Mittwoch, 26. Juli 2017

1985 – R.E.M. bis The Velvet Underground – College Rock oder so...

Zu Beginn der Achtziger haben in den USA die unabhängigen Radiostationen der Colleges und Uni's begonnen, eigenständige Radioprogramme zu senden - losgelöst vom Charts-Diktat der landesweit arbeitenden „kommerziellen“ Radiostationen. Die Playlists in diesen Stationen sind bewusst anders als die der normalen Radiosender, sie werden von musikbegeisterten Studenten zusammengestellt – und wie das so ist bei Musikbegeisterten: Die wollen etwas Neues, Interessantes hören. Nun hinken die USA der musikalischen Entwicklung in Europa ein bisschen hinterher. New Wave und Punk aus Europa – genauso wie der US Hardcore und Post-Punk der Großstädte - wird von den Republikanern unter Reagan, von der in den USA sehr starken religiösen Rechten und somit vom Mainstream der Bevölkerung in die Ecke des Anrüchigen und Bösen gerückt. Schlock wie die Musik von Mr. Mister, REO Speedwagon, oder Starship regiert die Charts und wird von der Mehrheit der US-Bürger kritiklos konsumiert. der Soundtrack zur 80er Lifestyle Krimi-Serie Miami Vice ist eines der meistverkauften Alben in den USA – und doch gibt es Hirn in diesem Land. Bloß weil Millionen Fliegen Scheiße fressen, schmeckt die ja auch nicht gut. Es gibt kluge, politisch neutrale bis linke, bewusst unkommerzielle Bands aus den USA wie R.E.M. (ja... die sind noch bei einem kleinen Label...) oder trunkene Romantiker wie die Replacements oder den geschmackvollen Revivalisten Chris Isaak - oder die rasenden Art/Hardcore Bands des SST Labels über die ich in einem gesonderten Kapiltel schreiben will – und die machen Musik, die interessant ist, die in die Zukunft weist. Das Angebot der Bands, die man unter dem Begriff College Rock fasst, ist breit gefächert – College Rock ist KEINE Stilbezeichnung, sondern ein Wort für Musik, die für eine bestimmte Haltung ihrer Hörer und der Ausführenden steht. Und noch ist College Rock ein Thema für Eingeweihte. Bald wird die Industrie auf diesen Markt aufmerksam, bald bemerken die großen Radiostationen (denen man in den Achtzigern noch zuhört), dass sie da eine Entwicklung verpassen und eine ganze Generation von Zuhörern zu verlieren drohen. Und in fünf Jahren gelingt es einer kleinen Band aus Seattle unfreiwillig, Kommerz und diesen Anspruch zu verbinden. Aber 1985 ist College Rock noch immer relativ „unkommerziell“ und unschuldig. Er ist schon ein erwachsenes Phänomen, aber er macht noch Spaß. Hier also ein paar Alben amerikanischer Bands, die in diesem Jahr von den Studenten in den USA gehört wurden.

R.E.M.

Fables Of The Reconstruction


(IRS, 1985)

R.E.M. Waren von Beginn an eine Band, die sich in einem erkennbaren stilistischen Rahmen bewegten. Innerhalb der amerikanischen und auch britischen Folkmusik, dem Jangle der Byrds und dem nervösen Furor des Post-Punk. Und damit sind sie eine archetypische Band für das College Radio der Mitt-Achtziger. Dazu kommt ein damals noch unbedingter Wille zu Unabhängigkeit (siehe Label...) und die damit einhergehende Glaubwürdigkeit. Aber es hatte sich auch gezeigt, dass sie ein beachtliches Pop-Appeal hatten – bei all der Reduziertheit im Sound und trotz -oder gerade wegen - der kryptischen Lyrics. Nach zwei Alben war es Zeit für eine gewisse Neujustierung des Sounds, also ging man nach London und holte sich den legendären Folk-Produzenten Joe Boyd (of Brit Folk Fame...). Fables of the Reconstruction gilt seltsamerweise als eines der schwächeren Alben der Band – woran diese mit Schuld trägt. In der Rückschau sagte Drummer Bill Berry zunächst „it sucks“, aber diese Meinung wurde im Laufe der Zeit von allen Bandmitgliedern revidiert. Tatsächlich bekamen die vier Musiker im verregneten London Heimweh, mit Joe Boyd wurden sie auch nicht so recht warm – aber vor Allem ist die Grundstimmung des Albums eher eine (gewollt) düstere, die Thematik (trotz des Aufenthaltes in England) „American Gothic“. Da beginnt das Album mit dem dunklen Folkrock von „Feeling Gravitys Pull“ incl. Streicherquartett, da hat sogar ein Singalong wie „Driver 8“ einen widerspenstigen Haken und die Single „Cant get There from Here“ mag upbeat beginnen, aber das Grinsen wirkt falsch. Tatsächlich sind auf Fables... einige wirklich große Songs – auch wenn die nicht sofort ins Ohr gehen. Für mich probierten R.E.M. Hier erstmals eine Tiefe aus, die sie bald einfach besser meisterten. Songs wie „Kohoutek“ oder „Wendell Gee“ mögen nicht die Hit-Qualitäten späterer Singles haben, aber sie sind gerade wegen der verwaschenen Produktion und ihrer unwilligen Spannung reizvoll. Fables of the Reconstruction ist ein ungewöhnliches Album für R.E.M. - und eines, das nur sie machen konnten.

The Replacements

Tim


(Sire, 1985)

Tim ist das Album nach Let It Be, nach den ersten, für die Band wohl überraschenden anerkennenden Schulterklopfen – man sollte bedenken, es gab einen Grund, warum sich die vier Musiker „Der Ersatz“ nannten. Sie waren mit unbekümmerter Wucht immer wieder vor die Wand gefahren – und auf einmal wurde ihnen gesagt, dass sie das gut gemacht hatten. Wenn also Let It Be das Album über die Teenage Angst in den USA der Achtziger ist, dann ist Tim das Album über den Punkt, an dem man die Zwanziger erreicht, wenn man bemerkt, dass man keine Ahnung hat, was es heisst erwachsen und verantwortlich zu sein und wenn man erkennt, dass man keinen Schimmer hat, was „richtig“ ist. Und für diese Gefühle war Paul Westerberg in genau dieser Zeit genau der richtige Songwriter. Er gab der Verlorenheit seiner Generation eine Stimme - und die richtigen Melodien. Am besten stehen die beiden Hymnen „Bastards of Young“ und der Opener „Hold My Life“ für die Stimmung, die Westerberg einfängt, als er singt:“...It's time for a decision to be made...“ um sich dann umzudrehen und zu bitten „...hold my life, until I'm ready to use it,“ Die Ratlosigkeit und das Erkennen dieser Ratlosigkeit wird in eine so sehnsüchtige und catchy Melodie gepackt, dass dieser Moment um so verheerender scheint. Dazu hat die Band die taumelnde Kraft des Vorgängers inzwischen regelrecht kultiviert und einen höchst eigenständigen Sound entwickelt – einen Sound, den sie nach diesem Album nur noch in einzelnen magischen Songs wiederholen konnte. Die Kombination aus Hoffnung und Angst, Erkenntnis und Verzweiflung wird auf Tim perkekt eingefangen und sogar das charmante „Kiss Me on the Bus“ bekommt in diesem sehr kompletten Album einen besorgten, ängstlichen Unterton. Let It Be mag die besseren einzelnen Songs haben, Tim bleibt stetig auf hohem Niveau – und man kann auch heute noch das Lebensgefühl nachvollziehen, das die Replacements hier – übrigens ein letztes mal - als komplette Band vertonten. Danach wurden sie immer mehr zum Solo-Projekt Westerbergs.

Thin White Rope

Exploring The Axis


(Frontier, 1985)

Viel Spaß bereitet den College-Kids in den Mitt-Achtzigern auch die Musik des sog. Paisley Uderground. Eine eigentlich kleine, inzestuöse Szene in L,A. und Umgebung, die als bekannteste Vertreter die Bangles hervorbringt, der Bands wie Green On Red, Rain Parade, Dream Syndicate, Opal, The Three O'Clock und eben Thin White Rope angehören. Alles Bands, die den Sound der 60ies durch Post Punk und Power Pop filtern. Da werden die Byrds zitiert, die Grateful Dead, Girl Groups wie die Ronettes aber auch die Garage Rock Bands des Nuggets Samplers und die Beach Boys – und all das bekommt einen Schuss Reduktion mit viel Eigensinn. Thin White Rope kommen aus Davis, sind somit näher an San Francisco, aber sie sind mit der Paisley Underground Szene L-A's eng verbunden – und sie sind eine der eigenwilligsten Bands dieser Szene. Ihre Musik balanciert immer nah am Chaos, Sänger Guy Kyser hat eine harsche, gequälte Stimme, die an John Cale und an Gun Club's Jeffrey Lee Pierce erinnert. Die Musik auf dem Debüt dieses ungehobenen Schatzes der Achtziger kann man als eiskalten Psychedelic Rock bezeichnen, sie klingen, als würden Can und The Velvet Underground gemeinsam Grateful Dead Tracks covern, die Rhythmen sind hypnotisch und „motorisch“ - nicht umsonst war einer der Höhepunkte von Thin White Rope Konzerten „Yoo Do Right“ von Can. Aber sie haben ihre Wurzeln auch im Süden der USA – da werden dann mit „Down in the Desert“ Tex-Mex Roots in den Boden gestampft, da wird das „Disney Girl“ in Feedback versenkt und all die diversen Einflüsse von Kyser's Stimme zusammen gehalten. Die Band hatte ihren Namen übrigens einem Euphemismus William S. Burrough's für Ejakulation entliehen und mit Exploring the Axis wurde mindestens die Grundlage für die folgenden glorreichen LP's gelegt.

Jeffrey Lee Pierce

Wildweed


(Statik, 1985)

Und so hangele ich mich an einem der gerade genannten Namen weiter- Gun Club's Jeffrey Lee Pierce hatte seine Band nach kräftezehrendem Touren und drei Alben erst einmal still gelegt und machte '85 mit Wildweed sein erstes Solo-Album unter eigenem Namen. Ich kann mit dem üblichen vergleichenden Namedropping starten: Wildweed ist die Mschung aus Gun Club (natürlich) Television und Bob Dylan (ca. Highway 61) – es klingt somitt nach Gun Club, was kein Wunder ist, da Pierce Stimme und Seele der Band war. Mag sein, dass hier der Fokus ein bisschen mehr auf Rockabilly als auf heulendem Blues liegt, aber diese Verschiebung hätte Pierce vielleicht auch mit Band praktiziert. Die Themen seiner Songs sind die gleichen wie auf Fire of Love oder Miami: Liebe, die sich in Besessenheit verwandelt, Mord, Totschlag und die fieberhafte Suche nach dem nächsten Abgrund, in den man sich stürzen kann. Und die Songs auf Wildweed klingen beileibe nicht wie Reste, die bei Gun Club übrig geblieben wären: Das Eröffnungs-Duo „Love and „Desperation“ und „Sex Killer“ hat alles, was Gun Club-Klassiker wie „Sex Beat“ oder Fire of Love“ so groß gemacht hat, sie sind fiebrig und getrieben, durch Pierce's Gesang und die jagenden Gitarren unverwechselbar. In den Liner Notes sagt Pierce, er habe viel Velvet Underground (.. deren Compilation VU just in diesem Jahr erschienen war - siehe unten) und Dylan gehört, bevor er sich ans Songwriting machte, und in der Tat sind einige der Lyrics so surreal wie bei „his Bobness“ und manche der Songs haben den Drone der VU. Es mag ein paar weniger gelungene Tracks geben, aber die genannten Eröffnungs-Tracks, das krachend vor die Wand gefahrene „Sensitivity“, der Titeltrack oder der Tex Mex Rockabilly „Hey Juana“ wären weitere gute Gründe für dieses Album. The Gun Club und Pierce Solo gehörten seinerzeit definitiv in eine geschmackvole College-Radio-Playlist.

