem Ganzen noch einen sympathisch unfertigen
Garagen-Charme hinzu und macht das Album nur besser. Bradford Cox
hatte einen Lauf – und ich hoffe, dieses Album wird auch in 20
Jahren noch als das Meisterwerk erkannt, als das ich es jetzt sehe.
Grouper
Dragging
a Dead Deer Up a Hill
(Type,
2008)
Grouper
– das ist die Musikerin Liz Harris, eine junge Künstlerin aus San
Francisco, die ihren Moniker ihrer Kindheit in einer Kommune
entliehen hat, die sich seit Mitte der 00er Jahre mit anderen
experimentellen Freigeistern wie Mayo Thompson, Roy Montgomery oder
Xiu Xiu verlustierte und in dieser Zeit eher Musik gemacht hatte, die
den Prinzipien von Noise und Drone verpflichtet war. Aber dann kam
Dragging a Dead Deer Up a Hill und aus einer obskuren Unbekannten
wurde eine immer noch obskure Berühmtheit. Dabei ist der Wechsel von
der durch Feedback und Drones übertönten Stimme zu dieser
regelrecht folkigen Stimme – und Musik - durchaus logisch
nachvollziehbar. Sie nutzte auf ihrem ersten Album für's Type-Label
Einflüsse aus British Folk und Gothic, um ihre Stimme und ihr
akustisches Gitarrenspiel im Songformat zu präsentieren. Das könnte
man als kommerzielles Zugeständnis werten – aber mitnichten –
dazu ist ihre Musik zu unbequem, zu unheimlich, sind die Erfahrungen
und Kunstgriffe aus Drone und Noise zu präsent in diesen ruhigen
Tracks. Und Liz Harris' hier oft gedoppelt und ge-dreifachte Stimme
IST hörenswert, ihr Songwriting hat es verdient, aus dem
Geräusch-Dickicht der vorherigen Alben hervorzutreten – auch wenn
die Songs manchmal so verschreckt wirken, wie das titelgebende Reh
kurz vor seinem Tod. Harris erschafft mit geringsten Mitteln mitunter
eine Atmosphäre, die dem Hörer den Hals zuschnürt. Die knapp drei
Minuten von „Heavy Water/I'd Rather Be Sleeping“ sind so luftig
arrangiert, dass es fast verschwinden will – man nennt solche Musik
auch ganz treffend Dream-Pop/ Ethereal Wave (ätherisch...) - nur
dass die Romantik hier düster ist – und das, ohne dass man die
Lyrics verstehen würde - oder müsste. Ein Album, das auch wieder
als Ganzes funktioniert und auf Atmosphäre aufbaut. Ein Kunstwerk –
mit einem passend unheimlichen Covershoot.
Fleet
Foxes
Sun
Giant EP
(Sub
Pop, 2008)
Fleet
Foxes
s/t
(Sub
Pop, 2008)
Für
die weniger experimentierfreudigen - oder sagen wir's doch: die älteren - Hörer sicher die beste(n) Alben
dieses Jahres: Die Fleet Foxes kamen irgendwie aus dem Nichts und
wurden mit ihrem an The Band, Brian Wilson, CSN&Y, Apallachian
Folk und Indie-Rock angelehnten Americana-Sound überraschend aber
verdient im Rolling Stones/Mojo Segment der 30-50 jährigen
Musikhörenden erfolgreich. Ihre Musik ist herzlich altmodisch, die
Songs gemahnen in Struktur und Instrumentierung an die Siebziger, und
ihr melodischer Reichtum spiegelt sich durchaus treffend im
Computer-Historienspiel-Cover der EP und im Hieronymus Bosch Abdruck
des LP-Covers wieder. Das Herausragende und meiner Meinung nach
Zeitlose an Fleet Foxes - und an der bald mit der LP zum Doppelalbum
ergänzten EP Sun Giant - ist das hörbar symbiotische Zusammenspiel
der Musiker, sind die wunderschönen Gesangsharmonien und
insbesondere die klare Stimme von Lead-Sänger Robin Pecknold, dessen
Gesang mich an den von Jim James von My Morning Jacket erinnert. Eine
Referenz, die gut zur Musik der Fleet Foxes passte. Auch bei der Band
aus Seattle sind diese frei fließenden Melodiebögen wiederzufinden,
kann und soll man eine gewisse Sehnsucht in den Songs fühlen. die
Fleet Foxes neigen nur nicht ganz so dazu ihre Musik ins Unendliche
ausufern zu lassen wie die Psychedeliker My Morning Jacket. Und all
die Stilistik wäre akademisch ohne die gelungenen Melodien. Die EP
hat mit „Mykonos“ einen der besten Songs der Band an Bord – und
es ist allein schon wegen dieses Tracks sinnvoll, nach dem
Doppelalbum zu suchen - auch wenn die Band zu diesem Zeitpunkt ihr
Sound-Konzept noch nicht zur Vollendung gebracht hat. Aber auf Fleet
Foxes sind es dann der pastorale Hit „White Winter Hymnal“ oder
das ebenfalls wunderschöne „Your Protector“ die herausragen –
zum Glück nicht so weit, dass sie den Rest des Albums überstrahlen.
