Samstag, 27. Januar 2018

2001 – Jackie O-Motherfucker bis Pärson Sound – Folk ist frei !!

Na ja, Folk wurde natürlich viel früher befreit. Spätestens als Ende der Sechziger Bands wie Fairport Convention oder The Pentangle Pop und Jazz beimischten. Aber wenn man das kleine Wort „Free“ vor irgendeine Stilbezeichnung setzt, hat das eine zusätzliche Bedeutung – ist doch der Begriff (bzw. die Aufforderung...) „Free Jazz“ durch Ornette Coleman's epochalen Ausbruch aus den Regularien des Jazz für jeden (der davon weiss...) mit bestimmten Vorstellungen verbunden – mit der Vorstellung von Lärm, (mehr oder weniger strukturiertem) Chaos etc. Vereinfacht gesagt bezeichnet der Begriff Free Folk eine Form der psychedelischen Folk-Musik der Jahre um die Jahrtausendwende , der ein paar Eigenschaften dieses „befreiten“ Jazz innewohnt. Auch da werden kurz Songfragmente angedeutet - und dann laufen die Handelnden improvisierend in verschiedene Richtungen auseinander – das haben sie mit Free Jazz gemein. Aber es gibt eben auch andere Einflüsse, die hinzukommen: Unter dem Begriff Free Folk sammeln sich etliche Bands mit Musikern aus den Bereichen der Avantgarde und der experimentellen Musik, die allesamt auch einen Bezug zur traditionellen amerikanischen Folk Musik haben bzw. suchen. All das nennt man bald „New Weird America“, Freak Folk oder eben Free Folk – Musik, die Enflüsse aus American Primitivism, Drone, experimenteller Musik im Allgemeinen mit diversen Spielarten des Folk zusammenbringt. Die ersten Alben vieler solcher Bands bestehen aus Field Recordings, elektronischen Störgeräuschen und langen Improvisationen, Themen aus diversen altehrwürdigen Musiktraditionen dienen als Startpunkt und werden endlos gestreckt und gedehnt und verbogen. Neben den Bands und Alben von 2001 siehe auch weitere Alben aus anderen Jahren von Charalambides, Six Organs of Admittance, Spires That in the Sunset Rise, den wunderbaren Natural Snow Buildings (die vielleicht auch eine Form des „Drone“ spielen ??) - oder von der Third Ear Band von 1970, oder Improvisationen von Bands wie Can und Amon Düül...(als frühe Beispiele). Die Grenzen zum psychedelischen Folk der End-Sechziger bis frühen Siebziger sind durchlässig. Und wegen der Menge der Einflüsse habe ich hier für das Jahr 2001 einige Alben unter diese Überschrift gepackt, die Erbsenzähler nicht unterbringen würden. Ganz unten werde ich ein paar weitere Alben empfehlen – und das ist dann eine dieser Aufzählungen, die sich in einer Woche wieder ändern würde... Und Achtung! Was hier folgt, ist mitunter anstrengende Musik, die vermutlich nur Initiierte (oder Verrückte) wirklich sofort mögen können.

Jackie O-Motherfucker


Liberation

(Road Cone, 2001)