Green On Red

Gas Food Lodging


(Enigma, 1985)

Zurück zum aufblühenden Paisley Underground. Green On Red waren aus Tucson/Arizona nach L.A. gegangen, hatten ihre Punk-Ursuppe mit Country und Psychedelic Rock gewürzt und Kontakt zu anderen Paisley Underground Bands wie Dream Syndicate oder Rain Parade geknüpft. Heraus kam '83 zunächst ein Debüt (Gravity Talks), das nach Roots Rock , Garage und Punk klang, das schon seine Qualitäten hatte, das aber nun von Gas Food Lodging übertroffen wurde, weil Hauptsongwriter Dan Stuart nun bessere Songs hatte, weil er mit Chris Cacavas als Keyboarder und Multi-Instrumentalisten und mit dem neu hinzugestoßenen Chuck Prophet als Keith Richards' musikalischem Wiedergänger die perfekten Gegengewichte an Bord hatte. Gas Food Lodging ist – wie das Debüt - ein Roots Rock Album, durchschossen von Byrds'ianischer Psychedelic und Punk. Die Songs beschreiben das Amerika der Reagan Jahre aus der Sicht einer kleinen Rock-Band on the road, die umgeben ist von Verlierern und Trinkern, es zeigt die USA von unten, ohne Pathos aber voller Liebe. Green On Red klingen wie ernüchterte Replacements, die den Versuch, vernünftig und erwachsen zu werden, aufgegeben haben. Dazu rotiert Cacava's Orgel und Chuck Prophet haut steinerne Riffs heraus. Gas Food Lodging sitzt – wie viele Alben, die in den College Radio Programmen liefen – zwischen den Stühlen. Abenteuerlustige Country-Hörer dürften das Album genauso mögen wie verlassene Neil Young Fans (der machte in den Achtzigern nur schlechte Alben...) – und die Reihe von gelungenen Songs wie „That's What Dreams“ oder „Sixteen Ways“ ist beeindruckend. Noch waren Green On Red eine Einheit und noch wurden die Credits für die Songs gerecht unter der ganzen Band verteilt – aber das würde sich bald ändern. Dies ist tatsächlich ihr stärkstes komplettes Album.

Rain Parade

Crashing Dreams


(Island, 1985)

Und L.A's Paisley Underground – die Dritte. Rain Parade sind 1985 schon fast Geschichte. Sie haben die Szene in L.A. Mit begründet, sie haben mit dem Vorgängeralbum Emergency Third Rail Powertrip (83) eines der besten Psychedelic Alben der Achtziger – ach was sage ich – der Popgeschichte gemacht (wirklich!) - sie sind mit Steven und David Roback, mit Matt Piucci und ganz zu Anfang mit Susanna Hoffs eine Keimzelle des intelligenten Indie Rock der kommenden Tage, aber sie haben den Fehler begangen nach dem ersten tollen Album und der ebenso wunderbaren EP (Explosions in the Glass Palace (84)) den Verlockungen eines nach den Prinzipien der gewinnoptimierung agierenden Labels zu verfallen und dort den Schritt in die Versenkung zu machen- Nicht dass Crashing Dreams schlecht wäre. Es mag ein kleines bisschen schwächer sein als die beiden Indie-Veröfentlichungen, da klingt manches ein bisschen zu synthetisch und clean – aber es ist ein wunderbares, stark von Psychedelic Rock und schwärmerischem Americana durchzogenes Album mit sibrigen Gitarren, glühenden Melodien und ausreichender Bodenhaftung um dennoch modern zu klingen. Es ist sauber produziert, Songs wie „Fertile Crescent“ balancieren auf einer Linie entlang Twee und Psychedelic. Der Opener „Depending on You“ hätte mindestens solche Charts-Ehren verdient wie die kommenden Hits von R.E.M., aber Crashing Dreams machte seinem Titel alle Ehren: Die Island Rec. beschloss Tage nach Beendigung der Produktion, dass gitarrenorientierte Bands keine Zukunft hätten und ließ die Band fallen. Keine Promotion für's Album, keine Tour – die Anerkennung von College Stationen reichte da nicht für eine weitere Karriere und Rain Parade flogen '86 in diverse Richtungen auseinander. Roback gründete Opal und später Mazzy Star, Piucci machte ein wunderbares Album unter dem Namen Gone Fishin' und kam bei Crazy Horse unterund der Ruf der Band wurde mit der Zeit immer legendärer. Schade, dass damals nicht mehr kam.

Giant Sand

Valley of Rain


(Enigma, 1985)

Weder gibt es im Jahr '85 die Bezeichnung „Alternative Rock“, noch gibt es Einteilungen der Musik ausserhalb des „Mainstreams“ (der im kommerziellen Radio gespielten Musik), die von den College Radio Stationen als Ausschlusskriterien für's Airplay herangezogen werden. Klar weiss der Insider von der Paisley Undergroud Szene in L.A. oder von der Kumulation von interessanten Bands mit Folk, Punk und Psychedelic Vorlieben in und um Athens. Aber das Alles ist einfach nur „unkommerzielle Musik“ – die Musik, die man als junger Student am liebsten hört – und die hat eben viele Facetten. Da isind zum Beispiel Giant Sand – wie Green On Red aus der Punk-Szene in Tucson/AZ stammend - aber die bleiben im Gegensatz zu Green On Red in der Wüste. Und so steht ihr Debüt Valley of Rain neben einer Hand voll anderer Alben für den weitgehend vergessenen Moment, in dem die Wüste zum Thema für die Rockmusik wurde. Howe Gelb, Kopf von Giant Sand brauchte dafür nicht viel: In seinem Gitarrensound knirscht der Sand, seine Band klingt tatsächlich durch die Country, Folk und Psychedelic-Einflüsse wie die Cousins aus dem Paisley Underground – aber Howe Gelb hat die Wüstenluft eingeatmet, und kanm nicht mehr von ihr los – und Giant Sand klingen dann auch immer nach einem Trip durch's Death Valley. Im Gegensatz zu späteren Alben waren Giant Sand hier noch härter und fokussierter, weniger experimentierfreudig, der Gesang von Gelb verirrte sich noch nicht im Nirgendwo und Punk war noch ein offensichtlicher Einfluss. "Tumble and Tear," "Down on Town," and "Death, Dying and Channel 5" sind für Giant Sand Verhältnisse harte Rocker, „Artists“ und „October, Anywhere“ weisen aber auch schon auf den Weg, den Giant Sand in den folgenden Jahren beschreiten sollten. Bildlich gesprochen: Sie fuhren gerade von der letzten Tankstelle vor der Wüste los. Das zweite Album (Ballad of a Thin Line Man) von 1986 klingt noch recht ähnlich, das dritte Album (Love Songs) würde zum ersten Triumph werden.

Camper Van Beethoven

Telephone Free Landslide Victory


(Rough Trade, 1985)

Die Kalifornier Camper Van Beethoven haben von Anfang an das Image eines coolen „Novelty-Acts“. Sie sind virtuose Musiker, die jeden Stil bedienen können, sie nennen sich selber „surrealist absurdist folk“ und lassen in ihre Musik soviel Humor und Selbstironie einfliessen, dass man ihnen sowohl den Novelty-Anteil als auch die Virtuosität verzeiht. Sie gehören selber zu den Skatern, Punks, Hippies und Skinheads, über die sie sich in ihren Songs lustig machen. Auf ihrem Debüt Telephone Free Landslide Victory sind zwei Typen von Songs noch ordentlich voneinander getrennt, die sich auf späteren Alben verbinden würden: Da gibt es die Instrumentals, die trügerisch simpel klingen, in die etliche ungewöhnliche Stilelemente einfliessen. Da klingt es nach TexMex, nach osteuropäischer Folklore, nach 50ies Instrumentalmusik, Polka und Ska, da spülen die Orgeln und da fiedelt die Geige. Dem gegenüber stehen die Tracks mit den Vocals von Haupt-Songwriter David Lowery, mit wirklich lustigen Lyrics, mit unkonventioneller Melodieführung, die aber immerhin näher an „normaler“ Rockmusik stehen. Mit „Take the Skinheads Bowling“ haben Camper Van Beethoven einen Hit und kommenden Klassiker des College Rock dabei. Sie covern mit „Wasted“ auf höchst ironische Weise die Hardcore-Institution Black Flag – und damit eine der Bands, die vemutlich vom eigenen Publikum verehrt wird. Und es gibt ausreichend gute Songs – mit Titeln wie „The Day That Lassie Went to the Moon“ oder „Club Med Sucks“, Instrumentals und Vocal Tracks wechseln sich ordentlich ab, was ein angenehmes Gleichgewcht schafft, und obwohl hier ein sehr breites stilistisches Spektrum abgedeckt wird, hält der typische Sound der Band und die durchgehende Grundironie das ganze Album ganz gut zusammen. Mit der Zeit wurden sie ein bisschen konventioneller, aber den Sinn für's Absurde haben sie nie ganz verloren. Das Erste in einer Reihe von ziemlich gelungenen, individuellen Alben der „anderen“ US Rockmusik.

The Blasters

Hard Line


(Warner Bros., 1985)

Dieses Kapitel beschäftigt sich hauptsächlich mit US- Bands, die von College Rock Radiostationen gespielt wurden. Und eine der amerikanischsten dieser Art sind die Blasters. Bei denen kann man sehen, wie durchaus „wert-konservativ“ auch das studentische Publikum in den USA war. Die Blasters entstammen ebenfalls der Punk Szene Los Angeles', sie spielen einen zwar rasanten, aber durchaus altmodischen Rock'n'Roll mit starken Einflüssen aus Mountain Music, Rockabilly und Rhythm 'n' Blues – und so ist der Titel ihres '80er Debütalbums American Music auch als Programm zu verstehen. Aber Tatsache ist eben auch, dass sie mit ihrer kompromisslosen Haltung, ihrem Tempo und ihrer Reduziertheit das gleiche Publikum ansprachen, wie die Cramps, X, Gun Club und sogar Black Flag. Roots, Rock'n'Roll und Punk stehen eben nicht in schlichter Konkurrenz im Amerika der 80er. Die beiden Brüder Dave und Phil Alvin waren (und sind bis heute) glaubwürdige Idealisten ihrer Zunft – und Dave Alvin ist einer der großen Roots-Rock Songwriter. Hard Line ist das vierte Album der Band, das Letzte, bei dem Phil und Dave Alvin zusammen spielten, und es ist das Album, für das Dave Alvin seine düstersten Songs schrieb. Der respektable John Mellencamp schrieb Sänger Phil Alvin „Colored Lights“ auf den Leib, Dave Alvin arbeitet auf zwei Songs mit John Doe von X zusammen, Dave Hidalgo von Los Lobos macht ebenso mit, wie Elvis' Backing Chor the Jordanairs und mit der smalltown lynch story „Dark Night“ ist einer dabei, der 10 Jahre später von Quentin Tatrantino für das Gemetzel From Dusk 'til Dawn verwendet werden würde - und wer die Credibility der Blasters in Frage stellt, mag sich die Lyrics zu den Songs durchlesen: Es geht um falsche Populisten, Liebe zwischen Schwarz und Weiss, die tristen Alltagsjobs eines Rock'n'Rollers und „young men looking for trouble“. In gewisser Weise sind die Blasters wie die Replacements, nur ihre Liebe zur amerikanischen Roots-Music ist ausgeprägter, ihre Stilistik strenger - aber die Energie ist die des US Punk. Hard Line hat nicht die Frische der ersten beiden Alben, aber es ist nah dran.

