Montag, 26. November 2018

2010 - Eyjafjallajökull, Deepwater Horizon, Erdbeben in Haiti – Joanna Newsom bis Deerhunter

Ein weiteres Jahr der Naturkatastrophen: Bei Überschwemmungen in Pakistan kommen Tausende um, in Russland führt Trockenheit zu Wald- und Torfbränden, in Polen kommt es am Flußlauf der Oder zu Überschwemmungen. Der Vulkan Eyjafjallajökull in Island bricht aus und legt den Flugverkehr europaweit lahm und bei einem katastrophalen Erdbeben im bettelarmen Haiti kommen 220.000 Menschen um und Eine Million wird obdachlos. US-Präsident Obama bekommt von seinen politischen Widersachern immer mehr Gegenwind, was die Politik in seinem Land lähmt, die Weltwirtschaftskrise allerdings schwächt sich ab, Nord- und Süd Korea geraten wieder aneinander, der islamistische Terror in Afghanistan, im Irak und Pakistan ist ungebrochen, im Golf von Mexiko explodiert die Teifsee-Ölbohr-Plattform Deepwater Horizon und verseucht das Meer in noch nie da gewesenem Maß - die Welt ist unruhig. Don Van Vliet (Captain Beefheart) stirbt, Mark Linkous (Sparklehorse) begeht Selbstmord , Solomon Burke und die wunderbare Kate McGarrigle sterben. Die Tendenz zu immer weniger physischen Tonträgern und immer mehr Downloads ist ungebrochen, dabei gibt es doch immer wieder und immer noch Künstler, die als komplette Werke gedachte Alben (die 3-CD Box von Joanna Newsom) veröffentlichen. Shoegaze, Psychedelik, Surf-Pop, Girl Group-Pop und Noise füren zu interessanten Kombinationen. Irgendwie scheint jeder irgendetwas aus verschiedensten Phasen der Popmusik zitieren zu müssen, mit psychedelischen Wolken versehen zu müssen, um das Ganze dann mit der allgegenwärtigen Elektronik zu vermischen. Richtig neu ist so nichts mehr, aber die Kunst des Zitierens führt zu immer neuen und gelungenen Ergebnissen. Kanye West macht sein bestes Album bislang, Arcade Fire reduzieren ihr Pathos, Grime, Dub-Step, Elektronische Musik, aber auch Folk, ob Freak- oder nicht, und purer Pop sind mit positiven Beispielen dabei. Nichts ist richtig „neu“, aber das Alte ist gut. Und es gibt natürlich solche Phänomene wie Lady Gaga, die heuer mit „Pokerface“ oder „Alejandro“ und einem dazugehörigen Album und diversen Verkleidungen die Charts stürmt, oder Shakira, die hauptsächlich super mit dem Hintern wackelt, oder David Guetta, von dem ich gar nicht weiss, was er macht – aber ist auch egal. Die Charts eben – in diesen Zeiten frei von Musik, die intensiveres Zuhören lohnt. Angefüllt mit Unterhaltungsmusik für den Moment – und das ist ja auch ok so.

Joanna Newsom


Have One On Me

(Drag City, 2010)

Anders,- aber anders Anders als ich es vermutet hätte. Joanna Newsom's Ys - vier Jahre zuvor erschienen - war sehr strukturiert, durch die delikate Orchestration von Van Dyke Parks und die langgezogenen Spannungsbögen in den wenigen Songs hatte das Album einen klaren Charakter und man hätte nicht erwartet, dass sie noch einmal so ausladend werden würde, ohne sich zu übernehmen - aber sie tat genau das und machte dabei ein weiteres Mal alles richtig (Schließlich ist sie ja Everybody's Indie-Folk Darling...). Das neue Album Have One on Me ist amorph, ellenlang, es mäandert vor sich hin – und es überwältigt durch genau diese Eigenschaften - und durch seine emotionale Direktheit. Müsste ich Musikerinnen und ihre Stilistik zum Vergleich heranziehen, so fielen mit Joni Mitchell's Art-School Chic in Verbindung mit der Erdigkeit Carol King's ein, dazu die grelle Brillianz einer Dagmar Krause (Sängerin bei Slapp Happy, falls man sie nicht kennt..) und natürlich die barocke Kunst einer Kate Bush, deren Individualismus Newsom ja sowieso teilt. Sie springt auf diesem Album nun von Appalachian Folk über Country, Soul und Gospel bis zum Pop, und sie hat das berechtigte Selbstvertrauen, all diese Elemente unter ihren ureigenen Hut zu bringen, denn ihre Stimme, ihre Art Songs zu schreiben und ihre Arrangements halten Alles problemlos zusammen. Diesmal spielt das Klavier neben der Harfe eine gleichberechtigte Rolle, und dann sind da wieder Songs wie der elf-minütige Bluegrass/Blue Eyed Soul-Titeltrack, das wunderschöne „Go Long“ oder der Kammerpop von „Kingfisher“ oder das Joni Mitchell-hafte „Soft as Chalk“... Die Summe all seiner Teile macht Have One On Me zu einem der fraglos besten Alben 2010. Und das trotz einer Dauer von über zwei Stunden – etwas, an dem andere Künstler gescheitert wären.

Joanna Newsom - Soft as Chalk 


Kanye West


My Beautiful Dark Twisted Fantasy

(Roc-A-Fella, 2010)

...und das ist jetzt eines der fragwürdigsten und zugleich tollsten Alben in der Geschichte des... Rap? Der Rockmusik? Egal. Kanye West hatte sich in den letzten Jahren immer mehr zum durchgeknallten Angeber mit erstaunlichen Fähigkeiten entwickelt. Seine Egomanie in Verbindung mit seiner Verehrung für fragwürdige Ideen (und Politiker - siehe Trump... aber das kommt ja erst noch) macht ihn und alles was er macht immer wieder schrecklich unsympathisch. Aber sympathische Genies gibt es kaum – Picasso, Hemingway, Mozart – sie alle sollen auch ziemliche Idioten gewesen sein. Und mit My Beautiful Dark Twisted Fantasy gab Kanye seiner Selbstüberschätzung doch tatsächlich Substanz. Diese Substanz glänzt und glitzert natürlich, … Fantasy ist eine Ansammlung all dessen, was im HipHop und im Neo-Soul überhaupt möglich ist. Die Gästeliste ist so illuster wie nur irgend möglich: Sie reicht von den Pop-Sternchen Rihanna und Nicki Minaj über gestandene Rap-Stars wie RZA, Raekwon, Kid Cudi, Pusha T und Jay-Z bis zum Soul-Meister John Legend und zum Indie-Held Bon Iver – und Alle packt Kanye unter einen passenden Hut. Die Produktion auf diesem Album ist so perfekt, dass jeder Sampel, jeder Beat vor Perfektion und Kraft platzen will. Dass Kanye selber nicht einmal der beste Rapper unter der Sonne ist, ist nicht nur zu vernachlässigen – nein – das ist AUCH richtig so. Oft sind HipHop-Alben uneben – haben die zwei, drei Über-Tracks und den üblichen, etwas mittelmäßigen Rest. Nicht so hier: Die „Songs“ - und so muss man sie nennen - sind vom Ersten bis zum Letzten hervorragend „komponiert“, abwechslungsreich, interessant, spannend. Die eingesetzten Samples sind vom Feinsten, mitunter wird ungewöhnliches Material gewählt - „21st Century Schizoid Man“ von King Crimson wird eingebaut, Black Sabbath werden gesampelt, diverse Soul-Künstler – und alles wird in einen komplett neuen und eigenen Zusammenhang gestellt. Dass Kanye alle vier Singles mit heftigem Medien-Hype veröffentlicht, (Kurzfilm zu „Runaway“), das komplette Album wird mit zusätzlichen Tracks zum Download auf der extra dafür geschaffenen GOOD Friday Website gehyped. Und dass all das egal ist, dass all der Hype und die Luxus-Ausstattung dem Album nur nutzt, ist der größte Verdienst, den ich Kanye West zuspreche. Höre den Opener „Dark Fantasy“ mit Mike Oldfield-Sample. Höre „Power“, mit dem logisch eingebauten King Crimson Sample. Oder die Art, wie Justin Vernon's (Bon Iver..) Gesang eingebaut wird. My Beautiful Dark Twisted Fantasy ist zwar aus HipHop geboren, aber es ist ein Spiegel seiner Zeit und es reflektiert weit mehr als diesen einen Stil.

Kanye West - Power 


Ariel Pink's Haunted Graffiti


Before Today

(4AD, 2010)

Ariel Marcus Rosenberg aka Ariel Pink macht schon seit Ende der 90er Musik. Er hat einen Haufen sehr unterschiedlicher Alben, EP's und Singles auf Mini-Labels, als Cassetten oder Download veröffentlicht. Er hat jedes Feld zwischen Lo-Fi, Power Pop, Psychedelic, Garage, Synth Pop und Folk irgendwann irgendwie beackert und wurde dann Mitte der 00er Jahre bekannter, als er auf Paw Tracks - dem Label der ähnlich eklektizistischen Animal Collective - sein Album Doldrums veröffentlichte. 2010 zündet er die nächste Stufe seiner Karriere – er kommt bei 4AD unter und macht mit seiner Band Haunted Graffiti ein Album, das in gewisser Weise seine bisherige Karriere zusammenfasst. Die Nerd/Kenner-Zeitschrift The Wire bezeichnet die Musik des exzentrischen Einzelgängers als „Hypnagogic (= hallizunativen) Pop“ und bewertet Before Today in ihrem Jahres-Poll hoch. Eine andere Bezeichnung für diese Musik wäre Chillwave, gemeint ist Musik die einerseits ein Anachronismus, andererseits aber hochmodern ist. Dass Ariel Pink seine Musik zunächst alleine am Laptop zusammenbaut, dass er aus dem unerschöpflichen Baukasten im Internet und Streaming-Diensten schöpfen kann, dass die Vermischung aller Kenntnisse zu „neuer“ Musik führen kann - das ist möglicherweise das „Moderne“ an Chillwave/Hypnagogic Pop... Aber (für mich ) gilt erneut - ob modern oder altmodisch – was zählt ist der Song: Und DA haben Ariel Pink's Haunted Graffiti einiges zu bieten, was durchaus auch vor 35 Jahren beeindruckt hätte. Das Kreiseln bei „Round and Round“ ist psychedelisch, die Sounds erinnern an den Soft-Rock von 10CC, auch „Fright Night“ klingt nach den Sparks und nach XTC, wenn sie psychedelisch werden – und damit wieder nach '67 und dem UFO-Club. Und trotz (oder wegen) all der Bezüge sind all das Songs, auf die jedes Vorbild stolz sein könnte. Man mag sich als Auskenner in den Dekaden vor 2000 an Beach Boys, Steely Dan, Eagles, Fleetwood Mac und Earth, Wind and Fire erinnert fühlen, aber der Multi-Vitamin-Saft der da entsteht, ist in seiner Kombination neu und zweitens schmackhaft. Dass Before Today zum Bedauern alter Fans nun besser produziert, mit „echten“ Musikern eingespielt und von einem etablierten Label veröffentlicht ist, halte ich persönlich für erstens verdient und zweitens vorteilhaft.

