Donnerstag, 23. August 2018

1994 – Bark Psychosis bis Jessamine - Der Anfang von Post Rock

Der Begriff „Post Rock“ wird vom Journalisten Simon Reynolds in seinem Review des '94er Bark Psychosis Albums Hex für das Mojo Magazin geprägt: "using rock instrumentation for non-rock purposes, using guitars as facilitators of timbre and textures rather than riffs and power chords." Somit ist eine Schublade gebaut - aber der Inhalt ist sperrig und ragt an allen Ecken heraus. Etliche der Bands, die man „Post Rock“ nennt, würden sich gegen diese Kategorisierung vermutlich verwehren, aber – ebenfalls wie immer – so eine Bezeichnung ist hilfreich um eine bestimmte Art von Musik zu einer bestimmten Zeit zu beschreiben. Im Post Rock der 90er findet man jazzige oder/und repetitive Rhythmik, wenn Gesang vorkommt, dann meist eher im Hintergrund oder lautmalerisch, wobei es bald auch „Post Rock Bands“ wie etwa Sigur Ros gibt, bei denen der Gesang eminent wichtig ist – aber die Stimme ist auch hier eher Instrument. Manche Bands spielen mit Elementen aus Minimalism, andere kommen hörbar vom Hardcore/Math Rock, viele scheinen Kraut-Rock Bands wie Can oder Neu! gehört und verstanden zu haben – sie alle aber scheinen der „Rockmusik“ der frühen Neunziger die Eier abreißen zu wollen. Als wichtigste Wegbereiter des Post-Rock gelten Talk Talk und Slint (siehe meinen Artikel über das Jahr 1991 !) obwohl insbesondere Talk Talk nie wirklich kopiert werden (können) - aber auch Disco Inferno, Bark Psychosis oder Stereolab – und damit ist eine sehr bunte Palette vorbereitet. Sie alle haben ihre Vorbilder wiederum bei Krautrock Bands wie Can und sie kennen The Velvet Underground (wer kennt die nicht...). Mitte der Neunziger kommen Labels wie Thrill Jockey (In Chicago – daher kommen viele der wichtigen Musiker von dort). Kranky, Too Pure (aus England) oder Touch & Go und veröffentlichen solche Musik – oft ganz einfach, weil ihre Labeleigner sie mögen: Da finden wir die hier unten vorgestellten Alben von Tortoise, The Sea and Cake, Gastr Del Sol etc. Andere, breiter aufgestellte Indie-Labels wie Drag City erkennen den Trend während die Majors das Wagnis erst einmal natürlich nicht eingehen, solch intelligente und somit viel zu anspruchsvolle Musik ihrem Publikum zuzumuten. Zunächst einmal ist Post-Rock also Musik für diejenigen, die sich für innovative Klänge interessieren – dann wird es ein - zwei Jahre lang ein mittelgroßer Trend – bis der um die Jahrtausendwende abflacht. Aber - der Begriff steht im Raum - und Mitte der 00er Jahre kommen andere Bands daher (Mono, Explosions in the Sky, Isis etc...), die Post Rock mit Metal verbinden (Dazu ein eigener Eintrag...). '94 erscheinen etliche Alben – oft Debüt-Alben - der wichtigsten Bands aus dieser Schublade. '94 sei somit (auch) Jahr Eins des Post-Rock. (Jahr Null war dann 1988 mit Talk Talk's Spirit of Eden, lieber Erbsenzähler...)

Bark Psychosis


Hex

(Caroline, 1994)

Bark Psychosis


Independency

(3rd Stone, 1994)

Als erstes also die Band, die den Musik-Journalisten Simon Reynolds dazu brachte, den Terminus „Post-Rock“ zu verwenden. Weil Bark Psychosis das Rock-Instrumentarium verwenden, um Musik zu machen, die kein Rock ist. Weil sie die üblichen Strophe/Refrain-Schemata aufbrechen, weil sie gerne ungerade Rhythmen verwenden. Aber das sind natürlich Ideen, die schon andere Bands zuvor hatten – Man kann das bei den Shoegazern der 80er/90er finden, bei experimentelleren Bands aus der New Wave-Ecke Anfang der 80er, man kann das bei Velvet Underground suchen und wird etwas davon finden. So will ich die Bezeichnung Post Rock auch als Begriff aus den 90ern betrachten – und mich auf die Beschreibung der Musik von Bark Psychosis konzentrieren. Die nämlich haben mit ihrem Debüt-Album Hex (und den in der ebenfalls '94 veröffentlichten Compilation ihrer EP's – siehe unten) eine Qualität und einen Stellenwert, der sie auf eine Höhe mit den ungleich bekannteren Talk Talk hebt. Bark Psychosis hatten einfach noch mehr Pech als Mark Hollis' Projekt. Sie hatten kaum Support durch ihr Label (im Gegensatz zu ihren Zeitgenossen von Tortoise etwa) und ihr Kopf Graham Sutton löste die Band nach diesem tollen Album frustriert auf. Hex ist ein großes Puzzle, ein Album, das zu gleichen Teilen aus Gruppen-Zusammenspiel und Post-Produktion besteht. Die Musik wurde zwar von einem großen Ensemble eingespielt, aber zuletzt an Computer und Sampler zusammengesetzt. Dass dabei ein Klangteppich von solcher Schönheit herauskam, dem die Sterilität des Digitalen völlig abgeht, beweist die Klasse des Materials und das Können Sutton's als Produzent. Der und sein Keyboarder Daniel Gish nahmen sich A.R.Kane' und deren 69, Blue Nile's A Walk Across the Rooftops und ganz klar Talk Talk's Laughing Stock zu Vorbildern, um auf dieser so grundierten Leinwand ihr persönliches Kunstwerk zu malen. Die Musik ist elegant und zurückhaltend, Piano, gestreichelte Gitarren, die manchmal in sanftem Feedback zerfießen, Dub-Bässe und Percussion die herabrieseln wie Dezember-Schnee. Dass Del Crabtree da seine Miles Davis-Trompeten drüber schweben lässt, ist nur logisch. Insbesondere „A Street Scene“ könnte Mark Hollis beeindruckt haben mit seinen melodischen Ausbrüchen und den zwei Minuten Kammermusik am Schluss. Einzelne Tracks hervorzuheben ist schwierig, Hex ist ein Album, das im Ganzen gehört werden will - und ich will es betonen: Hex ist nicht Spirit of Eden Vol. 2, hier werden vielmehr die losen Enden der Musik von Mark Hollis aufgenommen – meinetwegen ohne Hollis' Pop-Sensibilität, dafür mit mehr Abstraktion – was dazu geführt haben mag, dass Hex nicht den Status der Talk Talk-Alben hat. Die im selben Jahr erschienen Compilation Independency ist die willkommene Ergänzung zu Hex. Sie zeigt, welchen Weg die Band vom Ende der Achtziger mit der sparsamen akustischen Schönheit von „I Know“ (von der Single „All Different Things“) bis zur epischen Free-Form Majestät der 21-Minütigen EP Scum zurücklegte – immer in einem Bereich der Musik, der unbemerkt parallel zur alltäglichen Popmusik verlief. Bark Psychosis lösten sich wie gesagt auf, Graham Sutton arbeitete als Produzent und mit dem „Zwischenprojekt“ Boymerang im Trip-Hop Umfeld – und reformeirte Bark Psychosis zu Beginn der 00er Jahre – zusammen mit dem Ex-Talk Talk Drummer Lee Harris. Das daraus entstandene Album /// Codename: Dustsucker ist – fast - genauso toll. Von dieser Art Musik kann man nicht genug bekommen, wenn man einmal ihrem Reiz verfallen ist. Und die Frage, ob Bark Psychosis Post-Rock spielen beantworte ich mit „meinetwegen“.