Chris Isaak

Silvertone


(Warner Bros., 1985)

Ein weiterer Adept ur-amerikanischer Musiktradition tritt 1985 mit seinem Debütalbum auf den Plan. Die kurze Auflistung, die ich gefunden habe, finde ich ganz treffend: Roy Orbison + Duane Eddy + Buddy Holly + Gun Club = Chris Isaak. Und hier stimmt auch die Gewichtung in der Reihenfolge der Einflüsse. Im Erschaffen einer bestimmten Atmosphäre war der fast dreißig-jährige Isaak sehr versiert. Er hatte studiert, war in Japan gewesen und hatte im Land der Kopisten gelernt mit Tolle, Crooner-Stimme, Roy Orbison Falsett und Rock'n'Roll Ingredienzien eine idealisierte Version der Musik der Fünfziger an die Zuhörer zu verkaufen. Diese Vorliebe für den Rock'n'Roll der späten Fünfziger und die oben aufgezählten Vorbilder grenzt nur auf den ersten Blick an sklavische Verehrung, er kopierte die Vorbilder zwar, verbindet deren Stilistik aber auch mit modernerem Sound und einer abgründigen Schwüle, die vor 25-30 Jahren undenkbar gewesen wäre - und macht dadurch etwas Eigenes, das zwar uralt klingt, das aber so überzeugen konnte, dass er sich nach Startschwierigkeiten eine komplette Karriere aufbauen konnte. Zunächst noch war dem von Kritikern hoch gelobte Debüt Silvertone (benannt nach seiner ersten Backing Band) nur wenig Erfolg beschert – so mancher Hörer mag nicht sicher gewsesn sein, ob die an Roy Orbison geschulte Theatralik und der twangy Sound ernst gemeint waren. Aber Tracks wie „Talk to Me“ (die Paarung aus Orbison und Gun Club) oder „Gone Ridin'“ waren ironiefrei und als dann Regisseur David Lynch den letztgenannten Track für seinen Film Blue Velvet verwendete, wurden mehr Menschen aufmerksam. Tatsächlich hat Isaak mit James Calvin Wilsey einen extrem geschmackvollen Gitarristen und Arrangeur an seiner Seite. Einen, der den Twang der großen Gitarristen der 50ies aus dem Effeff beherrscht. Und Chris Isaak entpuppt sich schon auf Silvertone als famoser Songwriter: „Back on Your Side“, „Voodoo“ oder „Funeral in the Rain“ sind klischeehaft, aber auch unverschämt eingängig. Und Isaak kennt eben auch eindeutig Bands wie die Cramps, Gun Club und die Blasters. Bald würde er als Schauspieler in David Lynch's Serienhit Twin Peaks mitspielen und mit diversen Soundtrack-Beiträgen immer bekannter werden.

Velvet Underground

VU


(Verve, Rec. 1968/69, Rel. 1985)

In den Achtzigern sind Bands wie The Velvet Underground noch nicht im Kanon „Kulturgut“ angekommen – sie gelten nur bei Post-Punk Afficionados, bei Hörern mit echtem Interesse an innovativen Klängen als legendäre Vorbilder, der Mainstream kennt sie nicht mehr, sie entstammen einer vergessenen Generation – genau wie ihre Protagonisten Lou Reed oder John Cale, die in den Achtzigern nur wenige gelungene – aber vor Allem kaum erfolgreiche Alben veröffentlichen. Immerhin gibt es Mitte der Achtziger das studentische „College“ Publikum, das sich für die Väter des Abseitigen, Dunklen in der Rockmusik interessiert. Und es gibt College Rock Stationen mit Playlists, die von Musik-Nerds zusammengestellt werden, die neugierig genug sind, die von Musikern ihrer Generation so oft zitierten Vorbilder zu spielen. Da kommt dann 1985 das „lost album" der Velvet Underground ganz recht um deren Radioprogramme zu bereichern. Interessant, wie nah VU in seiner Reduziertheit, Coolness, im Sound und in der Haltung an der Musik etlicher Bands der College Radio Playlists sind. VU ist eine Zusammenstellung von Tracks, die die Band in den Jahren 1968 und 1969 für MGM Records aufgenommen hatte. Die Velvets waren '68 von Verve zu MGM gewechselt, hatten ihr drittes Album veröffentlicht, John Cale hatte die Band verlassen und in diversen Session waren 14 Songs entstanden, die zum zweiten MGM-Album werden sollten. Das Label aber hatte beschlossen, sich von all diesen verdammten „unkommerziellen“ Hippie-Bands zu trennen, und die Aufnahmen wurden auf Eis gelegt und vergessen... Somit kann man VU als das rechtmäßige Album zwischen Velvet Underground und Loaded bezeichnen – es ist tatsächlich ein Album, das zeigt, wie weit sie ihrer Zeit voraus waren, das zeigt, dass sie eine damals unbesetzte Nische mit ihrem kühl ironischen aber zugleich so leidenschaftlichen Mix aus Feedback, Rock'n'Roll, DooWop und Pop ausfüllten. Keiner der zehn für VU ausgewählten Tracks ist so experimentell wie das Material der ersten beiden Alben. Cale war weg, Lou Reed hatte eindeutig das Kommando übernommen und beschlossen, das zu machen, was er Pop nennen würde. Der Opener „I Can't Stand It“ zum Beispiel „rockt“ regelrecht geradeaus, „Lisa Says“ passt in jede Lounge, und selbst „Ocean“ ist Psychedelic light. Aber Reed war als Songwriter in großer Form. Etliche der Songs würden Jahre später in veränderter Form auf verschiedenen Lou Reed Solo-Alben wieder auftauchen („Andy's Chest“ auf Transformer, Stephanie Says auf Berlin...), mit „Foggy Notion“ gibt es einen hervorragenden „driving song“, „I'm Sticking With You“ beginnt als Kinderlied um in eine dieser seltsam unbeteiligten Lou Reed-Erzählungen zu münden – kurz: VU ist coolster New Yorker Rock'n'Roll in simpelster Form und The Velvet Underground wurden mit dieser Compilation mit einem kräftigen Stoß wieder ins Bewusstsein einer jungen Generation gebracht.


...und was lief sonst im College Rock Radio ?


Das Bild, das ich hier durch diese 11 Reviews erschaffe, ist zwangsläufig verzerrt, weil ich mich auf Bands aus den USA beschränke, die noch nicht den kommerziellen Durchbruch geschafft habe – die ihn teils auch nie wirklich schaffen werden und die daher heute recht obskur geblieben sind (siehe Thin White Rope oder die Blasters). Aber in den College Stations wurde natürlich auch Musik britischer Acts wie etwa The Cure, The Fall etc.. gespielt. The Jesus and Mary Chain und The Smiths wurden vermutlich auch wahrgenommen, genauso wie Tom Waits oder John Fogerty aus dem Heimatland, die ganze blühende US-Hardcore-Szene mit Hüsker Dü, den Minutemen, Dead Kennedy's, etliche neue psychedelic Bands, die nicht der Paisley Park Szene entstammten etc. pp... Aber all die haben auf diesen Seiten woanders ihren Platz: Über Hardcore werde ich einen eigenen Artikel schreiben, die „Klassiker“ aus England sind schon im „Leitartikel“ über das Jahr 1985 reviewt – wie immer – die Überschrift hier ist nur ein kurzer Hinweis und Appetizer, kein Dogma, dem zu folgen ich mich gezwungen sehe. College Rock ist ein schwammiger Begriff und viel mehr als das, was du hier gelesen hast....

















Montag, 17. Juli 2017

1995 – Oasis bis Boo Radleys - Der Brit-Pop Hype am Höhepunkt

Ich kann auch völlig unhip.... Musik aus Großbritannien Mitte der Neunziger als „Brit-Pop“ zu bezeichenen ist der hilflose Versuch, doch teils recht unterschiedliche Bands und Sounds einer bestimmten Zeit und Herkunft unter einen Deckel zu stecken, zu vereinheitlichen und mit einem Etikett zu versehen. Und das führt logischewrweise zu Missverständnissen. Zum Einen: Musik, die man Brit-Pop nennen kann, hat es durchgehend mindestens seit den Sechzigern, seit Mersey Beat und Bealtlemania gegeben. Denn damit meint man Musik, die sich auf die Beatles, die Small Faces und die Kinks, auf XTC, die Smiths und die Stone Roses bezieht - die erkennbar „britisch“ ist. Als Mitte der Neunziger der US-Hype Grunge medial ausgelutscht war, und als es in Großbritannien ein paar Bands gab, die offenbar die oben genannten Bands ihrer Heimat als Einflüsse nicht verleugneten und ein paar gute Songs hatten, ging die britische Presse auf deren Musik und deren Stil ab und formulierte einen Wettbewerb zwischen den beiden populärsten Vertretern. Die Industrie springt gerne auf solch mediale Aktivitäten an und bewirbt Bands, die vergleichbar klingen dann mit mehr Aufwand als sonst, die Musikpresse gibt noch ihren Senf dazu um die Seiten ihrer Organe zu füllen und schon haben wir den Brit-Pop Hype – nach kurzer Zeit gründlich satt. Letztlich war der etwa in der SUN beschlagzeilte Rummel um Blur und Oasis vollkommen inhaltslos. Die Protagonisten – die Gallagher Brüder und Damon Albarn - machten mit, wohl auch um ihre Musik zu verkaufen – was ja legal ist – und beschäftigten sich ansonsten mit dem, was ihnen wirklich wichtig war: Mit Ihrer Musik. Den Wettbewerb um die bessere Single gewannen Blur, das erfolgreichere Album aber hatten Oasis (siehe unten). Etliche andere britische Bands aus der Zeit wurden ebenfalls in die Brit-Pop Schublade geschoben, obwohl sie teiweise sehr anders/eigenständig klangen bzw. ohne den Begriff „Brit Pop" einfach Indie-, Post Punk-, oder Rock-Bands genannt worden wären. Solange man aus GB kamen und nicht Free Jazz oder HipHop spielte, war man eben Brit-Pop. Das schadete im weiteren Verlauf mitunter den Karrieren, ein paar Jahre später war man diese eindeutig britische Art der Popmusik wegen Übersättigung leid und ein neuer Hype kam, aber ich will auf diesen Seiten auf Eines hinweisen: Die Musik, die unter diesem Etikett verkauft wurde, ist teilweise sehr gut, der Begriff ist nur eine Überschrift und irgendwann kommt auch der Post-Brit Pop Hype.... also, sei ein Hipster bevor es Andere sind und besorg' dir Alben von Gene, den Charlatans oder Shack, diese Musik ist jetzt schon über 20 Jahre alt, und womöglich beginnt der Hype bald...