Ariel Pink's Haunted Graffiti - Fright Night (Nevermore) 


Dessa


A Badly Broken Code

(Doomtree, 2010)

Dessa – das ist Margaret Wander, eine amerikanisch/Puerto Ricanerische Musikerin/Literatin/Poetin mit Philosophie-Studium aus Minneapolis, eine der wenigen weiblichen MC's im HipHop, eine, die sich im Bereich irgendwo zwischen Rap, Soul, Singer/Songwriter und Spoken Word aufhält und von Beginn an äußerst eigenständig klingt. Sie hat Mitte der 00er Jahre die Rapper des tollen und stylischen Doomtree-Kollektives kennengelernt, sich den Künstlern und ihrem Label angeschlossen und 2005 mit ihrer EP False Hopes direkt die eigene Duftmarke gesetzt. Nun folgt fünf Jahre später mit A Badly Broken Code ein komplettes Album zwischen diversen Stühlen. So wie sie bei den Alben anderer Doomtree-Künstler mitmacht, so lässt sie sich her von Lazerbeak, Paper Tiger und dem nicht zu Doomtree gehörigen MK Larada produzieren. Und die DJ's leisten einen guten Job, ihre Beats sind mal jazzig, mal swingen sie oder haben ein Downtempo/TripHop Flair, das sehr gelungen ist - wenn auch nicht revolutionär. Das Alleinstellungs-Merkmal hier ist unzweifelhaft Dessa's Stil: Ihr Flow ist enorm melodisch, selbst wenn sie eindeutig „rappt“ klingt es nach Gesang, jedes Wort bekommt eine zusätzliche Bedeutung, was die Tracks sehr abwechslungsreich und komplex macht – und ihre Lyrics sind äußerst hörens- bzw. lesenswert. Man bemerkt kaum, wie sie vom Rap zum Gesang wechselt, ihre Stimme ist eigen und un-kitschig – und ihr Art sie auf Tracks wie der ausgekoppelten Single „Dixon's Girl“ über einem Swing-Background abwechselnd zu singen und zu rappen, kann man nur virtuos nennen. Höhepunkt auf diesem Album ist für mich „Seamstress“, TripHop und HipHop in Perfektion, mit jagendem Puls und äußerst bildhaften Lyrics, die mal nach Spoken Word Performance, mar nach Rap klingen. Fast genau so gut ist „Mineshaft II“. Eher „Song“ als HipHop-Track, aber weit weg von allem Gewöhnlichen. A Badly Broken Code braucht - vielleicht wie alle gute Musik, ein- zwei Spins ehe es sich einfrisst, aber dann erkennt man, dass es in (s)einer eigenen Kategorie ist.

Dessa - Seamstress 


Janelle Monáe


ArchAndroid

(Bad Boy, 2010)

Dass ich sog. „Contemporary R&B“ so exponiere, ist neu. Aber seit den 00er und spätestens 10er Jahren wird aus dieser Musik durch Integration neuer Stilmittel und durch ein „Mehr“ an Bedeutung langsam wirklich innovative und spannende Musik mit klugen Aussagen. Die Neo-Soul Clique um D'Angelo, Erykah Badu etc hat da schon Bedeutendes geleistet, Bald werden Frank Ocean und sogar Beyonce und Solange Knowles Alben machen, die mehr sind als bloße Unterhaltung – weil diese Künstler auf eine gesellschaftliche Krise und „Black Lives Matter“ in den USA reagieren müssen. Und schon 2010 legt die Sängerin und Schauspielerin Janelle Monáe nicht nur musikalisch die Latte ganz hoch. Sie hatte zunächst Schauspiel und Theater studiert, sich dann aber auf Musik konzentriert und 2007 mit Metropolis, Suite I: The Chase eine EP hingelegt, die die Grenzen des R&B in alle Richtungen auseinander gesprengt hatte. Dass es ihr gelang, drei Jahre später ihre futuristische Konzept-Story auf noch höherem Niveau weiter zu führen ist noch das kleinste Verdienst von ArchAndroid. Monáe ist jetzt auf Bad Boy, dem Label von Sean „P Diddy“ Combs, sie hat u.a. mit Antwan „Big Boi“ Patton von OutKast einen Grenzgänger und Könner neben sich an den Reglern sitzen – und sie hat Songs, die mit oder ohne Verkleidung eigenständige, kluge Popmusik sind. Dass sie auch noch eine extrem cleane, perfekte Stimmen ihr eigen nennen kann - eine Stimme, die mit dem Konzept hinter ihrer Selbst-Darstellung (siehe Covershoot) wunderbar zusammenspielt - macht ihr neues Album noch schlüssiger. Auf ArchAndroid geht es um Liebe und die Verwirklichung einer eigenen Identität, sie stellt sich selber als Android dar, der zu einer Art Messias wird, es ist ein Konzept-Album, auf dem ein selbstbewusster Afro-Futurismus gefeiert wird – ein Bild der Zukunft, das in den inzwischen sehr zerrissenen USA eine hoch-politische Bedeutung bekommt. Und unabhängig von dieser Bedeutung wird hier so perfekt mit den Stilmitteln R&B, Funk, Dance und Psychedelic Pop gespielt, dass ich sofort dachte „Wenn Prince das wüsste...“ (auf dem folgenden Album macht er mit...) Aber nicht missverstehen: Janelle Monáe imitiert nicht – sie nimmt den Ball auf und wirft ihn weiter. Man höre den rasanten Hit „Tightrope“, man höre den Psychedelic Pop von „Wondaland“ oder den Album-Closer „BabopbyeYa“... und das sind nur drei Titel einer Reihe gleichwertiger Tracks. ArchAndroid ist perfekter Pop mit Hirn, ein eingelöstes Versprechen und das Versprechen, dass da noch mehr kommen wird. Wenn Janelle Monáe die Zukunft des R&B ist, will ich mehr davon hören.

Janelle Monáe - Wondaland 


Pantha Du Prince


Black Noise

(Rough Trade, 2010)

Was „elektronische“ Musik angeht, sind die letzten 10-15 Jahre wohl das goldene Zeitalter: Die schiere Anzahl von innovativen Künstlern und Alben, von neuen Ideen und Stilistiken ist fast unüberschaubar. Es gibt hunderte von Individualisten, die jeder für sich eine neue Facette aufleuchten lässt – und ich könnte für jedes Jahr mindestens drei bis vier komplette Alben an dieser Stelle meines Blogs exponieren. 2010 gefällt mir: Four Tet's There Is Love in You oder Flying Lotus' Cosmogramma oder Caribou oder Demdike Stare... aber das 10er Album der Wahl ist jetzt Black Noise von Henrik Weber aka Pantha Du Prince. Der hatte schon 2007 mit This Bliss seine sehr eigene und elegante Art von melancholischem, sphärischem Techno präsentiert, eine elektronische Musik geschaffen, die zugleich klar, kalt und organisch klingt. Für Black Noise war Weber in die Alpen gereist, hatte Feldaufnahmen gesammelt, sein Arsenal an Percussion-Sounds erweitert und ein paar Gäste aus seinen Kollaborationen mit Indie-Musikern wie Animal Collective und !!! dazu geholt. Aber nicht, dass Pantha Du Prince jetzt beliebig geworden wäre – seine Art mit Dub-Bässen, Glocken und Klingeln, gedämpften Beats und Clicks, pulsierenden House Beats und verwaschenen Synthies Siehe „Bohemian Forest“) sowohl den Dancefloor als auch den „Zuhörer“ zu bedienen, ist einzigartig. Dass auf „Stick to My Side“ Noah Lennox/ Panda Bear vom Animal Collective singt, missfällt so manchem Puristen - das organische Element „Stimme“ kann man als Fremdkörper empfinden – oder als passende Ergänzung zu den organischen Klängen von Weber's Samples und Sounds. Black Noise klingt (für mich) nach purem Spaß am Klang – es ist Kraftwerk mit Seele, ähnlich romantische Musik wie Gas' Pop, nur mit House-Rhythmen und im mir so lieben Songformat. „Satellite Snyper“ ist tanzbarer elektronischer Pop, „Abglanz“ wiederum ist pure Ambient – und alles passt zusammen, hat einen angenehmen Flow, der Black Noise zu einem Album im Sinne der Definition macht: Man kann - und ich will - bis zum Ende zuhören.

Pantha Du Prince - Bohemian Forest 


Beach House


Teen Dream

(Bella Union, 2010)

In der Einleitung deute ich es an: Psychedelic Rock/Pop ist in 2010 omnipräsent, und bei Janelle Monáe, bei Pantha Du Prince und selbst in Kanye West's HipHop-Gemischtwaren-Laden meine ich psychedelischen Nebel zu sehen. Jedenfalls hätte ich unter die meiner Meinung nach besten Alben dieses Jahres ohne weiteres mit Tame Impala's Innerspeaker ein weiteres Neo Psychedelic-Referenzwerk neben Ariel Pink's Before Today und Deerhunter's Halcyon Digest stellen können. Aber ich habe das dritte Album von Beach House ein ganz kleines bisschen lieber als das Debüt von Tame Impala. Zumal Erbsenzähler Teen Dream eher Dream Pop nennen dürfen – was ein bisschen – nur ein bisschen – was Anderes ist als Psychedelic Pop. Das Duo aus Baltimore ist für die Aufnahmen zu Teen Dream in eine New Yorker Kirche gezogen (wie dereinst die formidablen Cowboy Junkies), und hat die dortige Atmosphäre sehr gelungen in den eigenen Sound und die passenden Songs eingebaut. Ihre Musik war schon immer sanft, verträumt, aber auch hymnisch und ein bisschen gespenstisch. Und gerade die letzten beiden Charakteristika werden nun hervorgehoben. Der große Kirchen-Raum schwingt mit, Hall und Echo versetzen Stimmen und Instrumente in eine verschlafene Distanz. Dass Sängerin/ Keyboarderin Victoria Legrand und Background-Sänger/ Gitarrist/ Keyboarder Alex Scally mit Reduktion umzugehen wissen, dass sie inzwischen zu tollen Songwritern in ihrem Metier gereift sind und auf diesem Album die Versprechungen der beiden vorherigen Alben einlösen, macht Teen Dream zum so sehr empfehlenswerten Album. Beach House spielen mit den für sie so typischen Drum-Machine-Rhythmen, Victoria Legrand's Stimme erinnert an eine emotionale Nico, sie klingt nun sicher und sich ihrer individuellen Stärke bewusst. Obwohl das Album aus einem Guss ist, würde ich die Single „Norway“, „Lover of Mine“, „10 Mile Stereo“ und den Opener „Zebra“ besonders hervorheben. Dass man mit einem so reduzierten Sound so reiche Musik machen kann, erstaunt mich immer wieder. Teen Dream ist sicher ein spezielles Album – das ist keine Konsens-Musik hier, und in ihrer Verschlafenheit kann man auch gelangweilt versinken. Aber WENN man zuhört.... Ich denke, das hier hat zeitlose Qualität.