Das letztjährige Fig. 5 ist vielleicht das weniger anstrengende, eher an „Songs“ orientierte Album des sich ständig wandelnden Kollektives aus Portland. Die Gruppe um den Multi-Instrumentalisten Tom Greenwood hatte ein Jahr später vermutlich einfach eine Zusammensetzung, die nun besser für improvisierten Space-Folk geeignet war. Aber bei Jackie O-Motherfucker ist Veränderung Programm, die Band lebt von der Abwechslung und Entwicklung durch ihre unterschiedlichen Inkarnationen – und in den Jahren von '99 bis 2002 etablierten sie sich mit WOW ('99), Fig. 5, Magick Fire Music (beide 2000) und eben Liberation als eine der richtungsweisenden Formationen des „Free-Folk“ - oder sagen wir besser – der Improvisationsmusik zwischen Folk, Psychedelik, Post-Rock und Avantgarde. Wie man sieht - es ist nicht einfach, diese Musik (auch auf den unten folgenden Alben) in Kategorien einzuordnen, man muss versuchen sie zu beschreiben: Man denke an das Art Ensemble of Chicago und deren Bap-tizum, an Amon Düül und Can und auch an die Live Exkursionen von Grateful Dead. Man stelle sich vor, wie ein simples zwei- bis drei Noten-Thema von Gitarre oder Keyboard vorgegeben wird, und darüber und darunter etliche Instrumente (Drums, Gongs, Celli, Banjo etc...) je nach Fasson des Benutzers eine spontane Begleitung kreiert. Dazu werden Bläser, Turntables, elektronische und akustische Instrumente eingesetzt – Alles ist möglich und wird auch gemacht. Ich stelle mir eine Land- Kommune vor, in der friedlich und ohne den Zwang zur Virtuosität gejammt wird – und komme damit vermutlich der Wahrheit sehr nah. „Tea Party“ und „Pray“ sollten für den Novizen als Pole der Musik auf Liberation dienen: Das 2 ½ minütige „Tea Party“ erinnert an Can's „Future Days“, das über 9-minütige „Pray“ mit eher konventioneller Struktur und elektronischen Drones lässt an Neu! Denken – und wer es ganz experimentell haben will, kann sich den neunzehn Minuten von „In Between“ aussetzen. Post-Rock ohne akademische Spielereien und ohne dessen verzweifelte Wucht. Kein Wunder, dass das respektable WIRE Magazin Liberation als eines der besten Alben 2001 nominierte. So wie das Album der....

Jackie-O Motherfucker - Liberation 

No-Neck Blues Band

Sticks and Stones May Break My Bones but Names Will Never Hurt Me

(Revenant, 2001)

Die New Yorker Improv-Kollektiv No-Neck Blues Band existierte 2001 schon fast zehn Jahre lang, hatte etliche Alben auf Kleinst-Labels in Miniatur-Auflagen veröffentlicht und in all der Zeit fleißig gejammt. Irgendwann war American Primitivism Koryphäe John Fahey auf die Band aufmerksam geworden, hatte Gefallen an ihnen gefunden – und sie auf seinem Label unter Vertrage genommen, um nun ihr erstes „reguläres“ Album zu veröffentlichen. Als Produzenten holte er mit Jerry Yester eine Legende hinzu, die über zwanzig Jahre zuvor schon Leute wie Tim Buckley und Tom Waits produziert hatte. Die Musik der No-Neck Blues Band auf dem barock benannten Sticks and Stones May Break My Bones but Names Will Never Hurt Me ist ein Amalgam aus Blues, Folk, Country, Bluegrass, Psychedelia und Krautrock – eine Kombination, die nur in der Postmoderne, in der Jedem alle Ideen zur Verfügung stehen, entstehen kann. Absicht der No-Neck Blue Band war es von Beginn ihrer Experimente an, sich vom elitären Bild des „Musikers“ im Vergleich zum „Nicht-Musiker“ abzugrenzen: Sie wollten die Musik einer hypothetischen frühen Gesellschaft neu erschaffen, in der jeder nach Lust, Laune und Fähigkeit seinen Beitrag leistet – hört sich ideologischer an, als es ist. So schöpfte das Septett aus allen Quellen, die passend erschienen ohne Grenzen zu akzeptieren. Durch jahrelanges Zusammenspiel waren die Songs inzwischen fein ausgearbeitet – in der Struktur einfach, mit viel Platz für Improvisation, aber mit dem Wissen, was wo hin passt. Die Vorbilder werden im Pressetext zum Album klar benannt: „Creedence Clearwater, Beefheart, Royal Trux, Dock Boggs, und Sun Ra aus der Zeit seiner Heliocentric Worlds Alben" - und aus diesen Quellen schöpfend spielt die Band sich gern in Trance, kehrt aber dann auch immer wieder ganz diszipliniert ins Hier und Jetzt zurück. Wie alle hier aufgeführten Alben: Nichts für den Freund konzisen Songwritings, die Tracks mäandern durch den Urwald der Improvisation – aber wenn man hören will, wo Folk hin führen kann...