Oasis

What's The Story (Morning Glory)


(Creation, 1995)

Keine Frage: What's the Story (Morning Glory) ist der Apex des Brit-Pop. Auf lange Sicht mögen Blur die bessere Band geworden sein, für manchen mag das vorherige Album der Gallagher Brüder (plus Gehilfen) Definitly Maybe die besseren Songs gehabt haben, aber bei What's the Story... waren Großmäuligkeit und Selbstverständnis der Band im Einklang mit Hype und Zeitgeist. Alles ist überlebensgroß, und die Selbstüberschätzung der Band machte Spaß, der Lärm den sie veranstalteten war unterhaltsam, und Noel Gallagher hatte noch ein paar neue Varianten seines Beatles/Stone Roses-Songwritings in Petto, die sich im Ohr festhaken konnten. Da ist natürlich „Wonderwall“, einer der eingängigsten Songs der 90er, da ist „Champagne Supernova“, ein weiterer zweitbester Song von Oasis, genau wie „Don't Look Back in Anger“. Das Album ist voller Hits, die man lustigerweise doch nicht so schnell vergisst, zu denen man beim anhören immer wieder zurückfindet. Es ist quintessentielle 90er Popmusik, Gebrauchsmusik, die nicht den riesigen Anspruch erheben sollte, die POP ist, nicht mehr und nicht weniger – was ja andererseits auch Anspruch genug sein kann – wohlgemerkt !!. Und die immer wieder schön anzuhören ist. Manche sagen natürlich, hätten sie nach diesem Album aufgehört, wären sie uns in besserer Erinnerung geblieben. Stimmt einerseits, aber dann hätte man verpasst, wie sie mit dem Nachfolger so grandios vor die Wand fuhren. Und die weiteren Nachfolger, über die ich an weniger prominenter Stelle berichten werde, haben schließlich auch ihren Reiz. Grundsätzlich aber sei empfohlen: Kauft dieses Album und seinen Vorgänger. Und natürlich...

Blur

The Great Escape


(Food, 1995)

The Great Escape – ist ein wunderbar ironischer Titel, ausgedacht von Damon Albarn. Seine Vision des typischen britischen Middle Class Leben wird hier zu einem kompletten Konzept Album in der Tradition von Ray Davies' Bildern der britischen Vorstädte, übertragen in unsere Zeit. Und wie Ray Davies ist Albarn durchaus in der Lage sowohl die Liebenswürdigkeiten und Schrullig-keiten seiner Landsleute zu schätzen als auch die Boshaftigkeit, die hinter respektablen Fassade lauern, zu sezieren. Er schafft es, das Leben so darzustellen, wie es vermutlich oft wirklich ist – wie wir es nur nicht gerne sehen wollen: Da ergreift jemand einen sinnlosen Job, um über das gewonnene hohlen Prestige eine ebenso sinnlose gesellschaftliche Anerkennung zu erhalten – und bekommt das entweder garnicht selber mit oder verzweifelt.... Ob Blur das zu dieser Zeit taten ? Die Konkurrenz zwischen ihnen und den Großmäulern von Oasis war schliesslich ähnlich hohl und zielte auch auf eine Anerkennung, auf die die Klügeren von beiden – eben Blur – offenbar letztlich auch verzichten konnten. Der Medienhype um Blur vs Oasis jedenfalls ist lange verklungen, die künstlerisch interessantere Musik machte in der Folgezeit unzweifelhaft Blur, obwohl Oasis 1995 mit ihrem Album What's the Story (Morning Glory) 1:0 in Führung gingen. Unter anderem vielleicht auch, weil Pulp mit ähnlich gesellschaftskritischer Thematik die größere Präsenz und den noch größeren Hit mit „Common People“ hatten, und so The Great Escape zusätzlich etwas verblassen musste. Was aber nichts daran ändert, dass der omnipräsente Hit „Country House“, aber auch Songs wie „Charmless Man“, „Top Man“, „Ernold Same“ und vor allem das wunderbare „The Universal“ zu den besten Songs gehören, die Damon Albarn je geschrieben hat bzw die unter dem Etikett Brit-Pop firmieren. Alben wie dieses und What's the Story (Morning Glory) zu vergleichen ist natürlich Unsinn. Sie existieren beide zu Recht, und haben beide Qualität genug, immer gerne gehört zu werden – und zur Zeit jedenfalls macht The Great Escape mir sogar mehr Spaß. Aber sowas ändert sich ja auch beständig.


Pulp

Different Class


(Island, 1995)

Pulp hatten lange (und durchaus zu Recht) in relativer Obskurität existiert, aber mit dem '94er Album His 'n' Hers endlich den Schritt auf ein hohes musikalisches Niveau und zugleich in die Charts geschafft. Dann kam der Brit Pop Hype und sie machten ihr fünftes Album Different Class - und Bedeutung und Klasse gingen gleichzeitig durch die Decke. Dieses Album steht für die intelligente Seite des Brit Pop, wobei Songwriter und Texter Jarvis Cocker mit Bands wie Oasis (und zu einem geringeren Anteil Blur) grundsätzlich sowieso herzlich wenig gemein hatte und die Band an dem unsäglichen, von der britischen Boulevardpresse gepushten Hype um den Kampf um den Brit-Pop Thron bewusst keinen Anteil nahm. Different Class ist mehr noch als der Vorgänger eine perfekte Mischung aus New Wave, Pop, Disco und Theater, es ist ein Sittengemälde der britischen Gesellschaft der Mitt-Neunziger, erotisch, glamourös und sozialistisch – und sehr britisch, was es eben doch zu einem klassischen Brit-Pop Album macht. Opener „Mis-Shapes“ ist ein pompöser Showtune – und ebenso unwiderstehlich wie die schmerzhafte Ballade „Underwear“ oder die schwüle Seance „I Spy“. Und dann gibt es ja noch die Hits des Albums: „Common Poeple“ verhandelt die Unmöglichkeit einer Verständigung zwischen den Klassen durch die Geschichte eines Upper-Class Girls, das sich zu den Menschen der Lower-Class herablässt – und diesen natürlich fremd bleibt - und „Disco 2000“ - mit Laura Brannigan Zitat - ist intelligent und großer Pop. Jarvis Cocker wurde zu einer ungelenken Lulatsch-Version von David Bowie stilisiert - und wurde damit vielleicht sogar doch ein bisschen zum König des Brit-Pop.

Supergrass

I Should Coco


(Parlophone, 1995)

Um im Koordinatensystemn zu bleiben: Wenn Oasis die Beatles waren, Blur die Kinks, dann waren Supergrass die Small Faces. Ihr Debut I Should Coco – Cockney - Slang für „...das will ich meinen...“ - ist purer schneller Pop, unbelastet von beklemmender Teenage Angst, schuldet mehr den lustigen und ein bisschen hysterischen Bands des Post Punk, und erinnert dabei mehr an Bands wie The Rezillos als an XTC oder The Jam. Die erste Hälfte des Albums ist voller bonbon-bunter Song-Ausbrüche in rasanten Tempo. Ein perfektes und durchaus auch anspruchsvolles Teen-Pop Album. Auf der zweiten Seite der LP wird das Tempo mit Stones-artigen Balladen („Time“) und einem waschechten Syd Barrett Tune („We're Not Supposed to“) etwas gedrosselt und es zeigt sich, dass die Band doch eben mehrere Facetten bieten kann. Supergrass hatten zu dieser Zeit hauptsächlich die Message „Hab Spaß, geh 'raus und versuch nicht eingebuchtet zu werden.“ mit ein paar reflektierenden Momenten dazwischen. Auf „Sofa (Of My Lethargy)" – das ein bisschen an „Norwegian Wood“ von den Beatles erinnert - heisst es zwar noch: „Hold on now, all I wanna do is see you but everybody is here just sitting round staring at the ceiling. What you gonna find in your mixed up minds when you're dreaming? Could be we're not like you at all“. Aber bei „Alright“ geht es nur noch darum, wie toll es ist, jung zu sein: „We are young, we run green. Keep our teeth nice and clean. See our friends, see the sights, feel alright“ Das Geheimnis der Langlebigkeit dieses Albums liegt in der Cleverness des Songwritings. Denn da wirken die Drei, die zu dem Zeitpunkt alle unter 20 waren, wie eine Band, die schon etliche Jahre auf dem Buckel hat. Tatsächlich distanzierte Jaz Coombes sich später scherzhaft von der Teenager Hymne „Alright“ als er sagte: „We don't play '“Alright“ anymore. We should play it in a minor key, and in the past tense."

The Verve

A Northern Soul


(Hut, 1995)

The Verve werden in dieser Zeit ebenso in den Brit-Pop Topf geworfen, und man sieht wie bodenlos dieser Topf sein muß, wenn man ihren Shoegaze- und Psychedelic-gefärbten Sound im Vergleich mit dem von Supergrass – oder Elastica hört. Die Band um Sänger Richard Ashcroft war zu diesem Zeitpunkt in desolatem Zustand, bei der Lollapalooza-Tour hatte ihr extensiver Drogenkonsum dazu geführt, dass Ashcroft wegen Dehydrierung ins Krankenhaus musste und Drummer Peter Salisbury war wegen des Klassikers - Demolierung eines Hotelzimmers - im Gefängnis gelandet. Der verdiente kommerzielle Erfolg nach dem von der Kritik gefeierten Debut A Storm in Heaven wollte sich einfach nicht einstellen und das passte dem narzistischen Sänger ebenswenig wie dem eben so egomanischen (und exzellenten) Gitarristen Nick McCabe. So wurde A Northern Soul unter Zuhilfenahme von Unmengen von Ecstasy aufgenommen und klingt entsprechend chaotisch - und erschütternd intensiv. Es ist ein düsteres Album, voller Songs über Isolation, Hymnen der Desillusionierung und des Verlustes. McCabes spiralförmige Gitarrenfiguren, dazu Ashcroft's beschwörender Gesang machen A Northern Soul zu The Verve's bestem Album – auch wenn der Nachfolger Urban Hymns – nach Trennung und Wiedervereinigung der Band – im Gefolge der epochalen Single „Bittersweet Symphonie“ - und somit im Gefolge mit einem Rechtsstreit mit den Stones, die dann gewinnbringend beteiligt wurden (wie bitter muß das gewesen sein... aber dazu 1997 mehr...) erst den ersehnten kommerziellen Erfolg bringen sollte. Songs wie „On Your Own“, „So It Goes“ und das majestätisch-mißmutige „History“ könnte man als dunkel schimmernde, psychedelische Facette des Brit-Pop bezeichnen- Aber deren Schimmern wurde dann von Spiritualized getoppt.