 Bark Psychosis - A Street Scene

 Bark Psychosis - I Know

'O'rang


Herd of Instinct

(HitIt, 1994)

Talk Talk, Graham Sutton... Es gibt 1994 eine Verbindung beider Namen durch ein weiteres Projekt: 'O'rang sind eine Band, die von der Talk Talk Rhythm Section Lee Harris und Bassist Paul Webb 1993 gegründet wird. Und für ihr erstes Album Herd of Instinct holen sie sich einen großen Teil der Musiker von Spirit of Eden/Laughing Stock sowie ein paar weitere Gäste ins Studio - und machen da weiter, wo Mark Hollis vor drei Jahren aufgehört hat. Harris und Webb hatten vor Talk Talk mit Reggae herumexperimentiert, ihr Zugang zur Musik war weniger von westlichen Vorlagen – und auch weniger von Popmusik – beeinflusst, als der ihres ehemaligen Band-Chefs, und das hört man diesem ersten Album deutlich an. Genauso wie man deutlich heraushört, dass das Prinzip der losen Improvisationen sie stark beeinflusst hat. So ergibt sich das Ergebnis logisch - und steht und fällt mit den Ausführenden. 'O'Rang sind demokratischer als Talk Talk, ihr Ansatz ist “weltmusikalischer”, experimenteller und weniger im Pop verwurzelt, das Album ist immens detailreich, es gibt Sounds und Passagen, die an Talk Talk gemahnen, weil die Harp von Mark Feldham, die einfallsreichen Percussion von Lee Harris und auch von Martin Ditcham automatisch Erinnerungen an Spirit of Eden heraufbeschwören. Aber neben dem Feedback-Rauschen der Gitarren von Graham Sutton kommen auch exotische Instrumente wie Baliphon und Zurna zum Einsatz. Statt Mark Hollis' prägnanter Stimme hören wir beim Opening Track “'O'Rang” die Stimme von Beth Gibbons (...! - womit wir die Verbindung zum großartigen Album von Rustin' Man hätten (siehe Out of Season in 2002)). Die fast schmerzhafte Schönheit von Talk Talk mag fehlen, aber “Anaon, The Oasis“ sollte jeder anhören, der Talk Talk mochte – mit atmosphärischem Vocal-Intro, tribalistischen Rezitationen, zersplitterten Sounds von Bläsern, Flöten und rumpelndem Bass. Und bei „Mind on Pleasure“ wird die Musik fast catchy... Herd of Instinct zeigt auch, wie es hätte weitergehen können – und man darf nicht vergessen. Den beiden letzten Talk Talk Alben wurde auch erst im Laufe der Jahre ihre Bedeutung zu erkannt. Herd of Instinct hatte in dieser Hinsicht einfach nur weniger Glück, es ist ein unbekanntes Meisterwerk des ambienten (Post)-Rock.

'O'Rang - Mind On Pleasure 

Tortoise


s/t

(Thrill Jockey)

Im Anschluss an 'O'Rang's Herd of Instinct das Debüt von Tortoise zu hören ist eine gute Erfahrung, weil das sowohl die Ähnlichkeiten als auch die Differenzen zwischen den Polen erkennbar macht, die die Welt des Post Rock in dieser Zeit ausmachen. Die Band aus Chicago besteht aus ehemaligen Indie- Punk- und Hardcore Musikern, die aus den Formeln ihrer Vergangenheit ausbrechen wollen. Sie experimentieren seit 1991 und haben einen Sound entwickelt, dem ich unterstelle, dass er eher aus der eigenen Vergangenheit – und ihrer Negation – entstanden ist, als aus der Beeinflussung durch die Musik der Briten Talk Talk. Sie verweigern sich den Konventionen des Alternative Rock und suchen sich ihre Ideen bei Krautrock, Avant-Garde Jazz, experimenteller elektronischer Musik, Minimalism und Dub, und machen daraus eine komplexe instrumentale Musik, die zu dieser Zeit tatsächlich innovativ klingt. Dass diese Musik innerhalb des kurzen Zeitraumes von zwei Jahren so ausgereift ans Tageslicht gelangen würde, ist sicher auf die Vergangenheit der Musiker bei Bands wie Bastro, Eleventh Dream Day oder bei der SST-Band Tar Babies zurückzuführen. Bei denen war auch nicht Alles Strophe/Refrain/Strophe und da waren die instrumentalen Fertigkeiten genauso gefragt, wie nun bei Tortoise. Man kann der Musik auf Tortoise eine gewisse akademische Kühle nicht absprechen, aber die Band klingt für mich insofern „anders“, als die Vergangenheit im Hardcore durchaus hörbar bleibt, dessen Härte aber hier fehlt, die Lehrmeister-Attitüde so mancher Jazzer aber auch nicht erkennbar ist. Sagen wir's mal so: Man hört, dass die Musiker Spaß haben, weil ihre Ideale sie in eine neue Richtung geführt hat. Jeder der Musiker beherrscht auch jedes Instrument, bei „Night Air“ wird eine Melodica eingesetzt, der Sound wird bestimmt von virtuosen Percussion, und Bass, ein Song heisst „Ry Cooder“ - und wird nicht von dessen Slide-Gitarren-Sounds getragen, sondern vom Vibraphon. Tortoise sind bleiben noch im engeren Korsett des Jazz, aber sie sind definitiv keine Jazz-Combo, man muss sich an ihre Musik gewöhnen, der Reiz dieses „Post Rock“ erschließt sich langsam, sie sind nicht so ambient wie 'O'Rang, nicht so nah an der Kammermusik wie Talk Talk oder Bark Psychosis und sie sind am ehesten das, was ICH Post Rock nennen würde. Und sie beziehen sich für mich insbesondere auf ein ganz spezielles Vorbild, das 1994 sein letztes Lebenszeichen von sich gibt...

Tortoise - Night Air 

Slint


Glen / Rhoda EP

(Touch and Go, Rec. 1989, Rel. 1994)

Slint – das ist die „andere“ Band, die als Begründer des Post Rock gilt. Ihr Debüt Tweez (von '89) -und vor Allem das zweite Album Spiderland ('91) ist genau wie Talk Talk's Spirit of Eden ('88) und Laughing Stock (auch '91) Klassiker der populären Musik unabhängig von allen Stilrichtungen. Dass drei Jahre nach dem Ende von Slint ihre EP Glen/Rhoda erscheint, mag mit dem Hype um Post Rock zu tun haben. Der Veröffentlichung wert sind die beiden etwas mehr als sechs-minütigen Songs allemal – zumal sie im Schatten der Alben ihrer Chicago'er Adepten von Tortoise, Gastr Del Sol oder The Sea and Cake Sinn machen. Die beiden Tracks wurden mit Steve Albini kurz vor der Veröffentlichung von Tweez aufgenommen, waren als EP im Gefolge des Debüt's gedacht, wurden aber wegen Label-Uneinigkeiten zurückgehalten. Wie weit Slint damals schon waren, und wie nah an dem, was dann fünf Jahre später als „heissester Scheiss des Jahres“ abgefeiert wurde, ist schon erstaunlich. Da ist zuerst „Glenn“, ein gitarren-getriebens Stück Instrumental-Rock, perfekt arrangiert, in Wellen dahinfließend ehe es in einem unwiderstehlich summenden Bass-Groove ausläuft, der so bedrohlich wie spannend ist. Keine unnötigen Spielereien mit Sprach-Samples oder Ambient-Soundscapes, Post Rock in Reinform – ehe es so was gab. Und dann „Rhoda“ - ein Track, der sofort zur Sache kommt, schon nach drei Sekunden den Climax erreicht, dann in Feedback auszulaufen scheint, kurz Harmonie vortäuscht, ehe einer den (damals noch ziemlich jungen) Musiker ein fatales „1, 2, 3“ herausschreit – und alles explodiert... Wie gesagt – Slint sind so etwas wie die Apotheose des Post Rock. Wen wundert's dass Bassist/Gitarrist David Pajo bald bei Tortoise andockt. Von Slint sollte man (ok, bei Gefallen...) Alles anhören.

Slint - Rhoda 

Gastr del Sol


Crookt, Crackt or Fly

(Drag City, 1994)

Hier das zweite Album einer Band, mit der zwei DER wichtigsten Post-Rock / Experimental- / Noise etc pp-Künstler ans Licht der Öffentlichkeit treten. Gastr Del Sol sind auch in der regen Szene Chicago's unterwegs, und sie haben mit David Grubbs und mit dem nach dem vorjährigen Debüt hinzugestoßenen Jim O'Rourke mindestens schon mal zwei Leute in ihren Reihen, die die experimentellere Seite der (Pop)Musik in den kommenden Jahren stark prägen werden. Und mit John McEntire ist dann auch noch einer der Tortoise-Musiker dabei. Ihr zweites Album Crookt, Crackt, or Fly könnte dem gefallen, der Post Rock mag - aber auch wer Free-Jazz, seltsamen Folk oder freie Improvisations-Musik liebt, wird hier seinen Spaß haben. Das Album ist in vieler Hinsicht schizophren. Alle Tracks basieren auf dem Sound akustischer Gitarren, die mit „Fingerpicking“ gespielt werden, aber die bleiben fast aber immer außerhalb aller geläufigen Harmonien. Das klingt nach dem Free-Jazz Einzelgänger Derek Bailey und nach dem Meister des American Primitivism John Fahey. Aber irgendwie bleiben Gastr Del Sol dabei doch halbwegs genießbar, verlassen die Bereiche der Harmonie nie komplett. Man könnte sich vorstellen, dass eine Kombination aus Fahey, Can und Slint ein Album wie Crookt, Crackt, or Fly einspielen würden. Hardcore lauert immer irgendwo hinter der nächsten Ecke, Free-Folk – der erst in ein paar Jahren zum Hype wird – scheint vorgedacht, und dass all das Post-Rock genannt wurde, ist eher der Tatsache zu verdanken, dass mit McEntire und Grubbs zwei Musiker dabei sind, die in der entsprechenden „Szene“ mit-tun. Aber unabhängig von all dem sind insbesondere die beiden über zehn-minütigen Tracks ein spannendes Hör-Abenteuer. „Work From Smoke“ gleitet von gewalttätigen Gitarren-Apreggio's zu elektronisch verfremdeten Sounds, der Album-Closer „The Wrong Soundings“ dehnt sich mit klappernden Percussion, Sound-Collagen, wilden Harmoniewechseln, einem Hardcore-Ausbruch, Noise und freundlichen Akustik-Gitarren-Intermezzi über alle Stilbereiche dessen, was wir Avantgarde nennen. Ist das dann Post Rock? Was ist Post Rock? 

