Donnerstag, 23. März 2017

1970 – Black Sabbath bis Frijid Pink - Hard Rock und Schweres Metall

1970 ist eindeutig das Jahr, das als Geburtsstunde des „Heavy Metal“ gelten kann. Dabei haben Black Sabbath und Deep Purple vermutlich nicht geplant, ein Genre zu gründen. Sie haben eben das gespielt, was ihnen einfiel und dabei aufgrund der Zusammensetzung der Band einen bestimmten Sound kreiert, der neu war. Grundlage des Sounds von Black Sabbath war angeblich die Erkenntnis, dass Musik, die Horror-Elemente hat, die Massen anziehen würde. Das hatten sie bemerkt, als sie sahen, dass im den Proberäumen gegenüberliegenden Kino Horrorfilme die größten Publikumsmagneten waren. Also machten sie Musik zum Fürchten. Und Elemente aus der Filmmusik von Horrorfilmen findet man dann tatsächlich bei ihnen wieder – wie bei fast allen Acts, die sich späterhin dem Metal verschreiben würden. Deep Purple und mehr noch Led Zeppelin dagegen kamen eher traditionell daher – vom Blues und vom psychedelischen Rock. Sie ersetzten zunächst das Blues-Feeling durch infernalische Lautstärke und überhöhten die Bühnenpräsenz insbesondere ihrer Sänger mit ausgesprochenen Macho-Posen – auch eine Tradition, die sich bis ins heute im Metal fortsetzen würde. Es war insbesondere ein junges Publikum – eines, das mit Flower Power und Protest-Folksängern nichts anfangen mochte, das die Stones und die Beatles als etablierte und etwas pomadige Größen betrachtete, das hier seine neuen, eigenen Helden fand. Dass sich daraus über Hard Rock und Metal fortlaufend ein paar ganz eigene Stilrichtungen bilden sollten, die in gewissem Sinne immer parallel zum „normalen“ Rockgeschehen lief, ist eine andere Geschichte. Eine die ich in anderen Einträgen wie „Was heisst NWOBHM“ oder „Wo kommt der Thrash her“ beleuchten werde. Hier die drei allgemein anerkannten Metal-Begründer – und ein paar Bands – wie etwa Free oder The Who oder die amerikaner James Gang und Frijid Pink - die vermutlich zumindest ein vergleichbares Publikum hatten.

Black Sabbath

s/t


(Vertigo, 1970)



Black Sabbath

Paranoid


(Vertigo, 1970)

Black Sabbath sind sicherlich die Band, die den größten Einfluß auf den Heavy Metal der kommenden Jahrzehnte hatten. 1969 als Jazzrock-Band unter dem Namen Earth in Birmingham gegründet, entwickelten sie bald ihren eigenen Sound, indem sie den Heavy Blues Led Zeppelins seines Blues-Anteiles beraubten und dann einfach noch „heavier“ spielten. Das Publikum war zwar schnell überzeugt, allein die Kritiker spielten über Jahre hinweg nicht mit, was den Musikern allerdings herzlich egal gewesen sein dürfte. Das gleichnamige Debüt (mit gleichnamigem Song – auch eine „Tradition“ die sich in diesem Genre bis heute hält...) hat schon viele der Trademarks, die die nächsten fünf Jahre nur noch leicht variiert wurden. Einen dumpfen, düsteren Sound, schwere Riffs und eine benebelte, halluzinatorische Atmosphäre und die oben erwähnten Horror-Elemente. Der apokalyptische Titeltrack, der Klassiker „N.I.B.“ und „The Wizard“ zeigen die Vorliebe der Band für Schwarze Magie. Und natürlich waren sie gerade damit zum einen bei ihrem jugendlichen Publikum sehr erfolgreich, beeinflussten zum anderen damit auch zukünftige Musikergenerationen. Heavy Metal und der Teufel waren einander bekannt gemacht worden. Was für das Debüt gilt, trifft auf das im selben Jahr aufgenommene Paranoid noch mehr zu: Der Sound war definitiv gefunden, jetzt kamen noch ein paar wirklich fantastische Riffs dazu, die Musik klang unendlich „evil“, insbesondere wegen Ozzy Osbournes Gesang, seiner quengelnden Stimme, die späterhin von diversen Sängern nachgeahmt werden sollte, die aber doch unerreicht bleibt. Dann ist da noch Tony Iommies Gitarrenspiel. Dessen abgehackten „Soli“ und das prägnante Rhytmusspiel unterlegt Songs, die für die Ewigkeit gemacht schienen - und die mit dem Doom-Metal ein ganzes Subgenre des Metal erschaffen und beeinflusst haben. Der Titelsong kam in England und den USA ohne jeglichen Radioeinsatz hoch in die Charts, ebenso das unsterbliche „Iron Man“ mit seinem unvergesslichen, verzerrten Refrain. „War Pigs“ und „Electric Funeral“ sind weitere Klassiker, und „Planet Caravan“ zeigt, dass auch ein langsames Akustikstück unendlich finster sein kann. Dass diese Art von Musik da noch als wenig ernst zu nehmende Scharade galt, hat (bis heute) eher Image- als Vernunftgründe


Deep Purple

In Rock


(Harvest, 1970)

1970 ist nicht nur wegen Black Sabbath das Jahr, in dem der Heavy Metal die entscheidenden Impulse erhält. Da waren natürlich auch noch Deep Purple - und mit diesen beiden Band sind die genannt, die das Genre wahrscheinlich am meisten geprägt haben. Deep Purple hatten schon vorher „harte“ Musik gemacht, aber auf ihren vorherigen Alben waren sie noch stark von Flower Power beeinflusst gewesen. Mit der als MK II berühmt gewordenen Besetzung gelang es ihnen, etwas ganz Neues zu erschaffen. Die Kombination aus Jon Lord's Klassik-beeinflusstem Keyboardspiel, Ritchie Blackmore’s innovativer und harter Gitarre und den Fähigkeiten des neuen Sängers Ian Gillan sollte ein weiteres Referenzalbum des Metal entstehen. Das Mount Rushmore Cover war die passende Verpackung für ein Album voller Songs, die zu Klassikern wurden: Es beginnt mit den brillianten Songs „Speed King” und „Bloodsucker”, dann kommt das beste Stück der LP, das extrem abwechslungsreiche „Child In Time”, ein Song der ohne Ian Gillans Vokalakrobatik – die kommende Heavy Metal Shouter genause beeinflussen sollte wie Ozzy Osbournes Gesang - gar nicht existieren könnte. „Flight of the Rat“ ist vielleicht der schwächste Song hier, und selbst der ist insbesondere in den Instrumentalparts beeindruckend genug. „Into the Fire“, „Living Wreck“ - beides hervorragende Metal Songs und zuletzt der zweitbeste Song der LP - „Hard Lovin´ Man“ machen aus In Rock eine der Ikonen des Metal. Einziges Manko: In Rock steht für einen Metal-Sound, der heute als altmodisch gilt. Spätere Bands wurden einfach extremer, aber die Moden ändern sich...

