Sonntag, 28. August 2016

2000 - Der Rinderwahn und Kohl's Abschied - Radiohead bis Gas

Mit George W. Bush wird wieder mal ein ausgemachter Dummkopf zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt, und Ex-KGB Macho Wladimir Putin löst den Säufer Boris Jelzin als Präsident Russlands ab. Der Tschetschenienkrieg in der ehemaligen UdSSR geht weiter. Es wird ein Schnelltest für die Hirnerkrankung BSE entwickelt, und die Panik, dass viele Menschen Rinderwahn bekommen verläuft im Sande. Trotzdem muss Kohl aufhören - Ist mit ihm doch was passiert...? Der Jahrtausendwechsel hat nicht die befürchteten Auswirkungen auf die weltweiten Computersysteme, und auch in anderen Belangen ist die Apokalypse anscheinend nicht von westlicher Datierung abhängig. Im Islam etwa schreiben wir schließlich nur das Jahr 1420. In Mosambik kommt es zu großen Übeschwemmmungen, in den Alpen kommen bei einer Brandkatastrophe in der Gletscherbahn von Kaprun 155 Menschen ums Leben. In Paris stürzt eine Concorde ab und der Flugbetrieb für das legendäre Flugzeug wird daraufhin eingestellt. Im Jahr 2000 stirbt Ian Dury, Radiohead machen die Platte des Jahrzehnts (...meinen viele Menschen auch heute noch), im Hip Hop und Neo-Soul gibt es einige tolle Platten (u.a. D'Angelo und OutKast), es erscheinen wieder etliche wegweisende Alben mit elektronischer Musik, aber auch alte Helden wie Neil Young und Steely Dan sind (wieder) aktiv. Andere nicht ganz so alte Bekannte wie The Cure oder die Go-Betweens machen sehr schöne neue Alben. Musikalisch ist 2000 dennoch kein "Jahr der Revolution", wie man es bei einem so prägnanten Datum erhofft haben mag. Es gibt zwar – wie in jedem Jahr – viel gute Musik, und insbesondere im Bereich abseits der Charts bewegt es sich, aber das ganze spielt sich außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung (= ausserhalb des Format- Radios) statt.... wie immer. (Siehe Godspeed: You Black... oder Avey Tare & Panda Bear oder Microphnes) Der Sampler OHM: The Early Gurus Of Electronic Music 1948-1980 ist toll und irgendwie bezeichnend, weil er Musik enthält, die alt ist und zugleich in die Zukunft weist. Warten alle auf 2001? Währenddessen findet in den Niederungen des schlechten Geschmacks Carlos Santana seinen Platz – und zerstört damit seine Reputation. Da ist mir sogar Disney-Star Britney Spears mit ihrem Hit „Ooops ! I Did It Again“ lieber – und schlimmer noch finde ich (wie schon seit Jahren) Bon Jovi, oder den peinlichen Möchtegern Sinatra Robbie Williams, oder die Arschbombe Jennifer Lopez, deren größter Verdienst ihr Hintern ist, oder oder oder....

Radiohead

Kid A

(EMI, 2000)

Was für eine seltsame Hitplatte. Radiohead hatten sich nach dem Erfolg des musikalisch schon sehr innovativen, aber im Vergleich noch recht „poppigen“ 97er Albums OK Computer wohl entschlossen, noch weiter von allem abzurücken, was mit unseren normalen Hörgewohnheiten zu tun hatte. Das erklärte Ziel war mehr Intensität, mehr Elektronik, mehr Verfremdung und auf keinen Fall einen Wiederholung der Erfolgsplatte. Und diese Verweigerungshaltung führt dazu, daß beim ersten Hören von Kid A die Experimente manchmal die Songs zu ersticken scheinen. Der Versuch Avantgarde zu sein, klingt deutlich heraus und die Band bekam bald der Vorwurf der „gewollten“ Komplexität zu hören. Aber nach einer kurzen Eingewöhnung konnten man die Pop Sensibilität Radiohead's nicht mehr verleugnen. Da sind unter all den elektronischen Schichten dennoch wieder die für Radiohead so typischen und zugleich seltsam unerhörten Melodien in fantastischen Songs verborgen. Auf Kid A dauert es eben länger, sie zu finden, aber das Album erhält gerade dadurch seinen Reiz - und seine Langlebigkeit. Keine Note ist zuviel und kein Experiment sinnlos, Kid A läßt den Hörer vergessen, dass Menschen diese glitzernden Soundgebirge erschaffen haben. Songs wie „National Anthem, „How to Dissapear Completely“ oder „Motion Picture Soundtrack“ sind sublim, abstrakt, und gleichzeitig Pop. Das ist die größte Leistung von Kid A: Mit der Zeit verschwinden die experimentellen Sounds hinter der puren Schönheit der Musik. Ein würdiger Nachfolger - vielleicht sogar eine Steigerung - zum Vorgänger OK Computer..

Primal Scream

Xtrmntr

(Creation, 2000)

In den Neunzigern hatten Primal Scream sich ihren Ruf als Hedonisten erarbeitet, aber nun, da alle bereit waren „to Party like it's 1999“, schienen die schottischen Tech-Rocker auf einmal aufzuwachen und sich auf ein graues Jahrzehnt vorzubereiten. - Und das noch bevor 9/11 und die Blair / Bush Kriegshetze die bunten Bilder wegbombte -. Veröffentlicht im Januar 2000, traf XTRMNTR die Briten wie eine von diesen roten Pillen in The Matrix und ließ alle nach der durchzechten Neujahrsnacht in der Realität aufwachen. Da wurde die von Industrie und Militär geschaffene Illusion von Demokratie angeklagt, deren eigentliches Ziel es sei „.to exterminate the underclass“. In ihrem Aufruf zum Kampf gegen das System fuhren Primal Scream schwere Geschütze auf: Elektro Funk bei „Kill All Hippies“, Fuzz-Punk bei „Accelerator“, Militante House-workouts in „Swastika Eyes“, und auch mal elektronisch untermalten Acid Jazz bei „Blood Money“ - dass dieses Stilmischmasch funktionieren würde, war bei dieser Band klar. Natürlich ließen ihre bisherigen apolitischen Alben wie das '91er Rave-Pamphlet Screamadelica oder der 1994er Rolling Stones Rip Off Give Up But Don't Give Out vermuten, dass die Agitation hier auch nur Pose war, aber in dieser Art war es ein willkommener Weckruf und sie würden ja auch noch auf erschreckende Weise Recht behalten.

The Dandy Warhols

Thirteen Tales From Urban Bohemia

(Capitol, 2000)

Man kann, nein man muss dieses Album sicher als eines der Meisterwerke des Neo-Psychedelic-Rock bezeichnen. Nach dem erstaunlichen Debüt und dem ebenso guten Come Down erhob Thirteen Tales... den Art-Pop der Dandys auf seinen kreativen Zenith. Wer sonst traute es sich zu, Kunst-Rock wie „Godless“ übergehen zu lassen in den Raga-Rock von „Mohammed“. Oder wer paarte auf einem Album Velvet Underground- Avant-Pop („Nietzsche“) mit Country Gospel wie es mit „Country Leaver“ geschah ? Die schiere Klasse des Songwritings hält das gesamte Album zusammen, erstaunlich bei einer Band die sich alles, was ihr gefällt, vollkommen skrupellos aneignet und so eigentlich Gefahr läuft, beliebig zu klingen. Den Dandys gelang jedoch immer wieder das Kunststück, eigenständig zu klingen und zugleich eklektizistisch zu sein, auch wenn der Single Hit „Bohemian Like You“ die Stones nicht nur zitiert, sondern als astreiner Rip-Off durchgeht. Aber Songs wie die delikate Liebeskummerballade „Sleep“ oder die großartigen Pop-Songs „Solid“ und „Get Off“ zeigen eine Band voller Selbstgewissheit auf dem Weg zu noch größeren Taten. Dass sie dann irgendwann immer mehr aus der Spur - und damit in Vergessenheit - gerieten, war 2000 noch nicht abzusehen.

PJ Harvey

Stories From The City, Stories From The Sea

(Island, 2000)

Es hätte PJ Harveys größter Misserfolg werden können. Sie hatte ihre Karriere doch geradezu darauf aufgebaut, die Grenzen der Dramatik auszuloten, und da kam sie auf einmal mit einem einfachen Rock-Album daher. Ein Glamour Shot auf dem Cover ? Eine geradezu „polierte“ Produktion ? Songs über Liebe ? Aber wie es sich herausstellen sollte, war eine glückliche PJ genauso fesselnd wie eine getriebene PJ, und manchmal sogar genau so beängstigend (Das lustvolle „Big Exit"oder die unverhüllte Geilheit in "This Is Love"). Und die Geschichte gab dem Album eine weiter unheilvolle Dimension. Nach 9/11 sollten Harvey's Reminiszenzen an Romantik auf den Straßen von Manhattan und Brooklyn einen unbeabsichtigt bedrohlichen Unterton bekommen: Es ist unmöglich „Can you hear them?/ The helicopters?/ We're in New York,"auf „This Mess We're In" mit Duett Partner Thom Yorke heute auf dieselbe Art zu hören wie vor dem ominösen Attentat auf die Twin Towers. Nach Stories..., kehret PJ Harvey zurück zu unverhüllter „Weirdness“; die Alben hiernach wurden wieder roher und unmittelbarer, sie war also doch nicht auf dem Weg in den Mainstream. Gottseidank.