The Charlatans

s/t


(Beggars Banquet, 1995)

The Charlatans sind auf diesem selbstbetitelten Album stilistisch vielleicht vergleichbar mit The Verve, jedenfalls für denjenigen, der sie unvoreingenommen hört. 1995 waren sie allerdings aufgrund ihrer Vergangenheit in der Rave-Szene eher bekannt als second hand Stone Roses, als die weniger verrückte Alternative zu den Happy Mondays und sie hatten zudem nach einem sehr guten Debütalbum, das voll in den Madchester-Trend der beginnenden 90er passte, zwei schwächere Alben abgeliefert, die nun eine Belastung waren. Da kam 1995 ihr viertes Album The Charlatans etwas überraschend hoch in die Charts, mit einer Auffrischung ihres Sounds, indem sie nun Brit-Pop neben Dance und Techno in ihre Songs einfliessen ließen. Sie waren zu dieser Zeit vielleicht einfach gut in Form und hatten zweifellos nichts zu verlieren.Ihr Klangkosmos hatte sich eigentlich nicht verändert, sie gingen nur noch ein bisschen weiter, fügten (manchmal fast zuviele) trippy Dance-Passagen in ihrer Musik ein. Und sie hatten ein paar schöne Songs dabei. Das Album ist schon alleine wegen “Nine Acre Court” seinen Preis wert. Hier zeigte eine hart arbeitende Rock & Roll Band, wie man die Balance zwischen traditionellem Rock und postmodernem Acid-House halten kann und dabei Stil bewahrt. Im folgenden Jahr verloren sie tragischerweise ihren Stil- und Sound-prägenden Keyboarder Tim Collins durch einen Autounfall, aber sie machen bis heute unverdrossen und durchaus erfolgreich weiter. Etwas, das man von den meisten Bands des Brit-Pop Zwischenhochs nicht sagen kann. Dieses Album ist neben dem Debüt ihr Bestes. Das Cover ähnelt übrigens dem von The Verve sehr...


Black Grape

It's Great When You're Straight (Yeah)


(Radioactive, 1995)

Black Grape stammen auch aus der Rave-Szene Manchester's, die zu Beginn der Neunziger eine bis zwei Jahre lang als das große Ding gefeiert wurde. Shaun Ryder, Der (drogenumnebelte) Kopf der Happy Mondays steht hinter Black Grape, und seine Rückkehr in die aktuelle Musikszene wurde als biologisches Wunder angesehen. Die Happy Mondays waren DIE Drogenband der Rave-Szene – was alleine schon was heissen will – und Ryder war derjenige, der JEDE Droge ausprobiert hatte. So wurde die Band 1995 voller Rührung und Bewunderung sowohl vom Publikum als auch von der Presse in die Arme geschlossen. Und tatsächlich erfüllen Black Grape viele der Versprechen, die die Happy Mondays nie einlösen konten, weil sie zu stoned waren. It's Great When You're Straight...Yeah, ist ein surreales, respektloses, funky, krachendes und pervers fröhliches Album das überfließt vor unbekümmertem Eklektizismus und trunkenem Humor. Die Band war jetzt einfach besser, Ryder hatte mit dem Rapper Kermit einen fähigen Mann dabei, der seine bizarren Texte voller literarischer Anspielungen und Drogenverweise adäquat ergänzen konnte. Dazu kommt der Groove einer Band, die dem Hype, der um die Happy Mondyas gemacht wurde, Berechtigung verlieh. Das fängt mit der kraftvollen Harp beim Opener „Reverend Black Grape“ an, geht mit der trippy Sitar von „In the Name of the Father“ weiter und hört nicht beim Rolling Stones-haften „Shake Your Money“ auf. Kurz: It's Great When You're Straight, war eine triumphale Rückkehr und ein Haufen Spaß, den man auch jetzt noch mitfühlen kann.

Elastica

s/t


(Geffen, 1995)

Aus unerfindlichen Gründen....na ja, eigentlich habe ich die Gründe in der Einleitung genannt.... wurden Elastica in den Brit-Pop Topf neben Blur, Oasis und Andere geworfen. Ein Grund war sicher, dass Bandleaderin Justine Frischmanzu der Zeit mit Blur's Damon Albarn liiert war, und vielleicht auch weil Elastica von den zwei ehemaligen Suede Mitgliedern Frischman und Justin Welch gegründet worden waren. Und Suede sind ja direkte Vorläufer des Brit Pop (auch wenn sie sowas nie sagen würden). Egal, bleiben wir bei der Musik - und die ist auf diesem Debüt ganz exzellent – hat vieles, was man bei Post-Punk Bands wie Wire und Siouxie & the Banshees oder 30 Jahre später bei Savages so gut findet. Ja, man kann jetzt Referenzen aufführen, gerade bei Elastica, die gleichgültige Sexyness von Frischman's Gesang erinnert an Chrissie Hynde von den Pretenders, man hört die Stranglers und Blondie genauso wie Riot Grrl Bands wie Sleater-Kinney heraus, aber man tut ihnen natürlich unrecht, wenn man sie nur vergleicht. Der echte Reiz von Elastica liegt in den famosen Songs, das Album kam tatsächlich als seltener Beweis guten Geschmacks auf Platz 1 der britischen Charts. Und Songs wie „Hold Me Now“, „S.O.F.T.“ oder „Vaseline“ sind effektiver Post-Punk. Man kann es auch so ausdrücken: Es ist geschmackvolle Popmusik, die die Stilelemente ihrer Zeit aufnimmt, aber auch einen eigenständigen Charakter hat. Das ist dann in gewisser Weise eben doch zeitlos.

Gene

Olympian


(Polydor, 1995)

Es war und ist immer noch ein üblicher Vergleich: “Gene sind die Smith's des Brit-Pop” - womit man beiden Bands Unrecht tut. Oasis sind schließlich und endlich auch nicht die Beatles des Brip-Pop, und kein Singer/Songwriter ist zu Bob Dylan mutiert, mag er sich noch so bemüht haben. Gene werden sich nicht um diesen Vergleich bemüht haben, aber Martin Rossiters Stimme klingt tatsächlich wie die von Morrissey und vor Allem seine Intonation ist eindeutig vom “Mozzer” entliehen. Allerdings ist Rossiters Lamento tragischer wenn er singt: I“ cross the road just to hide and to avoid the times when you stood at my side so battered by the tide”.... während er an Morrissey's exzentrische und polarisierende Aussagen niemals herankommt. Und das Songwriting auf Olympian ist natürlich – wie es sich für britische Bands dieser Zeit gehört – an dem der Vorbilder Beatles, Stones – und auch The Smiths orientiert... Aber Gene sind doch anders genug, um nicht als Klone der Smith's durchzugehen und sie haben auch ihren eigenen Stil innerhalb der ganzen nebulösen Brit-Pop Gemeinde: Romantischer und weit weniger ironisch, dabei härter rockend als es die Smiths je wagten – was den NME veranlasste, sie zum Best New Act 1995 zu küren. Immerhin, als Debüt hat Olympians die notwendige Dichte an guten Songs – Und dass, obwohl sie es sich – in guter alter britischer Tradition – zunächst erlaubten, die ersten formidablen Singles „For the Dead“ und „Be My Light, be My Guide“ aussen vor zu lassen – die wurden dann erst später als CD-Bonus Tracks schnöde 'drangehängt – nicht nötig, wenn es Tracks gibt wie die härter rockenden „To The City“ und „Left-Handed“, das poppige „Sleep Well Tonight“ und den langsam die Spannung steigernden Titeltrack des Album. Brit-Pop ist eben mehr als Oasis und Blur.


Shack

Waterpistol


(Marina, Rec. 1991, Rel. 1995)

Shack – und ihren Kopf Michael Head könnte man als die großen Pechvögel der 80er/90er bezeichnen. Head hatte in den frühen Achtzigern mit den Pale Fountains feinen Jangle-Post-Punk mit Pop-Sensibilität gespielt, und war damit unter dem Radar geflogen, er hatte mit seiner neuen Band Shack '88 ein sehr gutes Debütalbum (Zilch) gemacht, das ebenfalls nicht die verdiente Anerkennung erhielt, und er hatte dann '91 dieses zweite Album fertig gestellt. ...und dann brannte das Studio samt Bändern ab, die Plattenfirma machte Pleite und Produzent Chris Allison vergaß die verbliebenen DAT-Bänder in einem Mietwagen in den USA. Michael Head löste die Band auf und verfiel Depressionen, Drogen und Alkohol – aber Allison beschaffte sich die Bänder wieder und ging weiter auf Suche nach einem Vertrgspartner. So dauerte es bis 1995, dass sich eine kleine, auf Twee-Pop spezialisierte Plattenfirma aus Hamburg fand, die das Album veröffentlichte. Lustig zu hören, wie nah Shack auf Waterpistol dem Brit-Pop der Mitt Neunziger schon waren, interessant schon deswegen, weil es meine Idee bestätigt, dass es Brit-Pop schon lange gab. Erstaunlich, was Michael Head trotz seiner vorher schon massiven Drogen und Alkohol-Abhängigkeit zuwege brachte. Er gilt nicht umsonst als einer der großen britischen Songwriter- Man merkt, dass da nicht an einen Hype angedockt werden soll, dass die Einflüsse aus dem '91 noch virulenten Madchester-Sound zwar aufgenommen werden, aber dann mit veritablen Songs und weitgehend akustischer Instrumentierung auf eine eigene Ebene geholt werden. Der Opener „Sgt Major“ könnte komplett aus dem Jahr der Veröffentlichung stemmen, und Noel Gallagher wäre vermutlich froh über eine so gute Melodie gewesen, und eine Ballade wie der Album-Closer „London Town“ verbindet nachdenkliche Kinks mit Twee-Pop. Und tatsächlich bekamen Album und Band nun eine gewisse Anerkennung, Head reformierte Shack und nahm 1998 ein weiteres gelungenes Album auf und kam Mitte der 00er Jahre mit seiner nächsten Band The Strands bei Noel Gallagher's Label unter. Also gab es hier tatsächlich ein kleines Happy End – und Waterpistol ist eines der „verlorenen“ Alben, die die Wiederentdeckung definitiv lohnen.

The Boo Radleys

Wake Up!


(Creation, 1995)

Die Boo Radley's sind zu Beginn der Neunziger eine der wirklich guten britischen Band's die mit Noise, Gitarren-Rückkopplungen und Pop den Shoegaze-Hype überlebt haben. Ihre beiden Alben Everything's Alright Forever (92) und Giant Steps (93) haben ihnen haufenweise Kritikerlob und vernünftige Plattenverkäufe beschert. Als sie '95 mit der Single „Wake Up Boo!“ unverschämt eingängigen – und sehr banalen - Mitsing-Brit-Pop auf die Charts losließen, haben sie vermutlich einige ihrer Fans verprellt. ABER – das neue Rezept war immens erfolgreich, Im Zuge der Single erreichte auch das Album Platz 1 in den britischen Charts, und wer Ausverkauf gerochen haben mag, konnte sich beim Anhören von Wake Up! davon überzeugen, dass zwar die psychedelische Düsternis der Vorgänger verschwunden war, dafür aber nun psychedelischer Pop in allen Facetten zum Schimmern gebracht wurde. Da werden nicht nur die Beatles in ihrer buntesten Phase zitiert, sondern auch Pink Floyd – und Tracks wie „Reaching Out From Here“, „Stuck On Amber“ oder „Fairfax Scene“ sind durchaus auf dem Niveau der großen Vorbildern. Wenn man das Album in seiner Gesamtheit anhört, wird die Banalität der Hitsingle und ihres Nachfolgers „It's Lulu“ von solchen Pop Pretiosen wie „Martin, Doom! It's Seven O'Clock“ wieder aufgewogen. Ein Album das weit besser ist als sein Ruf.