Beach House - 10 Mile Stereo 


Deerhunter


Halcyon Digest

(4ad, 2010)

Deerhunter sind (bei mir) schon mit ihrem 2008er Album Microcastle in die Riege der „Klassiker“ gehoben worden – ob zu Recht, wird sich in kommenden Jahrzehnten zeigen (...aber gilt das nicht für alle Alben, die seit Beginn der 00er-Jahre entstanden sind..?) Ihr nachfolgendes Album Halcyon Digest könnte man als schlichte Fortsetzung von Microcastle herabwürdigen – und täte der Klasse von Bradford Cox' Songs und dem wunderbaren und ein bisschen zufälligen Konzept seiner Musik unrecht. Auch Halcyon Digest ist dunkel, fiebrig, wie ein Traum, der ins alptraumhafte abgleitet. Bandkopf Bradford Cox hatte sich nach eigener Aussage mit der Inkosistenz von Erinnerungen beschäftigt – wie sehr diese sich im Laufe der Zeit zum Guten oder auch zum Schlechten verändern. Insofern nannte er den Album-Titel Halcyon Digest (etwa „Eine Sammlung friedlicher Erinnerungen“) irreführend. Schon auf Microcastle ging es um Vereinzelung, es war ein düsteres Album, Halcyon Digest ist weniger depressiv, man könnte es treffender als melancholisch bezeichnen. Die Band lässt ihre Kenntnis um Shoegaze, Folk und Pop immer wieder in anderen Facetten aufschimmern, zitiert die Everly Brothers und natürlich My Bloody Valentine, lässt die eigenen Lo-Fi Wurzeln aber immer wieder durchscheinen. Mal ist das Gewicht auf regelrecht erdigen Sounds („Coronado“), mal schimmert die Band wie einer der typischen 4AD-Dream-Pop Diamanten a la Cocteau Twins („Helicopter“) - und immer bleiben sie als Deerhunter erkennbar. Bradford Cox' Songwriting ist inzwischen zu großer Klasse gereift. Wenn er im Album-Closer „He Would Have Laughed“ an den kurz zuvor verstorbenen Jay Reatard erinnert, ist da keinerlei weinerliche Sentimentalität zu hören – nur Würde, Trauer und ein bisschen Trotz. Dass dieses Album bei allem thematischen Anspruch ein herz-ergreifendes Hör-Erlebnis ist – vom sparsamen, mit rückwärts aufgenommenen Percussion und verwaschenen Gitarren veredelten Opener „Earthquake“ bis zum beschriebenen Abschluss – zeigt die Klasse dieser Band. Auch hier glaube ich an bleibenden Wert.

Deerhunter - Helicopter 


Deathspell Omega


Paracletus

(Norma Eavngelium Diaboli, 2010)

So völlig fern der Psychedelic-Welle dieses Jahres ist der chaotische, furchterregende, dissonante Black Metal der Franzosen Deathspell Omega nicht. Die haben mich 2007 Fas – Ite, Maledicti, In Ignem Aeternum überzeugt, 2010 erscheint der letzte Teil ihrer Trilogie über das Verhältnis zwischen Mensch, Gott und Teufel. Das Wort „Paracletus“ ist eine andere Form des griechischen „Parakletos“ = Heiliger Geist... und man kann annehmen, dass Deathspell Omega's geheimnisvolle, unbekannte Mitglieder diesen nicht sehr positiv betrachten. Sie sind sehr deutlich in der Bibel bewandert und verhöhnen und hassen mit theologischem Hintergrundwissen. Sie sagen, der Mensch wird von Gott gezwungen, gegen seine innersten Triebe und Grundsätze zu handeln. Wäre dieses Konzept Alles, dann hätte ja auch ein schriftliches Pamphlet gereicht – aber dem Teufel sei Dank ist ihre Wut/Häme/Kritik so durchdacht wie ihre auf den ersten Eindruck so chaotische Musik. Wobei Paracletus sogar ihr konventionellstes Album seit Prä-Trilogie Tagen ist. Nach wie vor ist ihre Musik extrem aggressiv, die Gitarren rasen, brechen mal in dissonante Post-Punk Gefilde auf, sind dann wieder weisses Rauschen a la Black Metal, die klaren weibliche Vocals des Vorgängers, die Choral-Passagen und die unheimlichen Momente absoluter Stille sind Geschichte – Die Songstrukturen sind nach wie vor komplex, Rhythmen wechseln im Minuten-Takt, aber es gibt Passagen, die erholsam nah an der Konvention bleiben (man höre die ersten zwei Minuten von „Dearth“) Gesungen wird in Französisch, Latein und Englisch – teils sehr nah an im Black Metal un-üblicher Verständlichkeit – und all das ist so mitreissend, dass man sich der Wucht nicht entziehen kann. In gewisser Weise ist Paracletus (für Deathspell Omega) eine notwendige Rückkehr zu den Wurzeln des Black Metal – ohne die inzwischen erarbeiteten Charakteristika der Band zu verraten. Es ist dann also eine Frage des Geschmacks, ob man dieses Album oder seinen Vorgänger bevorzugt. Ich würde ja die komplette Trilogie empfehlen... 

Deathspell Omega - Dearth 


Yellow Swans


Going Places

(Type, 2010)

Dass ich Lärm mag, ist ja an der Auswahl der meiner Meinung nach wichtigsten Alben all der vergangenen Jahre deutlich erkennbar. 2010 ist das Jahr, in dem das mit dem US-Duo Yellow Swans (Pete Swanson und Gabriel Saloman) einer der besten, produktivsten und wichtigsten Acts der Noise/Drone-Szene seine Zusammenarbeit beendet. Yellow Swans haben in den letzten zehn Jahren über 50 CD's, Cassetten, Alben in allen möglichen Formen veröffentlicht. Mal gemeinsam mit anderen Künstlern, mal unter Aliassen, bei denen ein „D“-Wort vorangestellt wird (z.B. als Drill Yellow Swans 2005...) um die Veränderbarkeit der eigenen Musik zu kennzeichnen. Sie arbeiteten mit strengem DIY-Ethos und ihnen ist es inzwischen tatsächlich gelungen, ein Destillat aus Free Improvisation, Dub, Hardcore, Noise, Industrial und moderner Kompositions-Technik zu erschaffen. Ihre Alben waren oft nur in Miniatur-Auflagen zu bekommen, aber seit sie mit dem Type-Label zusammenarbeiten, kann man ihre Alben etwas problemloser auffinden – und Going Places wurde zu dem Album, das die Band vielen Hörern bekannt machte. Es gibt inzwischen einige Bands, die sich mit Noise-Rock in all seinen Facetten einen Namen gemacht haben und Noise hat inzwischen weit mehr Hörer, als man meinen könnte – ist sicherlich noch immer nicht im „Mainstream“ angekommen (und wird und will das auch nicht), aber Bands wie Sightings, Mouthus, Wolf Eyes oder die Altmeister Fushitsusha aus Japan werden von den Coolen gehört. Going Places ist „traditioneller“ Noise, es gibt keine jazzigen Drum-Patterns, verträumte Stimmen oder Pop-Anmutungen, das Duo baut Wände aus Sound und benutzt dazu elektronische Instrumente, Soundfragmente und Gitarren, aber wo Merzbow oder Prurient ihren Noise brutalisieren, da klingt Going Places zwar laut, aber auch warm – zumindest nie nach sog. Harsh Noise. Bei „Opt Out“ steht man in einem Schneegestöber aus sich immer mehr aufeinander auftürmendem Rauschen, der Titeltrack – tatsächlich das letzte Stück Musik, dass Yellow Swans produzierten – ist tatsächlich „hart“, baut sich aus immer mehr Sound-Details auf und wird ungeheuer laut, ehe er unter seinem eigenen Gewicht zusammenbricht. „Foiled“ und „Limited Space“ dagegen haben untergründige Rhythmen, bleiben im Vergleich fast sanft. Ich fand den Begriff Brown Noise ganz zutreffend. Ein komplettes Album, das als ganzes funktioniert, der perfekter Abschied einer Band, die Noise geprägt hat.


P-S. - Das Cover wurde vom Label-Kollegen Jefre Cantu-Ledesma gestaltet – der mit seinem Solo-Album Love is a Stream in diesem Jahr ein vergleichbar gelungenes Album voller Noise gemacht hat.

Yellow Swans - Foiled 





Dienstag, 30. Oktober 2018

1973 – Chile und Allende, Jom Kippur und Ölkrise – Lou Reed bis Stevie Wonder

Das Jahr 1973 wird politisch vor allem durch die Ölkrise und den Jom Kippur Krieg in Israel bestimmt. Da die OPEC den Ölpreis um 70% anhebt nachdem Israel sich im Krieg mit Ägypten und Syrien befindet, steigen die Benzin- und Rohölpreise weltweit gewaltig an. In Chile kommt es mit Unterstützung des CIA zu einem Militärputsch, bei dem der demokratisch gewählte Präsident Allende umgebracht wird. Augusto Pinochet wird für lange Jahre Staatschef und Folter und Mord werden vom Staat gegen alle demokratisch denkenden Menschen angewandt. Die US-Streitkräfte ziehen sich derweil langsam aus Kambodscha zurück und der unselige Vietnamkrieg nähert sich seinem Ende. Der amerikanische Präsident Richard Nixon wird nach der letztjährigen Aufdeckung eines Abhörskandals - dem sogenannten Watergate Skandal - tatsächlich wegen Amtsmissbrauchs angeklagt. 1973 werden DJ Shadow und Josh Homme geboren. J.R.R. Tolkien stirbt, ebenso der Country-Visionär Gram Parsons. Der Exorzist kommt ins Kino. Kommerziell und auch musikalisch wird 1973 noch vom Progressiv-Rock bestimmt und es ist die hohe Zeit der Rock-Alben. Pink Floyds kommerzieller Durchbruch, Mike Oldfields Tubular Bells, Genesis, Yes sind die Bands die man hört, allerdings bläht sich diese Art der Rockmusik auch immer mehr auf - und natürlich gibt es eine Gegenreaktion. David Bowie, Iggy Pop mit den Stooges, Lou Reed, Roxy Music und die New York Dolls machen eine andere, weniger opulente Rockmusik – und werden mehr und mehr gehört. Es ist Musik, die sich wieder auf die Grundlagen des Rock'n'Roll besinnt. Und Deutschland glänzt in diesem Jahr mit Meisterwerken des Krautrock, Country kehrt in Form der Outlaw-Bewegung ebenfalls zu seinen Wurzeln zurück und paart sich parallel mit Rockmusik, die Fusion aus Jazz und Rock gebiert immer mehr Kinder, Soul blüht immer noch, Southern Rock hat seine beste Zeit. Reggae wird in Europa wahrgenommen, überall gibt es eine reiche Ausbeute an sehr guter Musik, die 60er glühen in all dem höchstens noch nach. Man kann, wenn man die Ohren öffnet, die Vorzeichen der Punk-Revolte von 77 erkennen... allerdings wohl eher nicht in den Alben, die ich wegen mangelnder Qualität gerne ignoriere: Steve Miller's „The Joker“, The Sweet's„Ballroom Blitz“, Chicago VI – verkaufen sich wie geschnitten Brot, finde ich allesamt nicht ganz schlimm, aber auch nicht gut, dafür aber..