Led Zeppelin

III


(Atlantic, 1970)

Den Begriff Heavy Metal gab es wie gesagt 1970 noch nicht. Leute, die Musik solcher Bands wie Deep Purple hörten, waren möglicherweise durch den lauten, aggressiven Sound von Led Zeppelin in diese Spur gebracht worden – und heute gelten Led Zep genauso als Wegbereiter des Metal wie Deep Purple und sind gleichzeitig für den an Thrash geschulten Metal-Head eher ein historisches Blues-Phänomen als ernsthaftes "Metall". Damals hatten sie mit ihren ersten Alben allerdings die Grenzen der Härte und Lautstärke weit voran getrieben. Nach diesen ersten beiden - in wenigen Tagen aufgenommenen Alben ließen sich Led Zeppelin für III nun etwas mehr Zeit. Viele der Songs wurden buchstäblich am Lagerfeuer komponiert, die Band orientierte sich am akustischen Sound von Crosby, Stills, Nash & Young, ließen Folkmusik einfliessen, verbeugten sich vor Roy Harper und versuchten ganz einfach (klugerweise) musikalisch zu wachsen. Selbst ein Rocker wie der galoppierende „Immigrant Song“ stürmt nicht einfach drauflos, „Celebration Day“ hat ein seltsam psychedelisches Slide-Solo, Songs wie „Bron-Y-Aur Stomp“ und „Gallows Pole“ sind erkennbar tief in britischem Folk verwurzelt, eine Richtung in der Led Zeppelin noch weiter experimentieren sollten. Und dann war da noch „Tangerine“ einer der besten Songs der Band, bei dem sie Westcoast-Sounds mit ihrem krafvollen Sound vereinten. Es gab mit „Since I've Been Lovin' You“natürlich noch den Blues, der für sie die Basis und Startpunkt gewesen war. Fans und Kritik jedoch waren zunächst verwirrt, nach kurzer Zeit jedoch erkannten alle III als das was es ist: Eines der besten Alben Led Zeppelin's.

The Who

Live At Leeds


(Polydor, 1970)

The Who sind 1970 eine etablierte Band – sie hatten von der Hitsingle „My Generation“ 1965 bis zur Rock-Oper Tommy im Vorjahr schon die Entwicklung vom Mod-Rock zu komplexer Rockmusik geschafft. Aber dass The Who Live eine Macht waren, dass sie weit härter waren, als ihre Konkurrenten von den Stones, das war zwar bekannt, aber noch nicht offiziell dokumentiert. Ein Live-Album war also – auch und gerade nach dem etwas überkandidelten Tommy – durchaus angebracht. Und in der Tat gehört Live At Leeds zu den ganz großen Live Alben der Rockgeschichte. Die originale LP enthält nur sechs Songs – drei davon Cover-Versionen: Mose Alison's „Young Man Blues“, Eddie Cochran's „Summertime Blues“, und Johnny Kidd & The Pirates' „Shakin' All Over“, aber heutzutage kennt man die auf 14 Tracks aufgestockte Version des Konzerts vom 14. Februar '70 – und hier gilt – es ist die bessere Variante, obwohl mit den sechs Songs auf der LP schon Alles gesagt ist: Man hört hier The Who in aller Pracht, vor Kraft strotzend und immer knapp am Rande des Chaos – und ohne artifiziellen Unsinn – obwohl sie bei den Konzerten dieser Tage das komplette Tommy-Album spielen mussten. Den Teil ließen sie für das Album wohlweislich außen vor – vierzehn Minuten „My Generation“, siebeneinhalb Minuten „Magic Bus“, ein paar Rock'n'Roll Klassiker, mit einem durchgedrehten Keith Moon an den Drums, mit Roger Daltrey, der sein Mikro durch die Gegend wirbelt, und mit Pete Townshends ungeheuer dynamischem Gitarrenspiel... Man kann die Band regelrecht sehen. Der Tatsache, dass das einzelne Konzert als LP herauskam ist das Bootleg-Cover Design zu verdanken. Live At Leeds ist ein großartiges Dokument für den harten Rock dieser Zeit.

Free

Fire And Water


(Island, 1970)

Free sind natürlich – genau wie ihre Kollegen von Led Zeppelin – im Grunde eine Blues-Band. Aber eben eine, die mit ihren Riffs – insbesondere mit dem Riff zum Evergreen „All Right Now“ und mit ihrem vergleichsweise „harten“ Sound etliche spätere Metal-Musiker und -Hörer beeinflusst oder zumindest beeindruckt haben dürften. Mit den Produktionsbedingungen zum Vorgänger waren sie unzufrieden gewesen, und das hatten sie auch ihrem Labelboss Chris Blackwell mitgeteilt, und ihm zugleich erklärt, sie würden nun selber produzieren. So nahmen die Aufnahmen zu Fire and Water ein beträchtliches Mehr an Zeit in Anspruch, sie verschlissen mit Engineer Andy Johns einen namhaften Mann und bekamen mit Roy Thomas Baker einen damals noch unbekannten Könner an die Regler (der später z.B. Queen produzieren würde) und nahmen Material auf, das zwar in Blues getaucht war, aber eben auch nach hartem Rock klang. Der Über-Hit des Albums ist eben nicht das einzige tolle Stück auf Fire and Water, der Titelsong und Opener des Albums, das bluesige „Heavy Load“ und „Mr. Big“ - das erste Stück auf der zweiten LP-Seite - sind mindestens genauso gut. Der soulige Gesang von Paul Rodgers und vor Allem das geschmackvolle Giterrenspiel von Paul Kossoff heben die Musik weit über den Durchschnitt. Free spielen natürlich keinen „Metal“, aber sie klingen selbst bei Balladen wie „Oh I Wept“ oder „Remember“ durch das prägnante und minimalistische Rhythmusfundament und ihren verzerrten Gitarrensound immens kraftvoll, kraftvoller jedenfalls als andere Bands des britischen Blues-Booms. „All Right Now“ wurde seither im Format-Radio totgespielt, aber das ist inzwischen schon fast vergessen, man wird, wenn man dieses Album neu hört, überrascht feststellen, dass pure, rohe „Rockmusik“ erstaunlich geschmackvoll sein kann.

Groundhogs

Thank Christ For The Bomb


(Liberty, 1970)

Die Groundhogs waren immer eine der britischen Blues Bands der zweiten Reihe – vermutlich eben weil sie von vorne herein zu hart für ihr Metier waren. Und Thank Christ For The Bomb ist neben dem nachfolgenden Album Split das Album der Wahl. Sie mögen als Basis Blues und Boogie haben, aber Bandkopf Tony McPhee war für jedes Experiment zu haben. Dazu hatte er eine sehr kraftvolle No Fun-Stimme, die sich mit traurigen Geschichten kaum vertrug und sein Gitarrenspiel war weit härter als das eines Paul Kossoff etwa. Zusammen mit dem Bassisten Pete Cruikshank und dem Drummer Ken Pustelnik machten die Drei eher Power-Rock als Blues – und auf Thank Christ for the Bomb polemisieren sie dem Titel entsprechend gegen den Krieg und den Kapitalismus. Im von fast folkigen akustischen Gitarren durchzogenen „Soldier“ betrachtet er den Krieg aus der Post-Woody Guthrie Warte wenn er singt: "Soldier, when you see 8,000 climbin' up on you / Don't see them as men – just see them as enemies of the king, y'know.". Und der Titeltrack ist grundsätzliche Kritik am Krieg in 24 klugen Zeilen bevor sich die Band dann in einen krachenden Rausch spielt.. Diese Lyrics und diese Musik war die Kopfgeburt von Tony McPhee, einem echten britischen Exzentriker, der progressiven Rock, komplexe Strukturen, die mitunter gar an die Magic Band erinnern und Blues und Bogie zu einer sehr eigenen Mischung zusammenkippte und der mit der Schluss-Trilogie „Status People“, „Rich Man, Poor Man“ und „Eccentric Man“ auch noch bittere Gesellschaftskritik übte. Die Groundhogs haben sicher wegen ihres komplexen Materials und dessen Unkommerzialität nie einen vergleichbaren Erfolg wie Free gehabt, aber ihre Musik ist überraschend zeitlos geblieben. Und natürlich ist auch das hier kein „Metal“, aber Thank Christ for the Bomb klingt für mich ziemlich metallisch.

