Dienstag, 15. August 2017

1982 – Dead Kennedys bis Flipper – Ein gutes Jahr für Hardcore und Punk

Ein Ziel meines Blogs ist es, den Variantenreichtum bestimmter „Genre's“ am Beispiel der Alben eines bestimmten Jahres vorzuführen. Wobei ich – wie immer wieder erwähnt – dogmatische Reinheitsgebote nicht gelten lasse. Ich gehe da ganz konkret folgendermaßen vor: Ich stelle mir vor, ich spiele jemandem ein Album der – sagen wir mal – Dead Kennedy's vor - es gefällt ihm/ihr - ich suche als nächstes ein Album aus, das dem/derjenigen auch gefallen könnte  – und das muß keine Kopie der Dead Kennedy's sein. Hier unten sind einige Alben versammelt, die zeigen, dass 1982 ein hervorragendes Jahr für die Leute ist, die sich für Punk/ Hardcore Punk/ Horror Punk interessieren.... für eine Art Musik, die sich durch bestimmte Stilmittel auszeichnete, die '76/'77 von britischen Punks (Sex Pistols...), oder die Mitte der Siebziger von New Yorker Künstlern und Punks (Ramones etc...) – oder Anfang der Siebziger von durchgeknallten Anti-Hippies (Stooges), oder in den Sechzigern von Garagen Bands wie den Sonics eingesetzt wurden: Ungekünstelt, mit rasantem Tempo, gerne politisch linke, zynische oder comic-hafte Lyrics, 'rausgerotzter Gesang, NULL Gitarrensoli – und all das in unterschiedlich starker Ausprägung. Gemeinsam haben sie alle neben der Anti-Establishment Haltung ein ausgeprägtes DIY Ethos, die Tendenz dazu, Songs kaum über die 2-Minuten Marke gehen zu lassen und ein Leben am Limit. Entstanden war der Hardcore-Punk Ende der 70er in den USA und in England zeitgleich als Reaktion auf Punk/die Sex Pistols. Nach deren Konzerten hatten viele Zuhörer tatsächlich Bands gegründet, so dass es '82 von etlichen Adepten schon diverse Singles, EP's, Cassetten oder sogar LP's gibt. Sie sind in den Undergroud-Kreisen ihrer Gegend als Live-Ereignis berüchtigt und haben den „Punk“, der ihnen als Grundlage dient mit größerer Härte, Schnelligkeit und zynischer Wut auf eine neue Ebene gehoben. Und damit werden sie wiederum die alternative Rockmusik der kommenden Dekade(n) massiv beeinflussen. Hardcore als Stil ist eine extrem heterogene, aggressive Musikform mit allen Eigenschaften der Postmoderne. Er beeinflusst alles von Metal über Grunge bis zu den großen Bands des Alternative-Rock und wird selber in den kommenden Jahren in etliche Mikro-Genres aufsplittern. Er wird zu Crossover Thrash, Crust Punk, Grindcore, Metalcore, New York Hardcore, Anarcho-Punk, D-Beat, Riot Grrl, Thrash Metal etc., und er findet sich in Power Pop, Jazz, Experimental Rock, Dub, Funk bis Post-Punk wieder – und die Vielfalt an Einflüssen und Unterschieden (insbesondere zwischen Hardcore-Punk in England und den USA) ist in den hier reviewten Beispielen dieses Jahres deutlich erkennbar.

Dead Kennedys

Plastic Surgery Disaster


(Alternatve Tentacles, 1982)

Die Dead Kennedys hatten zwei Jahre zuvor (fast) alleine Hardcore-Punk made in the USA erfunden und mit ihrem Debüt Fresh Fruit for Rotting Vegetables ein Referenzwerk für die gesamte Konkurrenz gemacht. Sänger Jello Biafra hatte in korrekter DIY Manier mit Alternative Tentacles das wichtigste Label für diese Musik gegründet, und mit „Holiday in Cambodia“ und „California Uber Alles“ Hymnen für die Ewigkeit geschrieben. Da war Zweifel angebracht, ob das nächste Album noch besser werden würde. Aber die Dead Kennedys machten Alles richtig. Plastic Surgery Disaster ist einerseits typisch Dead Kennedys - rasante Drums, blitzschneller Bass, East Bay Ray's surreale Surf-Gitarren und Jello Biafras wie immer extrem wiedererkennbar gekläffte Verhöhnung des Establishment - aber sie erweitern ihre Klangpalette auch behutsam um ein paar Sounds - lassen bei „Terminal Preppie“ gar eine Klarinette tröten – aber spielen die Songs so pfeilschnell, dass die technischen Finessen zunächst kaum auffallen. Das Albumcover, das großzügige, aufwändige Textblatt mit absurden Collagen, die boshaften und zugleich humorvollen Texte Biafra's, all das präsentiert die USA der Reagan Jahre in grellem Licht, voller Wut, Ironie, Häme und Witz. Bei „Bleed for Me“ prangern sie Kriegsverbrechen des CIA an, „Winnebago Warrior“ macht sich über die US-Familienidylle incl. John Wayne worshipping lustig, „Halloween“ tut das gleiche mit dem sozialen Konformismus und der Kleiderordnung der Spitzen der US Gesellschaft. Und musikalisch wagen sie bei „Trust Your Mechanic“ sogar progressiven Pop – wobei Pop und Surf schon immer Teil ihres ganz eigenständigen Sound waren. Die Dead Kennedys sind eine der originellsten und besten Bands der USA - und Plastic Surgery Disaster mag keine „Hits“ wie das Debüt und die 81er EP In God We Trust Inc. haben (auch kaufen!), aber kluge Leute sagen, es ist ihr bestes Album. 

Dead Kennedys - Winnebago Warrior 

Bad Brains


s/t


(ROIR Cassette, 1982)

Und ein weiteres Album, dessen Einfluss weit in die Neunziger reichen wird. Die Bad Brains waren eine Band mit vier dreadlocked rastafarians aus Washington D.C, aus schwarzen Studenten (eine Rarität im Hardcore...), die nicht etwa Soul, Funk oder Reggae spielten, sondern diese Einflüsse tief in den harten Boden des Hardcore rammten. Ihr erstes „Album“ war allerdings keine LP, es wurde beim kleinen New Yorker Label Reach Out International Records als Cassette veröffentlicht, nachdem die Band in Washington Auftrittsverbot bekommen hatte und nach NY gegangen war. Dass es trotz des Formates einen so breiten Einfluss auf die Szene haben würde, ist sowohl Hinweis auf die Bedeutung solch „alternativer“ Veröffentlichungsformen – als auch Hinweis auf die Bedeutung der Bad Brains. Die vier Musiker wechseln auf diesem Album noch von traditionellen Reggae-Tracks zu blitzschnellen Hardcore Stücken, bei denen die Lyrics von Sänger H-R. ob des Tempo's kaum verständlich sind, aber sie waren bekannt dafür, dass sie gegen den üblichen Nihilismus und Zynismus gerne auch mal positive Botschaften und Gottesfurcht setzten. Die Reggae-Tracks machen The ROIR Sessions (so wurde das Album später als LP und CD-Veröffentlichung genannt) zum acquired taste, die harten Tracks sind Fundamente des Hardcore, der Reggae wird von der Hardcore-Gemeinde hingenommen. Der durchgeknallte Gesang von H.R., die virtuose Gitarren von Dr. Know, das genaue und schnelle Rhythmusgespann, das alles von Jazz über Reggae bis Punk konnte – all das beeindruckte Publikum und Bands gleichermaßen. Minor Threat wurden Fans, die Dead Kennedys veröffentlichten „Pay to Cum“ auf ihrem Label als Single, Bands wie Fishbone und die Red Hot Chillie Peppers bauten auf diesem „Crossover“ ihre komplette Karriere auf und Adam Yauch von den Beastie Boys sprach vom „best punk/hardcore album of all time“. Dieses und das Nachfolgende Album Rock for Light - das streng genommen eine neu aufgenommene Version des Debüt's ist - sind Grundpfeiler des Hardcore - die so auch von der Band selber nie mehr nachgeahmt werden würden. 