Gastr Del Sol - Work From Smoke 


Brise-Glace


When in Vanitas

(Skin Graft, 1994)

Besagter Gitarrist, Komponist und Multi-Instrumentalist Jim O'Rourke ist ein hyperaktiver Überall-Spieler, der schon seit Beginn der Neunziger auf mindestens 25 verschiedenen Alben mitgemacht hat. '94 spielt er neben Gastr Del Sol's Crookt, Crackt, or Fly auch mit seinem Projekt Brise-Glace (französisch für „Eisbrecher“) ein Album im Spannungsfeld zwischen Avantgarde und – meinetwegen - Post Rock ein. Brise-Glace bestehen aus vier Chicago'er Improv-Musikern: Besagtem O'Rourke, Gitarrist Dylan Posa und Drummer Thymme Jones kommen aus dem Hardcore/Free Jazz Umfeld der Flying Luttenbachers (toller Name...), dazu gehört noch Bassist Darin Gray, der mit den Dazzling Killmen Noise Rock macht (...deren '94er Face of Collapse schlicht nicht Post-Rockig genug ist, um hier beschrieben zu werden). When In Vanitas ist mit Crookt, Crackt, or Fly durchaus zu vergleichen, der Unterschied ist, dass hier die akustischen Gitarren vom Feedback der elektrischen Gitarren ersetzt werden. Produziert wird das Album von Steve Albini (siehe Slint), David Grubbs und Gene Coleman von Gastr Del Sol machen als Gäste mit – man erkennt nicht nur am Peronal – When in Vanitas ist die logische Ergänzung zum Gastr Del Sol Album. Und das wäre unwichtig, wäre nicht die Musik auf diesem Album so toll. Da ist das 10-minütige „Restrained from Do and Will Not (Leave)“, das die noisige Entsprechung von „The Wrong Soundings“ sein könnte, da sind Studio-Improvisationen wie „Neither Yield Nor Reap“, die zeigen, wie nah Post Rock und Hardcore beieinander liegen. When in Vanitas ist ein vergessenes Juwel irgendwo im beschriebenen Spannungsfeld. Aber – es ist keine leichte Kost. So wenig wie sein Schwester-Album.

 Brise-Glace - Restrained From Do and Will Not (Leave)


The Sea And Cake


s/t

(Thrill Jockey, 1994)

um sich von den avantgardistischen Klängen zu erholen, könnte man zum Debüt der Post Rock/Pop Ästheten Sea and Cake greifen. Bei denen spielt auch wieder der Tortoise Schlagzeuger John McEntire mit, dann sind da mit dem Sänger und Gitarristen Sam Prekop und dem Drummer und Saxophonisten Brad Wood die Reste der wunderbaren – und seinerzeit noch nicht wirklich zuzuordnenden – Shrimp Boat dabei. Dazu kam dann noch Archer Prewitt, der Gitarrist der Coctails – und fertig war eine Post Rock Band, die zu den dauerhaftesten ihrer Art gehört. The Sea and Cake sind (auch) anders, als der ganze Rest. Sam Prekop singt mit semi-falsett Stimme bedeutungslose, leichte Texte, die Gitarren jangeln sanft, der Rhythmus bleibt dezent und meist geradeaus, The Sea and Cake könnte man bei oberflächlichem Hören mit Pavement an einem lauen Sommerabend verwechseln. Aber da sind dann doch immer diese Haken in den Songs, da ist ein jazziges Flair, eine hypnotisierende Monotonie im Rhythmus, die man vom Krautrock kennt. Dies ist die DNA, aus der sich der weitere Sound der Band entwickelt – hier, auf ihrem Debüt sind sie noch am nächsten an „normalem“ Indie Rock, aber sie werden sich immer weiter in eigene Bereiche entwickeln. Aber genau so klingen sie erfreulich und wer eine jazzige Lounge-Version von Pavement + Tortoise mag, die sogar Songs schreiben kann, der sollte sich ihr Debüt zu Gemüte führen. Was folgt, wird abenteuerlicher (siehe 1995).

The Sea and Cake - Showboat Angel 


Disco Inferno


D.I. Go Pop

(Rough Trade, 1994)

Und hier zur nächsten Band, die im allgemeinen als „Post Rock“ bezeichnet wird, die aber einfach nur ihren eigenen Stil verfolgt – und im Rahmen des Hypes irgendwie unter diesen Schirm geraten zu sein scheint. Disco Inferno begannen schon 1989 als Teenager mit einer eigenen Art von Post-Punk, hatten zu Beginn mit Daniel Gish den späteren Keyboarder von Bark Psychosis an Bord, wurden im Laufe der Zeit immer experimenteller, ließen sich von Shoegaze beeinflussen, veröffentlichten eine erste LP + EP und Singles (1995 als In Debt zusammengefasst...) und haben dann bis '93 noch drei weitere sehr innovative EP's veröffentlicht. '94 kommt mit Second Language eine weitere EP dazu – die EP's werden irgendwann als Compilation The 5 EP's veröffentlicht – aber '94 ist das Jahr von D.I. Go Pop – dem Disco Inferno Album, das ich hier gesondert beschreiben will, weil es eines der besten Alben der mittleren Neunziger ist und weil es eigentlich weiter ausserhalb aller Kategorien liegt, als Hex oder Herd of Instinct.. Man mag es damals nicht bemerkt haben, aber D.I. Go Pop ist aus diversen Gründen genauso experimentell, innovativ und gewagt, wie dereinst das Debüt der Velvet Underground. Disco Inferno arbeiten hier – einige Zeit vor allen anderen Bands – auf eine Art mit Samples und Loops, die so innovativ ist, dass das Album bis heute neu klingt. Beim ersten Track kündigt plätscherndes Wasser an, dass ab hier unbekannte Meere befahren werden. Mal werden noisige, mal wunderschöne Samples mantra-haft wiederholt, dazu murmelt eine körperlose Stimme aus einem Mahlstrom aus Klängen. D.I. Go Pop hat unendlich viele Ebenen, und jede davon will untersucht werden, jede garantiert einen neuen Grund, das Album zu hören. Man vergisst die Herkunft der Samples, weil sie alle zu logischen Elementen des jeweiligen Tracks werden, weil sie eine hypnotische Qualität bekommen, die letztlich aus dem Chaos einzelne Songs entstehen lässt – Songs, die sogar eine gewisse poppig- melodische Qualität haben (Höre „Even The Sea Side Against Us“). Dass dabei der Band-Charakter bestehen bleibt, ist noch das geringste Verdienst dieses Albums, und dass D.I. Go Pop als „Post Rock“ im Wortsinn gilt, ist nachvollziehbar. Nur – es gibt Mitte der Neunziger niemanden, der etwas vergleichbares gemacht hat. Disco Inferno gaben bald – nach einem letzten Album (Technicolour, 1995) – frustriert auf. Die Welt war für das hier wohl noch nicht bereit.

Disco Inferno - Even the Seaside is Against Us  

Main


Motion Pool

(Atlantic, 1994)

Das vorstehende Album weist darauf hin, dass Post Rock auch tiefe Wurzeln im sog. Shoegaze der End-Achtziger hat. Ein Projekt/Album, welches aus diesen Wurzeln entspringt, diese aber zugleich unkenntlich macht, sind Main mit ihrem zweiten Album Motion Pool. Kopf von Main ist Robert Hampton, ehemals kreativer Geist bei den Psychedelic-Shoegazern Loop. Die waren Anfang der Neunziger sozusagen in zwei Teile zerfallen (Main und The Hair & Skin Trading Company) und Hampton hatte mit seinem Gitarristen Scott Dawson den Weg aus dem Rock in Richtung Ambient, Drone – also in den Post Rock - gefunden. Motion Pool ist für Main ein Album des Übergangs. Nach dem Debüt bewegten sich die beiden Musiker immer weiter aus den Regularien und Klängen der „Rockmusik“ hinaus in Richtung einer Musik, die das Rock-Instrumentarium nutzt, um „keine“ Rockmusik zu machen – die Definition von Post Rock mithin. Hier bilden zischend und klickend verfremdete Sounds aus Gitarren die Basis der einzelnen Tracks, unterlegt immer wieder von Dub Bass und repetitiven Kraut-Rhythmen. Wenn Gitarren ertönen, dann sind es laute Fuzz-Biester, aber bei aller scheinbaren Aggressivität werden sie dann doch wieder so sehr verfremdet und aufeinander geschichtet, dass selbst der härteste Lärm zu Ambient wird. Die ab und an aus dem Nebel auftauchenden Stimmen klingen wie nach ausserweltlicher Entität, haben mit dem Sound des Albums kaum zu tun. Motion Pool ist weit konsequenter und extremer als die Alben von Hampton's vorheriger Band Loop. Die standen immer im zweiten Glied hinter My Bloody Valentine oder Spiritualized, mit Main betritt Hampton via Minimalismus und Abstraktion unbekanntes Terrain. Motion Pool ist ein Gitarren-Album, das weiter geht als als die elektronische Musik seiner Zeit.