Yo La Tengo

And Then Nothing Turned Itself Inside-Out

(Matador, 2000)

Auch Yo La Tengo werden älter und ihr von Distortion durchzogener Sound mag ruhiger geworden sein, aber And Then Nothing Turned Itself Inside-Out enthält einige der emotionalsten und besten Songs, die sie je gamacht haben. Ihr enzyklopädisches Wissen über Popmusik mag ihnen helfen, so sicher zu klingen, genauso wie ihr seit langen Jahren stabiles Line-Up. Ihr Sound ist immer irgendwie die Quintessenz aus Jahrzehnten Indie-Rock, genauso beeinflusst von The Velvet Underground wie von den Beach Boys, Sonic Youth etc.... Hier erinnert der Songtitel „Last Days of Disco“ an einen Whit Stillman Film, der Blick zurück auf die ersten Momente einer soeben beendete Beziehung wird perfekt eingefangen wenn Ira Kaplan sich erinnert „The song said 'let's be happy/ I was happy/ It never made me happy before." Jeder, der irgendeinen Song mit einer Beziehung verbindet, kennt diese Gefühle. Our Way to Fall“ beschreibt ebenfalls Momente einer Beziehung im halb gesprochenen „It seems like just a little thing/ You don't want to listen and I can't shut up“. Aber es geht nicht nur um Beziehungen, Yo La Tengo können auch immer noch stürmischen Power Pop („Cherry Chapstick“). Und zuletzt führen sie uns mit der 18-minütigen Meditation „Night Falls on Hoboken“. nach Hause (...die vermutlich vom Covermotiv - einer Fotoarbeit von Gregory Crewdson - beeinflusst ist). Von diesen 18 Minuten ist nicht eine Sekunde zu viel

Godspeed You Back Emperor !

Lift Yr. Skinny Fists Like Antennas To Heaven

(Kranky, 2000)

Talk Talk haben in den 90ern die Saat ausgebracht – mit Spirit of Eden und Laughing Stock, zwei der besten Alben aller Zeiten, und in den späten 90ern hatte sich aus ihrem Ansatz eine ganze Musikrichtung entwickelt, an deren Eckpunkten zum Einen Sigur Ros's Agaetis byrjun sowie Lift Yr. Skinny Fists Like Antennas To Heaven stehen Godspeed You! Black Emperor (Das Ausrufezeichen steht mal hier mal dort, habe ich festgestellt, und auf dem Cover/ Inlay dieses Albums bekommt man den Namen der Band nirgendwo zu Gesicht...) hatten mit ihrem vorherigen Album F♯A♯∞ (1995-1997) schon sehr tief geschürft – dunklen Post-Rock gemacht, der den Swans weit mehr verpflichtet ist, als Talk Talk, aber mit LYSFLATH lehrten sie nun alle Anderen auf diesem Feld, was Dynamik heißt. Die „Songs“ (besser „Movements“) türmen sich auf, steigen und steigen um dann nicht banal mit einem Klimax zu enden, sondern eher mit etwas, das man nur Erlösung nennen kann. Die Spannung erzeugen sie mit Sprach-Samples, Radio-Ausschnitten, Prophezeiungen, einer Atmosphäre, die dystopischer nicht sein könnte, aber in ihrer Düsternis zugleich seltsam tröstlich ist. Es ist eine apokalyptische Vision unserer zusammenbrechenden kapitalistischen Gesellschaft, die sie erschaffen, ohne dabei „Lyrics“ zu verwenden, nur mit Hilfe der Sounds, die die neun Musiker erzeugen – Drums, Bass, Gitarren und Streicher und einer Katatonie aus Geräuschen. Das Album ist allen zu Unrecht Gefangenen auf dieser Welt gewidmet, eine Widmung, so gerecht wie pathetisch und naiv. Die vier Movements zu „beschreiben“ wäre zu komplex, würde Seiten verschlingen, jeder sollte das Album mindestens einmal durchhören, da es am besten (und am erschöpfendsten) in seiner Gesamtheit wirkt. Zur Zeit des Erscheinens dieses Albums wurde ihre Musik als eine Art moderner Progressiv-Rock bezeichnet, was falsch ist: Hier gibt es trotz über 80 Minuten Musik keinen unnötigen, weil prätentiösen, Ton. Einzig wem bei zu viel Sturm und Drang die Luft wegbleibt, dem könnte das Alles zu viel werden.

Aimee Mann

Bachelor No. 2 (Or the Last Remains of the Dodo)

(Super Ego, 2000)

Nach zwei hervorragenden, aber relativ erfolglosen Solo-Alben hatte Ex-Til Tuesday Sängerin und Songwriterin Aimee Mann ihren Plattenvertrag verloren, ihr eigenes Label Super-Ego gestartet und dort mit ihrem dritten Solo-Album Bachelor No. 2 gegen alle Widerstände einen überraschenden Erfolg, Was natürlich auch daran lag, dass einige der hier versammelten Songs auf dem „Magnolia“ Soundtrack zu finden sind. Aber Hauptgrund für den Erfolg war die simple Tatsache, dass die Songs wirklich gut waren und perfekt in eine Phase passte, in der Musikerinnen wie Sheryl Crow und Alanis Morissette schwächelten und Fiona Apple verstummt schien. Und Aimee Mann wurde im Gegensatz zu den Befindlichkeits - Poetinnen nicht zu Unrecht immer wieder mit Elvis Costello verglichen (mit dem sie auf einem Song zusammenarbeitet), denn mit ihm teilte sie die Fähigkeit neben melodischer Finesse auch textliche Schärfe in ihre Songs einzubauen. Songs wie „Deathly“, „How Am I Different“ und „Ghost World“ sind wunderbar produzierter, perfekter Pop, der nicht revolutionär ist oder sein will, der aber zeitlos ist. Und wenn man dann noch Aimee Mann's Stimme hört, will man sogar irgendwie gerne mit ihr befreundet sein.

Giant Sand

Chore Of Enchantment

(Thrill Jockey, 2000)

Aus irgendeinem Grund ist Chore of Enchantment zu einem der populärsten Album in der ellenlangen Discografie von Giant Sand geworden – und das, obwohl es eines ihrer experimentellsten ist. Das kam vielleicht daher, dass sie beim feinen – und meist auch der experimentellen Musik verpflichteten - Label Thrill Jockey aus Chicago gelandet waren, was Howe Gelb dazu gebracht haben mag, das Studio nicht nur als notwendiges Übel zu betrachten, in dem man in so kurzer Zeit wie möglich aufnimmt, sondern seinen völlig eigenständigen „Wüsten-Rock“-Hybrid mit etwas mehr „auszuformulieren“ und der Musik einen warmen, einladenden Sound zu verpassen. So gibt es auf Chore of Enchantment Mellotron, Organ, Slide- und Steel Gitarre, Background-Sängerinnen zusammen mit Gelb's trockenem Lou Reed-Gesang, da ist sein ausgefranstes Songwriting, das es oft so schwer macht, den Zugang zu seiner Musik zu finden. Da sind wieder und wieder die Verweise auf die geliebte Wüste – beim sehr schönen und zugänglichen „Shiver“ etwa – das seinem kurz zuvor verstorbenen Gitarristen Rainer Ptacek gewidmet ist, da ist das fatalistische „No Reply“ gefolgt vom Chaos von „Satellite“. Gelb ist ein Meister der schönen Melancholie, und auf Chore of Enchantment hatte er definitiv eine Sternstunde. Kein Album, das „überwältigt“, dafür eines, das lange nachglüht.

D'Angelo

Voodoo

(EMI, 2000)

Fünf Jahre Zeit ließ sich Neo-Soul Innovator D'Angelo nach seinem prächtigen Debut Brown Sugar. Eigentlich eine Zeitspanne, die im kurzlebigen Musik-Business viel zu lange ist. Aber zuerst war er der Ansicht dass er Zeit brauche, dann gab es Probleme mit dem Management und dann kam dazu wohl der Druck, das Niveau des Debut's zumindest nicht zu unterschreiten. So liest sich das Personal auf Voodoo dann auch wie ein Who's Who des anspruchs-vollen HipHop/ R&B: DJ Premiere, Questlove, J Dilla, Method Man und Redman machen mit, aber bestimmend ist trotz aller Prominenz D'Angelo's Stimme und seine Songs. Alles klingt locker, manches hat regelrechten Session Charakter (was Übelwollende dem Album noch am Ehesten vorwerfen könnten). Roy Hargrove hilft an der Trompete aus und Charlie Hunter zupft hier und da an den Saiten, die Musik ist so reduziert wie eine Corbusier-Liege, aber D'Angelos Stimme gibt Allem genug Tiefe, und seine Absicht, Vorbildern wie Marvin Gaye oder Isaac Hayes Tribut zu zollen, gelang hier vortrefflich. Dies war das erste wirklich konsequente Album, bei dem das Beste aus 70ies Soul, HipHop und R&B zu einer schimmernden Legierung verschmolz. Leider erschien nach Voodoo zunächst einmal fast 14 Jahre lang kein neues Album mehr, Voodoo ist und bleibt ein Meilenstein des Neo-Soul, es steht allein neben seinem weiblichen Pendant Mama's Gun von Erykah Badu aus dem gleichen Jahr. 