Bad Brains - Big Take Over 

The Faith / Void

s/t (Split LP)


(Dischord, 1982)

Wer Hardcore Punk aus den USA in den Achtzigern hört, kommt um das Label Dischord und um die Band Minor Threat nicht herum (Die haben '82 allerdings keine EP veröffentlicht – aber siehe Liste ganz am Ende...) Und Labelboss Ian MacKaye hatte auch einen kleinen Bruder (Alec), dessen Band The Faith auch auf seinem Label veröffentlichte. Die Idee deren zwölf Songs in zwölf Minuten auf einer Split-LP mit dem psychotischen Noise-Hardcore von Void zu kombinieren, mag ob der Kürze (und Würze) des Materials logisch sein, aber The Faith mussten gegen die Monster Void einfach verlieren. Man darf also beide Seiten dieser 28-minütigen LP nicht miteinander vergleichen – es wäre unfair gegenüber The Faith. Die spielen furiosen Hardcore-Punk, die Songs nicht ganz so memorabel, aber mit Tempo und Wut 'rausgehauen. Einzelne Songs herauszustellen ist unnötig und unwichtig, alles rast vorbei wie ein D-Zug, ein schneller, aufregender Spaß – aber dann kommt die zweite Seite der LP mit the mighty Void... und diese 16 Minuten haben die Wucht mehrerer beladener Güterzüge. Von der ersten Sekunde des Openers „Who Are You“ mit seinem gekreischen Refrain "Who are you? Why am I here?" über das völlig verdrehte Gitarrensolo das in fünf Sekunden vorbeifliegt bis zum regelrecht progressiven „Think“ und dem ablschiessenden Chaos von „Explode“ hat man weder vorher noch nachher dermaßen intensiven Hardcore hören können. Es ist hier wirklich so: Knapp 16 Minuten reichen – mehr wäre letal. Und Gitarrist Bubba Dupree ist einer der ganz großen unbekannten Gitarristen. Wer wissen will, was Hardcore kann, muss mindestens The Faith / Void hören.

Fear

The Record


(Slash, 1982)

Fear stammen auch aus der regen Hardcore-Szene der US Westküste, Es waren der Bassist Derf Scratch und Sänger Lee Ving, die sich schon '77 in L.A. ein paar Gleichgesinnte suchten, mit ihnen eine Single aufnahmen und sich insbesondere Live einen Namen machten – wobei Sänger Ving als Teilzeit-Schauspieler und durchaus virtuoser „Shouter“ schnell eher als Mitläufer denn als überzeugter „Punk“ angesehen wurde. Aber dann traf Ving die Filmemacherin Penelope Spheeris, die eine Doku über die Punk-Szene L-A's machen wollte – und Fear waren dabei und galten somit durch ihren Beitrag zum Soundtrack zu The Decline of the Western Civilisation als eine DER neuen Hardcore-Bands. Der Schritt zum Auftritt bei Saturday Night Live und dann zum Album war logisch. Mich persönlich schert die eventuelle fehlende Credibility nicht, The Record ist ein famoses, wenn auch wieder mal etwas ungewöhnliches Punk/Hardcore Album. Lee Ving ist ein Sänger, der genau weiss was er macht, er gröhlt, spielt den wilden Mann, kann auch bellen wie ein Hund aus den Hinterhöfen, die Rhythmussektion gibt den schnellen, unsentimentalen Takt – und Gitarrist Philo Cramer spielt manchmal regelrecht avantgardistisches Zeug dazu – ihm bleibt nichts anderes übrig, da die Songs zwar den simplen schnell gespielten 4/4 Punk-Takt bekommen, aber die Texte und die Songstrukturen mitunter an experimentelle No Wave erinnern. Eine bewusste Entscheidung, wie man an der No Wave Hommage „Getting The Brush“ und an „New York's Alright if You Like Saxophones“ (natürlich wirklich mit Saxophon-Solo...) erkennen kann. „ We Got To Get Out Of This Place“ von den Animals wird gecovert, und sie wagen es beim regelrecht progressiven „We Destroy the Family“ eine der heiligen Kühe der US Gesellschaft anzugreifen. All das mag vielleicht sogar aufgesetztes Gehabe sein, aber haben die Sex Pistols und etliche andere nicht auch Theater gespielt...? heraus kam eines der ganz großen Alben des Hardcore US-Style.

Angry Samoans

Back From Samoa


(PVC, 1982)

Und noch so eine Band aus L.A., diesmal '78 gegründet von den beiden Musik-Kritikern „Metal“ Mike Saunders und Gregg Turner, zusammen mit dem Gitarristen Kevin Saunders, Bassist Todd Homer und Drummer Bill Vockeroth. Dann zwei (empfehlenswerte) EP's und nun endlich ein Album – das 14 Songs in knapp 18 Minuten verhandelt. Und wie das bei dieser Musik ist_ Da ist nichts zu kurz, nichts überflüssig, alles in dieser Kürze richtig. Die Angry Samoans spielen auf Back From Samoa energetischen, einfallsreichen Hardcore/ Punk, meist nicht ganz so schnell wie Fear oder die Descendents, dafür sehr abwechslungsreich und wunderbar unkorrekt, hysterisch und böse. Wenn man mal genau hinhört fällt auf, dass die Musiker genau wissen, was sie tun – die ganze Hardcore-Szene dieser Zeit besteht aus versierten Musikern – aber das Album überfällt den geneigten Hörer dafür mit so wunderbaren Songs we „They Saved Hitler's Cock“, „Steak Knife“, „You Stupid Jerk“, „Homosexual“ oder „Gas Chamber“. Den beiden Textern, Sängern, Songwritern und Musik-Kritiker dürfte bewusst gewesen sein,was sie hier von sich gaben. Diese Hardcore-Geschichte in L-A. war genau das, was die junge Generation nach Jahren des gepflegten Westcoast Rock a la Eagles und Jackson Browne brauchte. Political Correctness hätte in diesem Umfeld Übelkeit erzeugt. Nach Back From Samoa kamen ein paar Konzerte und dann eine lange Pause, ehe die Bnd sich wieder zusammentat, aber die Energie und Wucht waren dahin. Back From Samoa gehört zu den besten seiner Art,

The Descendents

Milo Goes To College


(New Alliance Rec., 1982)

Die kürzeste, treffendste Beschreibung dieses Albums, die ich gelesen habe? For the perpetual teenager within us all.... Die L.A. Band Descendents nahm alles vorweg, was ein paar Jahre später Bands wie Bad Religion oder Offspring richtig Geld einbrachte, sie sind die Buzzcocks Amerika's. Ihre Songs handeln von Mädchen, Nerds, Essen und Kaffee, sie verbinden Pop, Punk und Surf – und sind dabei völlig kindisch. Sie hatten – wie so viele Bands dieser Szene - schon '77 angefangen Musik zu machen, aber bis kurz vor den Aufnahmen zur Fat EP ('81) hatten sie weder ihren Sound noch den richtigen Sänger gefunden. Mit Milo Aukerman war ab da der richtige Mann dabei und die Band hatte ihren Stil gefunden. Zitat Aukerman: „...we started very melodic, then moved to hardcore, but melded the two at a certain point and became melodic hardcore.“ Mit ihrer Schnelligkeit, dieser fast hysterischen Energie (...unter Kaffee-Einfluss !!!), mit ihrer Virtuosität ohne jede Angeberei und ihrem Humor hatten sie schnell die Anerkennung der Hardcore-Szene – und mit Milo Goes to College ein weiteres Referenzalbum des US Punk und Power Pop. Die Songs sind kurz, meist unter zwei Minuten lang, aber langsamere Bands hätten aus diesen Songideen mindestens zwei 40-minütige Alben gemacht – Milo... ist nach knapp 23 Minuten vorbei... Eigentlich ein Konzeptalbum über die Kämpfe eines College Kids gegen Eltern, Mädchen, Lehrer und diese verdammten, über-stylischen, schwulen New Wave Kids. Nicht ganz zu unrecht wirft man den Texten eine gewisse homophobie vor – einerseits eine Haltung, die in Hardcore-Kreisen nicht selten war – andererseits scherten die Descendents sich eben einfach nie um political correctness. Zunächst jedenfalls blieben sie mit ihrer Musik ein Fall für die kleine Hardcore Gemeinde – ihre Ernte wurde erst ein paar Jahre später von anderen eingefahren – und Milo Aukerman ging tatsächlich ins College um Doktor der Biochemie zu werden, während sich der Rest der Band zunächst in alle Winde zerstreute – und dann drei Jahre später mit I Don't Want to Grow Up triumphal zurückzukehren.