James Gang

Rides Again


(AB

...und noch ein Album, das nicht Metal ist, das aber etliche Bands beeinflusst haben dürfte, die dann die „harte“ und „schwere“ Variante der Rockmusik entwickelt haben. James Gang war die Band des Gitarristen Joe Walsh – eines Gitarristen, der bald eine einträgliche Karriere mit den Westcoast-Softies Eagles machen würde – aber mit seiner James Gang - und auf seinen Solo-Alben - hat er eine Musik gemacht, die eher an moderne Stoner-Rock Bands erinnert als an den countryfizierten Rock der Eagles. Rides Again war – nach dem extrem gelungenen, aber weit stärker im Blues verhafteten Debüt Yer Album von 1969 - Walsh's Meisterstück. Es zeigt, was für ein vielseitiger und zugleich unverkennbarer Gitarrist er ist, es zeigt, dass er Songs schreiben kann und dass er verschiedenste Einflüsse unter den Deckel seines ureigenen Stiles zu packen vermag. Der Opener „Funk#49“ ist harter Rock plus Funk, das siebenminütige Epos „The Bomber“ vermischt schweren Jam-Band-Rock mit psychedelischen Exzessen, man kann sich lebhaft vorstellen, woher James Gang ihre immense Reputation als Live-Band hatten – sie galten seinerzeit als DAS Konzert-Ereignis neben den Grateful Dead.... Es ist das Power-Trio par excellence, mit einem Gitarristen/ Keyboarder/ Sänger, der der eindeutige Leader ist und mit einer äußerst effektiven Rhythmussektion. Joe Walsh mag nicht die größte Stimme haben, aber er weiss neben der Gitarre diese ungeheuerliche, dröhnende Orgel einzusetzen. „Tend My Garden“ ist langsam und heavy, das Intermezzo „Garden Gate“ ist dann wieder ein Grund, warum sich die Eagles für ihn interessiert haben dürften. und der Closer „Ashes The Rain And I“ sollte mal als Heavy-Ballade von einer der großen Metal-Bands gecovert werden. Der große Durchbruch blieb auch nach dem folgenden Album aus, Walsh machte ein tolles Solo-Album und ging dann zu den Eagles...

Wishbone Ash

s/t


(MCA, 1970)

Nachdem Deep Purple Gitarrist Richie Blackmore den Gitarristen Ted Turner gehört hatte, war er voller Begeisterung zu den Leuten von MCA Records gegangen und hatte sie dazu gedrängt, dessen Band unter Vertrag zu nehmen. In der Tat sind die beiden Gitarren von Andy Powell und Ted Turner ein Wunder an sich. Wishbone Ash klangen wie keine andere Band, sie brachten das Unisono-Spiel zweier Gitarristen zur Perfektion, und sie hatten – zumindest in den ersten Jahren ihres Bestehens – durchaus die Frische und auch die Songs, um beeindruckende Alben abzuliefern. Das Debüt Wishbone Ash ist hier und da noch etwas unentschieden – dass sie eine starke Blues-Basis hatten, entsprach dem Zeitgeist und den Gepflogenheiten bei gitarren-orientierten Bands – es war die Basis, auf der zu dieser Zeit Rockmusik entstand – aber Wishbone Ash betonten die Seite der Gitarrenduelle stark, sie verließen auf diesem Album die Lehre des reinen Blues für progressive und mitunter sehr lyrische Passagen und Songs. „Lady Whisky“ wäre purer Soft-Rock, wären da nicht die Solo-Exkursionen, die den Song dann auf mehr als sechs Minuten ausdehnen. Mit fortlaufender Dauer des Albums werden die progressiven Hard Rock Einflüsse immer deutlicher, und beim Closer, dem über zehn-minütigen Jam „Phoenix“ hebt die Band wahrhaftig ab. Sie klangen – wie gesagt – wie keine andere Band und spätere Bands wie Thin Lizzy oder Judas Priest haben sich bei ihnen wohl einiges abgehört, einziges Manko blieb über die gesamte Karriere das Fehlen eines vernünftigen Sängers. Aber auf den ersten drei Alben – vor Allem auf dem Meisterwerk Argus (1972) kann man darüber hinwegsehen – die anderen Elemente ihres Sounds sind einfach zu beeindruckend. Wobei ich aber auch ganz klar zugeben will, dass diese Art Musik heute herzlich unmodern ist... aber das gilt eigentlich für alle Alben in diesem Kapitel.

Sir Lord Baltimore

Kingdom Come


(Mercury, 1970)

Da gibt es ja noch eine ganze Anzahl von weniger bekannten Vorläufern des Metal zu Beginn der Siebziger. Zum Beispiel das US Power Trio ‘Sir Lord Baltimore. Die gingen '71 zum Support ihres ersten Albums zusammen mit Black Sabbath auf Tour – und ihr progressiver Psychdedelic Rock hatte in der Tat mehr mit Black Sabbath zu tun als mit dem Sound anderer Bands dieser Art. Schon der Opener und Titelsong des Albums klingt, als würden Cream unter dem Einfluss von Steroiden Ernst machen. Krachender Bass, extrem durchgedrehte Gitarren, ein singender Drummer, dessen Stimme – nicht selbstverständlich in dieser Zeit – mit der instrumentalen Power mithalten kann. Sie konnten extrem eingängige Riffs schreiben, aber vermutlich waren die Tempowechsel innerhalb der Songs, die spiltternden Gitarren, der durchgedrehte Gesang und die überbordende Energie zu viel für ihre Zeit. Heute (… oder vielleicht noch besser in den frühen Neunzigern) würde man Kingdom Come als experimentellen Stoner-Rock bezeichnen – und fände vermutlich auch nicht wirklich viele Liebhaber. Aber das Album klingt gerade wegen seiner Exzentrik bis heute erstaunlich zeitlos – und es ist für seine Zeit sehr heavy und passt somit ganz hervorragend hier hin.

Warhorse

s/t


(Vertigo, 1970)

Das Gleiche nochmal aus dem United Kingdom. Bassist Nick Simper hatte bei Deep Purple gespielt, aber Ian Gillan und er waren nicht die besten Freunde und so musste er die Band verlassen. Er begleitete die Sängerin Marsha Hunt, formte - als diese schwanger wurde - mit dem Gitarristen und dem Drummer seine eigene Band, holte sich den „Shouter“ Ashley Holt und den jungen Keyboarder Rick Wakeman dazu, der aber bald die Band wieder verließ um durch Frank Wilson ersetzt zu werden. Warhorse waren eine erfahrene, ziemlich virtuose Band, die sich in den Trend der progressiven Rockbands einreihten, die ihre Musik aus dem Blues-Kontext lösten und härter, lauter und wilder spielten, als man es bislang gekannt hatte. Es gibt Ähnlichkeiten mit Deep Purple, da ist die prominente Orgel - immer im Kampf mit der Gitarre, da sind krachende Proto-Metal Songs wie „No Chance“ oder „Burning“, aber Warhorse sind düsterer als Purple, ihre Songs sind härter, weniger verspielt. Es gibt (natürlich zu dieser Zeit) lange Instrumental-Exkursionen, die typisch für den progressiven Rock sind, die Bands wie Iron Maiden später – und anders – praktiziert haben- Mit „St. Louis“ gibt es eine etwas unpassend „fröhliche“ Cover-Version eines Easybeats-Songs, die immerhin zeigt, dass Warhorse auch sowas können... Man wollte wohl unbedingt einen Hit... Vermutlich kommen viele Faktoren zusammen, die verhinderten, dass Warhorse Erfolg hatten. Zu viele Bands dieser Art, zu unauffällig im Vergleich mit Deep Purple und Black Sabbath, Die Songs nicht ganz so gut, wie die der Konkurrenz, schlechte Promotion und ein schwächeres zweites Album ... es gibt etliche Gründe, aus denen solche Bands scheitern. Warhorse werden Nerds, die sich an der Musik dieser Zeit delektieren, sowohl kennen als auch schätzen. Genauso wie die Band um den Sänger Mike....