War das schon Alles im Brit Pop ?

Tatsächlich könnte ich hier noch einige Alben hinzufügen: Da hat Paul Weller mit Stanley Road seinen Nachfolger zu Wild Wood gemacht – und der ist doch der gute Onkel aller Brit-Popper, und der macht genau wie der grimmige Onkel Morrissey mit Southpaw Grammar so typisch britische Popmusik, dass man sie hier einfügen könnte, wenn man wollte. Und was ist mit den Power Poppern Teenage Fanclub und ihrem Grand Prix ? Oder mit Radiohead's The Bends ? - die sind dem Rest jetzt schon zu weit voraus und tauchen nebenbei im Blogeintrag http://derkleinerockhaus.blogspot.de/2016/08/1995.html auf... Oder Spiritualized und deren Pure Phaze oder Slowdive's Pygmalion ? Die kommen eben alle an anderer Stelle...



















Montag, 10. Juli 2017

2005 - Die Invisible Pyramid: Elegy Box bis Harris Newman - Der inzwischen völlig befreite Folk

Schon für's Jahr 2001 habe ich ein eigenes Kapitel über „Free Folk“ verfasst – die Spielart des Folk, oder des „New Weird America“ oder des Avant-Folk oder Psychedelic Folk oder oder – die gerne das Songformat sprengt, Einflüsse aus anderen als den in der populären Musik der westlichen Welt üblichen integriert – und die schwieriger ist, als es den meisten Musik-Konsumenten lieb ist. Das heisst: Ab hier wird der Horizont erweitert – biochemisch und intellektuell. Viele der unten genannten „Bands“ und Musiker haben Mitte der Neunziger als lose Improvisations-Kollektive mit fluktuierendem Personal begonnen, und sie haben dieses Konzept zehn Jahre später nicht geändert. Aber inzwischen sind bestimmte Namen/ Personen etabliert – d.h. Sie sind diejenigen, die den Spaß vorantreiben, die den Alben den Charakter geben – und sie sind diejenigen, die inzwischen die Erfahrung und das Können gesammelt haben, das ihre Art des Musikmachens interessant bleiben lässt. Und man kann behaupten, dass inzwischen kommerziell weit erfolgreichere und weit konventioneller agierende Acts wie Devendra Banhart oder Joanna Newsom ihnen ein Publikum bescheren – genauso wie respektierte Indie-Größen wie Sonic Youth, die in den letzten Jahren Bands wie die No-Neck Blues Band ge'namedroppt haben. So ist 2005 nicht nur ein Jahr, in dem es „weitergeht“ - wie in den vier Jahren nach 2001 - es ist auch ein Jahr, in dem via Compilations Rückschau gehalten wird – nicht wie im „Pop“ mit Kompilationen der Hits der letzten Jahre, sondern mit Kollektionen von Tracks der bekannten und der vielen obskuren Freigeister, die man mühevoll unter dem Hut „Free Folk“ versammeln könnte. Die Versammlung etlicher großer und kleiner Namen des freien Folk auf Invisible Pyramid: Elegy Box ist die absolut perkekte Übersicht darüber, was Free Folk ist bzw. sein könnte – genau so wie Gold Leaf Branches.... aber dazu mehr im Review. Und natürlich gibt es eine breite Palette von Ideen von diversen bekannten Künstlern ihrer Art aus den letzten Jahren. Die meisten davon haben es zwar nicht auf „größere“ Labels geschafft, aber VHF und ATP/R verkaufen ihre Waren inzwischen in größeren Stückzahlen. Diese Bands, die ich etwas hilflos unter dem Moniker Free Folk zusammenfasse, haben nicht den Erfolg eines Devendra Banhart, einer Joanna Newsom oder auch nur eines Alasdair Roberts, aber ich bewundere die Konsequenz, mit der die allermeisten dieser Künstler hier unten inzwischen schon zehn Jahre lang – und bis weit in die 2010er Jahre – ihre Idee einer „freien“ Musik verfolgen, ohne sich einem breiterem Publikum anbiedern zu wollen. Die meinen das ernst...

Various Artists

Invisible Pyramid: Elegy Box


(Last Visible Dog, 2005)

Das Konzept hinter dieser Box: Musiker und Bands aus dem Umfeld/der Stilrichtung Drone/ (Free) Folk/ Ambient (alle auf dem Label Last Visible Dog natürlich) machen ca. 15 Minuten Musik, inspiriert von einer vom Aussterben bedrohten bzw. von einer ausgestorbenen Tierart. Man darf einen Track aufnehmen, man kann die 15 Minuten für mehrere Tracks verwenden – nur dieses Zeitlimt sollte ungefähr eingehalten werden. Dazu gibt es ein Essay von Urdog's Jeff Knoch, und all das wird auf 6 CD's mit über 7 Stunden Spielzeit präsentiert. Das ist natürlich eine Tour de Force. Und wer da am besten arbeitet, ist subjektiv -und stimmungsabhängig, wie immer bei dieser Musik. Die Musiker mögen stilistisch/ soundmäßig teils weit von Bands wie Jackie O-Motherfucker entfernt sein, aber „Free Folk“ ist ja wie gesagt schon ein sehr schwammiger Begriff, und wenn sich hier ein Noise-Terrorist wie Birchville Cat Motel (= Gitarrist Campbell Kneale) mit den Space Rockern Bardo Pond, den lupenreine Free Folk Vertreterin Fursaxa und diversen finnischen Freigeistern zum guten Zweck zusammentun, wäre die Frage nach einem Reinheitsgebot nur peinlich. Die Elegy Box bietet einen Überblick über eine Art Musik, die bei nur einem Künstler für die übliche CD-Länge von 60 bis 70 Minuten manchmal schwer zu goutieren ist. Hier kann man also mal 'reinhören, was der Einzelne denn so macht, es sind einige Meister ihrer Zunft versammelt und das übergreifende Konzept bringt all das in einen sympathischen und überraschend gut funktionierenden Zusammenhang. Invisible Pyramid: Elegy Box ist ein perfekter Überblick und ein toller Einstieg in die Welt von Drone und Free Folk. Einziges Problem: Die CD-Box ist ein teurer Spaß und schwer zu bekommen, aber es gibt ja YouTube und Streamingdienste.

Invisible Pyramid - Urdog - The Open 

Various Artists

Gold Leaf Branches


(Digitalis, 2005)

2005 scheint wie gesagt das Jahr der Rückschau in der experimentellen (Folk)musik zu sein – der Rückschau in Form gewaltiger Compilations. Gold Leaf Branches vom Digitalis Label dauert knapp fünf Stunden - wenn man es denn in Einem durchhören will. Das Label, gegründet vom Multi-Instrumentalisten, Literaten, und Hansdampf in allen Gassen Brad Rose, ist auch so ein Sammelbecken verschiedener in diesem Bereich der Musik „namhafter“ Künstler. Hier kommt die geisterhafte Folk-Chanteuse Marissa Nadler zu Wort, der Fahey-Adept James Blackshaw spielt mit, die Begründer des Free Folk Charalambides sind dabei, Brad Rose mit diversen eigenen Projekten wie z.B. Ajilvsga (man höre auch deren Medicine Bull 2008…) oder The North Sea (man höre deren Bloodlines in fünf Jahren..) oder der tolle Lo-Fi Songwriter Elephant Micah etc pp... aber es sind vor Allem die Unbekannten (bzw. NOCH Unbekannteren...), die Gold Leaf Branches zu mehr als einer unübesichtlichen Kollektion machen. Steven R. Smith's Projekt Hala Strana mit deren „Fanfare“ gefällt mir sehr, The Weird Weeds' „Soda Jerk“ ist kurz und prägnant (und deren Album Hold Me aus dem Vorjahr ein Segen...) - es gibt Etliches zu entdecken und was mir gefällt mögen andere weniger toll finden, Es ist eben eine Compilation - aber eine, die mit Liebe gemacht wurde: Die drei CD's sind in mit besagten goldenen Blättern bedrucktem Wachspapier eingeschlagen, Man konnte sie nur bei Digitalis bestellen – und heute gibt es sie für wenig Geld bei Discogs...

Gold Leaf Branches - Claypipe - Amongst Slow Dust of 60 Years 


Jackie-O Motherfucker

Flags of the Sacred Heart


(ATP/R, 2005)

Jackie O-Motherfucker sind alte Bekannte im Bereich Free Folk. Vielleicht DAS Vorzeige Kollektiv für diese Musik-Gattung, die Band, die man dem Neugierigen vorspielt, weil sie die konziseste Diskografie haben, weil sie sich mit dem „Genre“ weiterentwickelt haben, und immer wieder neue Ideen auf ihren Alben verarbeiteten. Ihre Alben in den drei Jahren von '99 bis '02 sind toll, Flags of the Sacred Harp ist in Ausführung und Konzept sowas wie die Gussform für Free und Freak-Folk whatever.... Es gibt in den USA ein Hymn-Book aus dem 19. Jahrhundert, das The Sacred Harp heisst, eine Sammlung von Chor-Stücken aus der Zeit der Kolonisation Amerika's, aufgeschrieben in vereinfachter Notenschrift mit nur vier Noten – um auch den musikalisch Unkundigen zum Mitmachen anzuregen. Dieses Gesangsbuch nimmt das Kollektiv aus Portland als Ausgangspunkt für seine musikalischen Exkursionen – mal weit hinaus auf einen Ozean von Klang und Improvisation, mal streng und konzentriert am Geist der Originale ausgerichtet. Die „originalen“ Tracks („Nice One“, „Rockaway“, „Loud and Mighty“, „The Louder Roared the Sea“) sind mal folky, wie man es von Jackie-O bisher nicht kannte - „Rockaway“ wird zum ein Zeitlupen-Blues mit Lyrics, die Blind Willie McTell geschrieben haben könnte ("tombstone is my pillow/ graveyard's gonna be my bed") oder sie klingen nach Bonnie „Prince“ Billie. Aber aus dem finalen Track „The Louder Roared the Sea“ machen sie dann einen 16-minütigen Drone - die Avantgarde lauert immer hinter der nächsten Ecke. Auch die eigenen Songs pendeln zwischen Drone und Folk. „Hey! Mr. Sky“ ist einer der nettesten verschlafenen Folk-Songs des Jahres, das Zentrum des Albums ist dann der viertelstündiger Drone „Spirits“, eine allmählich aufsteigende Exkursion, die den religiösen Hintergrund der themengebenden Traditionals mit elektronischen Spielereien in weltumspannende Spiritualität übersetzt. Da ist das Cover mit der Plaid-Decke nur noch das Pünktchen auf dem i... Besser wurden Jackie-O Motherfucker nicht mehr. 