Discharge

Hear Nothing See Nothing Say Nothing


(Clay, 1982)

Jetzt mal was Ernstes …? Aus England ? Bitte. Discharge entstanden ebenfalls im Jahr '77 – in Stoke-On-Trent im Kielwasser der Sex Pistols. Sie erspielten sich schnell eine Fangemeinde, brachten ab '80 Singles und EP's heraus, ehe sie '81 mit einer Viertelstündigen EP mit dem Titel Why ihre Art von Punk etablierten. (Why gibt es inzwischen als CD mit Bonusmaterial und sei auch empfohlen). Im Gegensatz zu den „klassischen“ Punks Großbritanniens haben sie einen harten, verzerrten, klar an Thrash Metal orientierten Sound, die Drums spielen immer den gleichen Beat, die Lyrics bestehen aus herausgebrüllten Parolen gegen Kapitalismus, für die Anarchie – und sie und ihre Fans und Adepten waren sich der Unterschiede sehr bewusst und nannten diesen Stil - nach der Band – D-Beat. Hear Nothing See Nothing Say Nothing ist Gußform und Höhepunkt des D-Beat, andere Bands wie Disrupt, Disfear, Disgust (fällt dir was auf..?) klingen genauso mit klitzekleinen Differenzen, die Konzerte und die Alben sind eher politisch/anarchistische Events bzw. akustische Pamphlete und so gesehen reicht dieses eine Album um D-Beat komplett zu verstehen. Die Lyrics des Titelsongs dieses Albums: Lied to, threatened, cheated and deceived, hear nothing, see nothing, say nothing, led up garden paths and into blind alleys…”- das war's. Dazu wird ein Thrash-Riff, ständig wiederholt und Bass und Drums spielen wie ein ausser Kontrolle geratenes Uhrwerk. Textprobe von „Cries of Help“, dem Opener der zweiten LP-Seite: „Napalm tumbles from the sky, cries of help cries of pain, skin looking like bloody hardened meat...“ . Und wieder zwei thrashige Riffs und ein maschinenhafter Beat. Das könnte langweilig werden, aber die Energie ist beeindruckend und die Tracks rasen vorbei wie Lawinen. Und wenn man sich die politische Situation dieser Zeit mit drohendem Atomkrieg, nihilistischer Politik des Thatcher-Regimes etc vor Augen hält, dann ist diese Musik nur logisch – und man kann verstehen, dass etliche Bands ausserhalb der D-Beat Stilistik dieses Album extrem hoch einschätzen. Discharge allerdings bewegen sich bald immer mehr Richtung Metal – und werden dadurch langweiliger.

The Clash

Combat Rock


(CBS, 1982)

Ja, und jetzt werden alle Dogmatiker kotzen: „Was machen The Clash hier !!!? Die sind Mainstream“. Ja, es ist kein Hardcore, The Clash sind '82 auch lange schon kein „Punk“ mehr – oder vielleicht doch – sie sind (und waren schon immer) eine Rock'n'Roll Band mit breitem Stilspektrum und einem gewissen Ethos und Auftreten, das sie zum Hype '76 passen ließ, und sie haben mit den Pistols etc pp... etliche Bands der kommenden Generation Hardcore-Punk inspiriert und sie machen '82 dieses merkwürdige Album, das weit schlechter gemacht wird, als es ist – und das vielen Leuten gefallen dürfte, die Dead Kennedys oder die Descendents mögen. Combat Rock ist das Album mit den aus der Werbung bekannten Hits „Rock the Casbah“ und „Should I Stay or Should I Go“ - und deren Bekanntheit mag „un-punk“ sein, aber es sind großartige Songs, The Clash sind immer noch politisch wach, sie schreiben Hymnen wie „Know Your Rights“, sie verpacken ihre breiten stilistischen Einflüsse weit dosierter als auf dem viel zu großen, breiten, eklektizistischen Vorgänger Sandinista!, sie sind als Songwriter immer besser geworden – und beschränken sich auf Combat Rock auf zwölf Songs (Danke!) die geschrieenen Vocals von Joe Strummer sind Vorbild für Legionen von Hardcore-Shoutern, und viele Tracks hier haben mit Hardcore überhaupt Nichts zu tun – vor Allem wenn man dieses Album mit Hear Nothing See Nothing Say Nothing vergleicht. Aber ich bin kein Dogmatiker was Stil angeht, und der Erfolg des Albums wird mich auch nicht daran hindern es zu empfehlen, auch wenn es nicht an London Calling und das Debüt heranreicht. Rockmusik, Hits und etliche gelungene Tracks zwischen Punk, Reggae und Rock von einer Band, die den Hardcore des Jahres '82 stark beeinflusst hat. Eine Erholung nach all dem Tempo. Ein sehr gelungenes Album.


Zounds

The Curse of the Zounds!


(Rough Trade, 1982)

Punk in England '77 hatte mit Virtuosität und musikalischer Finesse nichts am Hut. Es ging um Inhalte, um Rebellion, Spott, wütende oder zynische Kritik, er war die musikalische Manifestation einer Opposition, die mit etablierter Politik, Gesellschaft oder Musik nichts zu tun haben wollte. Zu den eindeutigsten Bands dieser Richtung gehörten Crass und deren Kumpels Zounds. Die waren ebenfalls '77 um den Gitarristen und Songwriter Steve Lake entstanden, hatten über Jahre bei Free-Festivals ihre anarchistischen Botschaften herausgeschrien, Cassetten und 7'' veröffentlicht und etliche Mitglieder verschlissen. '82 war es dann so weit und das erste Album The Curse of the Zounds! wurde aufgenommen. Die Musik hatte sich inzwischen von rohem, hartem Punk zur durchaus differenzierten Untermalung von Lake's eindeutigenTexten gewandelt. „Did he Jump“ erinnert musikalisch an psychedelische Exkursionen obskurer Sechziger-Bands, dazu formuliert Steve Lake naiv-deutlich seine Kritik an der Gesellschaft: “Who was that on the window ledge? Did he jump or was he pushed? He left a note which no one read in desperate hand the note just said: ‘Never turned my back on society – society turned its back on me. Never tried once to drop out, I just couldn't get in from the very start.’” Die Haltung dahinter ist fast idealistisch, nicht so zynisch wie die der Hardcore-Szene der USA, auch nicht am abgedrehten Spaß der Descendents orientiert – in England hatte Punk eine ernsthaftere, politischere Dimension. Dass Zounds zur Anarcho-Punk-Szene gezählt wurden, hat weit mehr mit den Inhalten als mit der Musik zu tun. Schneller Punk kommt hier nur als Option vor, die Musiker legen keinen Wert auf Virtuosität, die Botschaft ist wichtiger als die Form – und damit sind Zounds Kunst und zugleich irgendwie auch wieder Punk. Also – hier sollte man nicht Dead Kennedys oder Sex Pistols erwarten, es ist Protest-Musik aus dem Thatcher-England der Achtziger.




Charged G.B.H.

City Baby Attacked By Rats


(Clay, 1982)

Und jetzt wieder zurück zu einer Band, die auch der größte Blödmann als „Punk“ erkennen würde. Charged Grievous Bodily Harm (das heißt „verurteilt wegen schwerer Körperverletzung“) - oder einfach G.B.H. - hatten die übliche Irokesen-Frisuren und waren Ende der Siebziger zusammengekommen. Sie hatten mit ihrem rohen, an Discharge und Metal orientierten Sound Fans in einschlägigen Kreisen gefunden und waren dann '81 beim Discharge-Label Clay untergekommen, wo sie die famose 12“ EP Leather, Bristles, Studs and Acne veröffentlichten (… die mit ca 20 Minuten Länge in diesem Umfeld auch als LP durchgehen könnte...). Das dann folgende Album City Baby Attacked by Rats steht dem Klassiker Hear Nothing See Nothing Say Nothing in Konsequenz und Einfachheit in Nichts nach. Der Rhythmus ist der immer Gleiche, dazu schimpft Colin Abrahall in Thrash Metal Manier und die verzerrten Gitarren rasen. Aber G.B.H. sind tatsächlich etwas abwechslungsreicher als Discharge, ihre Texte sind nicht nur kurze Schlagzeilen, sondern regelrecht erzählerisch – in Ramones-Manier freilich, und ein Song wie „Sick Boy“ ist rasanter Hardcore mit mehr als einem Riff. Der Sound von G.B.H. ist noch näher am Metal, erinnert manchmal an Motörhead auf Speed – was dazu führte, dass City Baby Attacked by Rats in den Benelux-Ländern beim Metal Label Roadrunner veröffentlicht wurde – und dazu, dass sie bald von Dogmatikern als Verräter betrachtet wurden. Heute ist das egal – mir sowieso – das Album zeigt, was man mit Gitarren, Wut, Energie und Reduktion machen kann. Dass auch von dieser Band dieses Album (und die oben genannte EP) reicht, liegt sowohl am limitierten Soundkonzept als auch an der Tatsache, dass die Idee hinter diesem Hardcore-Punk schnell ausgelutscht war. G.B.H. wurden genau wie Discharge nicht besser. Beide Bands würden ihre Debütalben nicht mehr übertreffen, beide Male ist es britscher Hardcore, der locker die Klasse der US-Kollegen hat.