Man könnte höchstens beklagen, dass die Musik der Fleet Foxes ZU
schön ist – aber sie schaffen es, Schönheit und Anspruch auf's
trefflichste zu verbinden. Nur wirklich gewagt oder experimentell –
und damit „modern“ – ist hier nichts.
Fennesz
Black
Sea
(Touch,
2008)
Irgendwie
habe Ich den Österreicher Christian Fennez – Gitarrist und
„elektronischer“ Musiker - als moderne Version von Klaus Schulze
im Kopf. Ist aber natürlich Unsinn. Beide haben allerhöchstens
gemeinsam, dass sie Mittels elektronischer Instrumente recht
ausgedehnte Klanglandschaften entstehen lassen – aber die Mittel,
die Fennesz nutzt sind inzwischen technisch so weit fortgeschritten,
dass Schulze in einer Ahnenreihe mehrere Generationen vor Fennesz
steht. Der Österreicher hatte an der Hochschule Kunst studiert, und
sich auf Klangkunst konzentriert, er hatte 2001 mit Endless Summer
ein ähnlich gelungenes Album gemacht, mit diversen namhaften
Musikern kooperiert (Jim O'Rourke, David Sylvian, Sakamoto etc...)
mit dem '04er Album Venice ein bisschen gelangweilt – aber jetzt
veröffentlichte er mit Black Sea eines DER instrumentalen,
elektronischen Drone- Ambient- Glitch- whatever Alben seiner Art.
Seine Musik basiert auf gesampelten Gitarren-Sounds, elektrisch und
akustisch, diversen Percussion-Mustern, die aber nie zum
durchgehenden Rhythmus werden und breiten Klangflächen. Ich könnte
mir vorstellen, dass er seine Tracks eher als Klang-Skulpturen denn
als „Songs“ begreift, das Ergebnis jedenfalls ist reduziert,
warm und durchaus erzählerisch – was mich bei Musik dieser Art
immer am meisten begeistert. Der titelgebende Opening Track wäre
Black Sea als Mikrokosmos – oder eher Makrokosmos, da er über zehn
Minuten dauert: Es beginnt mit Schichten aus Feedback, die langsam
tröpfelnden melodischen Klängen weichen um in mäandernde
Gitarrenmelodien auszulaufen. Dabei werden durch Fennesz geschickten
Umgang mit Dynamik Brücken über alle Stimmungen von goßer Ruhe
über kathartische Ausbrüche bis zu regelrechter Euphorie
geschlagen. Und insofern mag Fennesz wieder etwas mit Klaus Schulze
gemein haben – der ebenfalls meisterlich mit Dynamik umging und mit
seiner Musik Stimmungen solcher Art zu erzeugen wusste.