Patto

s/t


(Vertigo, 1970)

dessen Band mit ihrem Debüt Patto in eine ähnliche Kategorie fallen. Mike Patto ist ein formidabler Sänger – mit einer der besten und auffälligsten Stimmen seiner Zeit – eine Art Steve Winwood mit rostigen Nägeln in der Kehle, er hatte mit Ollie Halsall eine Gitarristen (und Vibraphonisten...) in seiner Band, der quasi ALLES spielen konnte – und der Ruf einer Band stieg und fiel in diesen Zeiten der ausgedehnten Soli mit dem Gitarristen – und Patto hatten ein Konzept, das progressiven Rock, Jazz und Blues mit der neuen Härte paarte. Was sollte also schief gehen ? Da fängt das Album mit einem über sechs-minütigen Slow-Burner titels „The Man“ an, der sich gegen Ende in einen Hybriden aus Jazz und Hardrock verwandelt, der zeigt was für eine Stimme Mike Patto hatte – da ist das akustische „Time to Die“, das an Love's Forever Changes erinnern mag, da sind harte Gitarrenfeuerwerke bei „Red Glow“ und „San Antone“ - aber trotzdem blieb auch Patto der Erfolg versagt. An mangelnder Originalität hat es sicher nicht gelegen, da ist eher die Unentschiedenheit im Stil, die Tatsache, dass es keinen „Hit“ in dem Sinne gegeben hat und die Tendenz zum manchmal gar freien Jazz, die der Band im Wege stand – und auch die Tatsache, dass Gitarrist Ollie Halsall zwar unglaublich effektiv und zugleich virtuos war, das Rampenlicht aber hasste..! Und auch hier gilt, wie für die meisten Alben unter diesem Artikel: Diese Musik ist heute ziemlich unmodern mit ihren instrumentalen Angebereien, aber diese Begeisterung für das eigene Instrument hat auch einen naiven Charme, und Patto hatten es wirklich drauf – siehe das komplexeste Stück „Money Bag“, bei dem man spätestens bemerkt, dass Bass und Drums in derselben Liga spielen wie Stimme und Gitarre. Keine Ahnung... womöglich wird solche Musik auch mal wieder hip. So lange bleibt Patto ein Kult-Objekt des progressiven Jazz-Hardrock der Siebziger...

Stray

s/t


(Transatlantic, 1970)

Und eine weitere Band, die zu Beginn der Siebziger „harten“ Rock zu spielen begann. Stray existierten schon seit '66. Die vier Musiker hatten sich schon mit ca 14 Jahren in der Schule zusammengetan, hatten sich in vier Jahren einen guten Ruf als Live-Band erspielt – unter anderem auch, weil sie auf der Bühne mit Pyrotechnik und Lichtinstallationen arbeiteten – zu einer Zeit, als es eigentlich üblich war, einfach auf die Bühne zu kommen und loszulegen. Zunächst spielten sie – wie die meisten Bands dieser Art, psychedelischen Bluesrock, Acidrock – eben das, was zu ihrer Zeit hip war. Mit dem Plattenvertrag beim (Folk)Label Transatlantic kam auch die angesagte neue Härte in ihren Sound. Obwohl sie in den folgenden Jahren noch etliche weitere Alben veröffentlichten und sich im britischen Club Circuit einen hervorragenden Ruf erspielten und obwohl sie mit den Groundhogs auf Welt-Tournee gingen, blieb Stray ihr bestes Album,ein Debüt, das sie nie mehr übertreffen sollten – und die Band blieb relativ obskur. Man muss bedenken, dass sie zur Zeit der Aufnahmen noch unter 20 Jahren alt waren – für dieses Alter sind die Song äußerst ausgefeilt und die Jugend der Musiker ist vielleicht auch der Grund für die Energie mit der hier aufgespielt wird. Es gibt etliche innovative Arrangement-Ideen, es gibt die damals üblichen Jam-Passagen, bei denen man den Jungs anmerkt, dass sie eine Menge Erfahrung haben, es gibt in vier Jahren angesammelte Songs wie den Opener „All in Your Mind“ (den übrigens später Iron Maiden coverten...) oder das ebenfalls überlange „In Reverse/ Some Say“ - die mit feinen Unisono-Passgen und galoppierenden Rhythmen vor Energie nur so sprühen. 1970 waren Stray noch eine sehr eigenständige Band, sie entwickelten den Hard Rock mit, sie waren eine Band, die klang wie sonst keine – aber letztlich versiegten die Ideen mit den kommenden Alben und sie blieben zu unauffällig um lange erfolgreich zu bleiben. Stray ist eines der wirklich gelungenen Proto-Hard Rock Alben.

Frijid Pink

s/t


(Deram, 1970)

Wie ich weiter oben mit Sir Lord Baltimore gezeigt habe, ist diese Entwicklung von psychedelischem Blues/ Rock zu Hard Rock in den USA auch zu finden. Aber die „Stars“ des Hard Rock kommen in dieser Zeit in der Regel aus dem United Kingdom. Da gibt es in den USA zwar die Stooges und die MC5, aber die sind keine kommerziell erfolgreichen Acts mit echten Hits, und auch ihre Alben werden nicht wirklich gut verkauft. Eine der erfolgreicheren Bands - was Plattenverkäufe angeht – sind Frijid Pink. Die kamen wie die MC5 aus Detroit und spielten einen simplen, harten Blusrock mit Tonnen von Fuzz und rollenden Drums und hatten mit ihrer krachenden Version von „House of the Rising Sun“ - vielleicht etwas überraschend – einen Top Ten Hit in ihrem Heimatland. Man wirft ihnen gerne vor, dass sie nicht besonders virtuos waren, aber dieser Faktor ist für mich sowieso meist unwichtig bis störend. Was zählt, ist die Idee und die Energie. Und da konnten sie mitunter sogar mit den Stooges mithalten. Zwar hatten sie keinen so irren Frontman wie die Stooges ihn mit Iggy Pop hatten, aber der brutal verzerrte Gitarrensturm der da entfesselt wird, dürfte für Garage-Rock Fans und Ty Segall/ Thee Oh Sees Anbeter seltsam vertraut klingen. Und dass im Fahrwasser des Single Hits das komplette Album Geld brachte ist herzlich berechtigt... ich wünschte so etwas könnte heute mit derartiger Musik funktionieren. Und auch die Band-Originale müssen nicht in der Garage versteckt werden. Die Gitarren auf „Tell Me Why“ klingen, als wollten sie die Amps zerreissen,und Want to be Your Lover“ und „Boozin' Blues“ sind wuchtige Blues Jams die sich Richtung Hard Rock schieben und die beweisen, dass der gute Ruf der Band als Live Band berechtigt war. Aber natürlich gilt auch hier: Es ist Musik, die heute durchaus zu Recht als altmodisch gilt.



Am Ende noch der Hinweis, dass es natürlich noch etliche weitere Alben gibt, die man hier hinzufügen könnte – die ich aber aus reiner Willkür anderswo reviewe. Harten Rock mit Blues- Progressive- Jazz- Psychedelich- etc... Einflüssen gibt es in dieser Zeit haufenweise. Ich sage nur: Black Widow, T2, Twink, May Blitz, Mott the Hoople... und da habe ich das tumbe Debüt von Uriah Heep schon ganz aussen vor gelassen....