Gas

Pop

(Mille Plateaux, 2000)

Wenn der Kölner Wolfgang Voigt mit den drei Vorgängeralben Gas, Zauberberg und Königsforst die Vorarbeit geleistet hat, dann ist Pop wohl der End - und Höhepunkt dieses Projektes – einer programmatischen Art Musik zu machen. Pop ist ein Ambient Album, aufgebaut scheinbar aus tausenden von Micro-Samples aus Natur und klassischer Musik. Beide Quellen sind hörbar, aber beide lassen etwas ganz Eigenes und Neues entstehen. Fließendes Wasser, Vogelgesang, der Klang von Violinen und Celli, all das scheint in mikroskopische Schnipsel zerteilt – und dann zu transzendentalen Rauschen wieder zusammengesetzt. Es entstehen Loops, die eine angenehme Wärme ausstrahlen, denen man ein ewiges Andauern wünscht. Bei den vorherigen Alben hatte Voigt noch einen Bass-Puls unter den nebligen Klang gelegt, nun bleibt der Puls meist aus, übrig bleibt eine Textur aus Klang, die unterlegt ist mit diesen seltsam organisch wirkenden elektronischen Störgeräuschen – Geräuschen, die der Natur nur zu entspringen scheinen. Die Loops deuten immer wieder nachfolgende Veränderungen an, die dann aber doch nicht kommen, die den Hörer in einer ständigen Erwartungshaltung verharren lassen – was unangenehmer klingt, als es tatsächlich ist. William Basinski's Disintegration Loops dokumentierten auf ähnlich spannende Weise den Zerfall von Klang, auf Pop bewegen sich die Loops im Kreis, ohne je langweilig zu werden. Beiden Ansätzen gemein ist die Erzeugung einer unterbewusste Spannung und eine Bildhaftigkeit, die scheinbar halb-erinnerte Szenerien hervorholt, die dann doch wieder verschwinden – die aber ein Wohlgefühl hinterlassen. Meinetwegen kann man diese Art von Musik als „New Age-y“ diskreditieren, aber dann wird man wohl Ambient ab Brian Eno's Music for Airports als uninteressant betrachten. Pop ist schon vom Aufbau her so klug gemacht, dass Langeweile nicht aufkommt: Beim vierten – natürlich titellosen Track taucht die Bass-Drum auf, um die Strukturlosigkeit zu unterbrechen, und um dann im fünften Track völlig zu verschwinden und Platz zu machen für einen wundervoll weichen sonischen Teppich, der sich im sechsten Track in eine schwere, erstmals auch unheimliche Decke verwandelt. Der letzte Track dann schockiert regelrecht mit Drumbeat und zischendem Becken. Pop ist Ambient mit Stil, Geschmack und Charakter. Nach Pop beendete Voigt das Projekt Gas und kümmerte sich erst einmal um den Aufbau seines verdienstreichen Kompakt Labels. Die Alben von Gas wurden irgendwann als 4-CD Box Nah und Fern reissued, wer wirklich guten Ambient hören will, braucht mindestens Pop.












Samstag, 27. August 2016

1979 - Atomunfall in Harrisburg, Khomeini im Iran und Maggie Thatcher in England - The Clash bis Lee Clayton

Die Roten Khmer werden aus Kambodscha vertrieben, im Iran kommt mit dem inzwischen aus dem französischen Exil entlassenen Ayatollah Khomeini ein religiöser Führer an die Macht, der sofort auf Konfrontationskurs zu den USA und zur dekadenten westlichen Welt geht, im Irak wird zugleich - in Opposition zum Iran - mit Saddam Hussein ein Machtpolitiker Staatschef, der (man glaubt es kaum...) von den USA tatkräftig unterstützt wird. Israel und Ägypten schließen Frieden, in England beginnt die Regierungszeit von Maggie Thatcher – der Eisernen Lady - die Alles privatisiert, was ihr irgendwie „sozial“ erscheint. Der Papst Johannes Paul II läutet in Polen das Ende des Ostblocks ein und Ende '79 beginnt der Krieg zwischen der Sowjetunion und Afghanistan - und weltweit wächst die Angst vor einem Atomkrieg, da der Kalte Krieg die atomare Aufrüstung in West und Ost vorantreibt. In den USA kommt es in dem Atomkraftwerk von Harrisburg zu einem schweren Zwischenfall, bei dem es zu einer partiellen Kernschmelze kommt - die natürlich völlig ohne Auswirkungen blieb – denn Atom-Kraftwerks-Unfälle gibt es ja nicht. Soul Sänger Donny Hathaway stirbt 1979. Es ist das Jahr, in dem man erkennt, dass aus dem kurzlebigen Phänomen Punk ganz deutlich etwas Neues und Visionäres entstanden ist. Bands und Musiker, die die DIY Attitüde des Punk verinnerlicht haben beginnen die Drei-Akkord Ästhetik des Punk zu hinterfragen und wollen mehr machen, als sich nur zu Verweigern. Sie Alle haben die Sex Pistols gehört, aber auch Velvet Underground oder die Stooges. New Wave ist Post-Punk ist eine neue Art von Musik und wird mit Hilfe von inzwischen erschwinglichen Synthesizern technoid. Joy Division, The Fall, Gang of Four sind Bands, deren Ideen weit in die kommenden Jahrzehnte reichen. Aber nicht dass die Musik vor der Punk-Explosion keine Rolle mehr spielen würde. Pink Floyd etwa sind mit ihrem Konzeptalbum The Wall die kommerziell erfolgreichste Band des Jahres - und somit im öffentlichen Bewusstsein der Gipfel der Rockmusik, aber in vielen Bereichen weht ein frischer Wind. Es gibt wunderbaren reduzierten Power-Pop (Nick Lowe, Joe Jackson, Elvis Costello) oder hervorragenden modernen Country (Lee Clayton, Terry Allen) und erstmals Synthie-Pop von Human League oder Gary Numan. Die Entwicklungen in der Pop-Musik scheinen zunächst einmal erfreulicher für das kommende Jahrzehnt, als die politischen Entwicklungen – ABER: Die Charts sind 1979 auch fest im Griff von Disco (Donna Summer, Gloria Gaynor etc) und Michael Jacksons Off the Wall kündigt schon sehr Unangenehmes an, Boney M und Village People missfallen mir auch, besetzen aber das Radio – kurz, innovative und interessante Musik findet im Radio kaum statt.

The Clash

London Calling


(Epic, 1979)

The Clash haben 1977 mit ihrem formidablen Debüt – und vor Allem mit den Singles dazu - unsere Vorstellung von Punk mindestens mitdefiniert - und schon zu dieser Zeit waren sie die musikalisch interessanteste, weil variabelste Band dieser „Szene“. Die nihilistischen Pistols hatten auf ihre Karriere gespuckt, der Begriff „Punk“ war mit ihnen in kürzester Zeit zu einer Mode – und somit zur Farce geworden und die Musik hinter diesem Begriff war in eine Sackgasse geraten - also musste ein Ausweg her: Zwar hatten The Clash in den Jahren zuvor noch über die etablierten Musiker lamentiert, aber London Calling zitiert nicht nur mit dem an Elvis' Debüt angelehnten Cover die Rock-Geschichte. Alle möglichen Einflüsse sind herauszuhören, von Rockabilly über Country (The Clash waren zuvor mit Joe Ely auf Tour gewesen) bis Reggae. Die Wut und mit ihr die Energie des Punk indes sind noch da, und Ex-Mott The Hoople Guy Stevens fing das alles wunderbar in einem seltsam dünnen, skelettierten Sound ein. „Clampdown“ oder „Hateful“ sind noch wütender Punk, „Brand New Cadillac“ dreht sich aber dann schon Richtung Rockabilly, „Jimmy Jazz“ ist tatsächlich so etwas wie Jazz und der famose Titelsong „London Calling“ und „Guns of Brixton“ sind ganz einfach kraftvolle und sehr politische Rockmusik außerhalb aller stilistischen Grenzen. Zu dieser Zeit mögen The Clash noch das Publikum der Punk-Szene gehabt haben, aber etliche Dogmatiker schrien schon laut „Verrat“ - was natürlich höchst kurzsichtig und ganz nebenbei auch noch herzlich reaktionär ist, aber in einem hatten die Dummen recht: London Calling ist ein Album, das bewusst und mit Macht aus der Punk-Doktrin ausbricht.

Public Image Ltd.

