Sonntag, 27. Mai 2018

2009 - Welt-Finanzkrise, Schweinegrippe und Michael Jackson's Zerfall - Flaming Lips bis Califone

Die Welt befindet sich nach wie vor im Griff der Finanzkrise. Große Veränderung in der neoliberalen Kamikazepolitik der Börsen und Konzerne sind allerdings nicht zu erkennen, denn die Lasten müssen ja nur Millionen von keiner Lobby vertretene Steuerzahler tragen und die Verantwortlichen können sich derweil sogar an ihrem Versagen via Abfindungen bereichern. In den USA wird der Hoffnungsträger Barak Obama als Präsident vereidigt und geht mit viel Elan daran, die reaktionärer Machtpolitik der USA auf Links zu drehen – gegen den erbitterten Widerstand aller konservativen und ultra-religiösen Pappnasen, für die ein schwarzer Präsident an sich schon den nahenden Weltuntergang einläutet. Im Laufe der Zeit wird sich sein Idealismus leider an der Realität und an den Widerständen abnutzen: Währenddessen kommt die islamische Welt nicht zur Ruhe: Bomben-Attentate, Terrorismus, Mord sind im gesamten Nahen Osten an der Tagesordnung. In Mexiko bricht eine Schweinegrippe aus, die auch auf Menschen übergreift, und wird zum weltweiten Problem. In Kopenhagen findet ein UN Klimagipfel statt bei dem sich wieder einmal zeigt, dass wirtschaftliche Interessen weit wichtiger sind als jede Vernunft. Man legt sich auf genau genommen Gar nichts fest, formuliert nur ein paar wohlfeile Absichtserklärungen. Der schottische Folkmusiker John Martyn und der amerikanische Songwriter Vic Chesnutt sterben, und auch Michael „Zombie“ Jackson fällt zum Entsetzen von Millionen von Fans auseinander. Seine Familie fleddert schon nach kürzester Zeit ohne jede Scham die Hinterlassenschaften. Musikalisch hat sich 2009 nicht allzu viel getan, die 00er Jahre werden in gewisser Weise noch einmal rekapituliert. Mit The xx kommen junge Menschen mit einer erfreulich minimalistischen Popmusik zu verdientem Erfolg, Psychedelic und Elektronik vereinen sich, überhaupt gibt es etliche Verästelungen in allen Bereichen der sog. elektronischen Musik. Das gleiche gilt für alle Formen von Metal, in Pop, Rock und Post Rock, in leichter bis heftigster Psychedelik – überall splittern Stilrichtungen in Mikro-Genres auf und es kommen schöne Alben zum Vorschein - die aber von der großen Masse nur nach als Download konsumiert werden und damit irgendwie an Bedeutung verlieren. Die Anzahl an Veröffentlichungen ist unüberschaubar, „große“ Bands/Musiker/Vorreiter für eine Revolution irgendeiner Art - gibt es nicht. Nur viel schöne Musik – und solche die ich ignoriere – wie etwa Madonna-Recyclerin Lady Gaga oder die inzwischen zu Stadion-Beschallern degenerierten Coldplay oder die Kneipenfolk Revivalisten Mumford & Sons, die man 5 Minuten gut fand, weil sie gerne die Fleet Foxes wären. Viel Musik = (leider auch) viel Müll weil kein Interesse der Musikindustrie am Aufbau von Künstlern mit längerer Halbwertzeit. Zumal sich die musikalischen Interessen der jungen Generation eher in alternativen Kanälen sammeln.

Flaming Lips


Embryonic

(Warner Bros., 2009)

Die Reaktionen auf das zwölfte Album der Flaming Lips sind zunächst einmal sehr gemischt. Für die Einen ist es zu durcheinander und zu weit vom inzwischen schon zehn Jahre alten Soft Bulletin entfernt, für die andern ist es ein Schritt zurück, zu nah am alten, chaotischen Stil der Lips ca 95 - und dass Wayne Coyne das neue Album selber als „sparkeling mess“ bezeichnet, unterstützt die Meinung etlicher Kritiker, die genau das als Nachteil von Embryonic bezeichnen. Für mich aber ist es eines der besten – vielleicht das beste Album eines Jahres, in dem wenig aufregend Neues erscheint. Tatsächlich haben die Lips in den letzten zehn Jahren alles zu einem Blumenstrauß gebündelt, was sie an Pop und Kommerzialität finden konnten, und diesen Strauß dann von allen Seiten ausgeleuchtet. Nun fügen sie wieder ihre Vorlieben für Chaos und Experiment, Psychose und Dunkelheit hinzu, stecken – um beim Bild zu bleiben - dornige Äste und Kakteen in den Strauß. Will sagen, es gibt etliche Passagen, die auch an den hochinfektiösen psychedelischen Bubbelgum-Pop von Soft Bulletin erinnert , in jedem Song wird man daran erinnert, dass die Flaming Lips hervorragende Songwriter sind, und mit „The Sparrow Looks Up“ gibt es sogar mindestens einen durchgehend „normalen“ Track. Aber eigentlich lauert in jedem Song ein bisschen Wahnsinn. Embryonic ist durchzogen von Distortion, Drones und dunklen Sounds, zuckenden Gitarren, verhallten Stimmen rumpelnden Bässen und endlich wieder diesen völlig übersteuerten Drums. Und weil all das über 18 Songs gestreut wird, weil jeder Song in diverse Facetten aufsplittert, ist Embryonic ein verdammt ausgedehntes funkelndes Chaos. Die Lips waren selbst in ihren kommerziell erfolgreichsten Tagen immer ein bisschen angsteinflössend – jetzt bricht die Psychose aus (was ja schon am Covershoot deutlich wird...). Man höre nur das von Karen O's Tiergeräuschen durchzogene „I Can Be a Frog“ oder den unheimlichen Bass von „Powerless“. Und wieder einmal haben sie mit „Convinced of the Hex“ einen magischen Album-Opener vorangestellt. Also: Dieses Album am besten mehrmals in zwei Zügen hören. Dann erkennt man die Klasse. 

Flaming Lips - Convinced of the Hex 

The xx


s/t

(Young Turks, 2009)

Auch wenn ihr sparsamer Sound 2009 ziemlich einzigartig ist – The xx sind keine Innovatoren. Sie haben eher zufällig eine Ästhetik entdeckt und weiter entwickelt, die es schon in den 80ern gab, die aber vergessen schien. Wobei man ihnen nicht vorwerfen sollte, sich bei alten Vorbildern bedient zu haben (Der Name Young Marble Giants fällt quasi reflexhaft immer wieder...) - sie konnten glaubhaft versichern, dass sie diese Band und ihr einziges Album von 1980 nicht kannten und dass sich ihre Klangästhetik logisch aus ihren Fähigkeiten, Ideen und Idealen entwickelt hatte. Romy Madley Croft macht aus ihrer limitierten Stimme und ihrem schlichten One Note Gitarrenspiel das Beste, indem sie einprägsame Gitarrenfiguren spielt, und mal murmelt, mal zurückhaltend singt, daneben spielt der ebenso schlichte aber abgrundtiefe Bass von Oliver Sim, der sich den Gesang mit Croft teilt. Dazu bedient Jamie Smith diverse elektronische Rhythmusmachinen – das Konzept ist mit dem der Young Marble Giants fast identisch. Entscheidend ist ja, was man 'draus macht. Und mit dem Intro, mit „VCR“ und „Crystallized“ haben die drei großartige Songs irgendwo im Spannungsfeld zwischen Post-Punk, verträumter Indietronica und Alternative R&B. Dass die Lyrics nur Themen anzureißen scheinen, so wie die Melodien immer irgendwie unfertig wirken, macht gerade den Reiz aus. Dass The xx die seinerzeit so erfolgreiche Rihanna verehrten – statt irgendwelcher altvorderen Indie Heroen – mag die Nerds verwundert haben, aber auch das ist gleichgültig, wenn ein so schlüssiges, eigenständiges Ergebnis herauskommt – gepaart mit so einer schlicht/schönen corporate identity. Ich bewundere bis heute den ökonomischen Sound (und das Coverdesign) von The xx und liebe das Album für Songs wie „Shelter“, „Islands“ oder „Infinity“. Dass dieses Konzept neben Songs bald Ergänzungen brauchen würde, war klar. Das Nachfolge-Album versuchte das weniger erfolgreich, beim dritten Album wurden sie wieder besser, und Jamie Smith würde sich in den kommenden Jahre als Jamie xx zum erfolgreichen UK Bass/House-Produzenten entwickeln. Ob The xx auch in 20 Jahren noch erinnert wird? Wer weiss? Ich kann es mir vorstellen. 