Main - Spectra Decay 

Pram


Meshes EP

(Too Pure, 1994)

Pram


Helium

(Too Pure, 1994)

Wer bis hier gelesen hat, hat es schon begriffen: Post Rock ist wahrlich kein klar definierbarer musikalischer Stil. Es ist eher die Bezeichnung für die Musik einer bestimmten Zeit, in der Rockmusik mit verschiedensten Mitteln von „Rockismen“ befreit wird. So macht auch die britische Band Pram Musik, die weit von Rock entfernt ist, die dessen Instrumentarium und Sounds nutzt, um Texturen und Strukturen zu schaffen, die im (alternative/ independent/ hardcore etc...) Rock der Jahre zuvor nicht vorkamen. In ihrer Art sind Pram für mich mehr Post Rock - also Rockmusik NACH Rock im Sinne des Wortes – als Tortoise etwa. Das Quartett aus Birmingham hatte schon im Vorjahr mit der EP Iron Lung und dem darauf folgenden Debütalbum The Stars Are So Big, The Earth Is So Small... Stay as You Are einen Weg gefunden sehr eigene Klänge zu kreieren, die sie weit außerhalb aller vergleichbarer Bands positionierten. Nun etablieren sie ihren Sound im Frühjahr wieder mit der neuen EP Meshes – drei Tracks in ca 16 Minuten – als Vorläufer zum Album Helium. Meshes kommt nicht ganz an Iron Lung vom Vorjahr heran, „The Legendary Band of Venus“ ist vielleicht ein bisschen zu lang, der Saxophon-Part am Ende zu ziellos, aber mit „Chrysalis“ ist dafür einer der besten Songs der Band dabei. Die EP zeigt exemplarisch, was Pram ausmacht: Klare, zugleich aber üppig verzierte Rhythmik, der sympathisch zurückhaltende Gesang von Rosie Cuckston, seltsam wacklige Melodiebögen, eine Atmosphäre, die an 60er Jahre Science Fiction-Lounge Musik denken lässt – woran der häufige Einsatz von Theremin und alten Hammond-Orgeln hohen Anteil hat. Das alles gibt der Musik von Pram zum Einen einen hohen Wiedererkennungswert, macht sie aber auch etwas anstrengend. Die wattige Atmosphäre – die sie übrigens mit anderen Acts auf Too Pure wie Laika, Long Fin Killie oder Minxus gemeinsam haben – betäubt mitunter regelrecht. So ist Helium dann die Erweiterung dessen, was auf Meshes vorbereitet wird – eine Kollektion von abstrakten Melodien und Stories, clever als Popsong verkleidet, mit Kraut-Dance Rhythmen unterlegt, durch die genannten Sound-Elemente auf eine lunare Umlaufbahn in den Fünfzigern geschossen. Helium flirtet mehr als das formidable Debüt mit Dissonanzen, und nicht Alles ist nette Futuristik, unterschwellig droht die Dunkelheit, wenn Rosie bei „Gravity“ mit „little girl lost-Stimme singt: „Love isn't a glow in the heart, it's sharp hipbones bruising blue your thigh ... it doesn't send you off to space, but buries you instead“. Der Sound dieser Band ist mit Bedacht entwickelt, er wurde auch mit Bedacht außerhalb der Rock-Regularien positioniert. Pram sind damit wohl auch Post Rock... 

 Pram - Chrysalis

 Pram - Gravity

Laika


Silver Apples of the Moon

(Too Pure, 1994)

...da passt als Nächstes das erste Album der Pram-Labelmates Laika ganz hervorragend – weil die sich nach dem ersten Lebewesen benannt haben, das je in die Erdumlaufbahn gebracht wurde (die Hündin wurde 1957 von Russland in eine Sputnik-Rakete gesetzt und starb auf dem Flug – sinnlose Tierquälerei, die trotzdem als großer wissenschaftlicher Erfolg gilt) Die Frage, ob man Silver Apples Of The Moon als Post Rock bezeichnen kann, habe ich zuvor schon oft genug mit „meinetwegen“ beantwortet, wem Helium gefällt, dem mag auch Silver Apples... gefallen, man wird Parallelen im Sound beider Bands finden – und beide vermeiden jegliche „Rockismen“, arbeiten aber mit den Elementen der Populärmusik der letzten 40 Jahre. Auch hier wird eine verträumte Atmosphäre mittels verspielter Rhythmik – das Drumming von Lou Cicotelli ist fantastisch, an Krautrock und Afro-Rhythmen gleichermaßen geschult – den geflüsterten Vocals von Margaret Fielder, dissonanten Synthie-Sounds und melodischen Blasinstrumenten von Flöte bis Trompete erzeugt. Dazwischen bricht ab und zu eine Feuer aus Gitarren aus, ein Track wie „Let Me Sleep“ ist das Gegenteil seines Titels, der Opener „Sugar Daddy“ findet anscheinend im Ozean statt, das dringliche „44 Robbers“ klingt wie eine Hatz durch den Dschungel, das darauf folgende „Red River“ mit jagendem Bass-Puls und kratzenden Gitarren ist regelrecht unheimlich... Laika erzeugen Atmosphäre satt, sind innovativ, experimentell ohne je akademisch zu werden. Schließlich sind sie aus der ebenfalls hervorragenden Band Moonshake entstanden, haben aber ein paar andere Elemente zu deren Sound hinzugefügt, und passen so ganz hervorragend in diese Zeit der Neuorientierung. Ich sollte (und werde) in einem kleinen Artikel auf das Label Too Pure eingehen...

Laika - Red River 

Stereolab


Mars Audiac Quintet

(Elektra/Duophonic, 1994)

und wenn ich Laika und Pram unter den Begriff Post Rock fallen lasse, MUSS ich Stereolab – ihre Vordenker (… würde ich vermuten...) erwähnen. Tatsächlich gelten Stereolab - laut Wikipedia jedenfalls – als Wegbereiter des Post Rock. Die 1990 gegründete Band macht diverse tolle EP's die man auf der '92 auf Too Pure veröffentlichten Compilation Switched on Stereolab genießen kann, macht im selben Jahr mit Peng! ihr erstes Album, gründet mit Duophonic ein eigenes Label, macht mit Transient Random-Noise Bursts With Announcements eines der besten Alben des Jahres '93 und hat '94 mit Mars Audiac Quintet das dritte Album am Start. Ihr Sound ist in meinen Ohren die Quelle, aus der Pram und Laika schöpfen. Sie sind in gewisser Weise „rockiger“ als Pram, insbesondere insofern, als ihre Tracks gehörige Ohrwurm-Qualität haben, aber durch die teils französisch gesungenen Lyrics der wunderbaren Lætitia Sadier, sowie durch eine seltsam betäubend anmutende 50er-Jahre-Sound-Ästhetik im Format-Radio undenkbar sind. Auch Stereolab nutzen ein Rock-Instrumentarium, um einen Rockmusik-fremden Sound zu kreieren, man kann die girly Harmonies von „Three Longers Later“ genießen, „New Ortophony“ baut sich auf wie eine rosa Wolke, bei „L'enfer des formes“ wechselt Sadier äußerst charmant zwischen französischem und englischem Gesang, “Three Dee Melodie" oder "Outer Accelerator" bewegen wie dereinst die Motorik-Rhythmen von Neu!... Das Album ist für sich ein Ereignis – allerdings ist es eigentlich (nur) ein Sequel zu Transient Random... und es ist eine halbe Stunde oder 3 bis 4 Tracks zu lang. Man mag das verzeihen, Stereolab waren immens produktiv, eine Pause wäre vielleicht besser gewesen – aber Mars Audiac Quintet ist immer noch besser als vieles, was dieses Jahr erscheint. Und die Frage, ob das hier jetzt Post Rock ist, stellt sich ein weiteres mal nicht.