Lou Reed

Berlin

(RCA, 1973)

Nach dem überraschenden Erfolg von Transformer und vor Allem dem Hit „Take a Walk on the Wild Side“ durfte Lou Reed so ziemlich alles machen, was er wollte. Also versuchte er sich erst einmal an einem Konzept-Album über ein drogensüchtiges Liebespaar im geteilten Berlin. Die Reaktionen des Publikums und der Kritiker waren zunächst negativ, aber Berlin hat im Laufe der Jahre - vollkommen zu Recht - immer mehr an Reputation gewonnen. Natürlich ist das Album ein schwerer Brocken und gilt nicht umsonst als eines der depressivsten, schwärzesten Alben der Rockgeschichte, und Ja - es ist aufgeblasen, zumindest für Reed's Verhältnisse. Produzent Bob Ezrin holte einige Studiocracks dazu, Musiker wie Jack Bruce und Steve Winwood, es gab Bläser und ein großes Orchester, aber all das kann wieder einmal die Klasse der Songs und ihre erzählerische Kraft nicht überdecken. „Caroline Says“ ist eine andere Version des VU Stückes „Stephanie Says“, auch andere Songs beruhen auf ehemaligem Velvets-Material, das Titelstück ist von Lou Reed's ansonsten weniger erklecklichem Debütalbum bekannt, die Atmosphäre des Albums ist intensiv und hat irgendwie tatsächlich auch das morbide Flair des Berlin der 20er Jahre. Die Kritiker mögen zur damaligen Zeit den ungewohnten Pomp bemängelt haben, sich gewundert haben, dass Reed nicht Transformer Teil 2 liefern wollte, aber Berlin ist inzwischen zu Recht im Kanon der Klassiker in Reed's Diskografie angekommen. Seine Zerrissenheit zwischen Pop und Unkommerzialität wird inzwischen als Qualität erkannt. 

Lou Reed - Caroline Says II 


John Cale

Paris 1919

(Reprise, 1973)

John Cales Verehrung für Brian Wilson mag ein gut gehütetes Geheimnis sein, wer aber Paris 1919 - das zugänglichste und sicher „schönste“ Solo-Album des anderen Velvet Underground-Kopfes - gehört hat, wird den Einfluss des Beach Boys Masterminds erkennen. Nun ist Cale viel zu subversiv - oder zu stur und zu walisisch - um Songs über Liebe und Harmonie ohne einen Haken zu schreiben, das hinderte ihn jedoch nicht daran auf seinem dritten Solo-Album in klanglicher Schönheit und klugen Arrangements zu schwelgen. Chris Thomas - zuvor mit Procol Harum beschäftigt - produzierte und orchestrierte gemeinsam mit dem klassisch geschulten Cale, und die Musiker von Little Feat brachten ein süffiges Southern-Feeling ein. Konzipiert war Paris 1919 als literarisches Werk, als Ansammlung von Kurzgeschichten, und im Geschichten erzählen ist Cale auf diesem Album erstaunlich gut. Schon die Songtitel sagen alles: „Child's Christmas in Wales“, „Macbeth“ und „Graham Greene“! „Hanky Panky Nohow“ und „Half Past France“ sind melancholisch oder vergnügt und dabei berauschend schön, und das Titelstück, aufgebaut auf einem simplen Cellolauf, ist einer der besten Songs, die Cale je schrieb. Laut Aussage des Künstlers war das Album "An example of the nicest ways of saying something ugly...“ Vergleichbar barockes machte er allerdings nicht mehr. Paris 1919 bleibt ein Album voller wundersamer Schönheit. Man sagt, Brian Wilson habe nach dem Hören seinen Pyjama gewechselt. Und als PS: Dieses ist zusammen mit Veedon Fleece von Van Morrison mein absolutes Lieblings-Album.

John Cale - Half Past France 


Pink Floyd

Dark Side of the Moon

(Harvest, 1973)

Auch 1973 kann man als eines der „entscheidenden“ Jahre in der Rockmusik bezeichnen – und wenn auch nur wegen dieses Albums: Auf Dark Side of the Moon kondensierten Pink Floyd die Soundexperimente und instrumentalen Trips ihrer bisherigen Karriere zu Songs, ließen all das sauber produzieren und schufen eine kommerzielle Supernova. Die größte Erkenntnis die man aus dem Album ziehen konnte, war, wie fokussiert Pink Floyd mit ein bisschen Disziplin sein konnten. Roger Waters schrieb Texte über banale und profane Dinge wie Geld, Wahnsinn, Krieg und Religion – Ein-Wort-Themen sozusagen – und in Pink Folyd's atmosphärischem Soundkosmos entstanden mit ein paar wolhgesetzten Effekten und ein paar geschickt gewählten Melodiebögen Songs von großer emotionaler Tiefe und Bedeutung. Die Kraft, die von Dark Side of the Moon bis heute ausgeht, und die es nebenbei zu einem der bestverkauften Alben der Rockgeschichte macht, liegt in der Textur dieser Musik, die von Psychedelic Rock über Fusion und Blues wieder zurück zu Space Rock und Psychedelia changiert. Die Effekte sind mit Liebe zum Detail ausgedacht und klingen doch nie konstruiert, und das Songwriting ist simpel und exzellent. Pink Floyd mögen bessere Platten gemacht haben, aber Dark Side of the Moon würde sie für den Rest ihrer Karriere definieren – was Fluch und Segen zugleich war.

Pink Floyd - Us and Them 


King Crimson

Lark's Tongues in Aspic

(Island, 1973)

Das für's fünfte Album von King Crimson zusammengestellte Lineup brachte die Wende: Zusammen mit Ex-Yes Drummer Bill Bruford, dem Bassisten und Sänger John Wetton, Percussionist Jamie Muir und Geiger David Cross ließ Robert Fripp Jazz Jazz sein und erkannte im harten Rock das richtige Gewand für seinen purpurnen König. Am Anfang und Ende von Lark's Tongues in Aspic steht das im Laufe der Zeit in vielen Versionen reinkarnierte Titelstück, ein überlang hyperventilierendes Liedmonster mit all den vertrackten Rhythmen, mathematischen Disharmonien und irrsinnigen Gitarrenläufen, die man seither mit Fripp verbindet – und die in weiteren Jahrzehnten hunderte von Prog- und Math-Rock Vertretern beeinflussen sollten. Der Sound des verzerrten Bass, die kreischende Violine, die extrem körperlichen Percussion von Muir (der bald darauf die Band verließ um Mönch zu werden) und Fripps Gitarre machten King Crimson zu einem einzigartigen Klangerlebnis mit einem Sound, der für die nächsten drei Alben nur noch verfeinert werden sollte. Auf den drei an King Crimson anno '69 angelehnten Vocal Tracks sang John Wetton Lyrics von Richard Palmer-James (zuvor für Supertramp tätig) mit einer Stimme die in ihrer Kraft fast an die seines Vorgängers Greg Lake heranreichte, Lark's Tongues... ist sicher anstrengende „Brain Music“, aber es gelang der Band den emotionalen wie physischen Aspekt ihrer Musik zugleich herauszustellen. Ein Album das alle Synapsen zum schwingen bringen kann.

King Crimson - Larks' Tongues In Aspic Part I 


Can

Future Days

(United Artists, 1973)

Auch „Krautrock“ - die erste halbwegs eigenständige „deutsche“ Form von Musik seit den Zwanzigern - ist im Jahre '73 auf einem Höhepunkt angelangt. Bands wie Can sind gewissermaßen „etabliert“ - weil nun auch im englisch-sprachigen Ausland, wie man an diesem Album sieht: Es ist das dritte Meisterwerk des anarchistischen Kollektivs Can (...wie Drummer Jaki Liebzeit sie seinerzeit bezeichnete) und es hat zwar denselben Sound – als würden James Brown und The Velvet Underground miteinander jammen – aber die Wolken aus Acid haben sich verzogen und einem klaren Himmel Platz gemacht, unter dem sich trefflich reflektieren und aufeinander eingehen lässt. Damo Suzuki's Vocals (Ein letztes Mal, er verließ die Band um sich den Zeugen Jehovas anzuschließen) sind so ungewöhnlich wie immer, oft reine Improvisation, Michael Karoli's Gitarre deutet Melodien eher an und Jaki Liebzeits Drumming und Holger Czukay's Bass sind ein äußerst dynamisches Gerüst, auf dem alles schwingt und tanzt. Can verschwenden hier keine Zeit mit schwierigen Klangcollagen (wie beispielsweise bei „Aumng“auf Tago Mago ). Auf Future Days gehen sie tatsächlich in die Zukunft, das Album klingt mitunter wie eine analoge Version des 25 Jahre später erschienen Albums Moon Safari von Air (...die Can auch als Einfluss gewürdigt haben...) und Can zeigen hier einen feinen Sinn für Atmosphäre. Es driftet, fließt, hüpft und segelt dahin und macht manchmal regelrecht Angst, wenn es sich beim 17-minütigen „Bel Air“ etwa verträumt in Richtung Kollaps steigert. Vier langgestreckte Songs, die sich drehen wie Diamanten, die immer neue Facette zeigen ohne sich ein einziges Mal zu wiederholen. 

Can - Bel Air 


Iggy & The Stooges

Raw Power

(CBS, 1973)

Sollte Jesus irgendwann tatsächlich zu uns armen Seelen zurückkehren, um die Spreu vom Weizen, die Seligen von den Sündern und die Kenny G's von Iggy Pop zu trennen, dann wird er möglicherweise Raw Power auf seinem iPod haben. Und wahrscheinlich werden die Engel diese nitroglyzerin-haltigen Riffs mit ihren Gitarren als Thema spielen, wenn sie uns zur Hölle schicken. Rock'n'Roll ist nach der Meinung vieler Pharisäer Sünde, und wir werden zur Hölle fahren und dort all die anderen Sünder treffen, Kurt Cobain, Jimi Hendrix und Janis Joplin und natürlich Robert Johnson und den ganzen Rest der Ahnengalerie des Rock'n'Roll, aber für Gottes Sohn wird es ok sein, sich dabei "Search and Destroy" von den Stooges anzuhören, und wir werden wissen, dass er Iggy Pop einen ganz speziellen Platz gesichert hat. Warum? Weil niemand so singt, schreit und den Zorn Gottes herausgröhlt wie James „ Iggy Stooge“ Osterberg. Denn ER ist der Vater des Punk und Raw Power ist genau so apokalyptisch wie Krieg, Hunger und Pestilenz. Und Iggy mag nicht für unsere Sünden gestorben sein, aber er tat das Nächst-Beste: Er suhlte sich für den Rock'n' Roll in Blut, Pisse und Peanut Butter. Amen. - Und das noch als Nachsatz: Dass es heute eine Persiflage seiner Selbst geworden ist, gehört zur Sünde. Es hätte ja auch noch schlimmer kommen können, und er hätte die große Musik, die er bis ca '77 gemacht hat, via Adult-Rock völlig in den Schmutz ziehen können. 