No Neck Blues Band - Natural Bridge


Pelt


Ayahuasca

(VHF, 2001)

Wenn ich den Bewertungen der rateyourmusic-Gemeinde trauen darf, ist Ayahuasca eines der drei „besten“ Free Folk-Alben aller Zeiten – und es ist ein sehr spezielles Album. Über zwei Stunden Musik, die meist auf den durchgespielten Drones solch seltsamer Instrumente wie Dulceola, Tanpura, Esraj und tibetanische Riesenklangschale basiert. Dazu dröhnt ständig die Rückkopplung einer elektrischen Gitarre über den einzelnen, bis zu 25-minütigen Tracks. Also wieder harter Stoff. Und auch Pelt existieren schon seit fast einem Jahrzehnt, Kopf des (zu dieser Zeit) Trio's ist der Saitenvirtuose Mike Gangloff, der hier mit Patrick Best und Jack Rose und ein paar Gästen improvisiert. Vor Allem der John Fahey-Bewunderer und Gitarrist Jack Rose , der hier die Gitarrensounds beisteuert (… und der einige sehr beachtliche Solo-Alben gemacht hat..) steht vermutlich hinter den deutlichen Bezügen zur altehrwürdigen amerikanischen Folkmusik. Ein Track wie „The Cuckoo“ hat den Titel und ein melodisches Grundgerüst vom Original von Clarence Ashley aus den Zwanzigern – wird aber hier der Lyrics entblößt und als Drone in die Länge gezogen. Den Bezug zur alten amerikanischen Folkmusik – oder sagen wir's genauer – zur legendären Complation Harry Smith's Anthology of American Folk Musik von 1952 - haben Pelt mit vielen hier versammelten Bands gemein. Und ich will bestimmte Aspekte dieser Musik noch um das nerdigen Faktenwissen ergänzen, dass „Ayahuasca“ eine Droge ist, die von den Schamanen der indigenen Bevölkerung Südamerikas benutzt wurde, um in Trance zu geraten – und nach Verwendung dieser Droge klingen die 10 Tracks auf der Doppel-CD auch. So entstehen Free-Form Improvisationen mit Einflüssen aus indischen Ragas, Musik aus dem mittleren Osten und der eben schon genannten Musik der Apallachen – das Ergebnis ist dicht, meditativ und spannend - und sehr angenehm. Diese Forschungsreise in Folk und ethnische Musik hat mehr Tiefe und klingt natürlicher, als die Versuche etlicher anderer Kollegen. Ayahuasca hat seine Position in der Welt des Free Folk nicht zufällig inne.

Pelt - The Cuckoo


Sunburned Hand of the Man


Jaybird

(Manhand, 2001)

Auch Sunburned Hand of the Man sind eher Kollektiv als Band mit festem Personal. Hier trafen sich in den Neunzigern in Boston ein paar musikalische Freigeister unter dem Namen Shit Spangled Banner um Musik „irgendwo zwischen Sonic Youth und den Melvins“ zu machen. Wenn man einen Musiker als Bandkopf bezeichnen will, wäre es über die Jahre der recht experimentierfreudige Drummer John Moloney, aber das Personal ändert sich bei Sunburned Hand... ständig - und bald begannen die musikalischen Vagabunden und Drop-Outs, die sich in einem Loft in Boston trafen, Einflüsse aus amerikanischem Folk, Drone, Free Jazz und Space Rock in diese Musik zu integrieren und eine fast unüberschaubare Anzahl von Alben auf dem eigenen Manhand Label zu veröffentlichen. Auf dem 2001er Album Jaybird gelang es dem Projekt, dann endlich, die bisher ungeordnet durcheinander schwebenden Elemente aufeinander abzustimmen. 2001 ist das Jahr, in dem – wie hier gesehen - auch einige Gleichgesinnte einen kreativen Schub erlebten. Jackie-O Motherfucker, Tower Recordings, die No-Neck Blues Band (die so etwas wie eine Schwesterband zu Sunburned Hand... sind) - sie alle scheinen in dieser Zeit einen Kreativitätsschub zu erleben, ein Publikum zu finden - und Anerkennung bei Musik-Kritikern zu bekommen. Das oben schon mal erwähnte Avantgarde-Musik-Magazin WIRE berichtetzu Beginn der 00er verstärkt über diese Bands und die ganze „Free Folk Szene“ (die eigentlich keine ist...) – und schon hören mehr Leute einer doch recht speziellen und hermetischen Musik zu. Jaybird zeigt die Band in einem bestimmten Moment, schon auf dem Weg in neue Richtungen – was für die meisten Bands dieses improvisationsfreudigen Genres gilt. Die Tatsache, dass Drummer Moloney großen Einfluss hat, gibt ihrer Musik eine „Funkyness“, die die anderen Bands nicht haben. Aber auch hier gilt: Ein Track wie der Titelsong mag sehr rhythmisch sein, aber die ersten zehn Minuten klingen nicht sehr anders als die folgenden sechs-einhalb. Es ist inspirierte Jam-Band Musik mit Folk- und Avantgarde Stilistik. Das war zu dieser Zeit angesagt – und ist immer noch spannend, wenn man Lust darauf hat. Will sagen: Ich kann diese Musik nicht immer hören, aber manchmal ist sie toll... 