Metal Box / Second Edition


(Virgin, 1979)

Metal Box - oder Second Edition, wenn man das Album nicht in dem großartigem Package Design als Filmrollen-Blechdose mit vier 12'' EP's besitzt – ist mit Sicherheit das beste Album, dem John Lydon seine Stimme geliehen hat. Während die Sex Pistols als Pioniere des Punk im Grunde genommen kommerzielle Musik lediglich reduziert und in Richtung Fun House - Stooges verschoben hatten strapazierte die ehemalige Ikone des Punk nach einem extremen Debut (First Issue von '78) nun mit Public Image Ltd. die Hörgewohnheiten auf kompromissloseste Art und war damit - ein bisschen überraschend – auf einmal Speerspitze einer neuen Avantgarde . Manchem mag seinerzeit der Gedanke gekommen sein, ob das hier noch Musik genannt werden konnte. Lydon benutzte sein Organ jetzt als reine Schallquelle, singen wollte er offensichtlich immer noch nicht, die gellenden Gitarrenchords von Keith Levene werden von einem Rhythmusfundament unterstützt, das an Can oder Chic oder an Dub erinnert. Bassist Jah Wobble's Arbeit auf diesem Album als mindestens genauso wichtig zu bezeichnen, wie John Lydons Beitrag, ist fast eine Untertreibung. Seine hypnotischen Basslinien sind weit im Vordergrund, ohne sie wäre das Album einfach nur Post-Punk mit Nicht-Sänger, sein Fundament trägt den Opener „Albatross“ über seine zehn Minuten. Mit „Memories“ kommt sogar Gang of Four-artige Tanzbarkeit dazu, „Swan Lake“ wird von den silbrigen Gitarrensplittern Keith Levene's zerschreddert, „Poptones“ verbindet Can mit Punk und „Careering“ ist eine beängstigend klare politische Aussage zum Nord-Irland Konflikt – die ersten fünf Stücke allein machen das komplette Album unverzichtbar. Man muss sich als Erklärung für diese völlig andere Musik im Vergleich zu den Pistols vor Augen halten, dass Lydon schon immer Prog-Rock wie etwa die Musik von Van der Graaf / Peter Hammill favorisiert hatte - dessen Nadir's Big Chance er als Gast beim Radio DJ John Peel als eines seiner Lieblingsalben bezeichnet hatte. Und Metal Box könnte man als „Prog durch Punk gefiltert“ bezeichnen, Die Musik die Lydon mit Public Image Ltd. machte, dürfte jedenfalls die sein, die er wirklich ernst meinte. Und das ergibt ein Album das Avantgarde, Zynismus und Spaß vereint

Joy Division

Unknown Pleasures


(Factory, 1979)

Auch über Unknown Pleasures ist schon unglaublich viel gesagt worden: Das minimalistische Cover vom Factory Haus-Designer Peter Saville - Radiowellen einer Supernova auf schwarzem Untergrund. Die eiskalte Produktion von Martin Hanett, bei der er mehr Platz für Stille lässt als einen Sound zu erschaffen – ganz nebenbei auch entstanden aus den pekuniären Zwängen, denen ein junges Independent Label zu Beginn der Achtziger unterlag - die trostlose, aber auch kathartische Atmosphäre die Martin Hanett mit der Band und ihrem minimalistischen Sound (und ihren durchaus begrenzten Fähigkeiten...), mit den Texten und dem kalten Bariton von Ian Curtis schuf. Dies alles macht Unknown Pleasures zu einer einzigartigen Platte, deren Konsequenz und gewagten Nicht-Kommerzialität vielleicht noch am ehesten an die von Ian Curtis so verehrten Velvet Underground erinnert, die aber auch mit Punk durch die erwähnte Verweigerung jeder Virtuosität verbunden ist, und die dann nur noch ein weiteres mal mit dem nachfolgenden Album erreicht werden konnte. Man muss sich bewusst machen, dass die Musik zu dieser Zeit nicht den Erfolg versprach, den sie nach Ian Curtis' Tod bekommen sollte. 1980 waren Joy Division eine von vielen Underground - Bands, ihr späterer Status war nicht ansatzweise vorherzusehen, Die Songs auf diesem Album wurden von Wenigen gehört, höchstens ein paar nihilistische Jugendliche und aufmerksame Kritiker und Radiomacher begannen hinzuhören – kein Wunder bei dieser grauen, aber auch ach so schönen Traurigkeit: „Shadowplay“ beschreibt scheppernd den urbanen Verfall im Thatcher-Großbritannien, „She's Lost Control“ vertont mit nervösem Zucken Ian Curtis' Erfahrungen als Epileptiker, „New Dawn Fades“ ist eine Todeshymne, und Songs wie „Disorder“ oder „Interzone“ deuten darauf hin, dass Joy Division gerade wegen der Reduziertheit ihrer Mittel und Fähigkeiten eine fantastische Live Band waren. All das sollte man sich vor Augen halten, wenn man heute (durchaus beachtliche) Epigonen wie Interpol hört

This Heat

s/t


(Piano, 1979)

Experimentelle Rockmusik ist immer schwer anzuhören – denkt man doch. Ich weiss nicht, ob das wirklich so ist, ich höre gerne und viel Musik, und ab einem bestimmten Zeitpunkt wird es doch langweilig immer dieselben Harmonien, die gleichen Sounds zu hören, also sucht man nach etwas Neuem – This Heat waren zu ihrer Zeit revolutionär – und klingen bis heute zeitlos avantgardistisch mit ihrer Mischung aus Post-Punk, Industrial, Kraut, Noise und Improvisationsmusik. Die Tatsache, dass mit Anthony Moore und David Cunningham zwei Musiker aus dem Henry Cow/Slapp Happy Umfeld produzierten – Musiker, die so explizit politisch (links) wie experimentierfreudig sind, deutet die Richtung an. Aber die Virtuosität dieser Bands spielt bei This Heat keine Rolle, dafür wird mit atonaler Elektronik, mit Tape Loops und unterschwelliger Aggression eine beunruhigende Stimmung erzeugt, werden seltsame Geräusche und Vocals, die an Robert Wyatt erinnern, mit langgezogenen Songformaten zu einer Art postindustrieller akustischer Dystopie zusammengefügt. Der Proto Jungle von „24 Track Loop“ ist einer der besten Instrumental-Tracks der Siebziger, „Twilight Furniture“ und „The Fall of Saigon“ sind noch am nächsten am gewohnten Songformat, aber bei Ersterem klingt der Gesang so einsam, wie der letzte Mensch auf Erden und Letzteres nimmt mit metallischen Percussion das gesamte Industrial - Genre vorweg. Ich habe gehört/gelesen, dass This Heat hier durchaus schon bestellte Felder beackerten (Moderne Klassik - Penderecki / Stockhausen etc), aber aus Richtung Punk war das neu. Die Einstürzenden Neubauten mögen später ähnlich geklungen haben, aber This Heat sind einzigartig und haben eine finstere Schönheit in ihrer Musik, die auch zu ihrer Zeit kaum jemand wahrnehmen wollte – die sie, auch wenn sie heute dieses Album veröffentlichten, zu modernster Avantgarde machen würde – und die die Neubauten nie erreichen würden.

Black Uhuru

Showcase


(Virgin, 1979)

Black Uhuru gehören zur zweiten Generation der Reggae Musiker Jamaikas, zu denen mithin, die auf dem Erfolg von Bob Marley oder Burning Spear aufbauten. Das allein mag ja manchem Reggae-Fundamentalisten schon als Zeichen für einen Mangel an Glaubwürdigkeit genügen, aber es ändert nichts an der Klasse dieses Albums: 1979 gibt es Nichts besseres in Dub und Roots Reggae. Showcase ist das zweite Album der Band, nach dem Debüt hatte Sänger Duckie Simpson den Namen der Band behalten, mit Michael Rose einen neuen Sänger und mit Puma Jones eine charismatische Sängerin dazugeholt. Sly Dunbar und Robbie Shakespeare, Bassist und Drummer der Studioband The Revolutionaries waren Rhythmusgespann und Producer in Einem – ein Gespann, das bald zu Recht als das beste des Reggae gelten sollte. Der Titel Showcase ist in diesem Fall Programm. Es gibt sieben Tracks, die allesamt mit bis zu acht Minuten ziemlich lang sind – und das aus gutem Grund – jeder Song hat ein „normales“ Ende, und einen Anhang, in dem mit Effekten, Studiotricks und Raps über dem Rhythmus eine Dub-Version des Stückes aufgebaut wird. Alles schon interessant, aber das wichtigste sind die Grundlagen – d.h. Die Songs. Und da sind mit „Leaving to Zion“, „General Penitentiary“, „Guess Who's Coming to Dinner“ und „Shine Eye Gal“ (mit einem Rhythm Guitar Cameo von Mr. Keith Richards !) hintereinander gleich vier Klassiker versammelt – das heißt im Reggae gutes Songwriting – das wird bei dieser Betonung der Riddim's mitunter vergessen – und intelligente Lyrics. Der Gesang ist ergreifend, die Drum & Bass Grooves von Sly & Robbie sind zwerchfellerschütternd, und es ist für mich hier wie im Jazz, den ich manchmal ebenso wenig „verstehe“. Es gibt im Reggae Alben wie Showcase, die offenbar „inspiriert“ sind, deren Reiz schwer in Worte zu fassen ist, die aber vor Schönheit glühen. Die Länge der Tracks gibt dem Album etwas Meditatives, der ebenfalls hervorragende Nachfolger Sinsemilla atmet, Showcase denkt. Ein Vergleichbares Album ? Burning Spear's Marcus' Children vom Vorjahr. Wenn also Reggae aus diesem Jahr, dann dieses Album, der einzige Konkurrent ist das ganz anders geartete Forces of Victory vom Briten Linton Kwesi Johnson.... Und Vorsicht: Showcase wurden unter diversen Titeln mit verschiedenen Covern wiederveröffentlicht: Es gibt das Album als Black Uhuru, als Vital Selection und als Guess Who's Coming to Dinner. Also aufpassen beim Erwerb.