Iggy & the Stooges - Search and Destroy 


New York Dolls

s/t

(Mercury, 1973)

Dass aus New York nicht nur die Velvet Underground/Lou Reed/John Cale Kreativzelle kommt – dass da auch andere Blumen des Bösen erblühen, zeigen Bands wie die New York Dolls – 1971 entstanden und wie die Stooges Vordenker von Glam und Punk... Nach diversen skandalös-glorreichen Live-Events kam es zum Plattenvertrag und zur ersten LP. Als Produzent wurde der namhafte Studio-Wizard Todd Rundgren ausgesucht, und der hätte die Dolls vielleicht auch einfach in ihrer schmierigen Proto-Punk Glorie ohne Studiospielereien aufnehmen können - das hätte vielleicht schon gereicht, aber auch mit seiner Zauberei wurde New York Dolls eine großartige LP- ein unsterbliches Rockalbum. Hier wurde die Atmosphäre von alten Horrorfilmen mit schmutzigen Gitarrenriffs gepaart, gespielt von fünf zugedröhnten Teilzeit-Transvestiten, denen es mit ihrem Image und ihrer Musik gelang, die hippen New Yorker Szene-Freaks zu unterhalten. Und wem sollte so etwas auch nicht gefallen? Irgendwie gelang es den Dolls in einem Chaos aus Drogen und Image sogar die für diese Zeit einmalige musikalische Melange aus Stones' Energie und Phil Spector Genie zu erschaffen. Der Underground-Starkult, den sie in der kurzen Zeit ihrer Existenz schufen, reicht weit über die 70er hinaus, Fans dieser Band waren unter Kritikern wie Musikern zu finden (Morrissey von den Smiths ist einer ihrer größten Fans) und ihre Form der Verkleidung wurde mehr noch als Bowie's Glam-Maskerade zum Vorbild für die Hair Metal Bands der Neunziger. Und unabhängig von Starkult und Image ist dieses Album ganz einfach eines DER Proto-Punk Alben der 70er – und weist somit weit in die Zukunft.

New York Dolls - Personality Crisis 


David Bowie

Aladdin Sane

(RCA, 1973)

Ziggy Stardust hatte David Bowie auf beiden Seiten des Atlantik zum Star gemacht. Aladdin Sane war ein deutlicher Schritt zurück aus dem Rampenlicht – und aus der Glam-Rock Welt von Ziggy und Hunky Dory's stylischer Pop-Welt. Es war daher kein Wunder, dass Aladdin Sane etwas unterging im Vergleich zu seinen Vorgängern – was wiederum selbstverständlich nicht wirklich berechtigt ist. Bowie machte in den gesamten 70ern fast alles richtig. Bei diesem Album war er der Glam-Klischees müde - nachdem er dieses Genre im Alleingang definiert hatte. Statt ein Stardust Redux zu erschaffen setzte er sich stilistisch zwischen alle Stühle und versuchte mit den Spiders of Mars Jazz, Rock, Lounge, Glam, Cabaret, und Pop auf einem Album zusammenzuführen – obwohl das Cover mit dem klassischen geschminktem Gesicht noch in Glam-Richtung feuert ist Aladdin Sane's charakteristischste Eigenschaft, dass es ein eklektizistisches Album ist, das eigentlich nur von Bowie's Stimme zusammengehalten wird. Bei vielen Künstlern ist eine solch schizophrenes Style Hopping nicht besonders vergnüglich. Bowie schuf mit dem Titelsong, „Lady Grinning Soul“ und „The Cracked Actor“ mindestens drei seiner besten Songs. Als Chamäleon war er wirklich gut – dass er bis zum Ende der Siebziger als Vorreiter für Post-Punk und New Wave fungieren würde, war schon hier deutlich erkennbar. '73 ist – wie man an den Alben der New York Dolls, Lou Reed's und von Bowie erkennen kann – eine Jahr, in dem Fundamente gesetzt werden .

David Bowie - Cracked Actor  


John Martyn

Solid Air

(Island, 1973)

John Martyn

Inside Out

(Island, 1973)

John Martyn mag als Folk-Musiker begonnen haben, aber die Grenzen des Genres hatte er 1973 schon längst gesprengt. Was nach meiner Meinung keine bewusste Entscheidung war, sondern sich zwingend aus seiner Musikalität und seiner Abenteuerlust ergab. Dazu muss man nur das Titel-Track von Solid Air hören (übrigens Nick Drake gewidmet - bevor dieser starb), bei dem er die Worte zerdehnt und zerkaut wie ein Jazz-Sänger, die Gitarrensaiten knallen lässt, ein Saxophon in Pharoah Sanders-Bereiche gleitet und die Melodie nichts Traditionelles mehr an sich hat. Da kommt dann der Nachfolger „Over the Hill“ fast wie die Vergewisserung daher, dass die Begleiter überhaupt noch Folk können – die sind nämlich auch aus dem Umkreis um Fairport Convention – und kommen natürlich mit der anspruchsvollen Musik bestens zurecht. Martyn's Gitarrenspiel mit dem Echoplex-Effektgerät bei „I'd Rather be the Devil“ sprengt dann noch einmal eine Grenze.... Und „May You Never“ sollte später von Clapton gecovert werden - vielleicht kann man beklagen, dass das Album Zeit braucht: Das Experiment überdeckt manche Schönheit, und man muss sich an seinen Gesang gewöhnen – aber es lohnt sich. Der ein halbes Jahr später veröffentlichte Nachfolger Inside Out ist die ideale Ergänzung. Das Album gilt als „noch experimenteller“ - nicht zu Unrecht. John Martyn ließ sich von John Coltrane inspirieren ( bei „Make No Mistake“), er setzt sein geliebtes Echoplex noch mehr ein und benutzt seine Stimme nun endgültig eher als Instrument denn als Organ zur Textverbreitung, aber immer noch und immer wieder gelingen ihm wunderschöne Songs wie „Fine Lines“, oder „So Much in Love With You“. Die These, dass die Intensität seiner Musik Katharsis war, kann ich nicht beweisen, aber die Songtitel weisen darauf hin – auf Inside Out heißt einer der Songs „Beverley“ - der Name seiner Frau, mit der er zu Beginn gemeinsam Musik gemacht hatte, die dann ihre Karriere beendete um auf Haus und Kinder aufzupassen, während er das exzessive Tourleben inklusive Frauen, Drogen und Alkohol führte. Der Stress muss groß gewesen sein... 

 John Martyn - Solid Air

 John Martyn - Fine Lines


Stevie Wonder

Innervisions

(Motown, 1973)

Schwarz, von Geburt an blind und in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen, und dennoch – oder eben deswegen - wurde Stevie Wonder zu einem DER Superstars des Soul. Nachdem Barry Gordy den Teenager zum Kinderstar gemacht hatte, hatte er sich seit seinem 21. Geburtstag von seinem Mentor emanzipiert, einen neuen, verbesserten Vertrag mit Motown ausgehandelt und in den letzten Jahren seine musikalischen Entscheidungen zunehmend selbst gefällt. Mit Music of My Mind und Talking Book vom Vorjahr hatte er sich dann endgültig von allen Fesseln befreit und schloss nun – gerade mal sieben Monate später – eine Trilogie von Alben mit seinem visionärsten und vielseitigsten Werk ab (… diese Sache mit den Album-Trilogien – da sollte ich mal drüber nachdenken. Siehe Dylan, Fairport Convention, Neil Young, Tom Waits etc...). Innervisions jedenfalls ist zwar explizit politisch, aber Wonder vermied es dankenswerterweise zu predigen, beim großartigen „Living for the City“ beschrieb er den Absturz eines Burschen vom Lande in Verbrechen und Drogen im faulen Big Apple, „Visions“,die Hitsingle „Higher Ground“, „Jesus Children of America“, sie alle behandeln seine Sorge über das auseinanderfallen der amerikanischen Gesellschaft und „He's Mista Know-It-All“ war direkt an Tricky Dick – Richard Nixon – gerichtet und vertonte die Empörung und Enttäuschung der Menschen über die Lügen ihres Präsidenten. Und all das gelang ihm mit Soulmusik die zunehmend mit Rock Elementen angereichert wurde und die durch Synthie-Sounds experimentell und zugleich ungemein funky klang. Kurz nach Fertigstellung des Albums hatte er einen schweren Autounfall, der ihn veranlassen sollte sich danach mit Spiritualität und der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Innervisions bleibt als eines der großen „politischen“ Soul-Alben bestehen und würde dann von Wonder nur noch einmal durch den Nachfolger Songs in the Key of Life 1976 übertroffen werden.

Stevie Wonder - Living for the City 








Freitag, 26. Oktober 2018

1979 – Talking Heads bis Slits - Musik nach Punk im UK und in den USA

OK, Punk ist 79 schon lange.... ich mag's schon gar nicht mehr sagen. Aber es gibt '79 noch hie und da ein letztes Zucken von Bands der „ersten Stunde“ - einen Auswurf, der die letzten Tropfen Rotz enthält und man kann vielleicht mit Recht Geldmacherei dahinter vermuten. Das heißt aber nicht, dass das erste Album der neuen John Lydon Projektes P.I.L. purer Kommerz ist. Aber ist diese Musik Punk? Was war Punk überhaupt? Doch eigentlich nur Musik, bei der mit einer bestimmten Haltung auf Althergebrachtes reagiert wurde. Und diese Reaktion war eine Explosion die ihre eigenen Reagenzien zerlegte. Also war Punk nur der kurze Knall dieser Explosion, und die Alben die wir hier unten sehen, sind die Produkte, die sich aus den herumfliegenden Trümmern entwickeln. Ich habe für dieses Kapitel zwölf Alben gerecht aufgeteilt in Post-Punk (das heißt jetzt so...) aus den USA und aus dem United Kingdom. In den USA war Punk anders, tiefer in einer „Kunst-Szene“ verhaftet als der proletarische und wütende „Punk“ der Pistols und der Clash aus Großbritannien. Inzwischen hat sich in NY der sog. No Wave – Disco – Polyrhythmus-Kram der Talking Heads und Contortions entwickelt, da gibt es im UK Funk-Punk von Gang of Four oder klinische Song-Skalpelle von Wire, an Progressive Rock und Bowie geschult. Da ist in Athens/Georgia der durchgedrehte Party-Spaß der B52's und auf der anderen Seite des Atlantik der feministische, von Virtuosität und Respekt befreite New Wave der Slits und Raincoats, oder der politisch/zynische Post-Punk der noch nicht institutionalisierten The Fall um Mark E. Smith. Oder der Noise-Punk von Pere Ubu und Red Crayola ... ich will hier zeigen, was für ein unglaublich breites Spektrum an Möglichkeiten sich nach Punk auftut – weil junge Leute der Ansicht waren, man müsste es dem selbstverliebten Rock-Establishment mal zeigen. Weil diese Leute das Anderssein und die Revolte, die Rock'n'Roll mal bedeutete, nun für sich und ihre Generation beanspruchten. Weil sie es schafften, das Prinzip „Weniger ist Mehr“ wieder in der populären Musik zu etablieren, weil sie sich aufgrund der Tatsache, dass sie eben NICHT Alles konnten, auf das Wesentliche konzentrierten: Auf eine Idee, ein Konzept, einen Sound, der sie abhebt von allem Alten und möglichst auch von der Konkurrenz. Es gibt in den Jahren vor und kurz nach 1980 so viel Musik, die wirklich revolutionär und NEU ist, dass ich hier nur ein Streiflicht werfen kann. Man könnte (und ich werde) noch viele andere Kapitel und Alben (be)schreiben und hinzufügen müssen...