The Exploited

Troops of Tomorrow


(Roadrunner, 1982)

Und hier nun die Schotten von Exploited, die mit Discharge und G.B.H. Die unheilige Dreifaltigkeit des Brit-Punk '82 bilden. Auch sie haben die Sex Pistols als Teenager gehört, auch sie haben mit der etwas schwächeren Vorgänger LP Punks Not Dead und mit diversen Singles schon ihre Spuren hinterlassen... und sie sind mit Troops of Tomorrow der (kommerziell) erfolgreichtse Act dieser zweiten Punk-Welle, über die in der britischen Presse übrigens ein gewaltiger Topf Häme ausgegossen wird. Das Album schießt in den LP-Charts zwar auf Platz 17, aber sie gelten als Nachahmer, die höchstens ein paar Monate durchhalten, ihr Auftritt bei Top of the Pops ist ein größerer Skandal, als Alles, was bei den Pistols beklagt wurde, vielleicht weil sie eine alte „Schande“ wieder aufleben lassen. Und selbst damit tut man ihnen unrecht. Erstens: The Exploited existieren bis weit ins kommende Jahrtausend, Iro-Träger und Sänger Wattie Buchan ist eine Macht, ihr Sound hat etliche junge Thrash-Metal Bands in ihren Proberäumen nachgewiesenermaßen massiv beeinflusst, Der Song „UK 82“ wird später von Slayer und Ice-T für den Soundtrack zum Film Judgment Night gecovert und wegen der Rassenunruhen in LA in „US 92“ umbenannt, ihre Musik hat wunderbare Hymnen-Qualität, Lyrics wie "There's really nothing nice about the U.S.A./When you go to the hospital you've got to pay..." sind nicht nur bis heute aktuell, sie sind auch so plakativ wie bis heute zutreffend – aber egal – mit ihrem Auftritt im TV und mit ihrem kommerziellen Erfolg brachten sie einen Teil der „Szene“ gegen sich auf, was dazu führte, dass sie seitdem immer ein Crredibility-Problem haben werden. Mir egal. Dieses Album zwischen Punk und Thrash und das '90er Album Massacre sind objektiv großartig.

The Birthday Party

Junk Yard


(Gee Bee Dee, 1982)

and now for something completely different... Die Australier Birthday Party hatten mit Nick Cave eine spätere Berühmtheit als Sänger vorn stehen. Aber der Nick Cave der frühen Achtziger ist noch ein wirklich wilder Mann, dem man eher ein vorzeitiges Ende zutraut, als Ruhm und Anerkennung im Kulturbetrieb – und Junkyard, der Titel des dritten Albums seiner Band Birthday Party, ist äußerst treffend. Undenkbar, dass solch kaputte Musik heute noch vom schwarzen Mann zelebriert würde. Die Frage, ob das hier Punk oder gar Hardcore ist, erübrigt sich beim Anhören. Ich wüsste einfach nicht, was ich dazu sagen soll, aber ich stelle mit vor, dass ein Punk Junkyard hören mag, wenn er schlecht drauf ist. Die Birthday Party war nach ein paar Monaten in England wieder zurück in Australien, ihre Bassistin Tracy Pewkam wegen Fahrens unter Drogeneinfluss und diverser anderer Vergehen drei Monate im Knast, so dass sie sich Ex-Magazine Barry Adamson ins Studio holen mussten (der bald zu Nick Cave's neuer Band Bad Seeds gehören würde), alles war kaputt – aber ich habe den Eindruck, dass diese desolaten Zustände von Cave und seinem Songwriting-Partner Roland S. Howard als Inspiration... zumindest geschätzt wurden. Die meisten Songs wurden in Melbourne von Tony Cohen (der dann auch mit Cave weiter arbeiten würde...) dermaßen roh und müllhalden-artig produziert, dass man dahinter Absicht erkennen muss. Dazu hatten Cave und Howard Musik zwischen Punk, Blues, Psychose und Voodoo geschrieben, Cave hatte endgültig zu seiner Stimme gefunden – mal wie ein besessener Prediger klingend (das kann er heute noch), mal hysterisch kreischend (das spart er sich heute) – und immer wiedererkennbar. Und unter all dem Müll kann man mit etwas Mühe ausgefeilte Story-Songs erkennen – als Test höre man „Hamlet (Pow Pow Pow)“ und den Titelsong. Für mich klingt Junkyard nach American Gothic und nach Tom Waits mit massiver Punk-Entzündung. Anstrengend, aber lohnend. Und ob Hardcore-Leute das hören würden? Sie sollten,




The Misfits

Walk Among Us


(Ruby, 1982)

zumal es ja in ihrem Kosmos die Misfits gibt. Die Band aud New Jersey gehören klar zur Punk- und Hardcore Szene und schafft eine ähnliche Atmosphäre wie Birthday Party. Ihre Ästhetik ist lediglich näher an 50ies-Trash und billigen Horrorfilmen, comichafter als die der Australier. Um das abzuhandeln: Auch die Misfits entstehen im Jahr '77, auch sie veröffentlichen vor diesem Debütalbum etliche Singles und EP's (die später wenig konsumentenfreundlich völlig unlogisch und durcheinander auf zwei Compilations verteilt werden...), 1982 sind sie schon fast „aufgebraucht“, Sänger Glen Danzig hat etliche Bandmitglieder verschlissen – aber er hat eben auch hervorragende Musik in den letzten vier Jahren fabriziert und das Album Walk Among Us ist der nächste Höhepunkt in der Diskoraphie der Band. Dafür nahm Danzig Aufnahmen aus dem letzten Jahr und versah sie mit neuem Gesangs- und Gitarrenspuren... aber wen interessiert dieser technische Kram. Es gab todescoole Punkhymnen mit bezeichnenden Titeln wie „I Turned Into a Martian“, „Vampira“, Night of the Living Dead“ und „Braineaters“, perfekt vom Titel bis zu den Singalong-Refrains, endlich Punk der sich nicht nur mit den Unbilden des Lebens befasste, der stattdessen – politisch immer auch unkorrekt - Alles über trashige Horrorstories ins Lächerliche zog. Man könnte die Misfits ganz zurecht als „Ramones from Hell“ bezeichnen, Glen Danzig hatte allerdings die bessere Stimme und war noch nicht der komische Muskelprotz späterer Solo-Jahre. Man muss sich den Live-Song „Mommy, Can I Go Out and Kill Tonight?“ anhören. Horror-Trash in Hardcore-Speed. Und die Idee von den „Astro Zombies“ ist genial. Walk Among Us (der Titel zitiert den Hoororfilm The Creature Walks Among Us...) gehört neben den ersten Alben der Cramps zu den Referenzwerken des Horror-Punk.


Flipper

Album: Generic Flipper


(Subterranean, 1982)

Flipper's Album: Generic Flipper ist schwer zu beschreiben. Zum einen besteht sein Reiz in Elementen, die kaum positiv darstellbar sind, und es passt auch nicht in eine stilistische Schublade mit den Hardcore-Alben seiner Zeit. Andererseits stammten Flipper aus der Hardcore-Szene San Francisco's, waren '79 aus Mitgliedern der Sleepers und Negative Trend entstanden – aber die Musik die sie dann als Flipper machten, stellte die Schneller/Kürzer Ästhetik aller Kollegen auf den Kopf. Ihre Live-Shows waren legendär - und berüchtigt - wegen der Tendenz, erst mal zwei Riffs über lange Zeit immer mehr zu verlangsamen, wegen der deutlichen Anlehnung an den Sound Black Sabbath's – aber genau diese Verweigerungshaltung und Verbindung zu den Doom Metal Vorreitern machte sie für die weniger dogmatischen Teile der Szene so interessant. Und den Nihilismus hinter ihrem Gedröhne konnte wohl niemand schlecht finden. Als sie nun nach drei Jahren und einer Single endlich ihr Debüt Album: Generic Flipper veröffentlichten, war ihr Konzept offenbar zur Perfektion gereift. Dieses Album ist einer der ganz großen Klassiker des Hardcore – oder Nein – der Rockmusik, und das erkennt man nicht nur daran, dass neben Kurt Cobain etliche andere Kritiker und Zeitschriften Album... unter die besten Alben aller Zeiten kürte. Und was ist auf dem Album drauf? Minimalistischer, verlangsamter Hardcore, gespielt von zwei Bässen, Drums und metallischen Gitarren, simpelste Lyrics, die existentielle Resignation voller Enthusiasmus herausschreien ( der Text des sieben-minütigen „Sex Bomb“ besteht aus sieben Worten), und keiner der acht Songs hat ein Gramm zuviel oder zuwenig, die beiden 7+minütigen Tracks „Sex Bomb“ und "I Saw You (Shine)“ müssen so lang sein, die kürzeren Tracks sind simpel und effektiv. Ich denke, auch das ist dann eben Hardcore, aber letztlich ist es egal in welche Schublade Album: Generic Flipper gesteckt wird. Erkennbar ist: Mit dieser Musik haben sie ganze Hundertschaften von Sludge und Doom-Bands beeinflusst.


Und um es zum Schluss nochmal zu sagen: In den 80er Jahren tauchen etliche fantastische Alben mit Hardcore/ Punk etc auf – ich habe das Jahr '82 für diesen Artikel ausgewählt, aber eines der Jahre davor und danach wäre ebenso gut gewesen. Ich hänge einfach an diesem Prinzip der zeitlichen Ordnung... Also nach den Reviews noch eine kleine, nerdige Auflistung der 10 besten Alben (...die sich nächste Woche ändern könnte...):

Dead Kennedys – Fresh Fruit for Rotting Vegetables (1980) – Das alte Testament des Hardcore

Black Flag – Damaged (1981) – Jetzt wird’s ernst...