Samstag, 11. März 2017

1988 – Carcass und Napalm Death - Grindcore auf dem Höhepunkt

In diesem Jahr bricht in meinen Augen die Welle der schmutzigen Variante des Death-Metal: Dieses Jahr wird Grindcore zu Ende dekliniert. Was in diesem Falle heisst – selbst die Musiker der Jazz-Szene, die bald den Grindcore als Spielfeld entdecken, haben mit den Carcass- und Napalm Death-Alben schon alle blutigen Einzelteile ihrer Leidenschaft auf einem Tablett präsentiert bekommen – was aber auch heisst, dass es nach '88 durchaus noch einige tolle Grindcore-Bands und -Alben geben wird. Hier werde ich nun die 7 besten Alben aufzählen, die es meiner Meinung nach gibt. Dabei weise ich auf folgendes hin: Grindcore ist beeinflusst von Punk, Hardcore, Death Metal und Free Jazz - also tauchen hier Alben auf, die jeweils die eine oder andere Seite betonen. Ich würde jemandem, der den Grindcore kennenlernen will, folgende Alben empfehlen:

Napalm Death – Scum (1987)

Napalm Death – From Enslavement to Obliteration (1988)

Terrorrizer - World Downfall (1989)

Carcass – Symphonies of Sickness (1989)

Naked City – Torture Garden (1990)

Discordance Axis – The Inalienable Dreamless (2000)

Nails – You Will Never Be One of Us (2016)

und es fehlen womöglich: Naked City – Grand Guignol (1992) – ein zweites Beispiel für Jazz-Grindcore, Assück – Anticapital (1992) – politisch so eindeutig Links wie Napalm Death, aber mehr im Punk verwurzelt, Cattle Decapitation – The Antrophocene Extinction (2015) – wenn ich mal „modernen“, von Death Metal stark beeinflussten Grindcore hören will...aber ich könnte auch Alben von Repulsion, den Mitbegründern des Genre's benennen, oder von späteren Meistern wie Pig Destroyer, Anaal Nathrak oder Rotten Sound. Da kommt man drauf, wenn man tiefer in die Materie einsteigt.

Carcass

Reek Of Putrefaction

(Earache, 1988)

Es gibt ein paar Alben, die ein komplettes Genre definieren, und Reek of Purtrefaction ist ein Solches. Carcass veränderten mit ihrem Debütalbum die Vorstellung von extremer Musik ebenso wie die Darstellung einer Band via Cover und Lyrics. In beider Hinsicht boten sie ein Komplettpaket, das bis heute zwar etliche Male kopiert, an Geschmacklosigkeit jedoch nicht übertroffen wurde. Tatsächlich klangen Carcass so wie das Cover (das natürlich sofort indiziert wurde) aussieht. Die ausgesprochen versierten Musiker schufen einen dumpfen Grindcoresound mit mehrfach übereinander geschichtetem Gegurgel und (selbstverständlich im Textblatt mitgelieferten) Texten aus den blutigsten, eitrigsten Detailbeschreibungen der Pathologie unter dumpf rasendem Gepolter von Drums, Bass und Gitarre. Dass die „Soli“ der Musiker in den Texten vermerkt wurden, gab dem Witz die letzte Pointe. Sie nutzten die Erkenntnisse, die Napalm Death errungen hatten, um Grindcore in eine blutverschmierte Ecke zu schieben. All das mag wahlweise kindisch oder krank sein, auf jeden Fall wurde es zu einem oft wiederholten Konzept. Carcass wurden mit der Zeit „ernsthafter“ - das heißt der Sound wurde klarer und die Texte boshafter – und der Nachfolger Symphonies of Sickness vom folgenden Jahr ist um ein paar Milliliter Eiter ausgefeilter – dennoch: Reek of Purtrefaction bezeichne ich als Klassiker seines Genres. Wer das nicht anerkennt, findet vermutlich eine ganze Musikgattung geschmacklos – Eine Gattung, die so geschmacklos oder geschmackvoll ist wie Zombie-Filme. Carcass machten übrigens - ähnlich wie Napalm Death - mit ihrem zweiten Album im kommenden Jahr das bessere Splatter-Grindcore Album - deshalb steht dieses hier nicht ganz oben auf der Liste der Prioritäten... 

Napalm Death

From Enslavement To Obliteration

(Earache, 1988)

Napalm Death's oben genanntes Debütalbum Scum mag ja das Epitom des Grindcore sein, aber es ist naturgemäß ein zerrissenes Album - weil mit zwei Besetzungen und zwei Produzenten eingespielt. Es ist ihr zweites Album, das sie dann in ihrer ganzen Herrlichkeit zeigt. Mit den diversen Bestzungswechseln, die inzwischen nur noch Drummer Mick Harris als Ur-Mitglied hatte übrig bleiben lassen, war die Hardcore-Punk Seite ihres Sounds um gewisse Death Metal Einflüsse erweitert und nun spielten sie den Grindcore, der sich dann nicht nur für sie (in einem gewissen Maß) durchsetzen würde. Das bdeutet: Scum ist revolutionär, From Enslavement to Obliteration ist in allen Belangen beeindruckender und interessanter. Die „crusty“ Punk- und Hardcore–Seite wird auf diesem Album ergänzt um Death Metal-Brutalität und -Heavyness, cleaneren Sound und einen ganz eigenen Wahnwitz. Ein Grund ist, dass nun bessere Produktionsbedingungen herrschten, da das Label Earache nun als Label für Extrem-Metal Anerkennung und Verkaufszahlen bekam (Scum war im Vorjahr auf Platz 8 der Indie Charts gelandet...). Auf diesem Album übertönen Mick Harris' Drums nicht den Fuzz-Bass von Shane Embury und die finsteren Growls und hysterischen Kreischorgien von Lee Dorrian, die Musiker hatten einzeln und als Band an Erfahrung gewonnen und das Songmaterial war auch ausgereifter, nicht mehr nur extrem – und die Band hatte das Material vorher geprobt...! 27 Songs in 34 Minuten, die Songlängen variierend von 20 Sekunden bis zu üppigen 3:13 Minuten beim kriechend langsamen Opener „Evolved As One“, ein völlig abgedrehtes GITARRENSOLO beim 40-sekündigen „Uncertainty Blurs the Vision“, das folgende „Cock Rock Alienation“ regelrecht strukturiert – aber dann auch immer wieder Tracks, die dahinrasen wie Lawinen, Bass und Gitarre sind kaum auseinander zu halten, Fuzz-getränkt wie sie sind, Lee Dorrians Vocals mögen unverständlich sein, er legte aber großen Wert auf seine anti-kapitalistischen Lyrics – und es war klar, was er da „kreischte“. From Enslavement... ist nicht einmal wirklich extremer Metal, es ist eigentlich nur extrem. Zum Entsetzen aller Fans gepflegter Rockmusik lobte Radio DJ Guru John Peel die Band zum wiederholten Male, und das Album schoss auf Platz 1 der UK Indie-Charts. Nach diesem Album sollten Lee Dorrian und Gitarrist Bill Steer die Band verlassen und mit ihnen ging anscheinend der Hardcore-Geist und Napalm Death wurden zu einer weit Death Metal-lastigeren Band, die auch ihre Verdienste hatte, aber so einzigartig wie hier würden sie nie wieder klingen.