The xx - Crystalised 

Animal Collective


Merriweather Post Pavillion

(Domino. 2009)

Animal Collective


Fall Be Kind

(Domino, 2009)

Die 00er-Jahre sind musikalisch insofern enttäuschend, als es wahrlich keine bahnbrechenden Entwicklungen gibt – abgesehen von der Kommerziali- und Digitalisierung aller musikalischen Quellen. Man kann alles überall downloaden, jeder kann alles kennen(lernen), aber wirklich neue Ideen (wie Punk, HipHop, Techno etc.) gibt es nicht. Dafür werden Stilarten nebeneinander gestellt, vermischt und/oder verfeinert. IDM wird noch intelligenter, Psychedelic Music wird noch psychedelischer. Und eine der für diese Zeit typischsten Bands sind Animal Collective. Die haben es geschafft über Jahre immer bessere Musik zusammenzubrauen, eine organische Verbindung aus Folk, Psychedelik, Techno, Pop und den Beach Boys zu schaffen, die zuletzt doch einen eindeutig eigenen Charakter hat, die Stil hat und nur nach Animal Collective klingt. Ihr '07er Album Strawberry Jam war eines der besten Alben jenes Jahres und '09 veröffentlichen sie ein weiteres Album und eine tolle EP. Und Merriweather Post Pavilion, (benannt nach einer Konzert-Location in Columbia, Maryland) ist tatsächlich in einigen Bereichen eine Steigerung zum Vorgänger. War Strawberry Jam eine bewusst chaotische Ansammlung von Ideen, dann ist Merriweather... ein konziser Block. Immer noch pulsieren die Bässe, blubbern die Rhythmen, immer noch werden Versatzstücke aus Pop und Minimal Techno zu kreiselnden Tracks zusammengesetzt, die scheinbar auseinanderfliegen, um sich dann anders wieder zusammen zu fügen, immer noch überlagern sich die Stimmen der vier Musiker - und heraus kommt ein psychedelisch buntes Suchbild. Man sagt, insbesondere Panda Bear's Einfluss habe für die Pop-Obertöne gesorgt, die das Album bei aller lärmenden Farbigkeit so zugänglich und poppig bleiben lässt, aber ich denke, da war ein echtes, funktionierendes Kollektiv am Werk, das nichts mehr dem Zufall überlassen hat. Animal Collective sind keine Instrumental-Virtuosen, sondern eine Einheit, die sich aus vier Individualisten gebildet hat. Sie sind die Beatles ca. Revolver in ihrer und für diese Zeit. Ein Vergleich der auch deswegen passt, weil auch das legendäre Beatles-Album ohne Singles auskam und als Ganzes konzipiert war. Auf Merriweather... stechen Songs wie das bezaubernd-poppige „Summertime Clothes“ oder das an Mercury Rev erinnernde „My Girls“ heraus, aber letztlich muss man das Album komplett hören – und kann es kaum beschreiben, weil die Menge an Ideen so groß ist... Dass sie immer noch Ideen übrig hatten, zeigt dann die zehn Monate später veröffentlichte EP Fall Be Kind. Die ist nicht bloße Resteverwertung, sondern hat mit „What Would I Want? Sky“ (mit Grateful Dead-Sample) und „On a Highway“ zwei Kandidaten für die besten Songs der Band dabei. Die EP ist weniger verwirbelt als das vorherige Album und - sicher auch wegen der Kürze von knapp einer halben Stunde – leichter zu verdauen. Natürlich gibt es auch hier Ideen zu Hauf, hier scheint Avey Tare den Weg bestimmt zu haben (sagt man), aber genau diese EP mit ihrer Ökonomie brachte mich dazu, die Doppel-LP Merriweather... seither auch in kleiner Dosierung zu hören. Sie ist eine perfekte Ergänzung und IMO unverzichtbar.

 Animal Collective - Summertime Clothes

 Animal Collective - On a Highway

The Kilimanjaro Darkjazz Ensemble


Mutations EP

(Ad Noiseam, 2009)

The Kilimanjaro Darkjazz Ensemble


Here Be Dragons

(Ad Noiseam, 2009)

Und wieder: Ich liebe dieses Projekt/diese Band – aber kaum einer kennt sie und trotzdem gehört für mich ihre 2009er EP und Album zum Wichtigsten und Besten dieses Jahres und daher..... Ihr wisst ja. Das Kilimanjaro Darkjazz Ensemble (ab jetzt KDE) stammt aus den Niederlanden, hat sich 2000 um die Jazz/Elektronik-Musiker Jason “Bong-Ra” Köhnen und Drummer Gideon Kiers in der Kunstszene Utrechts gebildet, und war zunächst angetreten, um Musik für klassische Stummfilme zu erschaffen. Mit der Zeit erweitere und verselbstständigte sich das Repertoire und diverse andere Musiker stießen dazu, die den Sound um insbesondere „organische“ Komponenten wie Streicher, Bläser und Stimme zu erweitern. Mit der EP Mutations und dem nachfolgenden Album Here Be Dragons sind sie an einem künstlerischen Höhepunkt angekommen. Ganz einfach – es gibt keinen, der so klingt wie KDE. Diese Musik ist kein Post-Rock, kein dunkler Industrial, kein Downtempo/Trip Hop und auch kein Jazz – KDE verbinden all diese Einflüsse zu einer Musik, die sie selber Dark Jazz nennen. Eine Musik mithin, deren Reiz sich nicht so sehr aus „Songs“ speist, als vielmehr aus der entstehenden Atmosphäre. Die EP Mutations ist mit ihrer Länge von 35+ Minuten zwar ein echter „Longplayer“, aber sie hat nicht den Zusammenhalt, den das nachfolgende Doppelalbum Here Be Dragons aufweist – was Mutations nicht schlechter macht. Hier stehen die Tracks einzeln für sich, jeder scheint in einem zeitlosen Raum zu schweben, in einer nebligen Atmosphäre, in der graue Electronica-Farben über dunkelroten Jazz in schwarze Post-Rock Tönungen verlaufen. Die acht Stücke haben die gelungene Verbindung von elektronischen Texturen, jazzigen Untertönen und einer cineastischen Atmosphäre gemeinsam, die zu jedem Track Bilder entstehen lässt. Aber wenn man bei Mutations acht verschiedene Kurz-Filme sieht, dann ist Here Be Dragons der Soundtrack zu einem kompletten Film. Der Titel des Albums spielt auf die Anmerkungen auf mittelalterlichen Landkarten an, auf denen unbekannte Territorien mit dem Hinweis versehen wurden, dass dort Drachen leben könnten. Solche unerforschten Gebiete werden hier in einer Mischung aus Improvisation, elektronischer Manipulation und festgelegten Grundstrukturen vermessen. Here Be Dragons ist „organischer“ als die EP, mit Charlotte Cegarra haben die beiden Bandköpfe eine Stimme dabei, die gekonnt zwischen Blues, Jazz und Klassik changieren kann, Gideon Kiers Drumming trägt genauso zur Beunruhigung bei, wie Jason Köhnen's elektronische Sounds. Und wenn auf Mutations die Atmosphäre überhand nahm und die Melodie komplett unwichtig wurde, dann haben die Musiker hier anscheinend Wert darauf gelegt, erkennbare melodische Struktur als Insel zu unterlegen. Here Be Dragons ist der Grund, warum diese Band hier auftaucht, es ist ein nuanciertes Album, erfüllt von an- und abschwellendem Rauschen und Dröhnen, episch und zugleich subtil, eine Erweiterung dessen, was Massive Attack mit Mezzanine gemacht haben, in Bereiche, in die noch niemand vorgedrungen war – auch wenn Bohren und der Club of Gore oder das Dale Cooper Quartet in ähnlichen Gewässern segeln mögen. Übrigens unfassbar, dass das Album noch nicht vernünftig wiederveröffentlicht wurde.