Pink Floyd

The Wall


(Harvest, 1979)

1979 mussten Pink Floyd natürlich nichts mehr beweisen – außer vielleicht, dass sie überhaupt noch etwas zu sagen hatten. Sie hatten – wenn das auch von ihren Fans nicht so wahrgenommen wurde – mit dem Vorgänger Animals ein Meisterwerk des Nihilismus geschaffen – in der Zeit mithin, in der Nihilismus ein Konzept war, das eher im Punk sein zuhause hatte, als im progressiven Rock. Nun hatte ihr kreativer Kopf Roger Waters sich ein neues Konzeptalbum ausgedacht in dem es um den Rockmusiker Pink ging, der seine Neurosen und seine Misanthropie bis in seine Kindheit zurückverfolgte und vor Allem Frauen anlastete – kurz, er machte ein Album über sich selbst.... Musikalisch wird das Doppelalbum – wie so oft bei Pink Floyd - von ein paar einprägsamen Akkordfolgen und einigen langen Songs zusammengehalten, von denen insbesondere „Comfortably Numb“, „Hey You“ und natürlich die bis heute präsente Hitsingle „Another Brick in the Wall“ bewiesen, dass Pink Floyd noch immer eine der wirklich großen Bands waren – eine, die aus Weniger mittels effektiver Produktionsarbeit Mehr zu machen vermochte – was sie wiederum im Jahr 1980 in die Riege der Dinosaurier stellte. Aber wenn man die Moden jener Zeit außer Acht lässt, muss man einsehen - Das Beeindruckende an The Wall ist das kluge Zusammenspiel von Sound und Konzept: The Wall öffnete damals zum Einen produktionstechnisch einige Türen, aber es war vor allem seine Vermarktung mit Film und (später) Theaterstück, die revolutionär war. Pink Floyd zerbrachen in der Folge an Waters' Kontrollwahn und Ego-Trip: The Wall war und ist bis heute ein Monster.

Rickie Lee Jones

s/t


(Warner Bros., 1979)

Mit Rickie Lee Jones erschien eine Musikerin auf der Szene, die klang wie die Traumpaarung aus Tom Waits (mit dem sie befreundet war) und Laura Nyro. Und - völlig klischeehaft - hatte sie dann auch tatsächlich in den Jahren vor ihrem Debüt als Kellnerin gearbeitet, in Nachtclubs gesungen und dort ihren ungewöhnlichen Stil aus einem immer etwas verwaschen klingenden Jazz Gesang und perfekter Vokalakrobatik entwickelt. Rickie Lee Jones zerdehnt bis heute Silben bis ins Unendliche, kaut auf den Worten herum und klingt nach verschnupftem Kind und Jazz-Chanteuse zugleich. Aber neben dem fantastischen Gesang sind es ein weiteres mal vor Allem die Songs, die Rickie Lee Jones zu einem der besten Alben des Jahres machen, und die den oft gezogenen Vergleich mit Joni Mitchell durchaus seine Berechtigung geben. Sie hatte schon Little Feat's Lowell George mit ihrem auch hier vertretenen „Easy Money“ beeindruckt, der den Song für sein Solo-Album benutzte, ihre Demo Aufnahmen hatten Warner Executive Lenny Waronker so beeindruckt, dass er den Produzenten Russ Titleman und eine Schar Studio-Asse zusammenrief und diese Songs zwischen Folk und Jazz aufnehmen ließ. Und er hatte recht mit seiner Begeisterung: „Chuck E's In Love“ wurde zum Hit und für einen kurzen Moment war diese so ungeeignete Person so etwas wie ein Pop-Star. Aber die wundervollen Songs tragen durch das ganze Album und der Closer „Last Chance Texaco“ ist nur ein sehnsüchtiges Highlight unter Vielen – und Rickie Lee Jones bleibt für immer an der Spitze der Frauen mit Stil..... Neben.....

Marianne Faithful

Broken English


(Island, 1979)

Für Marianne Faithful waren die 70er traumatisch gewesen. Die Ex-Muse Mick Jagger's hatte das Sorgerecht für ihr Kind verloren, einen Suizidversuch hinter sich gebracht, war heroinabhängig geworden und hatte zwei Jahre quasi auf den Straßen von Soho gelebt. Im Jahr zuvor war sie wieder in ein Studio gegangen und hatte eine schreckliche Pop-Platte aufgenommen. Dann kam die Rettung durch Punk: Sie lernte den Vibrators-Bassisten Ben Brierly, The Clash, die Sex Pistols und ihren Produzenten Barry Reynolds kennen, einen Mann, der später mit dem auf diesem Album entwickelten Sound mit Grace Jones oder Black Uhuru großen Erfolg haben sollte. Faithfull's Stimme war um eine ganze Oktave tiefer als in den Sechzigern, vom Leben und vom Alkohol gezeichnet - und für die Lyrics, die sie auf Broken English vertonte, das perfekte Instrument. Der Sound pulsierender Synthies und harscher Gitarren ist kalt, die Stories handeln von Vorstadt-Hausfrauen, die mit ihrem Leben nicht mehr zurechtkommen (... der bis heute seltsamerweise im Format-Radio gern gespielte Hit „Ballad of Lucy Jordan“) und dem Verlust aller Illusionen, ob in Liebe oder Leben. Dass das harter Stoff war – und bis heute ist – macht das Album bei allen modischen Soundspielereien so zeitlos, und die Tatsache, dass das Material neben dem Hit entdeckenswert ist, macht es noch besser. Wenige Alben sind so glaubwürdig wie dieses.

Neil Young & Crazy Horse

Rust Never Sleeps


(Reprise, 1979)




Neil Young & Crazy Horse

Live Rust


(Reprise, 1979)

Neil Young beendete die 70er mit Rust Never Sleeps - mit einem Album, das ihn als einen der wenigen etablierten Künstler zeigte, die das Jahrzehnt mit Würde überstanden hatten. Musikalisch immer noch interessant genug, ohne sich an neue Trends anzubiedern, und immer noch mit Kraft und hervorragenden Songs. Die erste Seite der LP mit akustischen Stücken wie dem surrealen „Trasher“ oder dem auf Sacheen Littlefeather gemünzten „Pocahontas“, - die für Marlon Brando den Oscar für „Der Pate“ zurückgewiesen hatte - und natürlich mit der Akustik-Variante von „My My, Hey Hey“, das durch Kurt Cobain's Zitat „Its better to burn out, than to fade away...“ in dessen Abschiedsbrief zu seinem Suizid traurige Berühmtheit erlangen sollte. Die zweite Seite dann elektrisch - mit Crazy Horse, krachend und lärmend und ganz gewiss nicht altersweise oder angepasst. Und mit „Powderfinger“- einem seiner besten Songs. Die elektrische Version von „My My, Hey Hey“ bildet dann Rahmen und Abschluss für eines der wirklich gelungenen Alben Neil Young's. Im selben Jahr veröffentlichte Neil Young den Film Live Rust mit dazugehöriger Live LP. Vielleicht tatsächlich als Abschluß der 70er gedacht, war es zugleich eine wunderbare Werkschau, und ist – wieder mit Crazy Horse aufgenommen - auch eine der großen Live LP's der Rock-Geschichte. Nach einem Akustikset stand die Band weiß gekleidet vor riesigen Verstärkertürmen und entfesselte einen wahren Lärmorkan mit Songklassikern wie „Cortez the Killer“, „Hey Hey“ und vor Allem „Like a Hurricane“. Über die Notwendigkeit von Live-Alben zu diskutieren ist in diesem Falle müßig, da Neil Youngs Live-Versionen meist roher sind, länger, anders und mitunter besser als die Studioversionen. Und Neil Young hat natürlich auch zu dieser Zeit schon genug an erprobtem Material, das er hier auch ganz hervorragend ausgewählt hatte. Wenn man Live Rust und das Studioalbum Rust Never Sleeps hört, liegt der Gedanke noch sehr fern, dass die kommenden 80er für Young (s)eine verlorene Dekade werden sollten. Auf den beiden Alben klingt er noch energetisch, sich seiner Selbst und seiner Fähigkeiten bewusst. Ein guter Abschluss also, aber was dann in den 80ern folgte, sollte eine ziemliche Enttäuschung werden...