Dienstag, 7. März 2017

1984 - Der Wald stirbt und Menschen sterben in Bhopal - Metallica bis Coil

1984 ist das Jahr des gleichnamigen Romans von George Orwell, aus diesem Anlass beschäftigen sich viele Medien mit dem Datenschutz etc. Der Waldzustandsbericht in Deutschland bescheinigt, dass 50 % des Waldes geschädigt ist. In der Stadt Bhopal in Indien sterben Tausende bei einem Giftgasunfall (Union Carbide), die Indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi wird bei einem Attentat umgebracht. Der AIDS-Erreger wird genetisch entschlüsselt. Dürren und Missernten in Äthiopien führen zu Hunderttausenden von Toten, US-Präsident Reagan macht vor einer Wahlveranstaltung beim Mikrophon-Check üble Scherze über die Bombardierung der UdSSR – und Alle hören mit. Marvin Gaye wird von seinem eigenen Vater bei einem Streit erschossen. Count Basie und Jackie Wilson sterben da schon eines natürlicheren Todes. 1984 ist wie oben gesagt eine bedeutungsschwere Jahreszahl; es ist ein Jahr, in dem einige der für die 80er typischsten Künstler (Bruce Springsteen, Madonna, Prince) ihre kommerziell erfolgreichsten Platten veröffentlichen sollen, aber auch ein Jahr in dem einige der Klassiker des Independent-Rock erscheinen. The Smiths, Hüsker Dü, die Replacements, Echo & the Bunnymen, alles Bands mit großen Platten in diesem Jahr. Metallica haben zuvor schon den Thrash-Metal erfunden und liefern jetzt einen seiner Höhepunkte ab, Sade verbindet Jazz auf's angenehmste mit Soul, und löst eine kleine Jazz-Pop Welle aus, Frankie Goes to Hollywood sind eine Saison lang DAS Ding in der Popmusik, auf der Seite der E-Musik erscheint Arvo Pärts Tabula Rasa, eine Platte mit klassischer Musik auf einem Jazz Label, die immensen Einfluß auf die experimentelle Seite der Rockmusik haben soll. Dennoch: Es ist die Mitte der 80er und irgendwie gibt es neben den genannten Highlights auch etliche Ohrverletzungen: Yes' „Owner of a Lonely Heart“ wird die Radiosender genauso verseuchen wie Tina Turner's Comeback und Phil Collins' blöde Popmusik. Oder der Soundtrack zum unsäglichen Film Footloose – mir bis heute ein Rätsel, warum so etwas in die Charst kam. Und dann säuseln etliche abgehalfterte Pop-Stars gemeinsam voller Bewunderung für die eigene Güte ein Lied titels „Do They Know Its's Christmas?“ und prägen damit die nächsten 30 Jahre Weihnachten in unseren Wohnzimmern.

Metallica

Ride The Lightning


(Music For Nations, 1984)

und hier das Album, das in den kommenden Jahren als Gussform für gelungenen Thrash Metal stehen wird – wobei man Master of Puppets, den Nachfolger von Ride the Lightning durchaus zu Recht noch über dieses Album stellen könnte. Aber warum wählen...? ich kann ja beide Alben besitzen und anhören. Die Erwartungen an Metallica waren nach dem gelungenen Debüt ziemlich hoch, die Band hatte durch extensives Touren inzwischen einiges an Kraft und Reife gewonnen, nun gingen sie zur Produktion ihres zweiten Albums nach Dänemark, zum respektierten Produzenten Fleming Rasmussen – vermutlich hatte Drummer Lars Ulrich- selber dänischer Abstammung – da auch seine Finger im Spiel – und setzten all ihre neu gewonnene Erfahrung und ihr Talent ein, um den Erwartungen gerecht zu werden. Sie hatten sich auf der ganzen Linie verbessert. Das Songwriting auf Ride the Lightning ist (fast) durchgehend auf hohem Niveau. Sie haben zu einer gelungene Mischung aus Kraft, Schnelligkeit und Komplexität gefunden, James Hetfield hat inzwischen viel besser in seine Rolle als Sänger gefunden, er scheint die Limitierung seiner Stimme zu akzeptieren und nutzt sie als Stilmerkmal – und beeinflusst damit etliche andere Sänger. Kirk Hammett, der ja zunächst „nur“ Ersatz für den Gitarristen Dave Mustaine war, spielt immer einfallsreicher und darf nun auch mitkomponieren – auch wenn der Titelsong des Albums und das Instrumental „The Call of Ktulu“ noch in der Zeit vor dem Debüt von Mustaine mitkomponiert worden waren. Bassist Cliff Burton zeigt im Instrumental ein weiteres mal, was für einen großen Bassisten die Welt verlieren sollte, und die ganze Band geht virtuos mit dem komplexen Material um. Ride the Lightning lebt aber vor Allem von den drei als Single ausgekoppelten Thrash Klassikern “Fade to Black", "Creeping Death" und „For Whom the Bell Tolls“. Diese Songs sind bis heute ungeschlagene Klassiker des Metal - egal welchen Mikro-Genres - und es sind dementsprechend Songs, die die Band bis heute (über dreißig Jahre später) auch live spielt. Gegen diese Drei fällt das restliche Material tatsächlich leicht ab – auch wenn weniger talentierte Bands für einen Song wie„Trapped under Ice“ vermutlich morden würden. Man muss Eines beachten: Das Album erschütterte zunächst einmal nur die Welt der Kuttenträger und Metal-Fans, noch waren Metallica „nur“ die großen Hoffnungsträger in einer Sparte, die seinerzeit noch recht hermetisch war. Metal war nur für Eingeweihte „cool“, noch gab es keinen Mainstream-Erfolg, aber wer hinhörte, konnte erkennen, dass hier noch einiges zu erwarten war – und für Fans harter Musik gehört dieses und das folgende Album in den Kanon der Klassiker.

Hüsker Dü

Zen Arcade


(SST, 1984)

Zen Arcade, das zweite Album von Hüsker Dü ist die Platte, die die Grenzen des ansonsten so hermetischen Hardcore und Punk-Genres in den USA in ganz neue Bereiche verschoben hat. Bob Mould und Grant Hart trauen sich hier einige Dinge die man im Hardcore so noch nicht kannte: Zunächst einmal ist da der Umstand, dass Zen Arcade ein Konzeptalbum ist – auch noch ein Doppelalbum - mit einem Song von über 13 Minuten Dauer, es gibt Experimente mit Tape Loops, es gibt Pop und akustische Instrumentierung und das harder, faster, louder des Hardcore wird ignoriert und somit einfach außer Kraft gesetzt. Sie hatten schon ein paar Monate zuvor mit einer halsbrecherischen Version von „Eight Miles High“ von den Byrds gezeigt, wo sie hin wollten. Sie wollten Hardcore versetzen mit 60s Psychedelia, Folk, Rock 'n' Roll, Pop, und ihrem gitarrengetriebenen Wall of Noise. Und wer dem Trio zuvor zugehört hatte, hatte vielleicht schon bemerkt, dass sie unter diesem Lärm auch tolle eigene Songs versteckten. Auf Zen Arcade kamen diese Power-Songs zum Vorschein wie Klippen in der Strömung. Das unheimliche „Pink Turns to Blue“, das rasende „Something I Learned Today“ und viele andere Songs auf diesem Album haben neben der ungeheuren Dynamik auch noch Pop-Appeal - im Hardcore eigentlich undenkbar. Kaum zu glauben, dass all das in gerade mal 85 Stunden aufgenommen wurde. Kommende Generationen von Musikern sahen hier, was auch im Hardcore möglich war und die Kollegen von den Minutemen ließen sich sprichwörtlich sofort beeinflussen – siehe unten.... Und Hüsker Dü war nun ganz offensichtlich mehr als nur eine Hardcore Band mit einem ganz eigenen Sound - und SST wurde zum besten Label der Achtziger – zwei weitere Beweise folgen.

Minutemen

Double Nickles On The Dime


(SST, 1984)

Dass die meisten Menschen in den Achtzigern lieber Mötley Crue und Michael Jackson hörten, ist schon irgendwie traurig. Wirklich tragisch wird es, wenn man im Vergleich Double Nickles On The Dime, dieses Füllhorn an Ideen und Stilarten hört. Es ist das überbordende Doppelalbum einer der größten Hardcore Bands mit 45 kurzen Funk-Punk Ausbrüchen – und es ist NICHT Hüsker Dü's Zen Arcade, sondern ein völlig eigenes, gleichwertiges Album – gesegnet sei das Jahr 1984.... Den Minutemen gelang es tatsächlich – inspiriert natürlich von dem einen Monat zuvor erschienen Doppelalbum der Label-Kollegen - keinen der 45 Songs überflüssig erscheinen zu lassen. Zehn Tracks als wilder Warm-up, dann ein kluger und irgendwie immer noch aktueller Monolog über Politik, Gesellschaft und das Leben in Amerika zur Zeit der Reagan-Administration. Unterlegt wird das Alles mit kraftvollem und eigenständigem Post-Punk vom großartigen D. Boon als Gitarrist und Sprech-Sänger und vom kraftvollen Bass von Co-Writer Mike Watt. Michael Jackson wird mit dem „Political Song for Michael Jackson to Sing“ gedisst, sie erinnern an ihre Einflüsse aus dem Hardcore und geben uns den Klassiker „Our band could be your life“. Das Van Halen (!Ain't Talkin' 'bout Love“) - bzw. Steely Dan Cover („Dr. Wu !“) funktioniert genau so gut wie das eigene Material, kurze, explosive Songs voller Hooks und Melodien. Nach dem Hören all dieser Songs ist man erschöpft - als Doppel LP ist Double Nickles.. am besten zu genießen, da man dann vier Seiten hat.