 The Kilimanjaro Darkjazz Ensemble - Twisted Horizons

 The Kilimanjaro Darkjazz Ensemble - Mists of Krakatao

Fever Ray


s/t

(Rabid, 2009)

Die Schwedin Karin Dreijer Andersson hat seit Ende der Neunziger mit Honey Is Dead (sozusagen unter Ausschluß der Öffentlichkeit...) und mit The Knife (erfolgreich...) ein paar ganz famose Alben gemacht. Insbesondere Silent Shout von 2006 war eine grandiose Erneuerung von Synth-Art-Pop - avantgardistisch und zugleich zugänglich - und dass sie dann drei Jahre später unter dem Moniker Fever Ray dermaßen beeindrucken konnte, war insofern nicht überraschend. Sie war beim Geschwister-Duo The Knife gleichberechtigte Kreativ-Partnerin und hatte beschlossen, in der nach der Geburt des zweiten Kindes genommenen Pause das Material zu veröffentlichen, das sich bei ihr angesammelt hatte. Sich dazu hinter dem Alias Fever Ray zu verbergen und nicht als erkennbare „Person“ aufzutreten, stand im Einklang mit dem Konzept hinter The Knife. Die Musik auf Fever Ray ist allerdings erfreulich eigenständig. Natürlich ist ihre Handschrift erkennbar, aber sie jagt ihre Stimme durch hunderte von Effektgeräten, beim irgendwie tribalistischen „Concrete Walls“ fast bis zur Unkenntlichkeit, sie verlangsamt das Tempo im Vergleich zu The Knife und klingt dadurch – und durch eine gewisse „Faulheit“ in der Ausstattung der Songs – um einiges düsterer als auf den Knife-Alben. Interessanterweise klingt Fever Ray sehr organisch, trotz des fast ausschließlichen Einsatzes von Synthesizer, Drum-Machines und Stimmverfremdung. Sie hat Teile mit der Gitarre eingespielt, diese Samples aber dann verändert und regelrecht verschwinden lassen. Eines der deutlich erkennbaren Themen des Albums ist ihre Mutterschaft, besagtes „Concrete Walls“ behandelt das Thema aus Sicht der übermüdeten Mutter, bei Songs wie „When I Grow Up“ und „Seven“ wechselt sie in die Perspektive des Kindes – eine gewisse Distanz gehört wohl zum Konzept. Fever Ray ist ein tiefblaues, seltsam schönes, sehr eigenständiges Album mit zehn Songs, die in jedem Gewand funktionieren würden und wenn sie sich von Kram wie dem 80er Miami Vice Soundtrack oder Phil Collins beeinflusst sieht (wie sie in Interviews sagte), dann hat sie da nur das Gute verarbeitet. Dass sie zu den Live-Auftritten mit Masken und/oder bemaltem Gesicht auf der Bühne stand, ist konsequent - und so schlüssig wie das komplette Album. Und übrigens: Dass sie mit Björk verglichen wird ist kompletter Unsinn – damit tut man gleich zwei Musikerinnen unrecht.

Fever Ray - Concrete Walls 

Ben Frost


By the Throat

(Bedroom Community, 2009)

Ben Frost ist ein australischer Komponist, Musiker und Produzent, der sich in den letzten Jahren einen Namen durch seine Zusammenarbeit mit den Swans und Tim Hecker gemacht hat. Er passt hervorragend in eine Zeit, in der Alles mit Allem kombiniert wird, weil auch er sich durch Klassik, Minimal Music, Punk und Black Metal beeinflusst sieht – aber er wäre nur einer von Vielen, wenn er nicht die Fähigkeit hätte, all diese Einflüsse unter einen Hut zu bringen – mit Ergebnissen wie dem '06er Album Theory of Machines oder mit diesem Meisterstück hier. By the Throat ist elektronische Musik – oder Avantgarde, Dark Ambient, Drone, whatever - wie sie atmosphärisch dichter, härter, erschütternder und bedrückender nicht gemacht werden kann. Der Covershoot mit Wölfen in einer eisigen Industrielandschaft gibt die Stimmung von By the Throat genauso gut wieder, wie der Titel des Albums. Der Film, für den dieses Album den Soundtrack liefern könnte, wäre kein angenehmer. Da wäre der Opener „Killshot“, bei dem der elektronische Subsonic Bass die Luft aus dem Raum zu saugen scheint, da geht es weiter mit knurrenden Wölfen und dem Doom Piano von „The Carpathians“ und hört noch nicht mit dem keuchenden Rasseln am Ende des zunächst so tröstlichen „Híbakúsja“ auf. Aber es ist nicht so, dass hier einfach nur Angst erzeugt wird. „Leo Needs a New Pair of Shoes“ ist mit seiner schlichten Piano/Banjo-Melodie kühl und schön, und wenn man hinter all diese Tracks blickt, findet man eine Ansammlung liebevoller, vielschichtiger Details. Bei den Aufnahmen auf Island (wo Frost auch lebt) haben ihm das String-Quartett Aminaa und der Komponist Nico Muhly geholfen. Das Cover und die immer wieder auftauchenden Wölfe auf diversen Tracks suggerieren gewollt eine Handlung, und jeder einzelne Track ist ein Kapitel in einer Geschichte, die man selber denken soll. Das Triptychon, welches das Album beendet, reisst aus der relativen Ruhe und Klarheit von „Leo...“ mit pulsierendem Noise a la Aphex Twin heraus und endet dann im weissen Rauschen eines Testbildschirmes. By the Throat ist ein Ideen-Overkill – ein durchgehend spannendes Album von starkem Charakter – was bei dieser Art Musik keine geringe Leistung ist.