Sunburned Hand of the Man - Featherweight 

The Tower Recordings


Folk Scene

(Communion Label, 2001)

...und ein weiteres Kollektiv. Die New Yorker Tower Recordings wechseln seit Mitte der Neunziger beständig Personal und Label und sehen sich eher als freie Gemeinde, die ihre Musik je nach Konstellation improvisiert. Zum vierten Album Folk Scene treffen mit u.a. ihrem De Facto-Anführer Matt Valentine und Erika Elder (die sich gemeinsam MV & EE nennen und ein paar ganz hervorragende Folk-Alben machen werden... ) und Sean Roberts als Gitarrist und Produzent, sowie mit einer ganzen Reihe von weiteren Künstlern zwischen Folk, Improvisationsmusik und Kunst ebensolche Freigeister zusammen, wie auf den oben genannten Alben. Aber so ähnlich der Hintergrund dieser „Bands“, so unterschiedlich die Ergebnisse: Folk Scene ist nicht vergleichbar mit Ayahuasca etwa: Das Album baut weniger auf unendliche, mantra-hafte Jams als vielmehr auf das collagenhafte Zusammensetzen von Song- und Sound-Ideen. Die Tracks dauern zwischen 19 Sekunden und 5 ½ Minuten, aber die Unterbrechungen zwischen ihnen scheinen frei gewählt, mal taucht eine konzise Song- Idee auf und wird ein paar Minuten später wiederholt, mal wartet man auf eine Wiederholung, die nicht kommt, und mal werden Field Recordings mit galaktischen Soundeffekten zu anstrengenden avantgardistischen Geräusch-Collagen zusammengebaut. Als Ergebnis wird ein Gefühl der Desorientierung erzeugt, aber wer einen klassischen Songreigen erwartet, dürfte in diesem Kapitel nichts zu suchen haben. Auch für Folk Scene gilt: Es ist kein klassisches Folk-Album, Tower Recordings sind auch nicht so nah am klassischen Folk wie andere Zeitgenossen (CocoRosie, Joanna Newsom oder der weiter unten reviewte Greg Weeks), sie nehmen nur - „unter anderem“ -Folk als Ausgangspunkt für Exkursionen ins Unbekannte. Das Ergebnis ist wie gesagt anstrengend, aber wer konventionelle „Songs“ hören will, der sucht sowieso woanders. Das Material für den weit einfacheren (= etwas konventionelleren) Nachfolger The Galaxies' Incredibly Sensual Transmission Field of... wurde bei den gleichen Sessions aufgenommen. Sollte man mal vergleichen...

The Tower Recordings - Atrocity Jukebox 


...und Freak Folk...?


um bei Stilbezeichnungen zu bleiben


Wie hilflos diese Genre-Einordnungen sind, wird mir immer wieder beim Verfassen dieser Texte klar. Alben, die man in dieser Zeit genau wie zu anderen Zeiten Zeit als „Folk“ bezeichnet, könnte man leicht auch anderen Genres zuordnen - und wenn man dann auch noch feine Unterscheidungen zwischen Free... Freak... Weird... oder Psychedelic Folk macht, gerät man völlig ins schwimmen. Ich beschreibe ab hier Alben, die Liebhabern von Bands wie der No-Neck Blues Band eben auch gefallen könnten, die aber ganz gewiss nicht Eigenschaften wie Drones, ausgedehnte Improvisation, zerlaufende Songstrukturen, wenige und nicht-erzählerische Lyrics wie beim Free Folk haben – die aber dennoch für die moderne Variante des Folk stehen können...