Lee Clayton

Naked Child


(Capitol, 1979)

Lee Clayton dürfte nur denjenigen bekannt sein, die sich die Songwriting-Credits auf Outlaw-Country Alben anschauen – also nur seltsamen Nerds. Er hatte seit dem Ende der Sechziger für diverse Musiker in Nashville Songs geschrieben, und insbesondere Waylon Jennings scheint ihn sehr gemocht zu haben. Mit “Ladies Love Outlaws“ hatte der einen veritablen Hit gelandet. '73 hatte Clayton selber ein Solo-Album gemacht, das sehr lohnend anzuhören ist, das er selber allerdings nicht mochte. mit dem exzellenten Border Affair ('78) war er schon weit zufriedener gewesen und 1979 erschien mit Naked Child dann eines der schönsten unbekannten Alben zwischen Country und (Folk)-Rock. Warum Naked Child so obskur blieb ? Claytons Stimme ist gewöhnungsbedürftig – irgendwo zwischen heiserem Dylan und unsicherem Quengeln, die Songs wollen sich nicht entscheiden, ob sie Rock oder Country sind, für Country zu progressiv, für die Rockmusik der Siebziger zu nah an Country. Dabei hatte Clayton nicht nur ein Händchen für gute Songs – auch die Lyrics von Songs wie „10.000 Years/Sexual Moon“ oder „I Ride Alone“ mögen klischeehaft sein, aber die Bilder, die entstehen, sind technicolor - bunt. Dazu kommt auf diesem Album der wie entfesselt aufspielende Slide-Gitarrist Phil Donelly, die einige der Songs regelrecht in Flammen aufgehen lässt. Manchmal scheinen Produzent Neil Wilburn (u.a. Guy Clark's Old No.1) und Clayton sogar ein bisschen in Richtung trendigem New Wave geschnuppert zu haben - „If I Can Do It (So Can You)“ klingt für Country VIEL zu modern, die Romanze „I Love You“ wiederum wird nur durch Claytons seltsame Stimme vor'm Abrutschen in den Schmalztopf gerettet, „A Little Cocaine“ ist dann wiederum durch Harp und akustische Gitarren nah an Dylan und Outlaw-Country und hat wieder eine dieser wunderbar lakonisch erzählten Stories. Clayton machte hiernach nur noch ganz sporadisch Musik, Naked Child ist ein Kuriosum, aber eines mit sehr eigenem Stil und voller wunderbarer Songs, die 15 Jahre später unter dem Begriff „Americana“ vermarktet worden wären. Und - damit will ich niemanden abschrecken: U2's Bono benannte Lee Clayton als eine seiner Inspirationsquellen.

















Freitag, 26. August 2016

1978 - Papst Johannes Paul I &II, J.R. Ewing und Dallas - Elvis Costello bis Big Star

...ist das Jahr, in dem im Iran erstmals der bis dahin mundtot gehaltene Ayatollah Chomeini zu Wort kommt. Noch erklingen seine Worte aus dem französischen Exil, aber sie schlagen Wellen in der islamischen Welt. In Italien wird der Politiker Aldo Moro von der Terrororganisation „Rote Brigaden“ entführt und getötet. Nach dem Tode von Papst Paul IV bleibt der italienische Nachfolger Papst Johannes Paul I nur 33 Tage im Amt. Sein plötzlicher Tod ist bis heute Quell von Gerüchte und Verschwörungstheorien, man sagt die Mafia oder die Kurie habe da ihre Hand im Spiel gehabt.... Sein Nachfolger ist der weit konservativere Pole Karol Woytila. In London wird das erste Retortenbaby geboren, Die Fernsehserie „Dallas“ startet. Vor der Küste der Bretagne geht der Öltanker „Amoco Cadiz“ auf Grund und löst eine gewaltige Ölkatastrophe aus. Im Iran kommen bei einem Erdbeben 15.000 Menschen um, und der Sektenführer Jim Jones treibt in den USA 900 Gläubige in den Zyankali - Selbstmord. Musikalisch ist 1978 das Jahr des Post-Punk. Pere Ubu, die Buzzcocks, Wire, sie alle machen Musik, die Punk mit Kunst paart und so zum Post-Punk wird. Auch der Reggae hat das Ende des Punk sehr lebendig überstanden. Währenddessen wird Ambient von Ex Roxy Music Gehirn Brian Eno im Alleingang erfunden, Die 70er klingen aus, und viele neue Acts etablieren sich in den Nachwehen des Punk mit Musik, die weit in die Zukunft weist. Peter Gabriel emanzipiert sich vom progressiven Rock, Marvin Gaye macht ein Scheidungsalbum, Hard Rock wird langsam zu mehr als nur Deep Purple, Heavy Metal in der Form wie wir ihn kennen ist noch nicht da, aber es beginnt laut zu rumoren. Country ist immer noch lebendig, und Scott Walker macht mit den Walker Brothers auf einmal Musik, die seltsam und unheimlich ist. Die Dire Straits und The Police, zwei Bands aus ganz unterschiedlichen Bereichen, beginnen in diesem Jahr Karrieren, die bis weit in die 90er führen sollen und die sie an Stelle solcher Dinosaurier wie Led Zeppelin oder Yes treten lassen werden. Ignorieren will ich Boney M oder auch die Soundtracks zu Grease und Saturday Night Fever, die für die peinliche Variante von Disco stehen, aber sehr erfolgreich sind (und von vielen bis heute geliebt werden). Das zweite Album der Band Boston kann ich heute auch einfach nicht mehr gut finden (obwohl ich es im Alter von 15 Jahren mochte...), wenn ich mir im Vergleich dazu etwa Wire oder die Talking Heads anhöre. Ebenfalls erfolgreich, aber hier ohne Belang: Bob Seeger's Hemdsärmel-Rock oder George Benson's Leichtgewichts-Jazz.

Elvis Costello

This Year's Model


(Radar, 1978)


Nach seinem Debut My Aim Is True – noch mit der Backing Band Clover und ohne die Attractions aufgenommen und somit eher im Pub Rock Sound – gelang Elvis Costello mit This Years Model die Metamorphose vom Folkie zum angry young man des New Wave. Dieses Album bietet das, was man bis heute mit Costello verbindet: Sie ist eine einzige Attacke - von „No Action“ über „Lip Service“ und „Lipstick Vogue“ bis zum gruseligen, Gänsehaut erzeugenden “Night Rally“. Von Nick Lowe ohne überflüssiges Beiwerk produziert, schießt Costello seine Worte wie Pfeile in den Wanst der britischen Wohlstandsgesellschaft. Beißend, giftig, sardonisch sind die Texte, und die Musik entsprechend angriffslustig und zugleich mit dem für Costello typischen melodischen Aplomb. Die Attractions waren dafür definitiv die richtigen Waffenbrüder, mit Steve Nieves schneidendem Orgelklang statt der brutalen Gitarre, die Costello nicht spielen konnte, mit einem Sound, der eher von 60er Garagen-Bands beeinflusst war, als vom Punk-Sound der Stunde. Die Musik ist natürlich Popmusik, aber die ist voller Wut, Zynismus, Verzweiflung und Liebe, gesungen von einer Stimme, die all diese Emotionen trefflich in sich vereint – und entsprechend unschön ist. Es sind die Faktoren, die Costellos Musik in der folgenden langen Karriere immer wieder auszeichnen sollten. Er mag später stilistische Sprünge nach links und rechts gemacht haben, aber er kehrte zunächst auch immer wieder zum zynischen Pop zurück. This Years Model ist das Album, das die allgemeine Vorstellung von Costello's Musik definiert, einer Musik, die die unbequemen Seiten des Zusammenlebens behandelt... und darin perfekt ist.

Wire

Chairs Missing


(Harvest, 1978)

Gerade mal acht Monate nach dem Debut Pink Flag veröffentlicht, war Chairs Missing ein Schlag ins Gesicht der Punk-Szene, die die Band so gerne für sich vereinnahmt hätte. Kritiker wie Fans waren nicht begeistert: Wire teilten auf einmal das Label mit den Prog-Rockern Pink Floyd und Produzent Mike Thorne spielte - auf Wunsch der Band ! – auf dem neuen Album sogar Synthesizer. Es wurde mehr Wert auf den Sound gelegt als zuvor, die Songs wurden länger, das Tempo langsamer. Dazu kamen nun Texte, die durchdacht und düster waren, die der Musik zusätzlich Tiefe gaben. Nicht dass Chairs Missing wirklich einen Verrat an Punk-Idealen dargestellt hätte, im Gegenteil, was ist mehr „Punk“, als gerade die konsequente Verweigerung gegenüber der Vereinnahmung durch eine „Szene“ ? So jedenfalls schufen Wire eines der ersten und zugleich besten Post-Punk Alben. (Der LP-Titel übrigens bedeutet soviel wie „nicht mehr alle Tassen im Schrank“). Songs wie „I Am the Fly“ mit insektenhaft schwirrenden Gitarren, das elektronisch verfremdete „Practise Makes Perfect“, oder das kurze, noch am ehesten an die Songs auf Pink Flag erinnernde „Outdoor Miner“, - all diese Songs in eiskaltem Soundgewand - zeigen Wire wie in einem Schnappschuß an einem bestimmten Punkt ihrer rasend schnellen Entwicklung. Und zugleich sind sie eine der Bands, deren Musik weit in die Zukunft weisen sollte. Hier holen sich etliche spätere Bands aus Hardcore und Post-Punk ihre Ideen - und Wire machen bis heute (!) überraschend glaubwürdig weiter...