Misfits – Walk Among Us (1982)... da braucht man auch was Komik.

Discharge - Hear Nothing, See Nothing, Say Nothing (1982) – britische Version des Punk nach Punk

Bad Brains – Rock for Light (1983) – ein Solitär – Hardcore meets Reggae = der erste „Crossover“

Minor Threat – Out of Step (1983 – aber deren gesamter Output (nur EP's und 7'') ist ein MUSS – und den gibt es auch auf einer CD

Hüsker Dü – Zen Arcade (1984) – das neue Testament des Hardcore

Amebix – Arise (1985) – Düster-Core, Vorbild für etliche Bands der 90er - Neurosis Fans auf die Knie!!

Bad Religion – Suffer (1988) – Spaß-Core mit politischer Intelligenz

NoMeansNo – Wrong (1989) – Verrückt-Core? Jazz-Core? Jedenfalls einer meiner Lieblinge

und damit bin ich ganz streng innnerhalb der Grenzen des Hardcore/Punk der 80er geblieben... es ginge auch anders.






















Samstag, 5. August 2017

1991 – Screaming Trees bis Neil Young & Crazy Horse – Das Jahr des Grunge... oder so

Nirvana's Nevermind – und damit der angebliche Startschuss für den kommerziellen Siegeszug der „alternativen“ Rockmusik – wird am 24. September 1991 veröffentlicht. Die Nevermind-Single „Smells Like Teen Spirit“, die via MTV den Siegeszug der Band Nirvana einläutet, erschien 14 Tage zuvor. Aber schon in den Monaten zuvor erscheinen (soon to be...) Klassiker baldiger Big Seller des alternativen Rock in erstaunlicher Anzahl. Das lässt doch vermuten, dass einige wichtige Leute spätestens Anfang '91 gewusst haben müssen, dass da eine Verschiebung im Musikgeschmack und in seinen Auswirkungen auf das Musikbusiness bevorstand. Und tatsächlich: Der Siegeszug Nirvana's - und mit ihnen einer ganzen Generation von Musikern – hatte in der Luft gelegen. Diverse große Plattenfirmen hatten in den Monaten und sogar Jahren zuvor schon diverse Bands von ihren bisherigen Indie-Labels weggelockt. Nirvana, im Jahr zuvor noch bei Sub Pop, veröffentlichten ihr Nevermind schließlich bei Geffen, aber die Screaming Trees zum Beispiel waren ebenfalls beim Major gelandet und hatten ihr Uncle Anesthesia schon im Januar dieses Jahres rausgehauen. Die Proto-Grunge Band Dinosaur Jr war zum Einen schon eine Weile beim Warner Sub-Label Sire, zum Zweiten hatten sie ihr sehr gelungenes Major Debüt Green Mind schon im Februat `91 draußen. Die Smashing Pumpkins waren beim Virgin-Unterlabel Caroline und formten schon im Mai '91 ihren progressiven Kram, Pearl Jam's Ten wurde fast exakt einen Monat VOR Nevermind von Epic veröffentlicht, Badmotorfinger von Soundgarden wurde zwar „erst“ im Oktober '91 bei A&M veröffentlicht, aber das All-Star Projekt Temple of the Dog, bestehend aus Mitgliedern von Soundgarden und Pearl Jam hatte schon seit April '91 sein Album raus – auch beim Major A&M. Aber noch hatten auch ein paar Indie-Label die Bands unter Vertrag, die bald von den Majors umworben wurden: Die ehemalge Heimat Nirvana's, das Seattle-Label Sub Pop veröffentlichte im Juli '91 Mudhoney's Meisterwerk Every Good Boy... – und hielt sich nach dem Weggang Nirvana's damit betriebswirtschaftlich über Wasser, der Kurt Cobain-Gönner Tad veröffentlichte sein Meisterwerk Anfang des Jahres bei Sub Pop, die Melvins waren den großen Labels wohl noch (!) zu extrem und blieben bis '93 bei einem kleinen Label - aber künstlerisch waren auch sie schon im Mai '91 weit oben auf der Welle – ebenso wie Sebadoh, die Band des geschassten Dinosaur Jr Bassisten Lou Barlow, die ebenfalls im September '91 ihre Anti-These zu Nevermind beim ehrenhaften Indie Homestead veröffentlichten – und dann zum Major überlaufen würden. Was auch für die Band der späteren Kurt Cobain Ehefrau Courtney Love gilt, deren Pretty on the Inside Monate vor Nevermind beim Indie City Slang erschien. Und Neil Young, die Vaterfigur für alle Flanellhemden tragenden, Stooges- und Rückkopplung liebenden Musiker der frühen Neunziger, veröffentlicht Ende '91 noch eine dröhnende Live-Rückschau auf seine bisherige Karriere – und schob sich damit in den Alternative Rock der Neunziger. Man sieht: Alternative Rockmusik in all ihren wunderbaren Facetten entstand nicht als Reaktion auf das zweite Album Nirvana's, sie hatte sich in den Jahren zuvor entwickelt, Nevermind war nur das Album, das den blinden Massen die Ohren für die Vielfalt der nicht ganz so kommerziellen Musik freiblies. Hier also in Reihenfolge ihrer Veröffentlichung die wichtigsten Zeit- und Stilgenossen von Nevermind.

Screaming Trees

Uncle Anesthesia


(Epic, Jan. 1991)

Die Screaming Trees haben nie den vergleichbar großen (kommerziellen) Erfolg wie andere große Acts ihrer Zeit und Art erreicht. Ich vermute, da spielt die Tatsache eine Rolle, dass sie sozusagen „zu früh“ da waren – Uncle Anesthesia war schon ihr fünftes Album, ihr erstes bei einem Major nach Jahren bei SST Records, dazu kamen die Alkoholprobleme der einzelnen Bandmitglieder, wüste Streitereien, die dazu geführt hatten, dass sie im Vorjahr reihum Solo-Alben gemacht hatten – und ein kompromissloser Sound, der weit weg vom schlauen Punk meets The Beatles Nirvana's war – und somit ein kleineres Publikum ansprach. Dabei sind die Alben der Screaming Trees keinen Deut schwächer als die solcher Brüder im Geiste wie Mudhoney oder Soundgarden. Auch sie wühlen im Krach der Garagen und der Stooges, laden ihre Songs mit Fuzz-Gitarren, psychedelischen Jams und schweren Rhythmen auf – und die Screaming Trees haben mit Sänger Mark Lanegan zusätzlich eine extrem gut wiedererkennbare Stimme dabei. Dessen dunkles Organ holt selbst aus schwächeren Songs noch ein letztes Fünkchen Energie – und er wurde auf einigen Tracks auch noch von Soundgardens Chris Cornell unterstützt – die Band war in der Seattle-Szene tief verwurzelt... Uncle Anesthesia jedenfalls hatte kaum Schwächen. Die Screaming Trees hatten mitTerry Date einen namhaften Produzenten dabei, der sie klarer und erwachsener klingen ließ als je zuvor, aber die Band hatte immer einen sehr dichten Sound. Selbst eine Halbballade wie das mit Trompeten nach Mexico geschobene „Disappearing“ schwimmt auf einem Teppich von Gitarren. Und sie hatten weitere feine Songs dabei, die man allerdings im Grund-Dröhnen des Album erst einmal heraushören muss. Der Opener „Beyond this Horizon“ beginnt mit zischenden Gitarren und rollenden Drums – und ist so psychedelisch wie die frühen Siebziger. Das nachfolgende „Bed of Roses“ klingt dagegen fast luftig und wurde mit Video bei MTV als Single auserkoren. Auch der Titeltrack, „Something About Today“ und „Ocean Of Confusion“ sind unter dem Grundrauschen der Gitarren erstaunlich melodisch und energetisch. die Gitarren Gary Lee Conner's sind mindestens so prägend für den Sound der Band, wie Lanegans Stimme. Uncle Anesthesia hätte mehr Erfolg verdient, aber es kam für die Charst wohl einach sieben Monate zu früh

Tad

8-Way Santa


(Sub Pop, Feb-1. 1991)