Stereolab - L'enfer des formes 

Dirty Three


s/t

(Torn & Frayed, 1994)

Mal was anderes? Post Rock aus Australien? Gibt es auch – wobei... Dirty Three wurden damals (auch) nicht unter diesem Begriff „beworben“, ihre rein instrumentale Musik ist letztlich nichts anderes als eine weitere, eigenständige Form von musikalischer Entäußerung, meinetwegen Eine, zu der der Begriff Post Rock auch passt, weil mit einem halbwegs „normalen“ Rock-Instrumentarium und mit Strukturen und Mustern, die wir seit Jahrzehnten kennen, eine ungewohnte und wenig an Rock orientierte Musik gemacht wird. Auf ihrem Das Debüt hat das Trio aus Melbourne seinen Sound schon sofort ausformuliert. Jeder der drei Musiker – die zuvor jahrelang in diversen bakannen und unbekannteren Bands aus ihrem Umfeld mitgewirkt haben - trägt seinen unverzichtbaren Anteil zum Sound bei: Warren Ellis' verstärkte Violine trägt die Melodien genauso wie Mick Turner's verzerrte Gitarren, darunter webt Jim White einen vielfarbigen Rhythmusteppich, ihre Songs nähren sich aus Rock, Folk aus aller Herren Länder, Jazz, Gypsy, und Quellen, die man kaum erkennen kann, weil sie wohl privaten Kenntnissen entspringen. Die Violine wird mal gezupft, mal kreischt sie dramatisch auf, die Gitarre heult verzerrt auf, eine Harminka keucht - das Zusammenspiel der drei Musiker ist schon hier traumhaft, was sowohl auf ihr Können zurückzuführen ist, als auch auf ein kluges und sehr freies Konzept, das jedem alle Freiheiten gibt und niemanden zum Chef macht. So wird auch ein Track wie der über 10-minütige Opener „Indian Love Song“ nie langweilig, und aus einer schlichten Idee wie der Spaghetti-Western Pastiche „The Last Night“ wird Spannung bis zur letzten Sekunde herausgewrungen. Man muss bei Dirty Three den Gast-Harmonika-Spieler Tony Wyzenbeek erwähnen, der dem Ganzen noch eine Dimension hinzufügt – man kann darauf verweisen, dass Drummer Tim White bald bei allen namhaften Indie-Größen (Will Oldham, PJ Harvey, Cat Power etc) mitspielt, dass Warren Ellis mit Nick Cave und mit dessen Bad Seeds zusammenspielt – aber das ist ein namedropping, das Dirty Three eigentlich nicht nötig haben... man kann in jeden Teil ihrer inzwischen reichen Diskografie reinhören und wird nicht enttäuscht.

Dirty Three - Indian Love Song 


Jessamine


s/t

(Kranky, 1994)

Nicht der Vollständigkeit halber, sondern weil es ein gelungenes Album ist, will ich auf das gleichnamige Debüt der Band Jessamine eingehen. Dieses Album ist die zweite Veröffentlichung des namhaften Labels Kranky – genauso interessant und wichtig wie Thrill Jockey oder Too Pure, und das Quartett aus Ohio, das sich bald in der Szene Seattle's einen Namen machte, spielt eine Quintessenz des Post Rock. Sie sind beeinflusst von Bands wie Can und Neu!, sie haben sich mit Shoegaze beschäftigt, sie kennen sicher auch Slint und Stereolab, und aus all dem + einer Liebe für spacige Sounds kochen sie ein eigenes Süppchen, das man in dieser Zeit nur Post Rock nennen kann. Die Musik auf Jessamine ist sozusagen die psychedelische Variante der Hipster-Musik '94, aber man kann ihnen damit sicherlich nicht kommerziellen Ausverkauf vorwerfen. Viele der Tracks sins sehr minimalistisch, beruhen auf der Repetition weniger Töne aus harschen Synthesizern und verzerrten Gitarren, die von Bass und Drums krautrock-artig vorangetrieben werden, Gitarrist Rex Ritter und Bassistin Dawn Smithson tragen verschlafenen Gesang bei, die Tracks bauen sich langsam auf, um dann wieder zu verebben – womit Jessamine wohl auch unter die Kategorie Slowcore fallen könnten – aber solche Grenzen sind wie gesagt durchlässig. Manche Tracks sind vielleicht noch nicht ganz durchdacht, aber ein Song wie „Cellophane“ oder der Closer „Lisboa“ muss jedem gefallen, der Slint, Tortoise, Stereolab oder dergleichen mag. Dies ist als nochmal die amerikanische Variante des Post Rock. Weniger poppig, mehr an Jazz, Noise und Hardcore orientiert als am Post Pop von Talk Talk oder an Disco Inferno's britischer Experimentierlust. Das Feld ist somit beackert und die Saat ausgebracht. Für die nächsten drei bis vier Jahre kann ich reiche Ernte versprechen...

Jessamine - Lisboa 


...und wenn ich einmal dabei bin....


... und die unter Nerds üblichen 10 besten Post-Rock Alben empfehlen soll, dann nenne ich also:




1. - Talk Talk – Spirit of Eden (1988) – obwohl es kein Post Rock ist...(Siehe oben)


2. - Slint – Spiderland (1991) – die US Version, aus Hardcore und wasauchimmer entstanden als noch keiner wussre, was das jetzt sein sollte


3.- Bark Psychosis – Hex (1994) – siehe hier oben...


4. - Tortoise – Millions Now Living Will Never Die – der „typischste“ Post Rock, den es gibt...


5 – Stereolab - Emperor Tomato Ketchup (1996) – das muss man nicht Post Rock nennen, ich will aber.


6 - Mogwai - Mogwai Young Team (1996) – auch eine Kategorie für sich, diese Schotten sind Meister der Dynamik


7 - Roy Montgomery - Temple IV (1996) – Nur Gitarre, der John Fahey des Post-Rock, ein MUSS von einem Album, das alles mögliche sein könnte


8 - Sigur Rós - Ágætis byrjun (1999) – Wieder eine (isländische) Band, die eigentlich ausserhalb aller Kategorien steht.


9 - Godspeed You Black Emperor! - Lift Yr. Skinny Fists Like Antennas to Heaven! (2000) – Könige der Dramatik, Wucht und Verwendung von Samples


10 - Explosions in the Sky - The Earth Is Not a Cold Dead Place (2003) – Mein Beispiel für den Metal-infizierten Post-Rock, der da kommen wird




Und wieder: 10 sind zu wenig (oder zu viel – not!) Man könnte noch Alben der Swans hier zuordnen, Es fehlen Disco Inferno, Long Fin Killie, Cul De Sac, Labradford, MONO, Hood, Gastr Del Sol... etc pp. Aber was soll's - wer einmal Blut gerochen hat, wird suchen... und finden.













Montag, 6. August 2018

1956 – Ent-Stalinisierung und Suez-Konflikt – Elvis Presley bis Louvin Brothers und die Geburt des Rock'n'Roll

In der Sowjetunion beginnt nun endgültig die Ent-Stalinisierung, und sofort werden die Menschen in den anderen Ostblock-Staaten unruhig und in Ungarn, Polen und Jugoslawien kommt es zu Protesten, die blutig niedergeschlagen werden. In den USA wird in Alabama die Rassentrennung dank der Bürgerrechtler um Martin Luther King aufgehoben – sehr zum Missbehagen so macher rechter Kuttenträger, die McCarthy-Ära mit ihren unerträglichen Verfolgung politisch links-Denkender endet allmählich. In der BRD wird wieder ein Heer ausgebildet, in Nordafrika erlangen der Sudan, Marokko und Tunesien die Unabhängigkeit. Der Suez-Konflikt zwischen Israel und Ägypten bricht aus – ein weiterer Mosaikstein zum bis heute andauernden Konflikt im Nahen Osten. Fidel Castro landet in Kuba und beginnt seine Revolution gegen den Diktator Batista – und uuuh - die USA haben den kommunistischen Erzfeind nun direkt vor der Tür... Die Jugend der Nachkriegsjahre beginnt sich zu (er)regen. In diesem Jahr, das für Rockmusik so etwas wie die Geburtsstunde ist, werden Ian Curtis, Johnny Rotten, Peter Buck und Dwight Yoakam geboren und der Jazz Trompeter Clifford Brown stirbt. Aus Memphis kommen Töne, die ganze Generationen von Jugendlichen beeinflussen sollen. Elvis hat zwar zuvor schon beim kleinen Sun Label Aufnahmen gemacht, aber als er von RCA aus seinem Vertrag herausgekauft wird und dann in kürzester Zeit das Debüt Elvis und kurz darauf das etwas ruhigere Album Elvis Presley herausbringt, als er auch in der Öffentlichkeit und vor allem im Fernsehen wahrgenommen wird, tritt er eine Welle los, an deren Kraft zunächst niemand glaubt. Rock'n'Roll mag vorher schon da gewesen sein, aber jetzt beginnt der Siegeszug dieser Musik bei einem breiten, jungen Publikum für die nächsten 50-60 Jahre (...und ich kann das endlich an LP's dokumentieren...). Man darf aber natürlich die weiteren Entwicklungen in anderen Genre's wie Jazz und Country nicht vernachlässigen, die zwar noch streng vom juvenilen Rock'n'Roll getrennt existieren, die sich aber gegenseitig beeinflussen, 1956 ist ein musikalisch ereignisreiches Jahr. Noch hat nur im Jazz das "Album" Bedeutung – die Jugend hört Radio oder kauft Singles. Und neben den weiter unten versammelten – meiner Meinung nach entscheidenden - „Alben“ gibt es etliche weit weniger jugendgefährdende Künstler,die ich nur hier mal kurz erwähne: Doris Day's „Que Sera, Sera“ etwa ist ein Hit. Dean Martin, Bing Crosby mit Grace Kelly mit „True Love! - das ist noch sehr unschuldige, blütenreine Populärmusik, die ihren Wert hat, die aber für mich hier keine weitere Rolle spielen soll.