Ben Frost - The Carpathians 

The Unthanks


Here's the Tender Coming

(Rough Trade, 2009)

Mag sein dass meine Meinung, dass Here's the Tender Coming von den Unthanks eines DER Alben 2009 ist, nicht geteilt wird. Aber - hey - das ist schließlich meine Sache hier. Und die Ansicht, dass das dritte Album der beiden Geschwister Unthank + Gefolge aus dem Nord-Osten Englands das schönste Folk-Album des Jahres ist, wird zumindest von Conaisseuren geteilt. Immerhin stellt sich die berechtigte Frage, inwieweit Folk in dieser Zeit noch von Belang ist. Seit den goldenen Zeiten des britischen Folk-Rock kurz vor/nach 1970 hat sich im Genre außer seiner Elektrifizierung nicht sehr viel verändert. Die Künstler der 68er Generation sind durchaus in Würde gealtert und die Musik, die sie immer noch machen, schöpft nach wie vor aus alten Quellen. Erst die meist amerikanischen Free- und Freak-Folk Adepten der 90er haben Folk in eine weniger traditionelle, mitunter sogar avantgardistische Richtung getrieben - wobei Musiker wie Joanna Newsom oder Devendra Banhart etliche mehr oder weniger vergessene Heroen des britischen und amerikanischen Folk der 60er und 70er zurück ins Bewusstsein gehoben haben (Vashti Bunyan, Linda Perhacs, die Incredible String Band). Mit den beiden Schwestern Becky und Rachel Unthank tritt eine junge, wieder mehr alten Traditionen verpflichtete Generation ins Rampenlicht. Das sind junge Musiker, die wieder traditionelle Songs interpretieren und auf der Bühne Clog-Dance praktizieren. Here's the Tender Coming ist schon ihr drittes Album, (das erste unter dem Namen Unthanks) und sie sind nach zwei ebenfalls sehr gelungenen Alben nun zu einer neun-köpfigen Band angewachsen. Die Basis ihrer Musik liegt zwar ausserhalb von Psychedelic und Freak-Folk – aber das heisst nicht, dass sie nur die Rezepte der 60er aufbereiten. Auf den bisherigen zwei Alben als Rachel Unthank & the Winterset hatten sie neben Traditionals auch Nick Drake oder Robert Wyatt gecovert, hier wird die 60er Folk-Meisterin Anne Briggs gecovert, es gibt ein paar altvordere und einige selbst-geschriebene Songs – und sie alle bekommen durch teils recht ungwöhnliche Arrangements einen ganz eigenen und spannenden Charakter. Das extrem eingängige „Lucky Gilchrist“, geschrieben vom Keyboarder und Arrangeur Adrian McNally, klingt als wäre es von Sufjan Stevens arrangiert, „Annachie Gordon“ ist so traditionell gesungen wie sein Ursprung es verlangt, basiert aber auf der Version von Nic Jones, einem weiteren Folk Heroen der 70er. Der Fokus liegt immer wieder auf den unterschiedlichen und doch so trefflich harmonierenden Stimmen von Rachel und Becky Unthank. Man höre nur das erschütternde „The Testimony of Patience Kershaw“ - basierend auf einem Gedicht über das Leid der Kinder in viktorianischen Kohleminen oder den fröhlichen Titeltrack. Die charakteristischen Stimmen der beiden Schwestern und die intelligenten Arrangements machen Here's the Tender Coming zu einem beeindruckenden Album – zu einem, das alt und modern zugleich klingt und zu einem, das mehr Leute an Folk heranführen könnte – wenn jemand zuhören würde...

The Unthanks - Lucky Gilchrist 

Bill Callahan


Sometimes I Wish We Were An Eagle

(Drag City, 2009)

Ähnlich wie jede Form von Folk(lore)-Musik hinterlässt auch das sog. Singer/ Songwriter-Genre seit Ewigkeiten Spuren in der Populärmusik. Folk war die Grundlage, auf der Songwriter ab Mitte der Sechziger ihre Nabelschauen und Beobachtungen mit günstigenfalls gelungenen eigenen Songs, eigenen Texten und mit einem eigenen Stil in die Welt setzten. Und bis heute hat sich Nichts daran geändert, dass man jedes Jahr großartige Ergebnisse dieser Kunst in Albumform genießen kann – so wie 2009 Bill Callahan's zweites Album unter eigenem Namen (zuvor hatte er unter dem Pseudonym Smog gearbeitet...). Sometimes I Wish We Were An Eagle ist große Kunst – und steht in einer Reihe neben großen Alben von Cohen, Cave, Dylan, Drake oder Waits – und ich bin mir dessen bewusst, dass sich ob einer solchen Behauptung etliche Konservative empören werden. Ob Musiker einer jüngeren Generation die Altvorderen übertreffen können, kann man an anderer Stelle untersuchen, Songs schreiben und selber interpretieren ist eben eine alte Kunst – und ob sie in den 00er Jahren noch aktuell ist, wäre zu hinterfragen. Hier geht’s zunächst mal nur um dieses Album. Bill Callahan klang auch schon unter dem Smog Moniker wie Einer, der etwas zu sagen hatte – auch wenn er dazu eine private, mitunter fast autistische Sprache verwendete, voller hermetischer Inside Jokes und seltsamer Bilder, die man genau untersuchen musste um sie zu verstehen. Er beobachtet seine Umwelt von außen, aber der erstickenden Trauer früher Jahre ist eine gewisse Altersweisheit gewichen. Nicht dass Callahan zum Witzbold geworden wäre, aber er reflektiert seine Umwelt nun objektiver – wenn auch mit einer gewissen Boshaftigkeit wenn er beim munteren „Eid Mad Clack Shaw“ etwa singt: Love is the king of the beasts / And when it gets hungry it must kill to eat.“ Und vor Allem kleidet er seine melodisch so reduzierten Songs inzwischen in ein warmes Gewand aus Piano, schwebenden Gitarren, Geigen und Hörnern – auch wenn sein Bariton bei allen Songs erschreckend weit vorne steht. All das lässt seine unbequemen Beobachtungen angenehmer klingen, als man es bei Smog gewohnt war – was übrigens alte Fans abgeschreckt haben dürfte. Dabei sind seine Songs heute einfach nur anders gekleidet. Er hatte immer ein Händchen für schlichte, ergreifende Melodien und diese glänzen bei Songs wie „All Thoughts Are Prey to Some Beasts“ nun verführerisch (...und Callahan singt eindeutig „...Zombies“ statt „...Some Beasts“). Sometimes I Wish We Were An Eagle ist schlicht die Erweiterung und Erfüllung eines Kosmos, den Callahan in den Jahren zuvor geschaffen hatte. Es ist ein großes Album eines sehr alten Genres. So was kann man altmodische oder zeitlose Musik nennen. Mir egal, denn es ist ein tolles Album.

Bill Callahan - Eid Mad Clack Shaw 

Vektor


Black Future

(Heavy Artillery, 2009)

Das Gleiche, was ich über Singer/ Songwriter-Musik gesagt habe, kann man über „harte Musik“ = Metal in jeder Form sagen. Den gibt es schon seit 40 Jahren und immer noch treten Diamanten zu Tage. Vektor sind eine US-Thrash Metal Band aus Arizona, und mit ihrem zweiten Album Black Future starten sie ein Revival dieser speziellen Form von Metal, die bis weit in die 10er Jahre reicht. Freilich haben Vektor den Vorteil, dass sie ein Feld beackern können, das in den 80er/90er Jahren schon reichhaltig bestellt wurde. Sie müssen nicht - wie dereinst Metallica und Slayer - erst einmal einen „Stil erfinden“ - sie bauen auf dem auf, was ihre Vorbilder geschaffen haben. So ist dieses Album für eine junge Band musikalisch sehr ausgereift. Auf dem Debüt Demolition waren die Vorblider Kreator, Destruction und Voivod noch deutlich herauszuhören gewesen, auf Black Future ergänzen sie den technoiden Thrash noch um Death/Black Metal-Einflüsse von alten Helden wie Coroner und Death – insbesondere beim Gesang von David DiSanto – der mit Black Metal-Gekreische eventuelle Schwächen seiner Stimme genausogut überdeckt, wie James Hetfield es mit seinem Hardcore Gebell bei Metallica gemacht hat. Ab und zu wird Bassist Frank Chin so losgelassen, wie Metallica es dereinst Cliff Burton erlaubten und über all dem throhnt erschreckend virtuose Drumming von Blake Anderson. Dass Erik Nelson und DiSanto als Gitarristen alle Tricks ihrer Vorfahren 'drauf haben, ist da nur noch eine Selbstverständlichkeit, die zur Intensität dieses Albums beiträgt. Aber ohne solch halsbrecherische Riffgewitter wie „Oblivion“ oder das epische „Forests of Legend“ wäre alle Technik nutzlos. Wie bei allen wichtigen Metal-Alben sind es die großartigen Songs, gepaart mit instrumentaler Wucht und einem schlüssigen Kozept, die ein Album aus der Masse herausheben. Dass Vektor Voivod verehren – und deren dystopischen Sci-Fi Metal ins neue Jahrtausend heben – lässt sich schon am kvltigen schwarz-weiss Cover erkennen, aber Vektor haben mit Black Future eine willkommene Wiederbelebung des Thrash-Metal hinbekommen, indem sie ihn um einige artfremde und moderne Elemente erweiterten. Dass diese Musik nicht den kommerziellen Erfolg von Metallica zur Zeit des schwarzen Albums haben würde, versteht sich. Damals waren Metallica schließlich auch nicht mehr innovativ bzw. spannend. Vektor würden die Versprechen dieses Albums in den kommenden Jahren einlösen – wobei sie an Wucht verloren und Technik zulegten – auch ein typisches Schicksal.