Talking Heads


Fear Of Music

(Sire, 1979)

Die New Yorker Talking Heads existieren im Jahr 1979 schon seit vier Jahren – sind sozusagen Veteranen. Sie haben die New Yorker Version von Punk mitgestaltet, sie waren eigentlich schon immer Post-Punk, insofern als sie das Image des Punk von Beginn an konterkarierten – aber ich will hier auch keine Genre-Definitionen strapazieren – sie sind schon '79 eine der wichtigsten Bands dieser neuen Generation von Musikern, die sich nicht mehr in artifizieller Langeweile verästeln, sie sind immer noch neu und aufregend - und hier kommt das Bindeglied zwischen dem hektischen Zucken von More Songs about Buildings and Food und den hypnotischen Grooves des folgenden definitiven Meisterwerks Remain in Light. Fear of Music ist das Album, bei dem Brian Eno vom reinen Produzenten zum fünften Mitglied der Talking Heads wurde. Seine Vorstellungen eines Sounds für die Band deckten sich offenbar immer mehr mit dem, was die vier Musiker - und insbesondere David Byrne - wollten. Seine Klang-Ästhetik und seine Ideen wurden begierig aufgesogen und der kreative Austausch zwischen Band und Produzent wurde immer deutlicher erkennbar (...auch Eno profitierte natürlich von den Ideen der Talking Heads – siehe seine kommenden Solo-Alben...). Die Song-Strukturen sind nun ausgefeilter als auf den vorherigen Alben. Zwischentöne und Texturen werden immer experimenteller und wichtiger - was dem nach wie vor sehr konzentrierten Songmaterial eine weitere Dimension hinzufügt. Eine Dimension die dann auf dem folgenden Album vollständig ausgeleuchtet werden würde. Hier ist es gerade das Erforschen der Möglichkeiten, das dieses Album so exquisit und zeitlos macht. „I Zimba“ oder „Life During Wartime“ gehören mit zum Besten, was die Talking Heads je aufgenommen haben. Es sind Songs die bis heute gültig geblieben sind. Und das Cover Design von Gitarrist Jerry Harrison ist auch noch exquisit...

Talking Heads - I Zimba 


Wire


154

(Harvest, 1979)

Und auch im United Kingdom gibt es Bands, die nicht nur rotzen und 'prollen als wichtigstes Mittel ihrer Rebellion gegen das Rockmusik-Establishment und die Gesellschaft betrachtet haben. Wire machen '79 auch schon ihre dritte LP, sie hatten von Beginn an eine Art Post-Punk Konzept für ihre Musik – ein Konzept, bei dem es – wie ich finde – eher um Atmosphäre, Reduktion, Konsequenz geht, und bei dem die Beherrschung der Instrumente nur Mittel zum Zweck ist. Und mit diesem Konzept sind Wire in den drei Jahren ihrer Existenz schon einen weiten und anstrengenden Weg gegangen. Nach der unerfreulichen Manifesto-Tour mit Roxy Music sind die vier Musiker nicht mehr die verschworene Gemeinschaft, die zuvor Post-Punk/Art-Punk erfunden hat. Jetzt sind sie vielmehr heillos zerstritten, voneinander entfremdet und gehen sich aus dem Weg. So arbeiteten Graham Lewis, Bruce Gilbert und Colin Newman in getrennten Schichten an den Songs zu 154 und fügen die Ergebnisse teilweise erst im letzten Schritt zusammen. Nicht dass das der Platte geschadet hätte: Es gibt literarischen New Wave in „Map Ref.41°N 93°W“, bei dem Lewis' Lyrics („a deep breath of submission had begun“) mit kraftvoller Melodie und Newmans rohem Gesang kombiniert werden. Oder das fast gothic-hafte „I Should Have Known Better“ (I haven't found a measure yet to/ calibrate my displeasure yet), das die Entfremdung und das Unwohlsein der Musiker artikuliert. Der Einfluss von Bowie und Eno, Prog- und Art-Rock wird jetzt noch deutlicher - und inzwischen ist das Publikum ihnen in dieser Entwicklung von Punk zur eigenen Version von Post-Punk gefolgt. Aber die Band war - wie gesagt - ausgelaugt und zerstritten, und so beschlossen Gilbert und Lewis zunächst unter dem Namen Dome weiterzumachen während Colin Newman sich auf Solo-Projekte konzentrierte. Mit 154 endet die erste Phase in der Karriere von Wire. Sie kamen 1985 zurück – und blieben dann bis heute eine Institution, aber nach dieser Trilogie war - nicht nur für Wire - alles anders. Unter anderem, weil sie ja hier schon Alles gesagt hatten...

Wire - I Should Have Known Better 


The B 52's


s/t

(Island, 1979)

Auch das Debüt der B 52's spielt mit der Reduziertheit des Punk, aber die Fünf aus Athens/Georgia (wo demnächst auch R.E.M. entstehen) nahmen dazu Einflüsse von 50ies Girl-Groups und trashigen Pulp-Comics in ihre Musik, ihre Texte und ihr Image auf. Dazu spielten sie reduzierte Gitarrenriffs, ließen billige Orgeln quietschen und nutzten die erstaunliche Kombination aus Fred Schneiders harscher Stimme und dem an Ronettes und Shangri-La's angelehnten Gesang Katie Pierson's und Cindy Wilson's, die mit ihren übertriebenenTurmfrisuren auch noch extrem stylisch wirkten. Die 1976 aus ein paar Studenten ohne musikalische Vorkenntnisse entstandene Band benannte sich nach der in den Südstaaten üblichen Bezeichnung für diese Turmfrisuren und präsentierte sich von Beginn an als Gesamtkunstwerk, das insbesondere in der New Yorker Art-Punk-Szene schnell Furore machte. Und sie wurden bald tatsächlich erstaunlich erfolgreich, nachdem Chris Blackwell von Island sie entdeckt hatte. Es gab immer wieder die Kritik, dass bei ihnen Image weit über Qualität stünde, aber der marine Wahnsinn von „Rock Lobster“, der Sci-Fi Trash von „Planet Claire“ - beides veritable Hits - all die wunderbaren, überdrehten Songs wie „6060-842“ oder das kochende „Lava“ waren völlig neu und eigenständig in ihrer Kombination trashiger Versatzstücke – und machten auch allein als Songs gewaltigen Eindruck. Der geschmacks-sichere John Lennon outete sich als Fan und erklärte, die B 52`s seien der Grund für die wiedergefundene Freude am Songwriting. Wie gesagt: die Band, ihr Image, dieses Debüt sowie der gleich geartete Nachfolger sind ein wunderbares Gesamtkunstwerk, vielleicht zwischendurch ein wenig aus der Zeit gefallen, aber gänzlich einzigartig....

B 52's - Planet Claire 


The Fall


Live At The Witch Trails

(Step Forward, 1979)

The Fall


Dragnet

(Step Forward, 1979)

1979 ist auch das Jahr, in dem die Briten The Fall erstmals mit einem kompletten Album (dem von mir bevorzugten Format) daherkommen. Auch sie sind schon '76 – nach dem Besuch eines Sex Pistols Konzert – in Manchester entstanden, haben dort seit Mai '77 mit Joy Division, den Buzzcocks und anderen Bands aus ihrem Umfeld diverse Konzerte gespielt – und waren von vorne herein ein völlig einzigartiges Konstrukt. The Fall SIND Mark E. Smith, der Typ, der eher schimpft als singt, ein belesener Misanthrop (der Bandname entlehnt er einem Roman von Camus), dessen musikalische Vorbilder (Beefheart, Can, Velvets) man in seiner äußerst eigenständigen Musik etwas verzerrt wiedererkennen kann, wenn man will. The Fall sind ganz schlicht NICHT die nächste Post-Punk Band (… und die sind schon unterschiedlich genug), sie sind von Beginn an "Always the same, always different" wie ihr Fan und Förderer John Peel gesagt hat – und der MUSS es wissen. Nach ein paar Verzögerungen kommt '78 eine erste großartige EP heraus (Bingo-Master's Break-Out – auf meiner CD mit dabei...), nach etlichen Lobeshymnen in Radio und Presse wird dann an einem einzigen Tag das Debür Live at the Witch Trails aufgenommen – und das Besetzungskarussell dreht sich derweil in schwinderlerregendem Tempo um Diktator Smith... Der lässt sein austauschbares Personal simple Melodien bis zum Erbrechen wiederholen, häuft drauf etwas Krach und schimpft und krakeelt und schüttet Häme über die Gesellschaft, die Industrie, die Presse, England und die ganze restliche, hässliche Welt. Live at the Witch Trails hat sofort alle Qualitäten, die man für einen Klassiker braucht. The Fall klingen hier dank Yvonne Pawlett's Keybords und dank Martin Bramah's klingelnder Byrds/Punk Gitarren mitunter (für ihre Verhältnisse fast) angenehm blumig – aber das wird natürlich durch die VU/Beefheart-Anmutung der Songs (höre „Underground Medicine“ - nur als Beispiel) sofort konterkariert. Und Smith klingt wie Smith immer klingen wird (siehe oben). Tracks wie „Frightened“, „Rebellious Jukebox“ oder „Two Steps Back“ haben tatsächlich gewisse „Hit“ Qualitäten – es sind Songs zum Mitsingen – nur, wer will sowas singen? The Fall machen Fortschritte – Live und in ihrer Reputation bei der Hipster- Presse. Sie spielen mit Gang of Four und den Stiff Little Fingers, veröffentlichen eine tolle Single („Rowche Rumble“ - über die Pharma-Industrie und ihre Umwelt-Sünden) und nehmen dann noch im selben Jahr ihr zweites Album Dragnet auf. Wieder passt Joh Peel's Ausspruch "Always the same, always different" . Mit dem an Rockabilly geschulten Gitarristen Craig Scanlon und Bassist Steve Hanley sind zwei neue Leute dabei, die es sogar etwas länger bei The Fall aushalten werden, Mark E. Smith schüttet seine Häme über Alles aus, was ihm gerade einfällt, bei „Printhead“ ist die Musikpresse dran, „Psykick Dancehall“ könnte fast eine Hitsingle sein, „Dice Man“ bezieht sich auf eine Geschichte von Underground-Dichter Luke Reinhardt und beschreibt vermutlich ganz gut Smith's Haltung zur Musik: „They Say Music Should be Fun/ Like Reading a Story of Love/ But I Wanna Read a Horror Story“ und mit „Spectre Vs Rector“ gibt es einen weiteren kommenden Klassiker der Band. Inzwischen lässt John Peel die Band erste BBC-Sessions aufnehmen und lobt und verehrt sie immer lauter - und das ist berechtigt: Wenn die höchsten Qualitäten „populärer“ Musik in Intelligenz, Eigenständigkeit, Abwechslung und unbedingtem Stilwille liegen, dann kann man schon jetzt an The Fall nicht mehr vorbei. Anhören und nochmal anhören und sich 'dran gewöhnen und man kommt nicht mehr los davon. Dass The Fall in den nächsten Jahrzehnten bei einer Diskografie mit 31 (!) Studio-Alben und unzähligen Singles und EP's kaum ihr Niveau senken, ist da hilfreich. Kann nur teuer werden...