Elvis Presley


s/t

(RCA, 1956)

Elvis Presley


Elvis

(RCA, 1956)

Über das Jahr 1956 schreiben heisst über Elvis' Debütalbum schreiben – das ist mal klar. Der Junge aus Tupelo/ Mississippi war schon landesweit berühmt – oder sagen wir besser berüchtigt. Seine Singles hatten seit seinen Tagen bei Sun Records – seit „That's All Right“ im Jahr '54 – wachsenden Erfolg gehabt. Und nachdem er 1955 mit „Heartbreak Hotel“ landesweiten Chartserfolg hatte, seit er bei seinem Auftritt bei der Ed Sullivan-Show seinen „Pelvis“ hatte rotieren lassen und junge Mädchen in Ekstase gebracht hatte, war er ein nationales Phänomen, das nicht mehr ignoriert werden konnte – vor Allem, weil sein erstes Album sich als weit mehr präsentierte, als die übliche Hit-Compilation + Füllmaterial. Tatsächlich sind die Singles auf Elvis Presley nicht enthalten, das Album, das nun bei seinem neuen Label RCA veröffentlicht wurde, mag aus dem Material dreier verschiedener Sessions zusammengebaut worden sein – aber dieses Material war so gut, dass Elvis Presley nach zwei Monaten die Millionenmarke passierte. Da musste auch dem letzten Spötter klar werden, dass Rock'n'Roll mehr war, als ein kurze Mode. Elvis präsentierte sich als Interpret in unterschiedlichen Stilen, da beginnt das Album mit Carl Perkins' „Blue Suede Shoes“, da war Ray Charles’ “I Got a Woman”, da wird Little Richards „Tutti Frutti“ noch beschleunigt, da endet es mit „Money Honey“ von den Drifters und alles dazwischen ist eingesungen von einer Stimme, die vermutlich noch gar nicht wusste, wie gut sie war – mit einer Band, die aus den besten Musikern dieser Zeit bestand. Ich frage mich jedesmal wenn ich diese LP höre, warum heutzutage Produktionszeiten x+ Monaten überhaupt notwendig sind. Letztlich fehlt hier Nichts! Und dann kam sechs Monate später schon das nächste Album – diesmal mit anständigem Cover-Porträt, dazu mit ein paar Tearjerkern wie „Love Me“ oder „Old Shep“, die ihm neben den Herzen delerierender Teenagern nun auch die Herzen ihrer Müttern zufliegen ließ. Dafür sind Rocker wie „Ready Teddy”, „Long Tall Sally” und “Rip It Up” (alle drei von Little Richard) noch härter als das Material auf dem Debüt. Elvis ist weniger konzise als sein Vorgänger, aber es ist nicht schlechter. Es wurde in gerade mal drei Tagen Anfang September '56 in Hollywood aufgenommen und war ebenfalls als dulrchgehende Songkollektion gedacht, bei der die vorherigen Singles nicht enthalten waren. Und natürlich landete Elvis im Januar '57 auch auf Platz 1 der Charts. (Um die unverzichtbaren Singles zu bekommen muß man die Compilations Elvis Golden Records und 50,000,000 Elvis Fans Can't Be Wrong: Elvis Gold Records Vol.2 erwerben und - sowieso zwingend - die Sun Sessions ). Elvis Presley wurde ab nun zur Ikone, zum All American Boy – und seine ersten beiden Alben sind das Fundament des Rock'n'Roll. 

Elvis Presley - Blue Suede Shoes 

 Elvis Presley - Love Me

Johnny Burnette


Johnny Burnette & The Rock’n’ Roll Trio

(Coral, 1956)

Zunächst spielten die Brüder Johnny Burnette, Dorsey Burnette und ihr Gitarrist Paul Burlison aus Memphis Country & Western, aber die Burnette Brüder kannten Elvis, hatten mit ihm im selben Betrieb als Elektriker gearbeitet und wollten mit der gleichen, jungen und temperamentvollen Musik Karriere machen. Und tatsächlich erlangten sie bald lokale Berühmtheit, und nachdem Sun Records sie nicht wollte, bekamen sie einen Plattenvertrag bei Coral und nahmen innerhalb von nur drei Tagen ihr fulminantes Debüt-Album auf. Der harte Fuzz-Sound von Burlisons Gitarre kam durch einen Unfall zustande: Bei einem Konzert hatte sich eine Verstärker-Röhre gelockert, der verzerrte Sound kam beim Publikum so gut an, dass man es einfach dabei beließ - und so Generationen von Gitarristen beeinflussen sollte.„Train Kept-A Rollin'“ wurde später von den Yardbirds und Led Zeppelin gecovert, aber die Wucht der Version auf The Rock'n'Roll Trio blieb unerreicht. Auch der Rest der hier versammelten Rockabilly-Preziosen genügt höchsten Ansprüchen: „Honey Hush“ und „Lonesome Train“ muß jeder gehört haben, der wissen will wo Rockmusik beginnt. Im Grunde genommen ist mit diesem Album alles gesagt, was Wichtig ist im Rock'n'Roll. Das Trio ging leider noch '56 auseinander und Johnny Burnette machte Karriere als Pop-Star ehe er 1964 bei einem Bootsunfall ums Leben kam. Dieses Album muß sich im Rückblick weder hinter den bekannteren Relikten seiner Zeit, noch hinter irgendeiner späteren konsequent „wilden“ Form der Rockmusik verstecken.

Johnny Burnette Trio - Train Kept a'rollin 


Gene Vincent and His Blue Caps


Bluejean Bop !

(Capitol, 1956)

Gene Vincent war ebenso wie Elvis unter dem Einfluss von Country und Rhythm & Blues aufgewachsen, war früh bei der Army gelandet und hatte bei einem Motorradunfall eine so schwere Verletzung an seinem Bein davongetragen, dass es amputiert werden sollte. Vincent ließ das nicht zu und musste fortan mit Schmerzmitteln leben. Damit war seine Zeit bei der Army beendet und ab da konzentrierte er sich auf seine Karriere als Musiker. Mit der selbstverfassten Single „Be-Bop a Lula“ im Gepäck bekam er einen Vertrag beim Capitol Label und nahm mit seiner Begleitband The Blue Caps sein Debüt Bluejean Bop! auf. Neben seinem charakteristischen Gesang (mit Bandecho aufgenommenem) waren es vor allem die quecksilbrigen Fills und Leads von Gitarrist Cliff Gallup, die den Sound des Albums prägen. Neben dem Debüt des Rock'n'Roll Trios von Johnny Burnette ist dieses Album zweifellos das musikalische Fundament des Rockabilly – und man kann auch heute noch beim Anhören attestieren - gegen den hier gebotenen Sound waren Elvis Alben harmlos und boten eher an ein Massenpublikum gerichteten Pop. Bluejean Bop! ist sparsamer und klarer im Sound als Elvis Presley und wird eindeutig von einer eingespielten Band performt – nicht von Sessionmusikern - und was diesem Album im Songwriting mangeln mag hat es im Überfluß an Energie und Wucht. Damit sind dieses Album und das Album der Burnette-Brüder (für mich) der eigentliche Ursprung aller wirklich revolutionärer Tendenzen in der Rockmusik. Und mit dem nachfolgenden Album wurde Gene Vincent sogar noch besser... 