Vektor - Forests of Legend 

Califone


All My Friends Are Funeral Singers

(Dead Oceans, 2009)

Beim Aussuchen der ersten und besten zehn Alben für die Jahre ab 2000 bin ich (natürlich) oft hin und her gerissen. Da gibt es etliche weitere Alben, die es verdient hätten hervorgehoben zu werden und die auch „Klassiker“ werden könnten. So gibt es '09 neben Bill Callahan's ...Eagle auch einzigartigen Singer/Songwriter Stoff von Antony Hegarty oder Mount Eerie. Grizzly Bear's Veckatimest ist ebenfalls ganz hervorragend – aber es ist genau wie die Alben von Animal Collective Psychedelic Rock 2.2 – und was ist mit dem tollen UK Bass von Shackleton oder dem Metal/Hardcore von Converge? Aber ich wähle die Alben aus, die mir im Moment am besten gefallen. So wie All My Friends Are Funeral Singers von Califone – ein Album, das irgendwo zwischen Alt-Country, Psychedelic Folk und Avantgarde hin und her schwankt. Eines, das eigentlich als „Soundtrack“ zu einem Film des Bandkopfes Tim Rutili dient – also ein Album mit filmischem Konzept. Califone sind dereinst aus der honorablen Band Red Red Meat hervorgegangen – einer Band, die in den Neunzigern mindestens mit ihrem dritten Album Bunny Gets Paid auf dem Sub Pop Label einen (der vielen) vergessenen Klassiker des alternativen Folk/Rock gemacht haben. Mit Califone war Rutili seit Beginn der 00er recht produktiv und hatte vier gelungene Alben gemacht – ich würde mindestens das Debüt (Roomsound von 2001) jedem empfehlen, der stilsicher-windschiefen Country/Folk mag, aber der Höhepunkt in der Karriere von Califone ist All My Friends Are Funeral Singers. Für Album und Film ließ die Band sich drei Jahre Zeit und weil die Songs sich an der Handlung des Filmes orientieren, ist der Flow des Albums je nach Ansicht ungleichmäßig oder abwechslungsreich. Der Film handelt vereinfacht gesagt von den Erlebnissen einer jungen Frau namens Zel, die als mit der Hilfe von Geistern Medium arbeitet und diesen Geistern helfen will aus dem Haus auszubrechen, in dem sie gefangen sind. Der Film ist bei weitem nicht so gelungen wie das begleitende Album, Rutili hat etliche gelungen Songs auf Lager – ob es sich um Balladen wie „Krill“ oder „Evidence“ handelt oder um Country-Folk-Rocker wie „Buñuel“, „Ape Like“ oder „Salt“. Immer haben die Songs seltsame kleine Haken, die sie aus dem üblichen Alt-Country Feld herausheben, immer wieder biegen die Melodien ín überraschende Richtungen ab und irgendein seltsames Zischen, Klackern oder Rauschen legt sich unter die schönen Melodiebögen. Manchen ist ...Funeral Singers aus den oben genanntn Gründen zu vielfältig, denen seien andere Alben der Band empfohlen - aber Califone (und Red Red Meat) haben ganz einfach immer seltsame Musik gemacht. Das macht den Reiz aus und bringt dieses Album hier hin..

Califone - Krill 






Mittwoch, 2. Mai 2018

1979 – Tubeway Army bis Steve Hillage – Elektronische Musik trifft Pop


Ab Ende der 70er wird erstmals „elektronische Musik“ - d.h. hauptsächlich mit Synthesizern erzeugte Musik - zu Pop. Sie wird kommerziell erfolgreich, ihre Protagonisten werden zu einem neuen, etwas distanzierter wirkenden Typus Popstar. Und dafür gibt es mehrere Gründe: Zum Einen waren Synthesizer bisher ganz einfach zu groß und unhandlich – und zu teuer gewesen. Der erste Mini-Moog z.B. wurde zwar schon Anfang der Siebziger eingesetzt, aber halbwegs bezahlbar – und technisch ausgereift - war er erst Ende der Siebziger. Hinzu kam, das „elektronische Musik“ in den frühen Siebzigern (und erst recht davor) oft zu experimentell für den Massengeschmack war. Benutzer von Synthesizern waren eher Techniker als Rockmusiker, man konnte mit Synthie weder über die Bühne rennen, noch konnte man das Publikum animieren. So waren deutsche Acts wie Cluster oder Tangerine Dream anspruchsvoll, aber sicher nicht Single-Charts-tauglich, und ihre Konzerte waren eher von langhaarigen End-Zwanzigern besuchte Messen mit langatmigen Tracks, die eher in Trance versetzten, als zum Tanzen zu animieren. Die ersten, die Pop und Elektronik zusammendachten, waren Kraftwerk – die mit kürzeren Tracks und einem bewusst roboterhaft-kühlen Konzept auch bald viele jungen Bands der Post-Punk Generation beeinflussen sollten – sowohl im Sound als auch im Auftreten. Nachdem 76-77 Punk explodiert war, nachdem sich die Vorherrschaft der instrumentalen Virtuosität zerschlagen hatte und jetzt jeder Musik machen konnte, selbst wenn er „nur“ eine gute Idee hatte, wurde eine simplere Art der elektronischen Musik möglich. Eine Musik, die auf die soziale Kälte und die aktuelle Atmosphäre der Angst und Hoffnungslosigkeit reagierte. Ich sage nur: Maggie Thatcher – ab '79 britische Premierministerin, oder die in diesem Jahr akut werdende Angst vor einem Atomkrieg, die Verschärfung des Kalten Krieges (Einmarsch der Sowjets in Afghanistan, Atom-Aufrüstung in Westeuropa...). Ich denke, all das hatte Einfluss auf die Art, wie Musik - egal ob Post-Punk oder Synthie Pop - seinerzeit klang. Somit waren die gesellschaftlichen Gegebenheiten da, die dem Synthie Pop bzw. der neuen Form der elektronischen Musik ihren Charakter gaben. Einen Charakter, der sich bis weit in die Zukunft zu einem bestimmten Bild verfestigen würde. Dem Bild, in dem Synthie-Pop kalt, hektisch, roboterhaft, unemotional, dystopisch, hartkantig etc pp (man kombiniere, wie man will) dargestellt ist. Was wäre wohl, wenn die politischen und sozialen Gegebenheiten anders gewesen wären? Aber letztlich stellen - meiner Meinung nach - die Stilmittel einer Musik nur die Verkleidung für mehr oder weniger gelungene Songs und Ideen dar. Und natürlich gibt es auch ganz am Anfangspunkt der „populären elektronischen Musik“ ganz famose Alben mit großartigen Songs von tollen Musikern...