Flying
Lotus
Los
Angeles
(Warp,
2008)
Dem
Los Angelino Steven Ellison aka Flying Lotus (auch noch aka Captain
Murphy – als HipHop-Künstler) wurde die Musik wohl in die Wiege
gelegt. Er ist der Großneffe von Alice Coltrane und Enkel der
Songwriterin Marilyn McLeod (die u.a. für Diana Ross Hits
geschrieben hat) – und er geht seit dem '06er Debüt-Album 1983
seine eigenen musikalischen Wege. Beeinflusst durch Jobs beim
HipHop-Label Stones Throw, durch asiatische Musik und die Geschichte
seiner Verwandten hatte er nach Kunst- und Musik-Studium zuerst in
Heimarbeit besagtes Debüt fabriziert, welches das ehrenwerte
Warp-Label veranlasste, ihn unter Vertrag zu nehmen. Spätestens nach
der letztjährigen EP Reset war klar, dass Warp wieder einen Stein
für das Fundament des guten Geschmacks eingebaut hatte. Flying Lotus
liegt auf Los Angeles musikalisch und soundmäßig irgendwo zwischen
dem abstrakten Techno von Autechre und Aphex Twin – oder
meinetwegen auch zwischen Madlib und Dilla's schlauen Beats. Er
verschmilzt all seine Einflüsse zur Musik der Zukunft ohne sich um
Genre-Grenzen zu scheren. Und weil er tatsächlich hoch-musikalisch
ist, gelingt all das so mühelos, so dynamisch, so eigenständig,
dass keine Langeweile aufkommen kann, dass nichts bemüht wirkt oder
gar akademisch. Los Angeles ist tatsächlich wie die Stadt, nach dem
es benannt ist – Ein Schmelztiegel. Dass – wie bei J Dilla –
für das Album 17 kurze Tracks mit hunderten von Ideen aufeinander
folgen, machen Los Angeles zu einem sehr kurzweiligen Vergnügen. Da
werden dubbige Bas-Linien mit nervösen Beats und harten Breaks
kombiniert, „Roberta Flack“ ist moderner, verträumter Soul,
„Beginners Falafel“ hüpft mit Dance-Grooves voran, Los Angeles
ist die Zukunft, und die ist scheinbar sehr bunt. Und Ja – man KANN
dem Album eine gewisse Zerrissenheit nicht absprechen. Manchem Hörer
mag der durchgehende Faden fehlen. Aber den kann man dann auf den
nachfolgenden Alben Cosmogramma (2010) und beim Future-Free-Jazz von
You're Dead (2014) aufnehmen. Zum Abschluss hier (wieder) der
Hinweis, dass es 2008 durchaus noch einigen Alben vergleichbarer Art
und Klasse gibt. Aber es wird ein egens Kapitel geben, dass die
anderen wichtigen Alben mit Minimal House, IDM, Glitch Hop, Synth-Pop
etc behandelt.
Erykah
Badu
New
Amerykah Part One (Fourth World War)
(Motown,
2008)
Gegen
die vorherigen beiden Innovatoren ist die Neo-Soul Queen Erykah Badu
eine Veteranin. Sie hat Mitte der Neunziger zusammen mit Kollegen wie
D'Angelo, Common und den Roots begonnen, Soul wieder mit Inhalt und
Bedeutung zu füllen, sie musste zu Beginn der 00er Jahre eine fiese
Schreibblockade überwinden um dann mit HipHop Produzenten wie
Questlove, Madlib, J Dilla und Q-Tip neue Tracks zu entwickeln, die
sie dann endlich Ende Februar 2008 unter dem Beziehungsreichen Titel
New Amerykah Part One (Fourth World War) veröffentlichte. Und es ist
alles da, was Baduizm und Mama's Gun vor Jahren so einzigartig
gemacht hat... und ein bisschen mehr. Noch immer bezaubert ihre
coole, samtige Stimme, noch immer bezieht sie auf ihre ureigene Weise
gesellschaftliche, politische, feministische Positionen, noch immer
sind es Soul und HipHop in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen,
die das musikalische Setting bestimmen – und natürlich reagiert
sie auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer
Zeit. Sie klingt dabei wieder zugleich angepisst, aggressiv und
halb-bekifft. Und der „Konzept“-Titel des Albums ist durchaus
schlüssig – Kosmology, Die Verehrung des Ankh, Afrozentrismus –
all das verbindet sich organisch mit Kritik an den Verhältnissen
innerhalb und ausserhalb der black community. "The Cell"
reflektiert über Sucht in der eigenen Familie („Momma hopped up on
cocaine / Daddy on space ships with no brain / Sister gone numb the
pain the same / Why same DNA cell?"). „The Healer“ preist
die Kraft des HipHop und der schwarzen Identität, die hinter ihm
steht, bei „Soldier“ nähert sie sich Lauryn Hill an, ihre
politischen Aussagen sind zwar verschlüsselt, aber immer präsent,
der Sound des Albums ist die logische Weiterentwicklung ihrer
vorherigen Alben – die acht Jahre Pause seit dem letzten „echten“
Album mit eingerechnet. Erykah Badu hatte mit diesem Album ihre
Relevanz erneut bewiesen. New Amerykah ist ein bewegendes Album,
gesättigt mit Kraft und Engagement. Und es belebt Soul (wieder
einmal) als relevante Musik neu. Dass sie am Ende den Ausblick auf
das folgende Album – die Fortsetzung - Part Two (Return of the
Ankh) gewährt ist ein tatsächlich willkommenes Versprechen.