Kraftwerk

Die Mensch-Maschine


(Kling Klang, 1978)


Auch Kraftwerk waren 1978 auf einem der Höhepunkte ihrer Entwicklung. Ihre Musik war von Beginn an ihrer eigenen Zeit voraus gewesen, ihr Einsatz von Computern in der Musik visionär, ihre Ästhetik einzigartig. Mit dem Vorjahresalbum Trans-Europa Express hatten sie den nächsten künstlerischen Höhepunkt erreicht, der Nachfolger Die Mensch-Maschine war nun mit seinem Gesamtkonzept aus Musik und Design noch ausgereifter. Der Stummfilmklassiker Metropolis von Fritz Lang diente als Inspirationsquelle, das an den russischen Konstruktivisten El Lissitzky angelehnten Cover sollte die Bildsprache etlicher New Wave - und vor allem Synth-Pop-Acts der kommenden Jahre definieren, der kalte Sound der Synthesizer, die Art des Gesangs und sogar das ästhetische Konzept wurden bald darauf von Epigonen wie Gary Numan erfolgreich kopiert. Und neben dem ganzen stilistischen Überbau hatten Kraftwerk auch noch die entsprechend durchdachte und gelungene Musik zum Konzept. „Das Model“ ist ein Traum von einem Popsong, so kühl, elegant und verführerisch wie eines der Geschöpfe vom Laufsteg. "Neonlicht" und "Die Mensch-Maschine" wirken wie urbane Mantras, deren sanfte Monotonie neue musikalische Sphären eröffnet. Der zackige Funk von „Die Roboter“ bringt den Albumtitel auf den Punkt und entstand beim Zusammenspiel der beiden Schlagzeuger Wolfgang Flür und Karl Bartos mit ihrem neuen Sequenzer. Die Idee, sich auf der Bühne durch Androiden - Alter-Egos vertreten zu lassen, entstand genau hier und wurde direkt von den gläubigen Anhängern der elektronischen Lehre The Human League kopiert. Man findet im Laufe der Zeit wohl wenige Alben, die so weite Kreise ziehen würden.

Blondie

Parallel Lines


(Chrysalis, 1978)

Haben Blondie zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch irgend etwas mit Punk zu tun? Ihre ersten beiden Alben waren im Dunstkreis des CBGB in New York entstanden, dort wo Patti Smith 'rumhing, und wo Television Psychedelic Rock ohne Blues wagten, aber Blondie waren von vorne herein viel mehr Pop, als die meisten in dieser Szene jemals werden sollten. Für ihr drittes Album Parallel Lines holten sie den zuvor mit Bands wie Sweet und Smokie erfolgreichen Pop-Produzenten Mike Chapman ins Boot, der ihre an Brill-Building geschulten Songs aufpolierte und ihnen damit den kommerziellen Erfolg ermöglichte, der zuvor noch ausgeblieben war....was bedeutet, dass jedes Spurenelement des Punk nun ganz verschwunden war, und Parallel Lines ganz einfach perfekte Popmusik wurde. Höchstens Debbie Harry's kühler Girl Glamour mochte noch daran erinnern, woher die Band kam. Die Songs hier allerdings hätten in jeder Form ihre Klasse bewahrt. Schließlich zog ja auch die ganze Band bei der Kommerzialisierung ihres Sounds mit. Blondie als Band sollten nie mehr besser werden als bei Songs wie den Hits „Sunday Girl“ oder dem Discotheken-Knaller „Heart of Glass“, bei dem Drummer Clem Burke sich zu gleichen Teilen von Kraftwerk und den Bee Gees im „Saturday Night Fever“ beeinflussen ließ. Aber wie es sich für ein großes Album gehört waren auch nicht als Single gedachte Tracks wie „One Way Or Another“ oder das an Marilyn Monroe gemahnende „Fade Away and Radiate“ - mit Robert Fripp an der Gitarre - von höchster Qualität. Blondie führten mit Parallel Lines auf selbstbewusste Weise den Girl-Group-Pop der Sechziger hinüber in die Achtziger.

Talking Heads

More Songs About Buildings And Food


(Sire, 1978)

Es ist schon dieses zweite Album der Talking Heads - More Songs About Buildings And Food - auf dem ihr Interesse an Disco, R&B und Soul das Kommando übernahm. Vom Al Green Cover „Take Me To the River“, (in den U.S. Top 40) bis zu den Disco-Elementen im Mix von “I’m Not in Love” wird nun alles intensiv an schwarze Musik angelehnt. Natürlich sind da noch Songs, die auch auf Talking Heads 77 gepaßt hätten – die nervöse New Wave Seite ihres Sounds würden sie schon wegen David Byrnes Stimme nie gänzlich verleugnen können - aber das Rhytmusgespann aus Tina Weymouth und Chris Frantz spielte ab jetzt intensiv, messerscharf und hoch-komplex – und funky. Byrne's Texte und sein typischer Gesang wurden immer besser und die fruchtbare Partnerschaft mit Brian Eno - erstmals als Produzenten für die Talking Heads tätig - begann hier. Eno's Vision war es, die Betonung auf den Rhythmus zu setzen, was der Musik sehr gut tun sollte. Und er beließ David Byrne's hypernervösen Gesang so wie er war, um die Identität der Band nicht zu verschleiern – weil diese Stimme das einmalige Merkmal der Talking Heads bleiben sollte. So sind es speziell die beiden letzten Songs, die More Songs.. .vom Vorgänger abheben. Al Green's „Take Me to the River“ wurde wie gesagt zum Hit und „The Big Country“ ist einer der besten Songs der Talking Heads überhaupt. Eno hatte die Band zweifellos in die Spur gesetzt – und der Brite nutzte die Zeit zum Mastering des Albums für ein weiteres bahnbrechendes Projekt...

Various Artists

No New York


(Antilles, 1978)

..und zwar für diese Anthology, die man getrost die beste für ihre Musik nennen kann. Brian Eno hatte während seiner Arbeit mit den Talking Heads das Underground-Festival „New York, New York“ gesehen und war von der sogenannten No Wave Szene so beeindruckt, dass er deren Musk unbeding dokumentieren wollte. Jede der vier Bands auf dieser Anthology - James Chance and the Contortions, Teenage Jesus and the Jerks, Mars und D.N.A. - bekam in je vier Songs die Chance, ihre Musik und damit vor Allem ihre Haltung zum Musikmachen darzustellen. Und die Haltung war offensichtlich WEIT wichtiger als ihre Umsetzung. No New York ist ein Dokument des Chaos und frechen Nihilismus in musikalischer Form. Die vier Bands detonieren in vier Explosionen und sagen, dass man ALLES tun darf, dass es keine Regeln und vor Allem keine Einschränkungen durch ein Zuwenig (oder Zuviel) an handwerklichen Fähigkeiten geben darf: Es ist der Ur-Gedanke des Punk, nur weiter gedacht. Die Contortions sind die „konventionellsten“, zumal musikalisch fähigsten, mit Funk-Punk der klingt wie eine Mischung aus James Brown, Free Jazz a la Albert Ayler und Charles Manson. Teenage Jesus and the Jerks klingen wie Junkies, die ihre Gitarren stimmen und dabei – in Form von Lydia Lunch's „Gesang“ - einer Katze auf den Schwanz treten. Auch Mars klingen mit ihrer Kakophonie aus Gitarre, Bass und Schlagzeug nicht viel einladender. Sie rennen - ein bisschen wie im Free Jazz - von einer Melodie einfach in verschiedene Richtungen, aber in all dem Lärm versteckt sich irgendwo eine Pop-Band. Ihr „Helen Forsdale“ ist ein „Eleanor Rigby“ für eine atonalen Welt. DNA schließlich sind fast bluesig, mit Arto Lindsay als Sänger und Free-Form Gitarrist (der später in erlauchten Free-Jazz Kreisen reüssieren sollte). No New York ist definitiv keine Anthology für den gepflegten Nachmittagstee. Die Musik tut weh und sie ist nicht Punk oder Post Punk, wie er dann von Tausenden von Bands variiert wurde. Das hier ist „No“ Wave, und Viele sagen dazu: „Das ist unverschämter, sinnloser Lärm, der sich als Kunst verkaufen will.“ Könnte stimmen, ist mir aber egal. No New York ist - wie vorhin erwähnt – ein Dokument der absoluten Freiheit, es sind die Gedanken der Hippie Kultur zusammen mit denen des Punk zu Ende gedacht.