Tubeway Army


Replicas

(Beggars Banquet, 1979)

Hiermit geht die Karriere des Gary Anthony James Webb aka Gary Numan erst richtig ab. Der androgyne Künstler hatte schon einige Zeit mit dem Bassisten Paul Gardiner und dem Drummer Jess Lidyard punkigen New Wave gespielt. Aber er hatte von Anfang an eine Vorliebe für den Sound der Synthesizer und seine Vision von Musik war eindeutig an Vorbilder wie Kraftwerk und an die dystopischen Bücher Philip K. Dick's angelehnt –. Mit Replicas setzte er dann (...nach einem guten, aber etwas konventionelleren ersten Album im Vorjahr...) diese Vorstellungen erstmals wirklich um. Wie das zu dieser Zeit normal, üblich und auch verständlich ist, spielen auch auf diesem Album Gitarre, Bass Drums eine zentrale Rolle – aber dennoch – der intensive Gebrauch von Synthie Sounds und Numan's androgyne, bewusst kühle Stimme geben dem Album eine Atmosphäre, die an Cyberpunk-Bücher/Filme wie Neuromancer oder Blade Runner erinnern (sollen). Aus der zeitlichen Entfernung betrachtet sind auf Replicas Bowie, Wire, Eno und Kraftwerk zu gleichen Teilen präsent – überlagert von einer Zugänglichkeit, die keiner der vier genannten üblicherweise anzubieten gewagt hätte. Und wirklich – Replicas wurde im UK zum Millionenseller, kam sogar in den USA an und bescherte Numan zwei bis drei Jahre echten Ruhm – und mit „Are Friends Electric“ einen ganz großen Klassiker. Dazu kommen Songs wie „Down in the Park“ (später u.a. von Marilyn Manson gecovert – der sich Gary Numan genau angeschaut haben dürfte...) oder mit „When the Machines Rock“ und dem tollen „It Must Have Been Years“ die notwendigen Tracks um dem Album als Ganzes zu seiner Klasse zu verhelfen. Tatsächlich macht diese Dystopie um Maschinen, die den Menschen als notwendigerweise auszurottende Spezies ansahen, viel Spaß. 

Tubeway Army - Are Friends Electric 

  Gary Numan


The Pleasure Principle

(Beggars Banquet, 1979)

Numan nutzte den Erfolg klug, um gerade mal sechs Monate später sein erstes Solo-Album hinterher zu schieben. Der Schritt war logisch – er ließ den Freund Paul Gardiner weiter den Bass bedienen, aber The Pleasure Principle ist „synthetischer“ als Replicas, Gitarren und Drums werden nun komplett durch synthetische Percussion, Mini- und Polymoog ersetzt – und es hat mit „Cars“ einen Hit, der auf beiden Seiten des Atlantik einschlug. Numan hatte seinen Sinn für Pop mit dem Tubeway Army-Album bewiesen und bestätigte diesen hier noch einmal. Man könnte es so ausdrücken: Hätte Brian Eno einen Vertrag mit dem Teufel abgeschlossen, bei dem er die Hälfte seiner Haare gegen die Hälfte seines Genius eingetauscht hätte, so wäre ER wohl Gary Numan. Pleasure Principle hat wieder einige sehr gelungene Tracks, funktioniert als komplettes Album. Es gibt kein Konzept wie bei Replicas, aber die Themen sind immer noch futuristisch/roboterhaft und hier mehr noch als auf Replicas herrscht eine Kühle, die im Kontrast zur Wärme der poppigen Melodien zu stehen scheint. Mit dem instrumentalen Opener „Airline“, mit „Metal“, das die Sehnsucht eines Androiden beschreibt Mensch zu werden, und vor Allem mit dem wunderbar melodischen „M.E.“ war er am Puls der Zeit - wenn nicht sogar seiner Zeit voraus. Nicht verwunderlich, dass „Films“ bald von der HipHop-Szene genauso gerne gesampelt wurde wie Kraftwerk. Aber dieses Album mit seinen Ein-Wort-Titeln hatte mit Telekon zwar noch einen gelungenen Nachfolger – aber dann war erst einmal Schluss. Numan versank, als Synth-Pop erwachsen wurde für lange Zeit in der Bedeutungslosigkeit.

Gary Numan - Cars 


Human League


Reproduction

(Virgin, 1979)

'79 haben wir's nicht mehr lange bis Orwell's 1984 – und Aldous Huxley's Brave New World scheint auch nicht mehr weit weg. Da liegt ein Albumtitel (und ein LP-Cover) wie Reproduction genauso nahe, wie der Titel der des Tubeway Army Albums Replicas... Dazu die allgemeine gesellschaftliche Stimmung und der Trend zur Synthetisierung von Popmusik – Human League und ihr Konzept sind ein logisches Ergebnis all dieser Einflüsse. Die drei Musiker + Visual Artist waren schon '77 zusammengekommen, hatten aber im Gegensatz zu Tubeway Army/Gary Numan von Beginn an mehr Interesse an Experimenten (...der Kraftwerk-Art...) als am Punk. So wurde dann nach einem kleineren Hit („Being Boiled“ - erst auf späteren Re-issues enthalten) das Debüt Reproduction in drei Wochen mit Produzent Colin Thurston in der Industriestadt Sheffield aufgenommen. Dieser hatte die entsprechende Vita, hatte Bowie und Iggy Pop in Berlin mit-produziert und kam mit dem rein auf Synthie-Sounds und Rhythmen basierenden Sound von Human League gut zurecht. Human League sind etwas weniger „Pop“ als Numan, ihre Songs haben manchmal eine bewusst kalte, dystopische Atmosphäre, an den zwei Jahre später durchbrechenden kommerziellen Stärken wird noch gearbeitet – was man allerdings heute wohl nicht mehr so wahrnimmt – diese Musik mag '79 fremd und neu geklungen haben, heute sind wir da weiter. Auch Human League bezogen sich (wie Numan) in ihren konzeptuellen Lyrics auf Sci-Fi Autoren wie Phillip K. Dick (Der Opener „Almost Medieval“ zitiert Dick's Ubik) und bei „Blind Youth“ wird J.G. Ballard behandelt. Die Coverversion des 60er Phil-Spector-Schmachtfetzens „You've Lost That Loving Feelin'“ wird zur Cyberpunk-Tragödie, perfekt inszeniert für Phil Oakley's theatralischen Gesang. „Circus of Death“ ist regelrecht erschreckend, „The Path of Least Resistance“ und das meditative „The Word Before Last“ zeigen aber auch, dass diese Band Pop sein kann. Kein Jahr später kam mit Travelogue die Fortsetzung, aber dann verließen Martyn Ware und Craig Marsh 2/3 der kreativen Kräfte die Band um Heaven 17 zu formen und Human League morphten zu einer perfekten Synth-Pop Maschine mit einem ganz tollen und weit erfolgreicheren Album (Dare (1981) – siehe ebendort...) Reproduction und in geringerem Maße Travelogue) aber sind die innovativeren und interessanteren Alben.