 The Fall - Two Steps Back

 The Fall - Psykick Dancehall


The Red Crayola


Soldier-Talk

(Radar, 1979)

The Red Crayola passen jetzt ganz prima hier hin: Die Band aus Texas pflegt einen ähnlich einzigartigen Umgang mit den Regularien der Popmusik wie The Fall, ihr Kopf Mayo Thompson ist ein ähnlich eigenartiger Sänger – und er hat '79 u.a. die Stiff Little Fingers und die unten vorgestellten Raincoats produziert (...1980 auch The Fall) - er hängt zu dieser aufregenden Zeit also auch in England 'rum. The Red Crayola allerdings existieren schon seit 1966, aber ihre ersten beiden Alben von '67 und '68 waren dereinst so far out, dass man sie getrost sogar heute noch innovativ nennen kann. Thompson hat inzwischen einen neuen Drummer, und vor Allem dieser Jesse Chamberlain versucht die Band als Songwriter in (relativ...) kommerzielleres Fahrwasser zu steuern - aber da sind Thompsons Wunsch nach Experimenten und sein seltsamer Gesang vor – zumal er sich alle Musiker von Pere Ubu und Lora Logic von den X-Ray Spex an Bord holt. Soldier-Talk war als eine Art Konzept-Album über Militarismus gedacht, Thompson und Chamberlain teilten sich die Gesangsparts und ihre unterschiedlichen Auffassungen von Musik sind durchaus hörbar – mitunter als Gewinn, mal als zu starker Kontrast. Chamberlain ist ein virtuoser, jazz-informierter Drummer und seine Beiträge sind beeindruckend, das Spiel der Pere Ubu-Mannschaft ist ebenfalls auf avantgardistische Art virtuos, so dass ich bei Tracks wie dem „March No. 14“ an britische Bands wie Henry Cow oder Art Bears denken muss. Aber wenn Mayo Thompson dann beim darauf folgenden Titeltrack seine Enten-Stimme dehnt und Lora Logic das Saxophon dazu quäken lässt, bleiben alle Vergleiche auf der Strecke. Ich weiss nicht, ob Soldier-Talk Post-Punk ist - oder Avantgarde-Rock oder was – es dürfte den Unerschrockeneren unter den The Fall-Fans jedenfalls gefallen haben, wenn sie es wahrgenommen haben. Für Red Crayola-Verhältnisse ist dies teilweise ein sehr genießbares Album, insbesondere die Tracks bei denen Chamberlain erkennbar die Zügel in der Hand hat, könnten beinah als normaler Post-Punk durchgehen – Post-Punk im Zerrspiegel immerhin. Dass ich im Anschluss hier das '79er Album von Pere Ubu beschreiben werde, versteht sich. Aber zuerst kommt die UK-Band...

The Red Crayola - Soldier-Talk (full album) 


Gang Of Four


Entertainment!

(EMI, 1979)

Gang of Four (nach der chinesischen „Viererbande“ - dem linken Flügel der kommunistischen Partei - benannt...) sind ein weiteres Beispiel für die stilistische Bandbreite des sog. Post-Punk. Auch Sie entstehen im Zuge des Punk-Aufruhrs 1977, auch sie werden von DJ John Peel mit ihrer ersten Single „Damaged Goods“ in höchsten Tönen gelobt, touren gemeinsam mit The Fall – und auch sie sind zumindest zu dieser Zeit wegen ihres Sounds aus hartem Funk-Bass, Tanz-Rhythmen, parolenhaftem Sprech-Gesang und Gitarren-Splittern unverwechselbar. Ihr Debütalbum Entertainment! ist früh-vollendet – an die Klasse dieses Albums kamen sie selber nicht mehr heran, selten habe ich ein so durchgehend spannendes Album gehört, ob „Damaged Goods“ - ihre Hit-Single, ob das folgende „Return the Gift“, ob das wieder darauf folgende hektische „Guns Before Butter“, ob der Anti-Love Song „Anthrax“ - es gibt keine verschwendete Sekunde. Ich musste mich an die konzentrierte Hektik, an die Überlappung von schwarzem Funk mit messerscharfem Post-Punk erst einmal gewöhnen – aber das ist eine Qualität - kein Nachteil. Andy Gill's Gitarrenspiel ist das Gegenteil aller Gitarren-Heroen der frühen Siebziger und zugleich virtuos auf beeindruckende Weise. Hugo Burnham (dr) und Dave Allen (b) spielen ihre Funk-Rhythmen mit einer Wucht, die jeden mitreissen muss. Dazu schrei-singt Jon King scharfe und intelligente politische Lyrics, die das Establishment im UK tatsächlich in Empörung versetzte: Bald wurden sie vom allmächtigen BBC verbannt und verloren die Unterstützung der Plattenfirma – aber die Saat war gesät. Der Einfluss dieses Albums (...die nachfolgenden sind auch nicht schlecht, aber nicht so toll wie dieses!) kann nicht überschätzt werden. Von Nirvana über die Red Hot Chilli Peppers bis zu den Post-Punk Epigonen der 00er Jahre (man höre nur das Debüt der Band Hard-Fi – ein nettes Imitat) haben etliche namhafte Musiker Entertainment! In den Himmel gehoben. Es gilt als eines der definitiven Alben der Siebziger. Zu Recht.

Gang of Four - Anthrax 

Pere Ubu


New Picnic Time

(Rough Trade, 1979)

Ganz lustiges Fakt am Rande – Post-Punk in den USA ist „älter“, hat eine längere Geschichte als im UK. Pere Ubu – die in diesem Jahr allesamt Mayo Thompsons Band The Red Crayola (gegr. 1966...) unterstützen – haben schon seit 1970 ihre eigene Geschichte (als Rocket from the Tombs). Ihre ersten beiden Alben Modern Dance und Dub Housing sind zwar erst im Vorjahr erschienen (siehe der Artikel über die Szene in Cleveland... ), aber sie ziehen schon seit Mitte der Siebziger ihre Kreise über Amerika's Underground-Szenen. Aber - na ja, vielleicht vertu' ich mich hier ja auch, und Pere Ubu sind nicht Post-Punk... Immerhin - Wer The Red Crayola mochte, kann mit New Picnic Time , Pere Ubu's drittem Album, vermutlich auch viel anfangen. Wenn Mayo Thompson's Gesang befremdlich klingt, dann ist der von David Thomas komplett verrückt. Der lacht, quaakt, jammert, grölt und macht mit seiner seltsamen „Fettes Kind-Stimme“ alles, was man als „Rock“ Sänger nicht darf. Dazu spielt diese so eigenartig virtuose Band einen Mix aus konventionellen Parts und Freak-Outs, die sich überlagern, abwechseln und unvermutet auf- und wieder abtauchen. New Picnic Time gilt gemeinhin als weniger beeindruckend als die beiden (zugegebenermaßen sehr einzigartigen) Vorgänger. Ich hebe dieses Album hiermit auf die gleiche Stufe. Wirklich zugänglich mag hier Nichts sein, ob es der hysterisch-fröhliche Opener „Have Shoes Will Walk (The Fabulous Sequel)“, ob Thomas' Sirenen-Geheul am Anfang von „All the Dogs Are Barking“, ob das zwischendurch so strukturierte Chaos von „One Less Worry“... dass die Band die Aufnahmen und die folgende Tour nicht überstanden und dass Gitarrist Tom Herman die Band verließ, höre ich hier nicht heraus. Wie wir wissen, kam ja dann Mayo Thompson von Red Crayola als dessen Ersatz dazu – bzw. machte Pere Ubu für die Aufnahmen zum oben beschriebenen Soldier-Talk erst einmal zu seiner Band. Somit endet die erste Phase von Pere Ubu mit einem sehr gelungenen, wenn auch weniger hoch eingeschätzten Album. David Thomas machte etliche Solo-Alben und Pere Ubu re-inkarnieren bis heute. Mindestens die ersten drei Pere Ubu Alben gehören in den Post-Punk Kanon.

Pere Ubu - One Less Worry 

The Pop Group


Y

(Radarscope, 1979)

Die gehören wohl auch hier hin. The Pop Group stammt aus Bristol, wo sich (auch '77 – aber nicht in Bewunderung der Sex Pistols...) ein paar junge Leute zusammengetan haben, um klare, linke politische Aussagen und eine steigende Wut über die erstarkten Konservativen bis Rechten in England in Musik irgendwo zwischen Dub, Reggae, Avantgarde, Free Jazz und Funk umzuwandeln. Heraus kommt in der Tat Post-Punk – Musik, die derjenige sich gerne anhören wird, der die Gang of Four oder P.I.L. mag. Natürlich sind an den fünf jungen Leuten die Erregung des Punk und die Befreiung des Post-Punk nicht vorbei gegangen – aber ich denke, man muss unterstellen, dass in dieser Zeit kein Musiker ein Label für seine Kunst verpasst bekommen wollte, egal was er machte - es sei denn, er oder sie versprach sich Popularität und kommerzielle Vorteile davon. So etwas kann man der Pop Group gewiss nicht vorwerfen. Heute mögen sich die dubbigen Bässe, die zersplitterten Gitarren, das von Jazz und Reggae inspirierte Drumming und Mark Stewart's Deklamationen nicht mehr ganz so erschreckend anhören – aber wir haben 1979 – da ist so etwas neu, seltsam, aggressiv, und weit weg vom Mainstream. Y - Das Debüt der Pop Group nach der sensationellen, für '79 ebenso exzentrischen Single „She Is Beyond Good and Evil“ wird in dieser Zeit nur von sehr offenen und neugierigen Menschen gehört, Tracks wie „Don't Call Me Pain“ werden von Dub/Reggae Produzenten Dennis Bovell komplett durch die Echokammer gejagt und zerstückelt, der Opener „Thief of Fire“ ist noch schön rhythmisch und fast „konventionell“, aber am Schluss wird bei „Don't Sell Your Dreams“ jede gewohnte Struktur gesprengt. Und all das ist logisch: The Pop Group sind linke Agitatoren, die Musik nur als Transportmittel für Aussagen nutzen. Dass sie mit ihren Aussagen zeitlos sind, kann man allein an der einen Zeile bei „Blood Money“ erkennen, wo Mark Stewart konstatiert: "Money's a weapon of terror". Gut erkannt. 