Jackie O-Motherfucker - Rockaway 

Fursaxa

Lepidoptera


(ATP/R, 2005)

Fursaxa ist die Musikerin und Esoterikerin Tara Burke, die schon seit Beginn der 00er Jahre völlig ironiefrei eine mttelalterlich/ psychedelisch anmutende Musik macht, die sie in Verbindung mit der Free Folk Community bringt. Dazu hat sie den Segen und lobende Worte von Sonic Youth's Thurston Moore und einen Plattenvertrag mit ATP/R – dem Label, das sich aus einer Konzert-Promotion-Agentur zu einem beachtlichen Indie-Label entwickelt hat. Was sich die Label-Macher von ihr versprechen, ist ein bisschen rätselhaft, Fursaxa's Lepidoptera ist hermetische Musik, mit Wurzeln in Folk, in religiösen Madrigalen und im Drone einer Nico etwa. Die Tracks basieren auf Gitarrenchords, Organ-Drones, gklöppelten Tamburinen und Tara Burke's gedoppeltem und verdreifachtem Gesang. Der ist nicht notwendigerweise verständlich, es geht ihr um das Entstehen von Stimmungen, der Raum ist ein weiteres Instrument, er klingt mit, Dynamik soll anscheinend nicht entstehen, sondern eine kontemplativer Stimmung. Das könnte albern wirken ob seiner Esoterik, ist aber so ernst gemeint – und so gelungen - dass man sich einfangen lassen kann. Ich sehe Tracks wie das pastorale „Pyrcantha“ mit übereinander geschichteten Gitarren oder das bedrohliche „Freedom“ als aurale Mandalas. Muster aus Klang, die nicht als „Folk“ im bekannten Sinne zum mitsingen oder nachpfeifen gedacht sind, sondern eine archaische Form der Meditationsmusik neu empfinden und erfinden.

Fursaxa - Freedom 

The No-Neck Blues Band

Qvaris


(5RC, 2005)

Eine weitere Lieblingsband von Sonic Youth's Thurston Moore ist die No-Neck Blues Band. Er nannte sie seinerzeit tatsächlich "the best band in the universe ever." Und die Referenz Richtung Universum trifft es auf gewisse Weise auch ganz gut: Das basisdemokratische Improv-Kollektiv ist immer noch in New York beheimatet, hat dort im Harlemer Hint House bei seinen wöchentlichen Sessions eine traumhafte Sicherheit darin entwickelt, disparate Musikformen zu einem gewagten Mix zu verwirbeln und dabei tatsächlich zu klingen, als würde ein Flug durch fremde Galaxien musikalisch untermalt. Da treffen Sun Ra, Grateful Dead, Captain Beefheart's Magic Band und Robert Johnson aufeinander und spielen Free Jazz auf einem Blues, Raga und Folk Fundament. Oder ich sag's mal so: Qvaris klingt fremd. So fremd wie seinerzeit Beefheart's Trout Mask Replica geklungen haben mag. Nur dass Qvaris in eine Welt eintritt, in der es Ausserirdisches wie Trout Mask schon gibt. Und die No-Neck Blues Band teilt mit Beefheart in meinen Augen vor allem die angenehme Eigenschaft, sich durch ihren naiven Spass am Abseitigen intellektueller Analyse zu entziehen. Da sind Tracks wie „Live Your Myth in Grease“ mit minimalistischen Gitarrensplittern über Tribal-Rhythmen, das gibt es das völlig abstrakte „Black Pope“ mit spooky Keyboard-Sounds in einem seltsamen Klang-Universum (Mit einem lustigen Video bei YouTube...), da ist eine Band mit einem komplett anti-kommerziellen Anspruch, die aber mit diesem Album - und mit den beiden Vorgängern Sticks and Stones May Break My Bones (siehe Free Folk 2001) und dem 2003er Album Intonomancy - einen ganz eigenen Claim abgesteckt hat – die wirklich „neue“ Musik gemacht hat (und die dazwischen freilich eine Unzahl von Kleinst-Veröffentlichungen auf Mini-Labels gemacht hat...). Ich weiss nicht, ob Qvaris irgendwann eine vergleichbare Bedeutung wie Trout Mask Replica haben wird - vermutlich eher nicht, weil die Flut an seltsamen Musik inzwischen reissend geworden ist, aber Qvaris ist allemal eines der besten Alben seiner selsamen Art. Thurston Moore hat Ahnung, und wenn man sich auf sein Urteil nicht verlassen will, dann kann man immerhin meinen Worten glauben..

No-Neck Blues Band - Live Your Myth in Grease 

Spires That in the Sunset Rise

Four Winds the Walker


(Secret Eye, 2005)

Free Folk hat im Gegensatz zum Free Jazz eine starke feministische/weibliche Komponente. Frauen sind selbstverständlich gleichberechtigte Mitglieder in den Kollektiven, die die improvisierte Musik dieser Zeit kreieren, Da sind Tara Burke/Fursaxa, Charalambides' Christina Carter oder Erika Elder von den Tower Recordings - und die sind nicht nur Begleiterinnen, sie haben massiven Einfluss auf die Musik ihrer „Bands“ – und mit Spires that in the Sunset Rise (wieder so ein toller Bandname) etabliert sich nun ein all-female Quartett aus Chicago mit seinem zweiten Album.... und arbeitet im Gegnsatz zu den anderen Protagonisten des Free Folk mit elektrisch verstärktem Instrumentarium, das man doch eher mit Männer-dominiertem Rrrock verbinden könnte. Aber dann ist es auf Four Winds the Walker doch so, dass die Wahl der Instrumente unwichtig ist, und die rein weibliche Perspektive, aus der die Musik hier gemacht ist, nicht plakativ 'rausgehauen wird, sondern sich selbstverständlich in Energie, Innovation und Klang zeigt. In dieser Art von Musik ist das Geschlecht (hoffe ich jedenfalls) gleichgültig. Four Winds the Walker ist ebenso einzigartig und eigenartig wie Qvaris von der No-Neck Blues Band, das Universum, das Spires... erforschen, bietet unendlich viele unerkannte Möglichkeiten. Natürlich benutze ich wieder (obskure) Bands als Vergleiche – Das Quartett könnte sich auf die Slits, die Raincoats und Yoko Ono berufen, auf die großartigen Sun City Girls, auf die abwegige Sixties-Folk Band Comus, und auf die durchkonzipierten Verrücktheiten diverser ESP-Disk Folk-Alben der Sechziger, aber – auch wie immer – die Vergleiche hinken. Spires... nutzen ihre Instrumente, als wären sie die Ersten, die ein verstärktes Banjo mit dem Bogen streichen, sie setzen ihre diversen, teils selbst-erfundenen Insrumente unter massive Spannung, sie erfinden tatsächlich eine weitere Facette im neuen, freien Folk. Ihre Songs klingen fremd, aber erstaunlich präzise, sie verlieren sich nicht - wie bei anderen Free Folk Acts üblich - in ellenlangen Improvisationen, sie bleiben fast immer innerhalb des Song-Formates zwischen drei und fünf Minuten (was ihnen eine angenehme Ökonomie verleiht)... aber diese Songs sind fremd, neu und erfreulich abwegig. Tracks wie "Sheye" oder „Born in a Room“ haben theatralische Background Vocals, die man eher aus dem Prog-Rock zu kennen glaubt. Und ein Song wie „The May Han“ ist fast „normal“, würden da nicht seltsame String-Instrumente, schwirrende Saiten und zischende Becken den Hintergrund aufwühlen. 2005 ist ein Jahr, in dem Free Folk seine Grenzen weit nach aussen verschiebt. Dass das Gros der Menschheit nichts von weiss, ist ein bisschen schade und sehr egal.

Six Organs Of Admittance

School Of The Flower


(Drag City, 2005)

Dass Free Folk ein breiteresPublikum erreicht hat, kann man vielleicht an Six Organs of Admittance' erstem richtig im Studio produziertem Album erkennen. Der Kopf hinter diesem Namen – Ben Chasny – ist befreundet mit Freak Folk Posterboy Devendra Banhart, er hat einen Plattenvertrag beim doch recht großen Indie-Label Drag City – mit Musik, die mitunter in die abstrakten Bereiche der Free Folk-Improvisationen und Drones eintaucht, die aber auch immer wieder ins Songformat zurückkehrt. School of the Flower ist Free Folk Light – und das meine ich nicht negativ!! Denn was Ben Chasny hier mit dem experimentellen Percussionisten Chris Corsano (von Sunburned Hand of the Man...) veranstaltet, ist keinesfalls als Einknicken vor einem „Massengeschmack“ zu sehen. School of the Flowers ist einfach auf die Grenze gebaut. Da passt es, dass Chasny's Vorbilder - nach eigenen Aussagen – bei Bands wie The Dead C, SunnO))) oder bei dem japanischen Experimental-Musiker Keiji Haino und dessen Band Fushitsusha zu finden sind – und eben nicht nur unter alten Folk-Meistern der amerikanischen Geschichte. Eben das hört man auch immer wieder auf School of the Flower. Das Album startet gelinde psychedelisch mit „Eighth Cognition / All You've Left“, aber schon innerhalb dieses Tracks beginnt auf einmal Corsano mit diversen Instrumenten zu rattern und rasen, dass es eine Freude ist. Da ist der pure Free Folk Drone von „Saint Cloud“ und dann ist da das zentral Titelstück mit einer uhrwerkhaften Gitarrenfigur, die im Verlauf von dreizehn aufregenden Minuten immer tiefer in einem zart gesponnenen Chaos aus rasanten E-Gitarren (siehe japanische Noise Bands...), Rückkopplung, freien Percussionwirbeln und Lärm versinken. Und auch hier nannte Chasny mit John Cale/Terry Riley's Church of Anthrax ein Vorbild, das weit ausserhalb der Grenzen des Folk steht. Dass er zwei relativ konventionelle Folk-Tracks ans Ende des Albums stellt, dass er hier erstmals nicht mit 4-Spur-Recorder sondern mit vollem Studio.Equipment arbeitete – all das macht dieses Album zu einem sehr genießbaren Einstieg in seine Arbeit und in die hermetische Musikform, der ich es hier zuordne. Und das Album zeigt, dass dieser Ben Chasny völlig zu Recht ein so profilierter Künstler ist. Er begleitete Joanna Newsom und seinen Freund Banhart, arbeitet mit Extremisten wie Charalambides oder Current 93 und stand unwillig - und damit sympathisch - im Rampenlicht des „New Weird America“ ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren und ohne die Vorbilder zu verleugnen, die eben ausserhalb der Free Folk Norm lagen. Six Organs of Admittance sollte man hören – und mit diesem Album beginnen.