Steven R. Smith


Tableland

(Emperor Jones, 2001)

Free Folk ist ja sowieso ein Begriff, der offen für unterschiedlichste Einflüsse ist. Der Gitarrist, Instrumentenbauer und und Grafiker Steven R. Smith zum Beispiel gehört auch einem Kollektiv an – dem Jewelled Antler Collective – das sich der experimentellen Musik verschrieben hat, das neben Folk Einflüsse aus Drone, Psychedelic mit Field Recordings – Aufnahmen aus der Natur – zu einer sehr improvisiert klingenden Musik zusammenbaut – und damit in Ergenbnis und Sound doch Bands wie Pelt und Sunburned Hand... nahe kommt... zumal als Grundlage eben auch gerne Folk-Tunes unterlegt werden. Aber im Unterschied zu den genannten Bands ist der Bezug zum amerikanischen Folk weniger deutlich, Die Musik auf Tableland klingt einerseits weniger traditionsverbunden, zugleich konzentrierter, verliert sich weniger in der Improvisation. Steven R. Smith ist ein geschickter, effektvoll arbeitender Gitarrist, kein Virtuose im klassischen Sinn, sondern Einer, der den Klang der (elektrischen) Gitarre auslotet, der experimentelle und avantgardistische Gitarrenmusik macht, dabei aber nicht von der Virtuosität des Jazz ausgeht, sondern von Soundmalerei und – auch von Folk. Seine Musik hat für mich eine Aura, die an Ry Cooder's Musik zum Film Paris, Texas erinnert – es ist Desert Music – was wohl so falsch nicht ist. Smith selber betonte im Interview mit The Quietus seinen Bezug zur Mojave – Wüste nahe L.A.. Das zentrale Titelstück von Tableland etwa ist eine glühende, sechzehn-minütige Meditation mit Gitarre, weit weniger repetitiv und weit „amerikanischer“ als die langen Tracks von Pelt oder anderen Bands dieses Artikels. Tableland mag kein (Free) Folk-Album sein, aber es dürfte den selben Hörern gefallen – und es ist eines der besten (von sehr vielen...) Alben eines Musikers, der zu dieser Zeit die Grenzen traditioneller Musik ebenso erweitert, wie die anderen hier vertretenen Bands. Ganz nebenbei: Man beachte auch Smith's Projekte Ulan Khool, Thuja oder Hala Strana 

Steven R. Smith - Blood Partridges 


Faun Fables


Mother Twilight

(Drag City, 2001)

Hier nun die nächste Facette der von den Begrenzungen althergebrachter Traditionen befreiten Folkmusik – wenn man die Aufforderung „...free Folk...!“ (befreie Folk!) mal wörtlich nehmen will. Wobei Faun Fables eher mit der onomatopoetisch so ähnlichen Genre-Bezeichnung „Freak Folk“ zu beschreiben wären. Das heißt, sie gehen von traditioneller – hier britischer – Folkmusik aus, und fügen modernere oder zumindest zuvor ungenutzte Elemente hinzu – verlassen aber eher nicht das Songformat.... Das US West Coast Duo Faun Fables besteht aus Dawn "the Faun" McCarthy (Die u.a. mit Bonnie „Prince“ Billie = Will Oldham zusammenarbeiten wird...) und aus Nils Frykdahl – zwei Musikern, die ihre Vergangenheit in Anarcho-Punk, Paganism und psychedelischem Folk auf ihrem ersten gemeinsamen Album zusammenbringen und eine traumverlorene, extrem eskapistische Atmosphäre schaffen – wodurch sie in einer weit songorientierteren Reihe mit Freak Folk Acts wie CocoRosie stehen. Hier mäandern die Melodien zwar ähnlich dahin, wie bei Pelt und den Tower Recordings, aber sie tragen eine gesungene Geschichte, sind dadurch näher am Song-Format - und besonders beeindruckend ist, wie Dawn McCarthy aus jedem Text eine Anrufung macht, ein Herbeirufen von Elfen und anderen Traumgestalten. Sie erzeugt Tierlaute und verfällt ins ekstatische Yodeling, scheint selbst erstaunt über ihr Verschwinden in ihrer Traumwelt, wenn sie singt "my arms out before me, the bushes don't ignore me". Frykdahl hat ein beachtliches Arsenal von Instrumenten zur Verfügung, das mal McCarthy's Melodien und Stimme folgt, mal von ihr verfolgt wird. Mother Twilight ist ein Traumtagebuch, intim, intensiv, seltsam und mutig. Fans von Comus, der Incredible String Band und frühen Dead Can Dance mögen sich hier wiederfinden – und für Fans von Joanna Newsom oder genannten CocoRosie waren Faun Fables wohl ZU verdreht. Beeindruckend ist die Zeitlosigkeit und der sehr eigenwillige Charakter der Musik der Faun Fables. 