PS: Der Begriff „Double Nickles“ übrigens bezieht sich auf die Geschwindigkeitsbegrenzung von 55 m/ph in den USA..

Meat Puppets

II


(SST, 1984)
 

 

Ende der Achtziger gab es diesen Begriff „Cowpunk“ - mit dem ich eigentlich nicht wirklich etwas anfangen konnte. Punk und Country vermischen ? So sehr Musiker wie Willie Nelson und Johnny Cash als Outlaws durchgehen, mit Punk haben sie wenig zu tun - meinte ich jedenfalls. Als ich aber dann das zweite Album der Meat Puppets zu hören bekam, konnte ich mich mit diesem Begriff aussöhnen. Es sind junge Musiker, die Punk und Hardcore aufgesogen haben, und sich auch von Country beeinflussen lassen – so wie sich Bands wie Grateful Dead in den Sechzigern Country einverleibten – zumal die Meat Puppets deren Spaß an Gitarrenexkursionen teilen (Siehe etwa „We're Here“). Der Vergleich mit Grateful Dead passt auch, wenn man sich anhört wie leicht dahingeschludert sich hier so mancher Song anhört – wohlgemerkt – ich halte genau das für eine große Kunst. Der erste Song - „Split Myself in Two", ist noch nah am Punk, „Plateau“ klingt dann aber schon surreal, nach Peyote und einer Nacht in der Wüste, und nur Curt Kirkwoods immer etwas unsichere Stimme kann Lyrics singen wie „holy ghosts and talk show hosts are planted in the sand to beautify the foothills and shake the many hands.'Für „New Gods“ steigern sie nochmal das Tempo, aber sie haben - wie andere SST Bands auch – immer die Kontrolle über das, was sie machen, klingen nie angestrengt, sondern so, als wäre alles nebenbei gespielt. Und „Oh Me“ ist wunderschön und seltsam – kein Wunder, dass Kurt Cobain das Album und die Band so sehr verehrte, dass er diesen und zwei weitere Songs coverte – er war eben immer auch Fan. Und dann ist da noch das Instrumental „I'm a Mindless Idiot“ - wie kann man nur so leicht Hardcore und instrumentale Finesse vereinen? Seltsamerweise ist keiner der Songs länger als drei Minuten – einige unter zwei Minuten lang, aber man verliert sich in der Musik, so dass die knapp 30 Minuten von II zugleich länger und viel zu kurz scheinen. Es gibt keine andere Band, die so klingt, wie die Meat Puppets zu dieser Zeit. Einzigartig

 

Lloyd Cole & The Commotions

Rattlesnakes


(Polydor, 1984)


Eines der großen Pop-Alben der 80er Jahre, zugleich ein sträflich unbekannt gebliebenes und für mich fraglos eines der besten Alben des Jahres 1984. Lloyd Cole war erst 23 als er Rattlesnakes aufnahm, und er war ein Frühvollendeter, ein Songwriter der schon auf der Höhe seiner Kunst war. Tatsächlich hat er danach zumindest keine komplette Songsammlung mehr geschafft, die besser war, auch wenn so manches Solo-Album später einige Perlen enthält. Aber Tracks wie das Titelstück ,“Perfect Skin“ oder gar das unglaubliche „Forest Fire“ sind vielleicht noch zu widerholen, aber man kann die Qualität kaum steigern, Cole singt mit einer Stimme, die die Emotionen offensichtlich unterdrückt seine Lyrics und sein Stil sind eigenständig, haben eine distinguierte britishness unter der sich bekanntermaßen die großen Gefühle verbergen können. „Are You Ready to be Heartbroken ?“ ist das Portrait eines mit der Liebe und anderen Wirrungen Überforderten, „2CV“ der lakonische Bericht über die Affäre mit einer älteren Frau. Textzeilen wie „Must you tell me all your secrets, / when it's hard enough to love you knowing nothing?“ sind unterlegt vom Jangle Pop der Commotions, bei denen insbesondere Neil Clark's Gitarrenton mit einem altmodischen Twang Akzente setzt. All dies macht diese LP zum Klassiker – und zum erkennbaren Einfluss auf spätere Bands wie Belle and Sebastian.

 

David Sylvian

Brilliant Trees


(Virgin, 1984)
 

David Sylvian war zu Beginn der 80er ziemlich erfolgreich mit seiner Band Japan, und er wurde auch noch als „the most beautiful man in pop“ bezeichnet, was nicht im Geringsten mit seinen musikalischen Ansprüchen einherging. Was also tun ? Sylvian entschied sich, es so zu machen wie dereinst Scott Walker, der gerade vor ein paar Monaten nach Jahren des Schweigens sein neues, rätselhaftes Solo-Album veröffentlicht hatte. Band auflösen und auch ein „schwieriges“ Solo-Album machen. Das Ergebnis war Brilliant Trees und schon die Liste der Kollaborateure zeigte, wo es hingehen sollte: - unter anderem Folk/Jazz Koryphäe Danny Thompson (bass), ECM-Kammer-Jazzer Jon Hassell (trumpet) und Kenny Wheeler (trumpet/flugelhorn), Ryuichi Sakamoto (synths) und Can's Holger Czukay (guitar, Dictaphone, French horn) – und all diese Kunsthandwerker und Künstler kreierten unter Sylvian's Ägide gemeinsam ein Album, das den logischen Gipfel aus progressivem Pop und dämmrigem Funk mit ECM-Jazz Ästhetik und Elektronik verbindet: Das fließende „The Ink in the Well“ (mit Wheeler's Solo), das majestätische „Red Guitar“ und der Blick in Sylvians Vergangenheit mit dem wissenden „Pulling Punches“. Und trotz all der Anti-Pop Referenzen: Brilliant Trees sollte zunächst den Pop Star Status seines Erschaffers ausbauen: Es landete in den UK Charts auf einem unfassbaren Platz 3. "That was just people giving me the benefit of the doubt," sagte Sylvian später. "They soon knew better."