Human League - You've Lost That Loving Feelin' 


The Sparks


No 1 in Heaven

(Virgin. 1979)

...und schon verlasse ich die „reine Lehre“ des Synthie Pop - No 1 in Heaven ist schließlich schon das achte Album eines Duo's das zu Beginn der Siebziger in L.A. entstand – und das zwar für den Klang der Synthie's wie geschaffen war, sich aber erst einmal dort hin entwickeln musste. Und mit ihrem '79er Album sind die Sparks angekommen. No 1 In Heaven ist... Equally cheesy and sublime, much like the very concept of heaven itself. Produziert vom Disco-Papst (damals wie heute) Giorgio Moroder klingt die Musik auf No1 in Heaven heute fast unheimlich modern, insbesondere wenn man bedenkt, zu welcher Zeit sie aufgenommen wurde. Das hier ist Synthie-Disco aus einer Zeit, als es so etwas nicht gab! Chic und Sister Sledge – so toll sie waren – machten „analoge“ Disco-Musik mit den Mitteln des Funk und Soul, mit dem Instrumentarium der 60er, die Sparks mit Giorgio Moroder bauten auf No 1 in Heaven fast komplett auf synthetische Sounds (bloß die Drums waren „menschlich“) und waren damit einem großen Teil ihres bisherigen Publikums weit voraus. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass die beiden Mael-Brüder schon als Halfnelson zwar exzentrischen, aber doch immerhin noch „analogen“ avantgardistischen Pop-Rock gespielt hatten – und dass mindestens die direkt folgenden sehr erfolgreichen drei Alben Kimono My House, Propaganda und Indiscreet auch ungewöhnlich, aber nicht ungewöhnlich instrumentiert waren. Mit Moroder und dem Umzug nach Europa wagten die Beiden den Schritt Richtung „elektronische“ Popmusik. Und das war ganz klar bewusst gewagt, ganz klar am Puls der Zeit und deutlich vor den meisten anderen Musikern ihrer Generation (Nur Bowie hatte wie erwähnt schon zwei Jahre zuvor elektronische Spielereien + Pop gewagt). So ist No 1 In Heaven der Beweis, dass die Sparks für Synthies geschaffen sind (oder umgekehrt), dass sie ihre unwiderstehlichen Songs und die brillianten, beissend ironischen Lyrics nicht verändern müssen, um sie in Moroder's Produktion einzupassen. No 1... ist kein kühles, dystopisches Roboter-Album, sondern exzentrische, kluge Popmusik mit den Mitteln von Disco und Synthie-Pop, und Songs wie „La Dolce Vita“ oder die Hit-Single „Beat the Clock“ balancieren geschickt auf dem Grat zwischen Hysterie und Coolness, Disco und kluger, sehr eigenständiger elektronischer Musik. Das Album ist nach ökonomischen 34 Minuten vorbei – mehr braucht es nicht.

Sparks - La Dolce Vita 


Ungepoppte Elektronik...


Das Feld „elektronische Musik“ ist Ende der Siebziger schon ein weit ausgedehntes. Da gab es zu Beginn der Siebziger neben den Elektro-Pop Pionieren Kraftwerk in Deutschland noch die „Berlin School“ mit Tangerine Dream und Klaus Schulze, da waren Bands wie Ashra und Cluster/ Harmonia, die wiederum mit Brian Eno herummachten – der wiederum vor kurzem Ambientmusik erfunden und ausdefiniert hatte und nebenbei David Bowie's Musik mit elektronischen Sounds übergoss (Siehe Low und Heroes...). Es gab außerhalb Deutschlands frühe Elektronik-Rock-Acts wie wie White Noise oder die Silver Apples sowie diverse Industrial/ Minimal Synth Acts wie die verrückten Amerikaner The Residents und Suicide oder die weiter unten erwähnten Schotten Throbbing Gristle. Und die alle haben Wurzeln bei aus der modernen Klassik schöpfenden Musikern wie Karl-Heinz Stockhausen oder John Cage. Das Feld der Inspirationen ist weit, die Geschichte der mit elektronischen Mitteln manipulierten/ gesampelten Musik ist auch Ende der Siebziger schon lang – und jetzt kommen die oben genannten jungen Synthie-Popper dazu, die mit neuen Mitteln erzeugte Musik populär machen. Es sind Musiker, die Avantgarde mit Elektronik und Punk und/oder Pop verbinden. Und es kommen aus genannten Gründen (Erschwinglichkeit des Synthesizers...) immer mehr Sound-Extremisten ans Tageslicht, die den Synthesizer für herrlich-schrecklichen Krach nutzen. Bands wie Cabaret Voltaire (die schon seit '73 existieren, aber jetzt erst Alben veröffentlichen) oder die US Amerikaner...


Chrome


Half Machine Lip Moves

(Siren, 1979)

Chrome aus San Francisco existieren auch schon seit '76. Sie haben '77 – mit konventionellen Mitteln (= Gitarre, Bass, Drums) im Bandformat mit Alien Soundtracks ein großartiges Noise/Punk-Album gemacht. Inzwischen bestehen sie im Grunde nur noch aus dem Gitarristen/ Bassisten Helios Creed und dem Synthesizer Spezialisten Damon Edge der auch das Drumming selber erledigt und dazu singt wie Iggy Pop. Dieser experimentelle „Punk“ ist stark von Creed's Synthesizer-Noise geprägt - der schafft auf diesem Album eine dystopische Stimmung aus seltsamen Sounds, während Edge dunkel-psychedelische Gitarrensounds darüber legt. Heraus kommt Musik, die im Niemandsland zwischen Elektronik und Punk liegt, die unbequem ist und von Schlieren aus Maschinenöl und LSD durchzogen scheint. Half Machine Lip Moves beginnt mit dem fragmentarischen „TV as Eyes“, das sich im Verlauf in einen Drone verwandelt, der durch TV-Kommentare zerfetzt wird. Aber das Album hat durchaus auch „konventionelle“ Passagen – nicht nur weil Damon Edge Bass/Gitarre einsetzt, sondern auch, weil es Tracks gibt wie das Power-Pop-artige „March of the Chrome Police (A Cold Clamey Bombing)“, bei dem Edge mit hämischer Stimme über primitivem Maschinen-Beat einer normalen Songstruktur folgt. Aber überall dort, wo diese normalen Strukturen erscheinen, wird eine schmierige Schicht aus Noise, Gesprächsfetzen und der bis ins unkenntliche verzerrten Stimme 'drübergegossen. Das Album entspricht dem Cover, es ist irgendetwas zwischen Noise, Punk und Industrial – und es ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die Genre-Ordnung, die ich so frech anwende, nie einer „reinen Lehre“ folgt.

Chrome - TV As Eyes 


Throbbing Gristle


20 Jazz Funk Greats

(Indstrial, 1979)

20 Jazz Funk Greats ist wahlweise die x-te Veröffentlichung, das dritte Album oder das erste „richtige“ Studioalbum der Industrial/Dark Ambient/Minimal Synth Pioniere aus Schottland. Sie haben seit Mitte der Siebziger extremsten Noise-Terror mit Synthies und skandalösen Konzepten voller Nazi/Porno-Symbolik betrieben, sie sind bei Teilen der Musikpresse regelrecht verhasst, aber sie haben die Grenzen der Musik nach Punk in Richtungen vorangetrieben, in die ihnen jetzt weit weniger extreme und kommerziellere Acts folgen. Ich bin mir sicher – ohne Throbbing Gristle gäbe es Human League, Soft Cell oder Cabaret Voltaire nicht – auch wenn der NME ein paar Monate zuvor im Zusammenhang mit Throbbing Gristle den „death of music“ vorhergesagt hatten. Lustigerweise sind Titel und Cover von 20 Jazz Funk Greats der ironische Versuch, kommerziell zu wirken. Der cheesy Covershot wurde zwar an den Kreidefelsen von Beachy Head, einem DER Selbstmörder-Hotspots Englands hergestellt, aber Sleeve-Design und Albumtitel lassen auf den ersten Blick wohl kaum an avantgardistischen Industrial denken – was beabsichtigt war: Man wolle unschuldige Käufer mit dem Cover dazu verführen, Musik zu hören, die schockiert. Und dabei ist 20 Jazz Funk Greats nach TG-Maßstäben – fast konsumentenfreundlich. Die vier Musiker haben unter dem Pseudonym Sinclair/Brooks selber sehr sauber produziert, arbeiten quasi ausschließlich mit Synthie's, und haben ein paar Tracks dabei, die nahezu tanzbar sind. Und auch das gehört zum Konzept – man macht ein paar touristische Ausflüge in die Bereiche Disco und Exotica um die Prinzipien des musikalischen Marketings ad absurdum zu führen. Schlau ausgedacht - und sehr schön, wenn es gelingt. Die LP beginnt mit zwei strengen, fast atonalen Soundcollagen – eine womöglich an besagtem Beachy Head aufgenommen, ehe Wortfetzen „Still Walking“ ans Songformat rücken. „Convincing People“ IST dann ein Song – mit verstörenden Lyrics, genau wie der „Hit“ des Albums, das an Disco angelehnte „Hot on the Heels of Love“, bei dem Cosey Fan Tutti wortlos ins Mikro stöhnt oder das perverse „Persuasion“, das mit Genesis P. Orridge's monotonem Geschwätz perfekt das Image von TG vertont. 20 Jazz Funk Greats ist – auch wenn vergleichsweise „kommerziell“ - verstörend, unbequem – und es gilt zu Recht als eines der visionären Alben für die kommende Dekade.