Faun Fables - Train 


Greg Weeks


Awake Like Sleep

(Ba Da Bing, 2001)

Der Gitarrist, Keyboarder und Singer/Songwriter Greg Weeks wiederum macht 2001 mit seinem zweiten Solo-Album eine Platte, die irgendwo zwischen psychedlischer Musik, Avantgarde a la Nico und Folk sitzt… wobei der Folk-Bezug für mich haupsächlich daher kommt, dass er bald mit der Band Espers moderne Folkmusik = Freak Folk spielen wird. Also: Meinetwegen ist Awake Like Sleep kein (Free) Folk – andererseits ist es ein Album, das ich jedem Hörer moderner Folk-Musik empfehlen würde. Weeks konnte ein paar Jahre zuvor aufgrund einer Erkrankung nicht mehr Gitarre spielen und hatte begonnen auf einer kleinen Spielzeug-Orgel seiner Stimmung entsprechende düstere Songs zu komponieren, war aber zunächst daran gescheitert die Ergebnisse befriedigend aufzunehmen. 2001 hatte er dann die Idee, die Instrumental-Passagen von Freunden – insbesondere von Low's Allan Sparhawk – aufnehmen zu lassen und sich selber hauptsächlich auf den Gesang zu konzentrieren. Das Ergebnis ist ein Album, das zwischen psychedelischer und elektronischer Musik, Folk Noir, Stereolab, Robert Wyatt und Nico changiert. Da gibt es Kraut-Rock-artige Drones bei „Past Four Corners“, da lassen Harmonium und Cello von „I Will Fall to Meet Her“ die unterschwellige Unruhe von Stereolab entstehen. Weeks' Stimme ist trügerisch sanft, reicht fast an Robert Wyatt's tragisches Falsett heran – zumal die Lyrics nun einmal nicht besonders fröhlich sind. Dass hier und da Schlagzeug und Bass rhythmische Akzente setzen, verhindert das wegdämmern – und natürlich die Tatsache, dass Greg Weeks sich schon hier als kluger Songwriter präsentiert. Er vermeidet Klischees, hat wunderbare Songs wie das Wiegenlied „Sleep Right“ - die das asketische Klangbild locker vertragen. Awake Like Sleep spielt in einer ganz eigenen Kategorie – und es wird von mir nur in diesen Zusammenhang gebracht, weil Greg Weeks eben „auch“ den Folk-Einfluss durchscheinen lässt. Beim morbiden Cover-Shoot hat Weeks ziemlich gefroren, aber das Motiv ist sehr passend gewählt...