The Pop Group - Thief of Fire 

Devo


Duty Now for the Future

(Warner Bros., 1979)

Zurück in die USA, wo die aus Ohio stammenden (siehe mein kleines Kapitel 1978 – Da gab es auch eine Szene in Cleveland – Pere Ubu und Devo ) und inzwischen in New York beheimateten Devo ihr zweites Album gemacht haben. Zur Produktion gehen sie nach Hollywood, wo sie sich - nach Brian Eno beim Debüt – mit Ken Scott erneut einen Bowie-Produzenten an Bord holen. Der ordnet sich allerdings im Gegensatz zu Eno den Vorstellungen der Musiker unter – und so ist Duty Now for the Future vermutlich nah an den Ideal-Vorstellungen der Band, aber nicht ganz so gelungen wie das konzeptuell und soundtechnisch so aufregende Q: Are We Not Men? A: We Are Devo! An den Songs liegt es nicht – die sind teilweise schon drei Jahre alt und in Konzerten erprobt, aber der Reiz des Neuen scheint ein bisschen verflogen. Devo klingen auf diesem neuen Album wie eine der aktuell so erfolgreichen Synth-Pop Bands, aber die meisten Sounds sind immer noch mit Gitarre, Bass, Drums und Keyboards erzeugt und vielfach bearbeitet. Keine Ahnung – vielleicht lässt das dieses Album etwas schwachbrüstig klingen, Q: Are We Not Men... klang auch synthetisch – und zugleich sehr energetisch. Das geht diesem Album ab. Die Songs hingegen sind teilweise ganz hervorragend: „S.I.B. (Swelling Itching Brain)“ brächte nur etwas mehr Bass, „Blockhead“ ist im Sound näher am Debüt und hat auch dessen seltsam bekloppten Reiz, „The Day My Baby Gave a Surprize“ ist herrlich eigenartig und klingt so, wie nur Devo klingen können: Als hätten ein paar durchgeknallte Wissenschaftler Popmusik im Labor zusammengemixt, ohne zu wissen, um was es dabei eigentlich geht. Duty Now for the Future klingt heute vermutlich ein bisschen zu altmodisch, ist nicht so zeitlos wie das Debüt, aber Moden kommen und gehen – und kommen wieder. 

Devo - Blockhead 

The Raincoats


s/t

(Rough Trade, 1979)

und ich hüpfe wieder ins United Kingdom... Und wieder taucht Mayo Thompson auf... Der nämlich produziert das erste Album der Londonder Kunst-Studentinnen Raincoats. Auch die haben sich '77 als Reaktion auf die Alles-ist-möglich Attitüde des Punk zusammengetan – erst auch mit ein paar Männern im Line-Up, die dann wiederum zu den Barracuda's oder P.I.L. wechselten. Seit '78 sind sie eine all-female Band, die sich in der Londoner Hausbesetzer-Szene herumtreibt und improvisierend und sich bewusst der Virtuosität verweigernd in diversen Clubs auftritt. Das Indie Label Rough Trade findet Gefallen an Haltung und Musik der Band, die inzwischen mit der Violinistin Vicky Aspinall, Ana Da Silva (g, voc), Gina Birch (b, voc) und der Drummerin Palmolive von den gleichgesinnten Slits (siehe unten) als Gast ins Studio geht. Mayo Thompson wird als Produzent seine Freude an den selbstbewussten Musikerinnen gehabt haben, diesen scheinbar so undisziplinierten Haufen der zehn Tracks einspielt, die durch die Violine, durch schlaue und exzentrische Arrangements und Ideen und insbesondere durch das Zusammenspiel der Vier, das immer kurz vor dem Auseinanderfallen zu stehen scheint, so ganz neu und anders klingt. Das Album The Raincoats passt bei allem Individualismus, zu den Alben der Slits, Gang of Four, oder Pop Group – weil hier gegen jede althergebrachte Weise Musik als Kunst geschaffen wird. Und dabei sind Songs wie „Life on the Line“, „Fairytale In The Supermarket“ und das Kinks-Cover „Lola“ so gut gelungen, dass sie bis heute funktionieren. Dass eine Frauen-Bands in der konservativen Punk-Szene eine Ausnahme war, die sich mit dem Machismo innerhalb dieser Szene herumschlagen musste, sollte immer bedacht werden. Dass The Raincoats in allen Bestandteilen ein „piece of art“ - und ein selbstbewusstes femistisches Statement - ist, dürfte inzwischen bekannt sein. Damals bewunderte immerhin Johnny Rotten die Band, inzwischen haben Riot Grrls, Kurt Cobain und all wir Musik-Nerds erkannt, dass das hier ein hervorragendes Album ist. Jetzt musst nur du das noch erkennen...

 The Raincoats - Fairytale In The Supermarket


Contortions


Buy

(ZE Rec., 1979)

James White and the Blacks


Off White

(ZE Rec., 1979)

Aus New York kommen 1979 zwei quintessenziellen No Wave Alben, die mich persönlich an so manches erinnern, was in England The Pop Group, die Raincoats oder die Slits machen: Es sind die simultan veröffentlichten Geschwister-Alben von James Siegfried aka James Chance aka James White and the Blacks (Off White) und das Album Buy von dessen Band incl. Ihm selber unter dem Moniker Contortions. Zwei Alben mit der Musik, die Brian Eno im Vorjahr auf dem ganz hervorragenden Sampler No New York (siehe 1978 - Papst Johannes Paul I &II, J.R. Ewing und Dallas - Elvis Costello bis Big Star ) kompiliert hatte. Welches der beiden Alben „besser“ ist, kann ich ganz einfach nicht sagen. Chance/White hat ein musikalisches Konzept, das auf beiden Alben greift, es gibt allein schon wegen des identischen Personals Parallelen, für Off White hatte Chance (/White... ich nenne ihn ab jetzt nur noch Chance...) einen Deal mit dem Boss von ZE Records über 10.000 Dollar gemacht. Der wollte ein „Disco“ Album von Chance – in dessen eigener Sprache. So orientiert sich Off White an den Disco-Singles, die Chance in dieser Zeit bewusst hört, und es orientiert sich an James Brown (daher auch der Name James White – klar, oder?) und natürlich an Chance's Vorlieben für Free Jazz und Punk. So passt also das Etikett Dance-Punk fast genau - und wer den Opener „Contort Yourself“ hört, erkennt was damit gemeint ist. Und dass Chance im ersten Song von Off White („Contort Yourself“) sein „anderes“ Projekt in den Titel aufnimmt wird schlüssig, sobald man sich Buy von seinen Contortions anhört. Es ist erkennbar das gleiche Personal und der gleiche Sound aus Chance's freiem Saxophon, leiernden Gitarren-Licks und seiner Jungs-Stimme – die auf Buy aber einen gerne einen zynischen Unterton bekommt. In der Tat sind die Rhythmen auf diesem Album nicht ganz so auf Tanzbarkeit getrimmt, sind die Lyrics düsterer und näher am Nihilismus mancher britscher Punk-Acts – wenn er etwa über seine Freunde sagt: „Once I figure them out, they're a waste of my time“ - und wenn er das Motto „I prefer the ridiculous to the sublime“ postuliert. Auch auf Buy gibt es einen Track titels „Contort Yourself“ - aber hier wird er zu einem primitiven Free Jazz Ausbruch mit aggressivem Geschrei von Chance. Wo Off White ein hedonistischer und durchaus munterer Versuch in Disco via Jazz und Punk ist – eine Stilübung – da hat Buy die Botschaft: „Alles Fake, überall Idioten, aber so ist es nun mal, also lasst uns feiern“ Das ist New York Nighlife '79 in einer Nussschale. Dass dabei so typische und zugleich eigen- und einzigartige „New York-Musik“ herauskommt, ist begrüssenswert.

 James White and the Blacks - Contort Yourself

Contortions - Contort Yourself

The Slits


Cut

(Island, 1979)

Zum Schluss (weil es sonst zu viel wird...) und im Zusammenhang mit den Raincoats eine weitere britische all female (Post) Punk Band – eigentlich DIE feministische all female Band der damaligen Zeit. Die Slits sind in der erblühenden musikalischen Landschaft nach Punk tatsächlich - mehr als die Raincoats - so etwas wie die Superstars dieser Non-Star-Szene. Sie fangen schon1976 mit ihrer Musik an – sind also zur Beruhigung aller Kredibilitäts-Wächter - keine Kopisten, und erschaffen selber den Trend. Da sind zunächst die bald bei den Raincoats trommelnde Palmolive (eigentlich Paloma Romero) und die Sängerin Ari Up (Ariane Forster), die sich nach ein paar Personalwechseln mit Viv Albertine (g) und Tessa Pollitt (b) zusammentun und bald mit The Clash und den Buzzcocks touren – und sich bei diesen Auftritten einen hervorragenden Ruf als Live-Event erspielen. John Peel (ja, der schon wieder..) liebt sie und nimmt mit ihnen die üblichen Peel Sessions auf (sehr lohnendes Album, erst '99 veröffentlicht), dann lassen sie ihre Drummerin zu den Raincoats abwandern. Für ihr Debüt holen sie sich mit Budgie einen Mann als Gast an die Drums und lassen den von seiner Arbeit mit der Pop Group bekannten Reggae-Spezialisten Dennis Bovell produzieren. Der zähmt sie ein bisschen (klagen die einen) bzw. gibt ihnen die Reggae/Dub-Behandlung, die Cut zu seinem so erstaunlichen Album macht (sage ich...). Ich denke, egal, wie sie produziert werden, die Herangehensweise der Slits an Musik ist wunderbar experimentell, unvoreingenommen und sehr humorvoll. Sie klingen wie kaum eine Band in ihrem Umkreis – auch nicht so wie die Raincoats - aber sie haben mit Cut ebenfalls Unmengen von Musiker(inne)n beeinflusst, sind vermutlich DIE Ur-Riot Grrrl Band und wurden letztlich nie kopiert. Sie haben eigenwillige Songs wie „Instant Hit“ oder „Shoplifting“ irgendwo zwischen rudimentärem Punk, Dub und Kunst - und mit „Typical Girls“ ist auch noch ein echter Pop-Hit incl. Motto dabei. Um die revolutionäre Wirkung dieses Albums zu verstehen, muss man sich Folgendes bewusst machen: 1979 ist eine ganze Band aus MusikerINNEN die NICHT niedlich, zahm und sexy ist ein regelrechter Affront gegen das Establishment und gegen die Sitten, - und wenn diese Band auch noch selber kreierte Musik, ein Punk-Image (an sich schon schlimm genug) und ein solches Album-Cover hinlegt, dann nehmen die meisten Zeitgenossen das als Skandal wahr. Dass die Musik hier wunderbar eigensinnig, stilvoll und unterhaltsam ist, geht damals fast unter. Immerhin ist Cut inzwischen in fast allen Aufzählungen der wichtigsten Post-Punk Alben mit dabei. Zu Recht. Einflussreich UND aufregend – sogar heute noch. Was will ich mehr.

The Slits - Typical Girls 

Ach ja...


Wie gesagt, es gäbe noch einige bis etliche Alben die hier hin passten: Residents, Ruts, Swell Maps sind genauso ohne Zweifel der „Post-Punk“ der Cure oder Stranglers – aber die kommen anderswo vor. Und P.I.L., Joy Division und This Heat – die alle drei mit ihren '79er Alben hier hin MÜSSEN – sind im Hauptartikel/Blogeintrag 1979 - Atomunfall in Harrisburg, Khomeini im Iran und Maggie Thatcher in England - The Clash bis Lee Clayton beschrieben. Also siehe ebenda.