Ein
Paar Worte zur Auswahl der Alben
So
leicht es in den 60er, 70ern und sogar 80ern für mich ist, die 10
besten und wichtigsten Alben eines jeweiligen Jahres zu erwählen, so schwer finde ich das in
den 00er und 10ern. Ich kann nur vermuten, dass die hier oben
empfohlenen Alben wirklich auch in 20 Jahren noch gehört werden –
und als „wichtig“ empfunden werden. Ich versuche da ja
tatsächlich - auch – den Trend hin zur sog. "elektronischen" Musik von
vereinzelten Laptop-Künstlern zu berücksichtigen und die Breite der Stilisiken zu erfassen, ich finde Erykah
Badu's Neo-Soul-Wiederbelebung aus Prinzip zukunftsweisend, ich halte
Portishead und Sigur Ros für zeitlos – und damit „klassisch“...
aber in diesem Jahr z.B. bin ich unsicher - weil 2008 nicht
SO viele Alben bereithält, die mich völlig begeistert haben. Have a
Nice Life sind ja schon recht speziell, und dass die altmodischen
Fleet Foxes nur von 40+-jährigen als interessante Innovatoren
abgefeiert werden, halte ich für wahrscheinlich. So wähle ich jetzt voller Zweifel ein zehntes Album, das ich in einer Woche gegen ein
anderes austauschen könnte. Aber – und das ist tröstlicher als
man meinen könnte – ich darf das, ich kann es ändern wann immer
ich will und die hier beschriebenen Alben für 2008 sind bis auf
Third, Með suð í eyrum við spilum endalaust und
Deathconsciousness ganz einfach nur vorläufig als Klassiker zu
bezeichnen – und das finde ich gut so.
TV
On The Radio
Dear
Science
(4AD,
2008)
… das
ist also so ein Fall. TV On The Radio's Sound stellte 2008 die
modernste Art „Rock“-Musik dar. Nun – 10 Jahre später – ist
Rockmusik per se irgendwie alt(modisch) – und die sehr
variantenreiche sog. Elektronische Musik ist DAS Ding. Die Musik,
gegen die wie auch immer geartete Vereinigungen von Musikern mit den
traditionellen Kenntnissen an Bass, Drums, Keyboards/Synth's und/oder
Gitarren nicht ankommen. Die althergebrachte Form des Herstellens von
populärer Musik hat sich durch die Möglichkeiten der digitalen
Klangerzeugung und Manipulation völlig verschoben – und jeder, der
die früheren Methoden anwendet wird zum Artefakt. Daher erscheint
Dear Science von TV On The Radio heute kaum noch so beeindruckend,
wie seinerzeit – und auch 2008 war dieses Album keine Überraschung
mehr – der perfekte postmoderne Sound von TV On The Radio war auch
da schon nicht mehr so neu wie auf dem Debüt oder dem '06er
Album Return to Cookie Mountain. Dennoch ist Dear Science ein
Beispiel für den extrem eigenständigen und modernen Sound der New
Yorker. Sie gelten als Band für's 21. Jahrhundert und ihre extrem
dynamischen Dance Punk Tracks sind durchzogen von hippen elektronischen Sounds. Auf Dear Science wird noch Afro-Beat und
HipHop integriert, es entsteht ein Crossover-Sound, der Nichts mit
dem gleichnamigen, aus HipHop, Hardcore und Metal zusammengebauten
Genre der 90er zu tun hat. „Stork and Owl“ extrahiert die Reste
eines R&B Songs, überlagert ihn mit einer Neo-klassischen Aura
und setzt einen Touch Indie obenauf.. „Love Dog“ und „DLZ“
sind vielleicht die besten Beispiele für das makellose – und
mitunter durchaus auch nachvollziehbar poppige Songwriting von TV on
the Radio. „Love Dog“ ist das klagendere, expressivere Stück,
„DLZ“ ist der explosivere, feurigere Song, einer der besten des
Jahres. Ich stelle eben nur immer wieder fest, dass diese Musik die
Kälte hat, die bei zu großer Perfektion eintritt. TV On The Radio
sind wie der Klassenprimus im Gymnasium, der sogar im Sport glänzt –
und der irgendwie ZU cool ist, um sich wirklich ein echter Freund zu
sein. Dear Science ist ein perfektes Amalgam aus hunderten von Bands
– ich muss es aber immer wieder anhören um es zu durchschauen...
und ich muss in der Stimmung für Rrrrrockmusik sein.