Greg Weeks - Sleep Right 


Danielson Famile


Fetch the Compass Kids

(Secretly Canadian, 2001)

Auch die Danielson Famile macht seit Jahren Musik, die einzuordnen jedem schwer fallen dürfte – deren Folk-Wurzeln aber so tief reichen, dass ich sie hier ganz passend untergebracht finde. Die Band um Daniel Smith existiert seit Mitte der Neunziger in verschiedenen Inkarnationen, hat einen etwas seltsamen Ruf in Indie-Zirkeln in den USA – wird einerseits etwas schief angesehen wegen ihres (bis zu diesem Album) eindeutigen christlich-religiösen Gebarens und entsprechenden Lyrics, wird andererseits aber für ihre abenteuerllich schräge Herangehensweise an Songwriting und Arrangements von Kollegen wie Sufjan Stevens sehr bewundert. Live treten sie gerne in Schwestern/Pfleger-Tracht auf, dazu singt Daniel Smith mit kindlich-kreischender Falsett-Stimme Songs zwischen Kinderlied und Folksong, Sesamstrasse, Marschkapelle und der Incredible String Band. Bisher wurden sie von Indie-Produzenten-Koryphäe Kramer betreut, bei ihrem ersten Album für das kredible Secretly Canadian Label arbeiten sie mit Steve Albini zusammen – der wohl eher mit Bands des intelligenten Hardcore verbunden wird. Sieht man sich an, welche Musiker Smith als Einflüsse benennt, versteht man die Wahl schon besser (u.a. Albini's Ex-Band Rapeman, Sonic Youth, die Pixies oder Captain Beefheart...) Fetch the Compass Kids dürfte ihn mit einigen für ihn ungewohnten Instrumenten und Arrangements zusammengebracht haben, die seltsam versetzten Rhythmen werden mit Glockenspiel und Marsch-Trommeln geschlagen, Trompeten und Posaunen erklingen, ein Kinderchor setzt ein und über allem kreischt Daniel Smith fröhliche Botschaften heraus. Das könnte ja lächerlich sein, aber die naive Unvoreingenommenheit, die begeisterte Wucht machen Songs wie „We Don't Say Shut Up“ oder „Rallying the Dominoes“ seltsam liebenswert bis beeindruckend. Die Lyrics und der Gesang sind ganz sicher Gewöhnungssache, aber die Kinderlied-Arrangements bei diesen seltsam klugen Songstrukturen sind auf jeden Fall gelungen – und lassen Verstehen, was Sufjan Stevens an diesem Kollektiv so schätzt. Die Frage, ob Fetch the Compass Kids nun Folk ist, ist unerheblich, ICH finde, die die Danielson Famile ist wirklich die Incredible String Band der Postmoderne. Und der religiöse Background mag in Europa befremdlich erscheinen – aber was das angeht sind die USA sowieso fremdes Territorium.

The Danielson Famile - Rallying the Dominoes  


Pärson Sound


s/t

(Subliminal Sounds, Rel. 2001)

Und mit diesem Album kehre ich zum Titelthema dieses Kapitels zurück – zum „befreiten“ Folk – zum Freak-Out mit Beinen im Folk, im Psychedelic Rock und im Drone. Und dabei ist dieses Album eine späte Erst-Veröffentlichung von Tracks aus den Jahren 1967/68... Das Multi-Instrumental-Sextett Pärson Sound entstand aus der Asche eines Projektes mit dem Avantgarde-Musiker Terry Riley (Sie sollten ihn bei der Live-Performace seines Werkes In C in Schweden begleiten), sie eröffneten diverse Shows in Schweden für die Doors, wurden nach New York in Andy Warhol's Factory eingeladen – und veröffentlichten Zeit ihrer Existenz keinen Ton. Dass zu Beginn der 00er Jahre diese 2+ Stunden Musik aus obskuren Archiven erschienen, passt zu den Acts der Stunde und zum Sound dieser Tage – was wiederum erkennbar macht, dass sie mit dieser Musik ihrer Zeit voraus waren bzw. immer neben den Trends herliefen bis sie endlich in eine musikalische Entwicklung passten. Nach ihrem Ende gingen Pärson Sound in namhafte schwedische Progressive/Folk Rock Bands auf, firmierte in diversen Inkarnationen unter Namen wie Harvester, International Harvester und Träd, Gräs & Stenar, aber unter all diesen Namen beleuchteten sie letztlich nur Aspekte dessen, was Pärson Sounds in den beiden Jahren ihres Bestehens ausmachte. Man könnte ihre Musik als „stoned hardcore hippy jam“ beschreiben – und damit das Gleiche meinen, was Bands wie Sunburned Hand of the Man oder die No-Neck Blues Band um die Jahrtausendwende machten. Da scheinen The Grateful Dead auf Can, Comus und japanischen Extrem-Improvisatoren zu treffen, da werden gemeinsam Folk-Melodien angespielt, die Beteiligten laufen auseinander und jammen nach Herzenslust – geraten in extrem atonalen Bereiche um sich dann in lyrischen Passagen wiederzutreffen. Da sind psychedelische Monolithen wie „From Tunis to India in Fullmoon (On Testosterone)“ und „India (Slight Return)“, die vielleicht ZU lang sind – aber wollen wir das in dieser Musik nicht genau so? Da gibt es das fast halb-stündige „Skrubba“, basierend auf einem einzigen Basslauf, das bis dahin unerforschte Drone Bereiche erreicht, dagegen ist das gerade mal sieben-minütige „On How to Live“ regelrecht erholsam in seiner stringenten Melodik. Man hatte damals wohl trotz der Freigeistigkeit der Zeit nicht den Mut, ein Album zu veröffentlichen. Erst 2001 war die Zeit reif dafür. Dass die Aufnahmequalität nicht den aktuellen Ansprüchen entspricht, ist meiner Meinung nach unwichtig – weil sowieso in dieser Musik nicht notwendig. Dass man die Musik von Pärson Sound auch anders bezeichnen kann, dass man Proto-Psych Metal oder Raga-Rock sagen kann, ist mir egal. Letztlich ist das Etikett immer egal, wenn ich Musik höre...