 

The Smiths

s/t


(Rough Trade, 1984)



The Smiths

Hatful Of Hollow


(Rough Trade, Rel. 1984)
 



Das Debüt der Smiths war im Jahre '84 in vieler Hinsicht ein revolutionäres Album – ein Ausbruch aus unseligen Sackgassen wie Synth-Pop, New Romantic und düsterem Post Punk. Aber die Klasse von The Smiths und seinem Nachfolger Meat Is Murder wurde vom '86er Album The Queen Is Dead sowie der Compilation Hatful of Hollow übertroffen. Hätten die Smiths nur dieses Debüt veröfffentlicht, dann bekäme es die Wertschätzung, die es verdient hat. Oberflächlich gesehen war der Sound der Smiths im britischen Gitarrenpop verwurzelt, aber bei genauem Hinhören sind das Songwriting, Johnny Marrs exzellentes Gitarrenspiel und Morriseys Texte und Gesang schon auf diesem Debüt erstaunlich subversiv. Die Songs sind zwar catchy und melodisch, aber die Struktur ist mitunter äußerst unkonventionell. Und dieses Songwriting wird durch Morrisey Texte -über Homosexualität („Hand in Glove“) Pädophilie und Mord - noch exzentrischer und innovativer. Morrissey trug dazu seine literarischen und ironischen Texte mit einer Stimme vor, die übergangslos von klassischem Crooning zu hysterischem Überschlag wechselte. Die Produktion von The Smiths mag einfach gehalten sein, aber die Songs allein sind große Kunst, und sie brauchen nicht mehr – obwohl genau diese Produktion – bzw ihre Mängel – der Grund war, warum das Album nach den wundervollen Singles ewig auf sich warten ließ. Schon 1983 war Steven Morrissery eine schwierige Diva.... Und damit wurde mit Hatful of Hollow, - wie gesagt eigentlich nur einer schnöden Zusammenstellung von Singles der Band - weit deutlicher erkennbar, welche Klasse The Smiths seinerzeit hatten. In guter alter britischer Pop-Tradition sahen sie ihre Singles als eigenständige Statements an, die nicht auf den ein paar Monate später veröffentlichte Longplayer gehörten: So war die Veröffentlichung von solch wunderbaren Singles wie „William, It Was Really Nothing,“, dem sardonischen „Heaven Knows I'm Miserable Now“, „Please, Please, Please Let Me Get What I Want“ oder gar dem fantastischen, tremolo-geladenen „How Soon Is Now?“ für alle Fans ein Segen. Hinzu kamen auf dieser Compilation rohere BBC Versionen einiger Songs vom Debüt und andere Raritäten. „Girl Afraid“, „This Charming Man“ - all das sind Songs die - vielleicht besser noch als das Debütalbum - deutlich machen, welchen Reiz diese Band ausübte und warum die britische Presse einen derartigen – ausnahmsweise mal berechtigten - Hype veranstaltete. Hatful of Hollow mag als Sampler dem Debüt zwar überlegen sein. Unverzichtbar sind aber eigentlich beide Platten. Das großartige Corporate Design aller Veröffentlichungen der Smiths ist da nur noch ein zusätzliches Bonbon.



R.E.M.

Reckoning


(I.R.S., 1984)


Wenn es eine Band gibt, die für den glaubwürdigen Übergang vom Underground in den Mainstream steht, dann sicher R.E.M. Mit ihnen gelangte der Begriff „Alternative Rock“ über die College-Radios der USA zu den großen Radiostationen - und eine Musik in das Bewußtsein der Öffentlichkeit, die zuvor nur eingeweihten Kreisen bekannt war. Mit ihrem Debüt Murmur hatten sie schon im Vorjahr mehr als nur den Underground erreicht, für ihr zweites Album öffneten sich R.E.M. musikalisch, ließen sich wieder von Don Dixon und Mitch Easter produzieren, die den Live-Sound der Band noch besser einfangen sollten, und klangen dementsprechend direkter. Zugleich nahmen sie ihre Post-Punk Einflüsse zurück, und erdeten ihr Songwriting für Reckoning weit mehr im Country als auf dem Vorgänger. Aber natürlich ist das Country im R.E.M. Stil, Musik die eher an Byrds und Gram Parsons orientiert ist, als an George Jones und Johnny Cash. Von Beginn an war ihr einzigartiger Band-Sound die größte Stärke dieser Band - egal welcher Stil den Songs zugrunde lag, sie klangen immer nach dieser einen Band. Dank Sänger Michael Stipe, dank Gitarrist Peter Buck und dank des melodischen Bassspiels von Mike Mills waren sie unverwechselbar. Und dazu gibt es großartige Songs auf Reckoning: - „Pretty Persuasion“ und „Harborcoat“ sind Country/ Folkrock, teils düster, aber durch die einfallsreichen Arrangements immer spannend. Beste Songs aber sind „(Don't Go Back To) Rockville“ - ihre zweite Single - sowie die desolate Country Ballade „So, Central Rain“ in der Stipe im Chorus so verzweifelt „I'm Sorry“ herausheult - auf das Peter Buck mit diesem tollen Gitarrenriff antwortet. Spätesten jetzt war klar, die waren für Größeres bestimmt – und die Independent-Moralaposteln konnten natürlich schon den Ausverkauf vorhersagen.



The Replacements

Let It Be


(Twin Tone, 1984)


Manche sagen, die Quintessenz dessen, was Rock'n'Roll bedeutet, wurde von The Clash auf ihrem Großwerk London Calling eingefangen. Dasselbe könnte man auch über Let it Be von den Replacements sagen. Es ist die perfekte Synthese aus Aggression und äußerster Finesse beim Songwriting, die dieses leider viel zu unbekannte Album zu einem Ausnahmewerk machen. Die Replacements hatten als eine Art Looser-Punk-Band begonnen, hatten erratische Konzerte und chaotische Alben gemacht und waren vor Allem „trotzdem“ immer noch da... und nun hatten sie bzw. ihr Songwriter Paul Westerberg beschlossen, nicht mehr nur laut und wild zu sein, sondern auch echte Songs zu schreiben. Zunächst war Peter Buck von R.E.M. Als Produzent im Gespräch gewesen, aber da hatte die Band noch nicht genug Songs beisammen. So ließen sie sich vom Minneapolis-Musiker Steve Fjelstad und von ihrem Manager und bekennenden Beatles-Fan Peter Jesperson produzieren (der den bewusst gewählten Titel der LP vielleicht garnicht mal so lustig fand...) Ein Song wie "Androgynous" ist perfekt gerade durch die raue Produktion, überhaupt gab die Tatsache, dass hier nicht - wie in den 80ern üblich - „clean“ produziert wurde der Musik eine besondere Glaubwürdigkeit. Und es mag Millionen von Songs über's Erwachsenwerden geben, aber "Sixteen Blue" ist sicher einer der Besten, weil Sehnsüchtigsten. Oder der Albumcloser "Answering Machine". - mit seinen fantastischen, pointierten Gitarren, dem sehnsüchtigen Gesang und seiner großartigen Melodik ist es DER Song über romantische Obsession. Und die Replacements coverten sogar Kiss' „Black Diamond“ und machten sich auch diesen Song zu eigen. 1984 jedenfalls war Let it Be die Zukunft des Rock'n'Roll und das Beatles-Zitat im LP-Titel war nicht unangebracht..



Coil

Scatology


(Force and Form, 1984)


Peter "Sleazy" Christopherson verließ 1983 Throbbing Gristle und Psychic TV um kurz danach mit Jhon Balance zusammen das Projekt Coil zu gründen. Und bis zu Balance's frühem Tod schlug dieses Duo einen singulären, düster-magischen Pfad durch die Musikwelt. Literarisch, intensiv, inspiriert von Mördern, Häretikern, Philosophen, Surrealisten, Alchemisten und kontroversen Autoren machten sie eine Musik weit weg von der Mitte der Popwelt. Scatology ist Coil's erstes (und spartanischstes) Album – ein beunruhigender Mix aus Okkultem, Vulgärem und Transzendentalem. Die Geister von Psychic TV und Throbbing Gristle schweben natürlich über der Musik der beiden Grenzgänger während sie versuchen einen seltsamen Bastard aus Pop und gespenstischer Improvisationsmusik mit rituellen Anklängen zu erschaffen. „Panic“, „Godhead - Deathhead“ und „Aqua Regis“ haben noch den Industrialcharakter der Musik der vorherigen Bands inklusive ratternder Drum-Machines und Gitarrenlärm. Die Stimme von Gavin Friday von den ähnlich grenzgängerischen Virgin Prunes macht aus „Tenderness Of Wolves“ ein Schalchtfest, das von Charles Manson inspirierte „Solar Lodge“ ist nicht nur thematisch beängstigend. Und Marc Almond's Hit „Tainted Love“ beendet in der fatalen Version von Coil das Album als düsteres Requiem für alle AIDS-Toten