Auch dieses Album hätte groß werden sollen: Tad – benannt nach dem ziemlich beleibten Bandleader Tad Doyle - waren eine etablierte Größe in der Musikszene Seattle's, Doyle hatte Kurt Cobain immer sehr unterstützt, war mit Nirvana auf our gewesen und er war eine Urgewalt, dessen Band zwei Jahre zuvor mit God's Balls den Fans harter alternativer Musik einen massiven Brocken vor die Füße geworfen hatte. Aber Tad machten es sich Zeit ihrer Karriere immer selber schwer. Der Titel des ersten Albums dürfte im bibeltreuen Amerika kontrovers sein, das Cover von 8-Way Santa wurde schleunigst indiziert (sie hatten das Foto in einem Second Hand Shop gefunden), Tad Doyle sah (im Gegensatz zu Eddie Vedder, Kurt Cobain oder Chris Cornell) zum fürchten aus – und verhielt sich bei Konzerten auch so. Dazu kommt der sumpfige, hart und düster rumpelnde Sound der Band. Dabei hatte Tad Doyle (weit mehr als die Screaming Trees etwa) ein erkennbares Händchen für ins Ohr gehende Hooks. Die werden nur eben mit sumpfigen Rhythmen, harten Gitarren und donnernden Drums zugeschüttet. Und wenn Tad Doyle dazu mit feister Stimme Anzüglichkeiten krächzt, dürften Mainstream-Hörer ihre Ohren verschlossen haben. Man sollte sich klar machen, dass es all den hier reviewten Band nicht um Erfolg im Pop-Business ging – das war weder bei Nirvana noch bei Mudhoney, den Melvins, Dinosaur Jr oder eben Tad der Fall. Manche der hier aufgeführten Alben waren zum richtigen Zeitpunkt in den Läden, andere kamen zu früh oder waren einfach eine Spur zu extrem. Zu denen zählt eben auch 8-Way Santa, das mit „Delinquent“, „Trash Truck“ oder „3-D Witch Hunt“ einige echte Was-Auch-Immer Perlen dabei hat. Und dann benutzten sie für das Cover der Single „Jack Pepsi“ das Pepsi Cola-Logo und wurden prompt verklagt. Ein Schelm, wer dahinter Methode erkennen will. 8-Way Santa ist vor allem für Freunde von Sludge Metal eine Offenbarung...

Dinosaur Jr.

Green Mind


(Sire, Feb.-19 1991)

Und wiederum: Man beachte das Erscheinungsdatum unter dem LP-Titel... Green Mind von Dinosaur Jr, - ausgewiesenen Vorbildern von Kurt Cobain – erschien schon im Februar '91 – d.h. Sieben Monate vor Nevermind. Und '91 wurde der bislang wortwörtlich „independent“ Rock endgültig zum Thema bei den Majors. So war auch das vierte Album von Dinosaur Jr. deren Einstand beim Warner Bros - Untertan Sire. Zuvor hatte J Mascis allerdings Bassisten Lou Barlow entlassen und auch Drummer Murph durfte nur auf ein paar Stücken mit-trommeln – den Rest übernahm Napoleon Mascis, und wer Dinosaur Jr. kennt, weiss dass das so gut wie garnichts ausmacht. Green Mind mag nicht ganz die ungezügelte Energie der SST-Alben Bug oder You're Living All Over Me haben, da mag die Anpassung an den kommerzielleren, gezähmteren Sound beim „Major“ eine winzige Rolle gespielt haben, aber die grundsätzlichen Elemente der Musik von Dinosaur Jr. bleiben reichlich vorhanden: J Mascis ausladendes Gitarrenspiel, Soli die sich mit denen von Greg Sage und Neil Young messen können, ein erstaunliches Pop-Verständnis, das sich in süßesten Harmonien äußert, die gepaart sind mit lärmenden Punk und Noise Ausbrüchen und natürlich die hohe, immer so müde klingende Stimme, die vermuten läßt man habe es hier mit dem Urbild des Slackers zu tun. Aber ganz so müde kann Mascis nicht gewesen sein, denn die Songs sind ohne Tadel: „The Wagon“ ist ein gelungenes Sequel zu „Freak Scene“, „Blowing It“ paart akustische Gitarren mit donnernden Drums, „Thumb“, „Puke + Cry“ und der Titelsong sind ganz einfach: Alternative Rock as good as it gets. - und dieses desillusioniert-coole Mädchen auf dem Cover könnte ja auch als hintergründiger Hinweis auf die verlorene Unschuld in der Rockmusik zu verstehen sein.

Temple Of The Dog

s/t


(A&M, May 1991)

Auch hier: Die Beteiligten dürften nicht geahnt haben, dass dieses Projekt mal als regelrechte „Supergroup“ wahrgenommen würde. Temple of the Dog bestanden aus dem Soundgarden Sänger Chris Cornell plus Soundgarden-Drummer Matt Cameron sowie aus Jeff Ament, Mike McCready und Stone Gossard, Bassist und Gitarristen von Mother Love Bone. Deren Sänger Andrew Wood - eine der Hauptfiguren der Musikszene in Seattle – war just an einer Überdosis gestorben, und sein buddy Chris Cornell hatte zwei Songs zu seinem Gedenken geschrieben. Die wollte er zunächst mit den oben genannten Kollegen als Single aufnehmen, aber die Chemie bei den Aufnahmen war so gut, dass ein ganzes Album herauskam – die drei Ex-Mother Love Bone Musiker hatten vor den Sessions einen Sänger namens Eddie Vedder kennengelernt, der Background-Vocals beisteuerte – und diese vier würden bald Pearl Jam gründen. Tatsächlich hört sich Temple of the Dog wie eine Kreuzung aus Soundgarden's Led Zep- und Psychedelic-Rock Einflüssen, gepaart mit dem straighteren Grunge-Rock von Pearl Jam an. Cornell hatte mit „Say Hello 2 Heaven“ und „Reach Down“ zwei mächtige – und mächtig pathetische - Rocker geschrieben, die er dann in seiner Robert Plant Manier herausschreien konnte, die zwei Gitarristen und der Bassist unterlegten diesen Rrrock mit gerade genug roher Kraft, dass es unpeilich blieb. Bei „Hunger Strike“ übernimmt Eddie Vedder den Gesang – und der erste „Pearl Jam Moment“ ist da... Die Songs sind mit einer unschuldigen Leidenschaft und Hingabe performt, Temple of the Dog ist – wie man an der Hintergrundstory erkennet - kein geistloses Tribut-Album, sondern ein von Herzen kommendes, etwas kitschiges Pearlgarden-Album voller gelungener Tracks. Dass diese Art Rockmusik ab Mitte des Jahrzehntes durch peinliche Imitatoren verdorben wird, sollte diesem Album (und den anderen hier...) nicht schaden... zumal es zu dieser Zeit und an diesem Ort ja auch völlig Cooles gibt wie...

Melvins

Bullhead


(Boner, May 1991)

... die Melvins,,, wahlweise eine Grunge-Kapelle, experimentelle Noiseniks, Sludge-Pioniere (um noch ein Genre zu bemühen), Institution des Indie-Rock und Kurt Cobain-Freunde – und in diesem Jahr allen Anderen zwei bis drei Schritte voraus. Ihr drittes Album ist einer der fundamentalen Schritte in der Entwicklung „harter“ Musik, Das Trio um den Gitarristen King Buzzo fügt mit rumpelden Rhythmen und Distortion alles zusammen, was Bands wie die Swans, Black Flag und Black Sabbath im einzelnen erschaffen haben. Und das von ihnen zusammengesetzte Monster gebiert in den folgenden Dekaden etliche Bastarde des alternativen Metal. In Japan benennt sich aus gutem Grund eine Drone-Metal Band nach dem Opener des Albums - „Boris“ - und als sie Bullhead veröffentlichen explodiert gerade der „Grunge“ - eines der Ergebnisse ihrer Kopulationen – um sie herum. Bullhead dürfte unter anderem aufgrund seiner Unkommerzialität 1991 nur ein Thema für Leute mit weit offenen Ohren sein. Selbst als die Melvins zwei Jahre später beim Major Atlantic landen, lassen sie keinerlei Kompromisse zu – das wurde vertraglich so festgelegt – was für Zeiten – aber ihre Kreativität war schon '91 auf dem Zenith. Bullhead ist eine – ebenfalls von Butch Vig produzierte, den Nirvana u.a. wegen dieses Albums als Produzenten wählten - Schlammlawine aus Drones und Rückkopplungen, getaktet durch Dale Crovers mal tribalistische, mal spastische Drums und den abgrundtiefen Bass von Buzzo's Freundin Lori Black. Die Bandbreite reicht vom oben genannten Ein-Riff-Drone „Boris“ über das regerecht radiofreundlichen „It's Shoved“ bis zu „Zodiac“, dem rasenden Gegenpol zu „Boris“. und innnerhalb dieses Spektrums verbinden die Melvins Ironie mit Depression, Spaß mit Wahnsinn und gehen von Stasis bis zur Explosion. Harte Musik kann sehr innovativ sein – der Beweis wäre Bullhead.... und die beiden Nachfolger Lysol und Houdini.