Gene Vincent - Be Bop A-Lula 


Sister Rosetta Tharpe


Gospel Train

(Mercury, 1956)

Rosetta Nubin aka Sister Rosetta Tharpe wurde 1915 in Cotton Plant, Arkansas als als Tochter der reisenden Predigerin und Gospelsängerin Katie Bell Nubin – genannt „Mother Bell“ - geboren und bekam ihre musikalische Ausbildung somit von der Wiege an vermittelt. Mit sechs Jahren meisterte sie die Gitarre, und schon in ganz jungen Jahren entwickelte sie – zunächst gemeinsam mit ihrer Mutter - eine Variante „religiöser“ Musik, die so manchen Puritaner vermutlich das heilige Grausen lehrte. Sie mixte Gospel mit R&B und einem eigenen, auch heute sehr modern klingenden Spiel auf der – Achtung! - Elektrischen Gitarre. Die Titel „the original soul sister“, respektive „ the godmother of rock’n’roll“ hatte sie sich seit den ersten Erfolge in der Zeit vor dem 2. Weltkrieg redlich verdient – obwohl diese Bezeichnung spätestens '56 durch Elvis und Konsorten eine Bedeutung bekam, die die streng religiöse Dame nicht entzückt haben mag – aber man muss darauf hinweisen: Elvis und Johnny Cash nahmen Songs von ihr auf, Chuck Berry und Jerry Lee Lewis nannten sie als Einfluss – vielleicht hatte die Dame auch einen freundlichen Blick auf die jungen Musiker dieser Generation. Sie sie war in jeder Hinsicht ein „Powerhouse“, ihre raue, an Gospel geschulte Stimme, ihr feuriges Gitarrenspiel – all das übersetzt religiöse Musik vielleicht nur unwillentlich in puren Rock'n'Roll und in dieser Hinsicht mag man sie sogar als Kuriosum betrachten – denn Songs wie „Two Little Fishes Five Loafs of Bread“ sind natürlich Stoff für die Bibelfesten – aber die Art, wie das dargebracht wird ist dermaßen kraftvoll und begeistert, dass man fast erschrecken will. Begleitet wird sie auf Gospel Train von Schlagzeug, Klavier und Organ und über allem throhnt ihre Stimme, welchen Stil und welchen Hintergrund Tracks wie das rasante „Up Above My Head There's Music in the Air“ oder „Fly Away“ haben, spielt letztlich keine Rolle. Dieses Album ist so positiv und energiegeladen, dass man mitgerissen wird. 

Sister Rosetta Tharpe - Fly Away 


Billie Holiday


Lady Sings The Blues

(Verve, 1956)

Billie Holiday war und ist bis heute als Blues- oder Jazzsängerin unübertroffen und an ihrer Musik führt kein Weg vorbei. Sie revolutionierte den Gesangsvortrag, indem sie eine Tiefe vermittelte, eine persönliche Betroffenheit, die man zuvor höchstens bei Blues Sängerinnen wie Bessie Smith gehört hatte - die jedoch nie den breiten Erfolg hatten wie Lady Day in den 30ern und 40ern. Nach diversen Drogen-und Beziehungskatastrophen war sie in den Fünfzigern ins Abseits und in den emotionalen, finanziellen und gesundheitlichen Ruin gerutscht, ehe sie Anfang der 50er durch den Impressario und Label-Eigner Norman Granz wieder in Clubs und ins Studio geholt wurde. 1956 war sie mit ihren knapp vierzig Jahren somit schon vom Leben, insbesondere den Drogen und ihren unglücklichen Beziehungen gezeichnet, aber sie erreichte in dieser Zeit einen ungeahnten, neuen Höhepunkt ihrer gesanglich/ emotionalen Fähigkeiten. Eine LP wie Lady Sings the Blues – die zur gleichen Zeit und mit dem gleichen Titel wie ihre Biographie erschien – steht meilenweit über dem Rest all der Vocal-Jazz Interpreten der Stunde – obwohl oder gerade weil ihr bei so manchem Track regelrecht die Stimme wegbricht. Lady Sings the Blues wurde in mehreren Sessions in den Jahren 54-56 aufgenommen, mit erstklassigem Personal wie Barney Kessel (Git.) oder Paul Quinichette (Sax) und enthält neben dem exzellenten Titeltrack eine ganze Reihe großartiger Takes: Die Version von „Strange Fruit“, „No Good Man“ oder „Some Other Spring“ sind fantastisch. An diese Klasse reichte niemand heran, weil niemand diese Art von Gesang konnte... 

Billie Holiday - Strange Fruit 


Ella Fitzgerald & Louis Armstrong


Ella & Louis

(Verve, 1956)

es sei denn, es handelt sich um die Art Vocal Jazz, bei der Technik gleichberechtigt neben dem Ausdruck steht: Siehe Ella Fitzgerald, deren Stimme weit klarer und sicherer ist, die auch nicht mit Ausdruck spart, die aber einfach „cleaner“ klingt – was ja auch seinen Reiz hat. Die Kollaborationen Ella Fitzgeralds mit Louis Armstrong bieten eine andere Art von Vocal Jazz. Beide Musiker lassen sich von einer kleinen Combo begleiten und bei den beiden stehen Songs im Vordergrund, die von ihren so unterschiedlichen Stimmen getragen werden. Auch bei Ella & Louis stand Norman Granz dahinter - er suchte ein paar Klassiker aus dem American Songbook aus und ließ die beiden hier von Oscar Peterson und seinem Quartett begleiten. Ein Rezept, das exakt so noch zweimal benutzt wurde – durchaus mit sowohl künstlerischem als auch kommerziellem Erfolg. Die Stimme Fitzgeralds ist selbstredend über jeden Zweifel erhaben und in Kombination mit Satchmo's Trompete und dem rauen Timbre seiner Sprech-Gesangs-Stimme kann eigentlich nichts schief gehen – zumal bei dieser Paarung Songs wie "Moonlight in Vermont“ oder „Cheek to Cheek“ eine zusätzliche Dimension bekommen. Tatsächlich hatten die Beiden schon in den Vierzigern auf diese Weise zusammengearbeitet und waren somit miteinander vertraut. Ein Umstand, der geholfen haben mag, Ella & Louis und vor allem den Nachfolger Porgy & Bess zu einem solchen Highlight des Vocal Jazz zu machen. 

Ella Fitzgerald & Louis Armstrong - Moonlight in Vermont 

Ella Fitzgerald


Sings The Cole Porter Song Book Vol. 1

(Verve, 1956)

Ella Fitzgerald


Sings the Rogers and Hart Song Book

(Verve, 1956)

Nachdem sie im Film Pete Shelley's Blues mitgewirkt hatte, war Ella Fitzgerald ebenfalls beim aufstreben-den Jazz Label Verve untergekommen. Und hier begann sie unter der Ägide des umtriebigen Norman Granz mit dem Projekt „American Songbook“. Über mehrere Jahre nahm sie definitive Versionen diverser Songs großer amerikanischer Komponisten auf. ...Sings the Cole Porter Songbook ist somit nur das Erste in einer ganzen Reihe von fantastischen Alben – inzwischen ein Standardwerk des Vocal Jazz. Ihre Interpretationen von Songs wie „I Get a Kick Out of You“, „Ev'ry Time We Say Good-Bye“, "Begin the Beguine“, oder Night and Day“ sind fehlerlos - große Kunst, voller Liebe zum Material und von einzigartiger Klarheit. Tatsächlich klangen ihre Interpretationen des wunderbaren Materials Cole Porters' so klar, dass sie fortan mitunter als Vorlage zum Lernen der englischen Sprache genutzt werden sollten. Heute mag die instrumentale Begleitung des Buddy Bregman Orchestra etwas unmodern klingen, aber sie hat einen unzweifelhaft nostalgischen Reiz, und Ella sollte in dieser Hinsicht nicht stehenbleiben – zumal ihre klare Stimme über jeden Zweifel erhaben ist. Der Nachfolger ...Sings the Rodgers & Hart Songbook – aufgenommen nach dem Intermezzo Ella & Louis - bot instrumental ein ähnliches Setting - und die Songs vom Kompositionsteam Richard Rodgers und Lorenz Hart sind natürlich ebenfalls Klassiker: Sie sang hier Standards wie „My Funny Valentine“, „The Lady Is a Tramp“, „Where or When“,“'Little Girl Blue“ und brachte damit diese Songs und ihre Autoren aus den 30ern und 40ern einem jüngeren Publikum wieder in Erinnerung - Rodgers lebte 1956 noch, Hart aber war bereits 1943 an einer Lungenentzündung verstorben. Norman Granz übernahm abermals die Produktion bei diesem Songbook. Es gab Songs im Big Band Modus, rhythmisch beschwingt und schnell, langsamere Songs in Orchsterbegleitung, und vor allem gab es ein weiteres Mal eine der besten Sängerinnen der 50er Jahre – und damit eben eine der Besten überhaupt. Ella war zu diesem Zeitpunkt stimmlich in der Form ihres Lebens, nicht so verletzt und ergreifend wie Billie Holiday - und daher manchmal für meinen Geschmack etwas zu „technisch“ - aber die Interpretationen waren wieder fehlerlos. Auch dies ist ein Doppelalbum und für beide Alben gilt: Am besten in Portionen genießen. Sie zählen zu den Highlights der Musik der 50er. 