Lichens

The Psychic Nature of Being


(Kranky, 2005)

Ich gebe diesen Einträgen immer Überschriften, die EINEN ganz bestimmten Stil – ein Genre zum Thema der Reviews und Bemerkungen machen – wissend, dass diese Schubladen den Musikern meist wohl nicht passen würden, dass kaum ein Musiker beschliesst, EIN bestimmtes Genre mit seiner Musik zu bedienen und wissend dass andere Hörer das Album X der Band Y eher einem anderen Genre zuordnen könnten. Aber ich sehe solche Kategorisierungen nicht besonders streng, sie sind letztlich lediglich praktisch zur „Erklärung“ von Musik. Das Prinzip für mich ist: Wer das eine Album mag, das man möglicherweise dem lockeren Begriff Free Folk zuordnen könnte, der mag vielleicht auch das folgende Album etc.... Da ist zum Beispiel das Alias Lichens des 90 Day Men bzw. TV on the Radio Musikers Rob Lowe – ein Album das der Multi-Instrumentalist (fast) alleine eingespielt hat, und das weder mit dem Math Rock der Einen, noch mit dem Art-Rock der Anderen viel gemein hat - das mich ganz einfach eher an die Musik diverser Bands aus diesem Artikel erinnert. Die drei Tracks – 10 bis 20 Minuten lang – wurden ohne Overdubs live improvisiert, was mir fast unglaublich erscheint, denn Lowe arbeitet mit geloopter Stimme, Gitarrenklustern und organischen Synthie-Sounds gleichzeitig. Er macht aus wortlosem Gesang schwebende Drones, aus denen die gezupften Gitarrentöne wie Regentropfen fallen („Kirlian Auras“) das ganze Album klingt völlig organisch, seine Wurzeln mögen nicht in überlieferten Folk Traditionen liegen, aber die Früchte von Lowe's Arbeit schmecken mir eher nach Fursaxa (ohne Esoterik), spätem John Fahey und indischem Raga als nach gewollt experimentellem Drone mit all seiner Dissonanz. The Psychic Nature of Being ist so freundlich, dass es für mich perfekt in eine Reihe mit anderen Free Folk Alben dieser Zeit passen kann. Insbesondere der abschließende 20-Minuten Track „You Are Excrement, You Can Turn Yourself Into Gold“ mag etwas ZU lang geraten sein, aber Durchhalten ist in dieser Form von Musik Bedingung – und mir fällt das Durchhalten leicht, weil Lowe immer wieder neue Loops, Distrortions und Sounds ergänzt. Ich wüsste auch ein paar andere Bezeichnungen für diese Musik, aber mir scheint, wer die obigen Alben mag, könnte Lichens auch mögen.



Free Folk und primitive Gitarrenmusik ?


Und nun zu einem dem Free Folk anverwandten Bereich der Musik, zum „American Primitivism“, der instrumentalen Gitarrenmusik, die ihre Wurzeln ebenfalls im Folk des alten Amerika hat, der sich aber von Anfang an (Mitte der Fünfziger...) mit seinem „Erfinder“ John Fahey in alle Richtungen ausdehnte – der klassische Musik, indischen Raga, Drone und meinetwegen sogar „Rock“ in seine Sprache einfügte – und damit vieles vorwegnahm, was die Musiker der diversen Free Folk Kollektive heute praktizierten. Daher mag es kommen, dass Jack Rose (siehe hier unten) bei den Free Folk Könnern von Pelt seine Heimat fand, und daher mag es kommen, dass eine Band wie die No-Neck Blues Band bei John Fahey's Revenant Label eine Heimat fand...

Jack Rose

Kensington Blues


(VHF, 2005)

Jetzt ist der Name John Fahey gefallen, und mit Kensington Blues steht hier auch ein Album, das in der Reihe der Free Folk Alben streng genommen nicht ganz richtig ist. Jack Rose ist Mitglied der Band Pelt und er hat 2004 mit Raag Manifesto ein Album gemacht, das seine Gitarrenexkursionen – wie so viele andere Bands seiner Zunft – nach Indien überführt. Nun veröffentlicht er Kensington Blues auf dem Free Folk-affinen Label VHF - aber er macht mit diesem Album einen großen Schritt aus der Free Folk/Raga Ecke in Richtung von Blues- und Folk-inspirierter instrumentaler Gitarrenmusik. In Richtung der Musik mithin, die man „American Primitivism“ nennt, die viele Musiker aus dem Umfeld des Free Folk beeinflusst hat und deren „Erfinder“ und größter Vertreter John Fahey drei Jahre zuvor gestorben ist. So hört der kundige Hörer dann auch jenen Fahey heraus, aber auch dessen Schüler Robbie Basho, den britischen Folk-Gitarristen John Renbourn, Elizabeth Cotton, Richard Thompson und sogar Grateful Dead's Jerry Garcia. Was mich beeindruckt, ist der ständige Ideen-Flow, die (Neu)- Erfindung einer eigenen Musik aus uralten Wurzeln. Rose ist offensichtlich ein großer Techniker, aber er stellt – wie Fahey – sein Können in den Dienst eines höheren Konzeptes, er wäre vermutlich auch mit jedem anderen Instrument ein herausragender „Musiker“. Aber natürlich ist es eine Freude ihn auf der 12- String, mit Slide-Gitarre und als Ragtime Fingerpicker zu hören. So wie es interessant und spannend ist, zu hören wie er bei „Cross the North Fork“ Raga und Ragtime organisch ineinander fliessen lässt. Dann ist da das Fahey-Cover „Sunflower River Blues“, das Rose mit seinem eigenen Flow versieht oder das ganz eigene „Cathedral et Chartres“, das mit Slide Gitarre am Ende in einen Drone abgleitet. Schön, dass immer wieder kürzere Tracks wie „Flirtin' with the Undertaker“ auf die Ursprünge seiner Musik verweisen und für Erholung nach den ausladenden experimentelleren Tracks sorgen. Jack Rose hatte mit Pelt und Allein einen eigenen Pfad eingeschlagen und wurde nun spätestens mit Kensington Blues zum berechtigten Nachfolger von John Fahey. Um so tragischer war da sein Tod vier Jahre später an einem Herzinfarkt. Seine Musik: Kostbar,

James Blackshaw

Sunshrine


(Digitalis, 2005)

Wenn Jack Rose der neue Fahey wäre, könnte James Blackshaw der neue Leo Kottke sein – jedenfalls was die Wahl seines Instrumentes angeht – er ist ein Meister der 12-String Gitarre. Aber Kottke lebt noch und James Blackshaw ist weit weniger in amerikanischen Blues Traditionen verwurzelt als Kottke – oder als Jack Rose, was das angeht. Sunshrine erscheint ebenfalls – wie die oben beschriebene Compilation Gold Leaf Branches - auf Brad Rose's Digitalis Label (… der ist nicht mit Jack Rose verwandt...) und ist in seiner Konzeption näher an anderen Free Folk Alben, als Kensington Blues.... eben weil hier Folk und Weltmusik, Raga und Drone mit offen gestimmter 12-String Guitar, Organ, Glockenspiel und anderen Klangerzeugern zu einer neuen, „freieren“ Musik zusammenfinden – zu einer Folkmusik, die ich eher mit dem 21. Jahrhundert verbinde, als mit dem amerikanischen Folk des frühen 20. Jahrhunderts. Aber der Brite James Blackshaw wird – so wenig wie andere hier genannte Musiker - beschlossen haben instrumentale, gitarrenbasierte Musik mit dem Etikett „Free Folk“ zu spielen. Er verfolgt einfach seine eigene Version der Instrumentalmusik, er mag Vorbilder wie Fahey und vor Allem Robbie Basho haben, aber er ist ideenreich und konsequent in der Verwirklichung seiner Vision. Das über 25-minütige Titelstück geht von Folk über Raga-Passagen bis zu harten Orgel-Drones, man hört, warum Noise-Spezialist Campbell Kneale ihn ein Jahr zuvor auf seinem eigenen Label ein Album (Celeste) machen ließ. Das kurze „Skylark Herald's Dawn“ ist weniger extrem, sozusagen ein Ausklang in Ruhe. James Blackshaw entpuppte sich hier endgültig als ein weiterer Ideenreicher Vertreter einer neuen, abenteuerlichen und avantgardistischen Folkmusik

Harris Newman

Accidents With Nature and Each Other


(Strange Attractors, 2005)

Die drei hier hintereinander gestellten Alben sind ein guter Beweis dafür, dass man mit rein instrumentaler Gitarrenmusik ein weites Feld an Emotionen und Bildern darstellen kann. Da ist Jack Rose mit seinem Mix aus Raga und Ragtime, der tatsächlich das mystische alte Amerika wieder auferstehen lässt – und zugleich in meditativem Nebel vergehen lässt, da ist der Brite James Blackshaw, der mit seiner Gitarre schwebende Drones erzeugt, die von sanft leuchtend bis grell strahlend reichen, der sanft und elegisch wird ohne zu nerven, und da ist der Kanadier Harris Newman, der auf Accidents With Nature and Each Other - wie der Titel sagt – die Natur in all ihrer Kraft und Verletzlichkeit im Kampf mit dem Menschen darstellt. Er ist, wie die beiden anderen Gitrristen, ein Virtuose mit einer Botschaft und mit einem Ziel: Auf seiner Website schrieb er zu diesem Album: "This album is a lament for humankind's great narcissistic folly, its belief that (depending on your perspective) it will either conquer, tame, or destroy our planet. If I were a gambling man, and had to picks sides in the so-called struggle between man and nature, my money's on the mud." Diese kritische Haltung zum Umgang des Menschen mit der Natur stellt er mit sehr kraftvollem und virtuosem Gitarrenspiel – und mit ein paar wohlgesetzten Sounds von Steel Guitar und Percussion dar. Schon beim Opener „The Butcher's Block“ klingt die akustische Gitarre lauter und kraftvoller, als es mit elektrischer Gitarre vorstellbar wäre. Manchmal erzeugt Newman mit schnell gespielten Läufen ein regelrechtes Schwirren und Summen, das er mit hart gezupften Bass-Saiten akzentuiert. Das ist sehr rhythmisch und hört sich vielleicht technisch an, es erzeugt aber vor Allem einen überwältigenden Sog. Bei Tracks wie „A Thousand Stolen Blankets to Keep You Warm at Night“ braucht man nichts anderes, als Newman's Slide-Gitarre um eine Story vor Augen zu haben. Lyrics sind bei dieser Musik unnötig, sie wären sogar zuviel. Und die düstere Atmosphäre von „It's a Trap (Part 1)“ und „...(Part 2)“ würde durch Worte nur ins Banale verschoben. Newman unterscheidet sich technisch von seinen Zeitgenossen und vom Übervater John Fahey weit genug, um spannend zu sein, und er unterscheidet sich eben auch durch die Intentionen – nenn es meinetwegen die „Story“ - die er mit seiner Musik verfolgt. Und diese Geschichte ist es auch, die Accidents With Nature and Each Other so persönlich macht. Harris Newman (oder Rose oder Blackshaw) kann man nicht wirklich „nachspielen“, sie sind mit dem Inhalt ihrer Musik Ausdruck einer ganz individuellen Musikalität und einer persönlichen Absicht, die man nicht – wie einen Text – ablesen und wiederholen kann. Der sogenannte „American Primitivism“ ist Free Folk ausserhalb des Kollektives.