Smashing Pumpkins

Gish


(Caroline, May 1991)

Die Smashing Pumpkins stehen in noch höherem Maße als Soundgarden oder Pearl Jam exemplarisch für die Entwicklung der alternativen Rockmusik in den Neunzigern – weil sie die Entwicklung von einer krachigen, alternativen Band zum aufgeblasenen Mega-Act innerhalb von vier Jahren hinlegten und dabei (angeblich) alle sogenannte Glaubwürdigkeit verloren haben, aber auch weil sie damit eigentlich nur dem Masterplan ihres exzentrischen und (bald) größenwahnsinnigen Kopfes Billy Corgan folgten, der seine Vision von Rockmusik einfach nur so vielen Menschen wie möglich um die Ohren hauen wollte. Und weil sie mit dieser Musik in dieser Zeit Erfolg hatten. Alternative Rock aus den USA wurde in den paar Jahren nach '91 gleichgesetzt mit dem Begriff „Grunge“ bei dem die jeweiligen Bands hauptsächlich kräftige Gitarren und die Verbindung von Punk-Energie und Pop-Harmonien gemeinsam hatten. Gish erschien ca vier Monate vor Nirvana's Nevermind – man kann Billy Corgan somit nicht vorwerfen, er sei auf einen fahrenden Zug aufgesprungen, auch Gish wurde von Butch Vig produziert, aber wenn man sich dieses Album wirklich anhört, verschwinden die Parallelen zu Nirvana und Konsorten schnell. Nirvana waren eine Punk-Band mit Beatles Vorlieben, die Smashing Pumpkins, d.h. vor Allem Billy Corgan - klangen schon hier wie eine progressive Arena-Rock Band mit Vorlieben für obskure 70er Acts wie ELO, Queen, die Scorpions – gefiltert durch das Wissen um Hardcore und Noise. Aber immerhin hatte Corgan nicht komplett die Kontrolle übernommen, so überließ er Bassistin D'Arcy beim veträumten Closer „Daydream“ die Vocals und schrieb „I am One“ gemeinsam mit Gitarrist James Iha – und beide Songs gehören zu den gelungenen auf Gish. Noch sind manche Ideen nicht ganz zuende fromuliert, noch sind die Lyrics prätentiös UND unbeholfen, aber Corgan weiss jetzt schon, wie man einen Song bmbastisch arrangiert, wie man alles auch aus kleinen Ideen herausholt. Ich habe mal gelesen, dass Corgan zu diesem Zeitpunkt My Bloody Valentine's Loveless noch nicht kannte, und dem Album daher die Dichte des folgenden Siamese Dreams fehlt. Das kann durchaus so sein (Loveless erscheint Ende '91), es ist aber auch ein bisschen gemein, Corgan ist offenkundig ein guter Songwriter, der gerne auf Effekte setzt und der zu diesem Zeitpunkt noch nicht so starke Songs hat, wie in zwei Jahren. Beweis für sein Können: Das psychedelische „Rhinoceros“, mit Shoegaze Sound, röhrendem Gitarrensolo und dem „...she knows, she knows, she knows...“ Refrain, der nicht aus dem Kopf gehen will. Gish ist Smashing Pumpkins in bescheiden, das hat auch seinen Reiz.

Hole

Pretty On The Inside


(City Slang, July 1991)

Jetzt weiss man es natürlich: Hole, das ist die Band der Nirvana-Yoko Ono Courtney Love, der fatalen drogen- und trunksüchtigen Ehefrau der Ikone Kurt Cobain. 1991 allerdings war sie „nur“ die Chefin der famosen Girl-Grunge Band Hole, eine rebellische Musikerin mit selbstbewusster, emanzipierter und zugleich selbst-ironischer Attitüde und einer erfreulichen Agressivität wie man sie zuvor so (von Frauen) selten gehört hatte. Hole waren sympathisch – und sie hatten neben dem Image erfreulicherwerise auch noch die entsprechende Musik. Das folgende Live Through This – angeblich unter Mithilfe des Dann-Ehemannes Cobain geschrieben – gílt als das bessere Album. Ansichtssache. Pretty on the Inside – produziert von Don Fleming und Sonic Youth's Kim Gordon – ist wütend und laut und rauh, es hat mindestens soviel mit „Grunge“ zu tun, wie mit Riot Grrrl-Wut, Courtney Love ist eine gute Songwriterin aber ihre Lyrics sind noch besser, zwar voller Selbstverachtung, aber die Person Love wiederspiegelnd – genau wie sie es will. Eine Ex-Stripperin, die ohne echtes zuhause aufwuchs, der ihre Wertlosigkeit jeden Tag um die Ohren gehauen wurde, die aber um jeden Preis berühmt und reich werden will – und all das mit einer gehörigen Portion Selbstironie sieht. Dass die Musik dazu dann die Härte von Punk und Noise-Rock entleiht, dass manche Songidee nicht ausgefeilt ist, dass sie, die als Mädchen von der Mutter mit stundenlangen Joni Mitchell Hör-Sessions traktiert wurde, nun ausgefeiltes Arrangieren hasst, liegt wohl nahe. “Sassy“ ist eine unnötige Lärmorgie, aber „Garbadge Man“ zeigt, dass sie auch Melodie kann. Auch das bezeichnend betitelte „Teenage Whore“ ist unter all dem Lärm ein feiner Song, und die Wut und Energie, die aus dem kompletten Album sprüht, macht es einerseits so anstrengend, andererseits aber auch so beeindruckend gut. Dass das, was kommen würde, eine pervertierte Version ihres Traumes sein würde – Heirat mit Rock Star, Reichtum, Drogen, Häme und Spott von allen Seiten – hat Romanqualitäten. Man mag Courtney Love lieben oder hassen, Pretty on the Inside ist ein beeindruckendes Album.

Mudhoney

Every Good Boy Deserves Fudge


(Sub Pop, July 1991)

Nirvana, Pearl Jam und Soundgarden mögen die Aushängeschilder des Grunge sein, jedenfalls sind sie diejenigen, die man mit dem Begriff verbindet, aber Mudhoney waren die Band, nach der Sound und Stil benannt wurden. Und sie sind auf jeden Fall neben den Screaming Trees und Alice in Chains mit ihrer sumpfigen Heavyness und neben den Afghan Whigs mit ihrem kalten Zynismus die beste „typische“ Band um dieses Genre zu beschreiben. Every Good Boy Deserves Fudge war das Album, bei dem sie ihren punkigen Furor zugunsten kontrollierteren Energieausbrüchen zügelten. Die Überlegung hatte im Raum gestanden, sich auch einem Major-Label anzuschliessen, aber die Band blieb dem Indie Sub Pop treu (und bewahrte ihn damit vor dem Ruin...). Vielleicht war das trotzdem der Grund für die (moderate) Zivilisierung des Sounds. Aber es gibt natürlich immer noch die Verneigung vor den Stooges („Let It Slide“) mit reichlich Fuzz-Gitarren, natürlich bleiben Mudhoney dem Garage-Punk und Blue Cheer verpflichtet, dazu hat Mark Arms Stimme die notwendige Mischung aus Langeweile und Lässigkeit, und die Band strotzt vor Energie. Der Garage-Rock ist aber nun noch mehr durch Pop-Hooks versüßt, hier und da verweist die Harmonika von Steve Turner auf ältere Wurzeln, die Gitarren bei „Good Enough“ klingen auch mal nach den 80ern, nach New Order und Wedding Present. Die simple Eight-Track Produktion trägt zum energetischen Sound bei und Mudhoney geraten nur noch beim sechs-minütigen „Broken Hands“ außer Kontrolle und lassen die Amplifier krachen. Es ist egal, ob man das hier „Grunge“ nennt und somit einem Trend zuordnet, Every Good Boy Deserves Fudge ist so zeitlos wie jede Urgewalt.


Pearl Jam

Ten


(Epic, Aug. 1991)

Nirvana's Nevermind mag das bessere Album sein, aber Ten (benannt nach der Rückennummer des New Jersey Basketball Stars Mookie Blaylock) war das Album, das Grunge im kommenden Jahr (...man beachte das !) zum Massenphänomen machte und Michael Jackson vom Thron des King of Pop stieß. Das Quartett aus den beiden Ex-Mother Love Bone Gitarristen Mike McCready und Jeff Ament sowie dem Bassisten Stone Gossart und dem Sänger Eddie Vedder hatte sich schon vor dem einmaligen Projekt Temple of the Dog (siehe oben) kennengelernt, man fand noch einen Drummer, kannte die notwendigen Leute bei einem großen Label, und hatte bald ausreichend Songs für eien LP beisammen. Mit den epischen, mitreißenden Hardrock-Hymnen und Eddie Vedders kraftvollem Gesang gelang es Pearl Jam klassischen Rock mit Punk und Independent Rock zu verbinden und nach ein paar Monaten Verzögerung im Kielwasser des Nirvana-Erfolges ein breiteres Publikum zu erreichen, als die meisten anderen Bands aus Seattle. Der Erfolg allerdings schien insbesondere Eddie Vedder regelrecht peinlich zu sein. Dabei gab es keinen Grund, sich für Songs wie „Once“, „Even Flow“ und „Alive“ (Alle hintereinander am Anfang des Albums!) zu schämen. Und bei all dem Pathos klang zu jener Zeit auch eine liebenswerte Unschuld durch, und die Dynamik und Begeisterung, die der Musik auf Ten innewohnte sollte eine ganze Generation prägen. „Jeremy“ und „Release“ wurden - wie die zuvor genannten Songs zu Klassikern der Rockmusik der Neunziger und Pearl Jam eine der meist-imitierten Bands der Dekade – und vor Allem Sänger Eddie Vedder zu unser Aller Leidwesen einer der meist-imitierten Sänger- da kann er aber nichts dafür.