Pärson Sound - On How To Live 

und zum Schluss...

Letztlich sind die frühen 00er Jahre eine gute Zeit für die diversen Varianten des modernisierten Folk. In den Jahren 2000 bis 2010 erscheinen etliche herausragende Beispiele für Free-, Freak- Avant- oder Psychedelic-Folk – nenn' es wie du willst. Würde ich HEUTE 10 Alben nennen müssen, die ich dem unvorbereiteten und zugleich unvoreingenommenen Hörer empfehlen sollte, so wären es die folgenden:

Third Ear Band – s/t (1970) – als Vorbild aus alten Tagen – oder man kann Torch of the Mystics (1990) von den Sun City Girls hören, die sind auch ein paar Jahre voraus.

Charalambides – Market Square (1995) Vorreiter der neuen Welle von Folk-assoziierten Freigeistern

Alphane Moon – The Echoing Grove (1999)

Jackie O-Motherfucker – Fig. 5 (2000) Erster Höhepunkt in der Diskografie des Free Folk Flaggschiffs

Pelt – Ayahuasca (2001) – bestes Free Folk Album ever – vielleicht... siehe hier oben

Jackie O-Motherfucker – Liberation (2001) Zweiter Höhepunkt – aber da kommen noch ein paar tolle Alben

Vibracathedral Orchestra - Dabbling With Gravity and Who You Are (2002) – Auch Briten können Free Folk...

Kemialliset Ystävät – Alkuhärkä (2004) – für die Finnen - in deren Heimat Free Folk ein natürliches Vorkommen zu haben scheint

Volcano the Bear – Classic Erasmus Fusion (2006) – für die ganz Verrückten... der Beweis, das Free Folk ALLES sein kann

James Blackshaw – Litany of Echoes (2008) – Sowas wie der John Fahey/Leo Kottke des freien Folk...

sowie :

Various Artists – Invisible Pyramid: Elegy Box (2005) – Eine Tour de Force durch Free Folk und Drone... und

Various Artists – Gold Leave Branches (2005) - Diese Compilations sind erschöpfend lang und nützlich – siehe mein Blog-Eintrag für 2005

http://derkleinerockhaus.blogspot.de/2017/07/2005-der-inzwischen-vollig-befreite.html

... tatsächlich sind Bands wie die Incredible String Band, Comus, Espers, Animal Collective oder Akron/Family - deren tolle Alben ich hier nicht genannt habe - im Vergleich leichter zu konsumieren und somit „kommerzieller“ und werden daher irgendwann in einem anderen Artikel über „Freak Folk“ oder „Weird Folk“ auftauchen.