Ramones

Road To Ruin


(Sire, 1978)

Das Studioalbum Nummer Vier der Ramones ist ihr letztes großes Album. Sie hatten mit dem 76er Debüt Ramones schon ihren Stil definiert und mit dem dritten Album Rocket From Russia ihren kreativen Zenith erreicht, jetzt wollten sie auch Hits landen und Kohle machen. Und die Suche nach kommerziellem Erfolg ist ihnen deutlich anzuhören, die Songs werden länger, die Produktion ist ausgefeilter, und das Tempo geht ein bisschen runter. Nun, sie hätten wahrscheinlich auch kaum noch schneller werden können, und solange ihnen die entsprechenden Songs gelangen, konnte man ja damit leben. Da sind polierte Gitarren-Overdubs bei „I Just Want to Have Something to Do“, jangly Guitars bei der Coverversion von „Needles and Pins“, es gibt sogar echte Gitarrensoli , mal simple Ein-Finger Soli wie bei „I Wanna Be Sedated“ aber auch komplexere Tonfolgen, die sich fast nach „Rock“ anhören - wie etwa bei „Don't Come Close“ - und das geht dann mitunter in die Hose. Es gibt mit „Questioningly“ eine echte Pop-Ballade, immerhin mit netter Melodie aber es gibt auch ein paar weniger gelungene Momente auf diesem Album. Aber immerhin sind die guten Songs immer noch in der Überzahl, die oben genannten „I Wanna Be Sedated“ und „I Just Want to Have Something to Do“ sollten zu Klassikern des Punk werden, „She's the One“ und „I'm Against It“ sind genauso gut, nur unbekannter, und der Versuch Hits zu schreiben und erfolgreich zu werden ist ja an sich nichts Verwerfliches. Nach diesem Album aber ließen die Ramones immer mehr nach, die Wiederholung ihrer Formel begann an Reiz zu verlieren, weil sie an Energie verloren, was wiederum den immer größeren Aversionen der Bandmitglieder untereinander geschuldet sein mag. In den 80ern hatten sie auf jedem Album noch hier und da einen guten Track, aber Road to Ruin ist ihre letzte wirklich konsistente Platte (wenn man das folgende Live Album nicht mitzählt, das ja so was wie eine Best Of ist). Sie hätten auch einfach aufhören können, ihr Denkmal jedenfalls stand schon.

Television

Adventure


(Elektra, 1978)

...Television hingegen hätten schon nach ihrem Debüt ihre Karriere beenden können. Sie sind eine der Bands, die immer das Problem hatten, ein so großartiges Debüt abgeliefert zu haben, dass ein Nachfolger nicht besser sein KONNTE. Vielleicht waren sie sich dessen bewusst. Auf jeden Fall versuchten sie es gar nicht erst eine Art Marquee Moon Teil 2 einzuspielen. Was wiederum auch schwierig war, denn die Essenz der Band, das ineinander verflochtene Gitarrenspiel von Tom Verlaine und Richard Lloyd, konnten sie ja nicht einfach weglassen. So versuchten sie mit einem neuen Produzenten (John Jansen, der u.a. mit Meat Loaf gearbeitet hatte) den Sound zu variieren – was der Musik leider nicht immer gut tat. Tom Verlaine's Gesang beispielsweise klingt kaum noch nach ihm selber, der scharfe Sound des Debuts wird deutlich abgeschliffen, Television klingen „softer“ als auf Marquee Moon – und das gefällt vielen Hörern bis heute nicht. Dabei gibt es andererseits einige Songs, wie „Glory“ und „The Dream's Dream“, denen die neue Zurückhaltung durchaus steht. Bei „The Fire“ denkt man auf einmal an Pink Floyd – und das nicht im negativen Sinne, man muß sich bei Television nur erst einmal daran gewöhnen an eine andere Band zu denken... Nichtsdestotrotz ist Adventure ein gelungenes, teilweise tolles Album. Es ist eben nur nicht so gut wie Marquee Moon ,- am besten man hört Adventure zuerst. Und das Sleeve-Design ist wieder mal sehr schön - ein gelungenes Sechziger-Zitat.

Patti Smith Group

Easter


(Arista, 1978)

... und nun das nächste Mitglied der New Yorker CBGB's Szene – die Szene, die zu dieser Zeit die innovativsten Spiele betrieb. Und Patti Smith hatte ein ähnliches Problem wie Television, aber eine andere Lösung. Sie wird immer über ihr Debüt Horses von '76 definiert werden, genau wie Television über ihr Debüt Marquee Moon.. Und das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit. Beide kommen aus der gleichen Szene, aus der New Yorker Punk-Szene, die immer etwas anders war – künstlerischer, intellektueller und avantgardistischer als die Szene in Europa. Zumal Patti Smith mit Tom Verlaine eng befreundet war. Aber die beiden hatte vollkommen andere Voraussetzungen: Die Patti Smith Group hat einen eigenen, recht „normalen“ Rock-Sound, die Besonderheit liegt in der Sängerin und Texterin Patti Smith, in ihrem atemlosen Vortrag und in ihren mitunter frei assoziierten Lyrics – und nicht zuletzt in ihrer Außenwirkung als (selbst)bewusst NICHT „niedliche“ Frau und Musikerin - als Punk-Ikone wie man das oft so schrecklich vereinfacht bezeichnet. Ihr drittes Album Easter sollte der kommerzielle Durchbruch werden, die Patti Smith Group spielte noch rockistischer als zuvor, der Sound war beeinflusst von Bruce Springsteen, mit dem Patti rumhing und mit dem sie gemeinsam ihren größten Hit „Because the Night“ schrieb und dessen Produzent Jimmy Iovine deutlich herauszuhören ist. Easter ist von christlichen Motiven durchzogen – vom Titel über die Liner Notes bis zum Song „Privilege“ der sich auf den gleichnamigen (ziemlich schrecklichen) Film bezieht, in dem ein Rockstar von Kirche und Staat zu einer Art Messias aufgebaut wird, der die Jugend konformisieren soll. Ob Patti Smith sich selber so sah...? Der Spagat zwischen Kunst und Kommerz jedenfalls gelang besser als erwartet. Bei aller kommerziellen Ausrichtung hatte sie dieses Quentchen Authentizität, das sie vom normalem Pop abhob. Und wenn sie Zeilen sang wie „Love is an angel disguised as lust/ Here in our bed until the morning comes“, verschob sie die Grenzen der Akzeptanz im Radio um einiges Richtung Anspruch. Easter ist nicht Horses.... na und?

Big Star

3rd / Sister Lover


(PVC, 1978)

Und hier das perfekte Aussenseiter-Album: Die Geschichte der Band Big Star ist eine der Tragödien in der Rockgeschichte und ihr drittes und letztes Album wurde 1974 aufgenommen, als es die Band eigentlich schon nicht mehr gab – nur noch Sänger, Gitarrist und Songwriter Alex Chilton (Ex-Box Tops) und Drummer Jody Stephens waren übrig - und es wurde dann erst im Jahr 1978 eher halbherzig veröffentlicht.  Dieses Album fängt aber nicht nur aufgrund seiner desolaten Entstsehungsgeschichte auf's dramatischste genau den Moment ein, in dem das Leben auseinanderfällt. Die Fragilität der Songs ist so berührend, die desperate Stimmung dem Sänger so deutlich anzuhören, dass man nicht anders kann, als zuhören. Hier werden in depressiven, sogar apokalyptischen Texten Momente größter Verletzlichkeit eingefangen („Holocaust“) - und dabei ironisch belächelt. Alex Chilton erwies sich in dieser Zeit, von Alkohol- und Drogenproblemen geplagt und vollkommen desillusioniert, da seine Karriere auf Grund zu laufen drohte, als Meister der düsteren Popmusik. Hoffnungslosigkeit klang aus seinem klaren Soul-Gesang und aus jeder Gitarrennote. 3rd / Sister Lover ist ein Nacht-Album („Kangaroo“ wurde tatsächlich des nachts insgeheim aufgenommen, da die Band sich keine Studiozeit leisten konnte) und sollte auch Nachts gehört werden. Die fragilen Arrangements von Chilton und dem genialen Jim Dickinson sind minimalistisch ("Big Black Car") und klingen nach Kammermusik ("Stroke it Noel", "O Dana"). 3rd / Sister Lover ist ein dunkler Stern und das beeindruckende Vermächtnis einer Band, die einfach zur falschen Zeit die richtige Musik machte. Es mag bezeichnend sein, dass dieses Album tatsächlich nie wirklich definiert wurde, ein Track Sequencing fand nie abschliessend statt, so dass es diverse Versionen desAlbums gibt, das Cover wurde in verschiedenen Varianten, je nach jeweiliger Plattenfirmma gestaltet und selbst der Name der Band könnte entweder Big Star oder Sister Lover lauten. Man weiss es nicht und Alex Chilton kann es uns nun nicht mehr sagen, er ist inzwischen verstorben und weigerte sich zeitlebens, sich genauer zu diesem Album zu äussern... aber schließlich mag es ihm bewusst gewesen sein, dass banale Fakten bei solcher Musik keinen Wert haben. Die Kehrseite von Pet Sounds vielleicht ?