Throbbing Gristle - Hot on the Heels of Love 


Cabaret Voltaire


Mix-Up

(Rough Trade, 1979)

Cabaret Voltaire sind die nord-englischen Cousins von Throbbing Gristle (...und haben ihre ersten Tapes auf Throbbing Gristle's Industrial Label veröffentlicht ...). Sie existieren schon seit '73 und sie haben – wie TG - bislang als Performance-Künstler mit Dada-Einflüssen und Tape-Manipulationen gearbeitet und sind u.a. zusammen mit Joy Division aufgetreten: Seit dem Ende der Siebziger nutzen sie inzwischen erschwingliche Synthesizer um ihr Art von extremer, von elektronischen Sounds durchzogener Musik umzusetzen. Mix-Up ist nach einigen EP's und Singles das erste komplette Album des Quartetts. Noch sind sie deutlich von Punk beeinflusst, machen ihren Lärm mit Bass, Gitarre, Drums und Synthies, aber die Einflüsse von Post-Punk und Avantgarde, die Vorbilder Suicide oder meinetwegen Kraftwerk auf einem schlechten Trip sind deutlich hörbar. Im Gegensatz zu TG lassen sie sich von Dub und Funk beeinflussen – und sie haben insbesondere Krautrock mit seinen motorischen Beats gefressen. Dafür vermeiden sie die expliziten Provokationen ihrer Kollegen – und sind somit ein bisschen genießbarer. Mix-Up ist nicht ihr bestes Album (das wäre Red Mecca von '81), aber mit dem durch Noise und verzerrte Vocals fast unkenntlich gemachten Cover des Seeds-Klassikers „No Escape“ - mit dem LSD-Trip „Heaven and Hell“ und mit dem paranoiden Roboter-Funk von „On Every Other Street“ - dem einzigen Song mit Live Drumming, sind hier genug Highlights auf einem Debüt versammelt. Cabaret Voltaire waren eine Band, die insbesondere in den Jahren zwischen '78 und '82 exzellente Singles und EP's machte. Die Compilation Living Legends (von 1990) ist die perfekte Ergänzung zu Red Mecca und diesem Album.

Cabaret Voltaire - No Escape 


Günter Schickert


Überfällig

(Sky, 1979)

Wie zwischendurch gesagt – die Musikszene Deutschlands – insbesondere die „School of Berlin“ - hat den Nutzen des Synthesizers schon früh erkannt, ihn in ihre Musik integriert und in Bands/Musikern wie Tangerine Dream und Klaus Schulze echte Pioniere auf den Weg gebracht. Einer aus dieser Berliner Szene ist Günter Schickert – Roadie von Schulze, mit dem Trio GAM und mit einem Soloalbum (Samtvogel, '74) nicht kommerziell, aber künstlerisch erfolgreich. Mit Überfällig kommt '79 sein zweites Solo-Album auf den Markt – ein bisschen zur Unzeit würde ich sagen, denn der sogenannte „Krautrock“ hat nach Punk einen etwas altertümlichen Geruch (zu Unrecht, wenn man es genau betrachtet) und Schickerts tolles Album hat wieder keinen durchschlagenden Erfolg. Aber es wird im Laufe der Jahre einen immer höheren Stellenwert bekommen - wie die Musik von Neu!, Can, Schulze, Harmonia etc pp... Die Vergleiche mit Neu! Und Harmonia sind mit Bedacht gewählt, Überfällig ist ein Cousin der besten Alben der beiden Acts – und das betrifft nicht nur den Sound, sondern auch die Klasse. Ob man das Synthie-Pop nennen soll...? Vielleicht ja auch nicht, denn die tragende Säule von Schickert's Musik ist die Gitarre, aber er sampelt und loopt, er nutzt Synthesizer und Rhythmusmaschinen, er kreiert Musik, die so elektronisch wie analog ist. Der Viertelstündige Opener „Puls“ macht seinem Namen alle Ehre, das Intermezzo „In der Zeit“ klingt nach Folktronica, die es noch gar nicht geben darf, „Apricot Brandy“ lebt von Field Recordings am Meer und einem kosmischen Beat, dieses Album verweigert sich den Kategorien – und könnte natürlich auch außerhalb dieses Artikels in anderem Zusammenhang behandelt werden – aber ich fand es passend, es mit dem Beginn der elektronischen Popmusik zu präsentieren – weil es auch zum folgenden Album passt...

Günter Schickert - Puls 


Steve Hillage


Rain Dome Musick

(Virgin, 1979)

Das sechste Solo-Album des ehemaligen Gong-Gitarristen Steve Hillage ist – wie Überfällig von Günther Schickert - auch so ein Album, das man überall einordnen könnte, das etliche Grenzen überschreitet – und das aus dem simplen Grund, dass es mit dem massiven Einsatz der '79 so angesagten Synthesizer entstanden ist, hier landet. Dabei ist Hillage ein Gitarrist mit eindeutigem „Hippie“ Appeal – immerhin einer, der Punk sehr wahrscheinlich toll fand - der aber durch inzwischen verselbstständigte Klischees als versponnener Kiffer und langhaariger Freak nicht so recht neben den androgynen Androiden Gary Numan passen will. Aber wir wollen mal die Vorurteile beiseite schieben – und das Vorurteil, dass Ambient mit New Age-Anklängen banale Hintergrundmusik ist gleich in die selbe Tonne werfen. Denn so muss man Rain Dome Musick beschreiben, wenn man in den bekannten Kategorien bleiben will. Und mit dem Begriff „New Age“ oder meinetwegen „Chill-Out Ambient“ stellt man dieses Album in eine Reihe mit Sauna-Entspannungs-Musik - und täte ihm sehr unrecht. Rain Dome Musick ist die britische Antwort auf die besten Alben der inzwischen schwächelnden Tangerine Dream, es besteht aus zwei langen Tracks, die Hillage für das Mind, Body, Spirit-Festival '79 in London gemacht hatte, und durch die exzessive Verwendung urtümlicher Synthesizer und das Fender Rhodes Piano bekommt die Musik in etwa den Charakter der elektronischen Tracks von Bowie's Berlin-Trilogie. Hillage's Gitarren-Glissandi überzuckern die Ambient-Tracks dann mit dem typischen Sound von Gong ca 1973 – was der Musik nicht schlecht steht. Da beginnt „Garden of Paradise“ mit dem Klang von fließendem Wasser und verträumtem Electric Piano, über das sich ein Synth-Muster legt, ein String Synthesizer erklingt im Hintergrund und dann setzt Hillage's quecksilbriges Gitarrenspiel ein. Rain Dome Musick IST Chill-Out Ambient... von höchster Klasse. Und das ist nur der Beginn EINER Variante dessen, was man so ungenau als „elektronische Musik“ bezeichnet. 

Steve Hillage - Garden of Paradise