Nirvana

Nevermind


(DGC, rel. 24.Sept. 1991)

Ja, am 24. Sptember '91, 14 Tage nach dem Erscheinen der Single „Smells Like Teen Spirit“ - somit teils Monate nach den hier oben reviewten Alben, die man dann später als Nachahmer-Alben wahrnimmt, erscheint Nevermind. DAS Album, das entweder als Startpunkt für die hemmungslose Kommerzialisierung der ehemals „alternativen“, „unabhängigen“ intelligente und extremen (Rock)musik oder als Beginn eines (kurzen) goldenen Zeitalters für genau diese Musik steht.,, Aber das Review zu diesem unzweifelhaften Klassiker habe ich an anderer Stelle verfasst, (siehe Blog Eintrag 1991 - Irak Krieg vorbei, Kuwait befreit, Sowjetunion zerfallen - Talk Talk bis Bob Dylan ) - hier geht’s um die Alben 'drumherum...


Sebadoh

III


(Homestead, Sept. 1991)

Man kann das dritte - fast am selben Tag erschienene - Album des Projektes von Dinosaur Jr. Bassist Lou Barlow, seinem Partnern Jason Loewenstein und Eric Gaffney als Anti-These zu Nirvanas Nevermind bezeichnen. Lou Barlow war Anfang des Jahres von Dinosaur Jr. Kopf J Macis 'rausgeworfen worden, aber das Nebenprojekt Sebadoh lief immerhin schon seit zwei Alben, und nun war die Zeit gekommen, die eigenen Ideen weiterzuführen und auszuformulieren. Die vorherigen Alben hatten noch mehr nach Lo-Fi geklungen, das Doppelalbum Sebadoh III war etwas fokussierter, aber dieses Weisse Album des Indie-Rock bietet von radikalem Hardcore bis zu dunklem Folk ein äußerst heterogenes Gesamtbild – ist eigentlich nicht einmal ansatzweise das, was man „Grunge“ nennt. Die Musiker tauschen fröhlich ihre Instrumente untereinander, der Opener „Freed Pig“ könnte ein Beatles Cover im Punk-Folk Gewand sein, es gibt rohen Folk („Truly Great Thing“), Fuzz-Rock bei „Scars, Four Eyes“, und dann wird mit „Wonderful, Wonderful“ auch noch Johnny Mathis gecovert! Lou Barlow durfte unter Band-Diktator J. Macis bei Dinosaur Jr maximal einen Song beisteuern, was nicht seinen Fähigkeiten entsprach und dazu geführt hatte, dass es andauernd Streit mit Diktator Mascis gegeben hatte. Sebadoh waren für Barlow der komplette Gegenentwurf, hier gab es Spaß, hier gab es Demokratie, und auch das Chaos, das Barlow so mochte, und das Sebadoh immer auszeichnen sollte. Weitere acht Jahre waren Sebadoh noch tätig, nie belanglos, immer changierend zwischen rohem Hardcore und Indie, und immer gut. Und nachdem Lou Barlow ab 2005 wieder bei Dinosuar Jr. Bass spielte, reformierte er 2013 sein Ausweichsquartier - selbstredend mit beachtlichen Ergebnissen


Soundgarden

Badmotorfinger


(A&M, Oct. 1991)

Ich bleibe bei der zeitlichen Abfolge der Releases und komme zum dritten Album der dritten Kraft im Grunge. Soundgarden waren schon mit dem vorherigen Album Louder Than Love ('89) beim Major A&M angekommen, aber auch sie haben nicht ahnen können, dass sie mit ihrer an Led Zeppelin, Punk, Black Sabbath und Psychedelic orientierten Musik jemals zum „Big Seller“ werden würden. Und natürlich ist auch Badmotorfinger kein geplantes Kommerz-Produkt. All die Bands hier, deren Album im Verlaufe des Jahres '91 erschienen, dürften -wenn überhaupt - mit Anerkennung und Verkäufen in der Indie-Gemeinde gerechnet haben – nicht mit Millionen Käufern aus allen Richtungen. Aber Badmotorfinger hat jede Anerkennung verdient. Soundgarden waren zum einen technisch ungeheuer versiert, ihre verschlungenen Metal-Grunge Songs klingen druckvoll und zugleich so leicht gespielt, sind aber weit komplexer als man meint – und mit Chris Cornell hatten sie eine Stimme an Bord, die mit Leichtigkeit vom grollenden Bariton zum melismatischen Countertenor reicht, der kreischen kann wie eine Hafensirene, und dräuen kann wie ein Felssturz. Aber ich misstraue instrumentalen Fertigkeiten und technischen Spielereien und komme mal zum Punkt: Auf Badmotorfinger ist die Dichte an großen Songs höher, als somstwo in der Diskografie Soundgarden's. Hier ist „Rusty Cage“ (bald von Johnny Cash gecovert...), hier sind „Outshined“ und „Jesus Christ Pose“ und hier ist mit „Room a Thousand Years Wide“ einer der besten Songs ihrer ganzen Karriere dabei – Psychedelic, Pathos und Punk – was will ich mehr... Der Nachfolger Superunknown mit „Black Hole Sun“ ist das bekanntere Album, aber es ist als Doppel-LP 10 Minuten zu lang. Hier ein weiterer Grund für den Durchbruch des alternativen Rock namens „Grunge“.


Neil Young & Crazy Horse

Weld


(Reprise, Nov 1991)


...die 80er waren für Neil Young ein verlorenes Jahrzehnt, er hat erst '89 mit Freedom wieder.... blablabla. Das wird vermutlich irgendwann auch noch anders gesehen - aber mal ganz ehrlich – Weld ist das perfekte, kraftvoll ins Gleichgewicht gebrachte Live Album für alle Liebhaber des harten, meinetwegen auch punkigen Gitarrenlärms, den man meinetwegen auch „Grunge“ nennen kann – und das nicht nur, weil Neil Young inzwischen meist karierte Flanellhemden trug. Irgendwann in den letzten Jahren war der alte Mann (= 47 Jahre alt...) zu dem Schluss gekommen, dass seine alten Songs am besten mit LAUTEN Gitarren, simplen Rhythmen und viel Feedback am besten klingen. Und er mochte diesen jungen Kurt Cobain und seine Leidenschaft für Musik. Young's alte Songs funktionieren wirklich am besten genau so episch, laut und körperlich wie hier. Er selber berichtete, dass er vom Lärm der eigenen Boxen Herzrasen und zittrige Knie kekommen habe. Jedenfalls entdeckte spätestens jetzt eine junge Generation eine der Wurzeln ihrer Musik – und Neil Young wurde der "Godfather of Grunge". Hört doch einfach als Appetizer die 14 Minuten „Like a Hurricane“ - und lasst euch wegblasen. Ja, das könnte peinlich sein – oder aber ergreifend. Weld ist nicht Grunge, aber das gilt für mindestens fünf weitere Alben hier oben....

--- und als Abschluss noch der Hinweis, dass es natürlich noch etliche Alben gibt, die man unter dem Begriff „Grunge“ kategorisieren kann, die aber genauso vielfältig sind, wie alles, was hier oben beschrieben wird. Grunge ist Hardcore und Metal und Punk und Garage-Rock und Post-Punk und Noise und so weiter im karierten Flanellhemd aus Seattle und Umgebung – und damit habe ich den Unsinn hinter diesen Kategorien in Worte gefasst. Die 10 besten Alben ihrer Art – unabhängig vom Erscheinungsdatum ?

Dinosaur Jr – You're Living All Over Me (1988) – und das ist eigentlich kein Grunge sondern ...

Mudhoney – Superfuzz Big Muff (1988) – das schon...

Nirvana – Bleach (1989) das Debüt...

Pearl Jam – Ten (1991) siehe oben

Nirvana – Nevermind (1991) – logisch

Alice in Chains – Dirt (1992) – ist auch dunkler Metal...

Nirvana – In Utero (1993) . der Anfang vom Ende

Soundgarden – Superunknown (1994) – auch Metal...

Stone Temple Pilots – Purple (1994) – alle hassen sie. Ich nicht

Truly - Fast Stories...From Kid Coma (1995) zu Unrecht unbekannter Soundgarden-Ableger, so typisch wie schlechtes Wetter in Seattle.

Und wer da noch was anderes sehen will – will ich auch....