 Ella Fitzgerald - I Get a Kick Out of You

 Elle Fitzgerald - The Lady Is a Tramp


The Charlie Mingus Jazz Workshop


Pithecantrpous Erectus

(Atlantic, 1956)

Pithecanthropus Erectus ist Charles Mingus' Durchbruch als Bandleader - das Album, das ihn als fantasievollen Komponisten etabliert, der zwar ambitionierte moderne Konzepte verfolgt, der aber zugleich tief in der Jazz-Tradition verwurzelt ist. Er hatte die Regeln des Swing und Bop (kennen)gelernt, und suchte nun – abenteuerlustig und unruhig wie er war – Wege, die Kunstform Jazz auszuweiten, indem er sich und seine Begleiter dazu ermunterte, all die erlernten Konventionen links liegen zu lassen. Dazu gehört in dieser Zeit wohl auch ein gewisser Größenwahnsinn – aber damit war Mingus reichlich gesegnet. So ist das Titelstück ein vierteiliges Konzeptwerk über die Entwicklung des menschlichen Geistes, das durch ein sich wiederholendes Thema zusammengehalten wird, unterbrochen von frenetischen Ausbrüchen, die zum Schluss in kontrolliertem Chaos enden. Wichtig sind bei diesem Concept-Piece nicht die instrumentalen Fertigkeiten der Solisten, sondern der Geist hinter dieser Musik – was mir persönlich im Jazz immer lieber sein wird. Und allein eine instrumentale Suite thematisch so bildhaft auszuführen, ist ein Kunststück. Genauso gewagt seine Version von George und Ira Gershwins' „A Foggy Day (In San Francisco)“ incl. Saxophonen, die Autohupen nachahmen, klingelnder Strassenbahn, Polizei - Trillerpfeifen etc.... Mingus' absurder Humor wird immer zu seinem Charakter und zu seiner musik gehören, und diesen Humorlebt er hier aus. Man kann das Album als eine Reihe von in Klang gegossen Portraits und Bildern ansehen bzw. -hören, Mingus passte die Arrangements an die Stärken seiner Musiker an, brachte ihnen ihre Parts nicht in Noten, sondern in Worten und Gesang, durch das Vermitteln von Gefühlen bei. Eine Technik, die er Duke Ellington abgeschaut hatte, und hier präsentiert er sich erstmals als eigenständiger Großmeister. Von ihm kam in den kommenden Jahren noch unermesslich viel.

Charlie Mingus - A Foggy Day (In San Francisco) 

George Jones


Grand Ole Opry's New Star: Country Song Hits

(Starday, 1956)

Aber es gab '56 ja nicht nur Jazz und Rock'n'Roll – in der Country-Musike betrat nun mit George Jones ein junger Mann die Bühne, dessen Stimme nach Meinung vieler Musiker zu den besten des Genre's zählt. Grand Ole Opry's New Star: Country Song Hits war George Jones' erstes Album nach diversen Single-Hits – und somit auch wieder eher eine Single-Compilation. Der Titel bezog sich - als eine Art Klammer über die recht unterschiedlich aufgenommenen Songs - auf die ersten großen Auftritte des Sängers in der Grand Ole Opry. Immerhin ist hier schon Alles angelegt, was seinen legendären Status als Country - Gesangsstilisten ausmachen sollte. Man muss darauf hinweisen, Jones hat sich in seiner langen Karriere nie mehr weit vom hier abgesteckten Terrain fortbewegt - lediglich in genau diesem Jahr 1956 hatte er einen kleineren Hit mit dem Rockabilly von „How Come It“ - ein interessanter Hinweis darauf, was damals los war - und zu was er fähig war. Jones war als jüngstes von acht Kindern in ärmlichen Verhältnissen in Texas aufgewachsen, hatte - wie so viele andere Countrymusiker seiner Generation - Hank Williams und Gospelmusik studiert, sich seine Sporen bei Auftritten und den damals üblichen Live-Übertragungen diverser Radiostationen verdient und dabei die Aufmerksamkeit des Labeleigners Pappy Daily erregt, der ihn unter seine Fittiche nahm und hier seine erste LP veröffentlichte. Im Gegensatz zu späteren Alben (...und deren Zahl ist Legion....!) hatte Jones in diesem Fall noch an den Songs mitgeschrieben, sein „Why Baby, Why“ sollte ein veritabler Klassiker werden, es gibt neben dem Hit noch ein paar flotte Songs mit leichtem Rockabilly Drive, das komplette Album klingt jedoch wie gesagt uneinheitlich, da es an diversen Orten aufgenommen wurde. George Jones mag in den kommenden Jahren bessere Alben gemacht haben - vor allem einheitlichere - aber man hört sofort, was für ein großartiger Interpret da aus den Startlöchern kam.

George Jones - Why Baby, Why 


The Louvin Brothers


Tragic Songs of Life

(Capitol, 1956)

Man nennt die Harmoniegesänge von Geschwistern in der Countrymusik auch „Close Harmony“ - ein Gesangsstil, der in den 30er- und 40er Jahren mit Musikern wie den Delmore Brothers und den Blue Sky Boys (= Bolick Brüder) immens populär war. Insbesondere in den christlichen Radioprogrammen des mittleren Westens der USA wurden deren Songs gehört, und in dieser Musik war außer den fein ziselierten Harmonien beileibe nicht alles nur himmelhoch jauchzend. Die Geschichten, die da gesungen werden, sind oft finster, handeln von Sünde, Mord und Totschlag. Im kommende Jahr schon würden die beiden Brüder Don und Phil Everly diesem Gesangsstil einen gewaltigen Popularitätsschub verpassen, indem sie ihn mit leichtgewichtigem Rock'n'Roll und Pop vermengten – 1956 aber noch waren die beiden Teenie-Schwärme nur im Radio hörbar, und die um zehn Jahre älteren Brüder Ira und Charlie Louvin bedienten mit ihren „Close Harmonies“ auf ihren beiden ersten Alben zunächst einmal ein weniger pubertäres, eher religiöses Publikum. Ira's hoher Tenor, Charlies tieferer Gesang, dazu ein Folk- und Country-Backing mit Dobro, Mandoline, Gitarre – das Rezept war einfach und effektiv, und dazu kamen Songs wie „In the Pines“ - das später von Dylan gespielt wurde und auf Nirvana's Unplugged Album als „Where Did You Sleep Last Night“ (angeblich von Leadbelly) gecovert werden sollte. Dylan wurde nicht müde die Brüder zu loben und die Musik auf Tragic Songs of Life ist in der Tat erstaunlich. Was auf den ersten Blick nach altertümlicher Countrymusik klingt, erzählt dunkle Geschichten und desperate Love-Stories wie den Tearjerker „Katie Dear“, der mindestens Romeo und Julia zum Vorbild hat, oder die brutale Mordgeschichte um das „Knoxville Girl“... - und wenn die Louvin Brothers dann Religion mit Leidenschaft vertauschen, sind sie noch besser, weil tiefgründiger – als ihre Vorgänger oder Nachfolger. Tragic Songs of Life gilt als das beste Album der Louvin Brothers (dicht gefolgt von Satan Is Real und ihrem Tribut an die Delmore Brothers), es ist ein Beispiel für eine Art von Musik, die zehn Jahre später von den Byrds oder Gram Parsons wieder populärer gemacht wurde, eine Musik, die Greil Marcus in seinen Büchern dem „alten, mythischen Amerika“ zuordnet, es ist Musik voller Leidenschaft, und die Harmoniegesänge der beiden Brüder sind von berückender Schönheit. Dass insbesondere der jüngere Bruder Ira später zum vier mal verheirateten Schläger und Säufer wurde, der 1965 bei einem Autounfall starb, gibt die passende Prise Tragik dazu. Fast so wichtig wie Elvis, aber ergreifender.

The Louvin Brothers - Knoxville Girl 

Die Geburt des Rock'n'Roll ?

Die Wurzeln des Rock 'n'Roll liegen in Blues – seinerzeit auch Race Music genannt - und in Country bzw. Folk – auch Hillbilly genannt – also in der Musik der schwarzen Afro-Amerikaner (oder Neger - damals hieß das noch ganz offen so) und in der Musik der Hinterwäldler, der Nachkommen der aus Europa Zugewanderten. Wann genau bei der Kopulation beider Arten von Musik der Rock'n'Roll entstand, darüber kann man natürlich trefflich streiten, es gab sicher schon weit vor Elvis ersten Aufnahmen bei Sun Musik die man so nennen kann . Als der 1954 in Memphis seine famosen Singles aufnahm, schöpfte er schließlich seinerseits schon aus einem Fundus – eben alten Blues und Country-Songs, deren Herkunft – ob „weiss“ oder „schwarz“ ihm wohl herzlich egal war - aber die Idee einen bestimmten Rhythmus dazu zu spielen, das Tempo anzuziehen, dürfte seine eigene – bzw. die seiner Mitstreiter gewesen sein, und sie dürfte seinem Naturell und vor Allem seiner sensationellen Stimme entsprungen sein. Ich vermute er hat seine Band – den großartigen Gitarristen Scotty Moore und Bassist Bill Black dorthin getrieben, wo sie mit Songs wie dem epochalen „Mystery Train“ dann hingelangten. Es gab damals eine gewisse Gleichzeitigkeit, als etwa das Johnny Burnette Trio oder auch ein Schwarzer namens Chuck Berry dieselbe Art von Musik mit diesem ganz speziellen Rhythmus aufnahmen. Johnny Burnette jedenfalls kannte Elvis wohl persönlich und hatte seine Musik sicher gehört - zumal sein Auftritt im Fernsehen bei der Ed Sullivan Show landesweit Thema war, aber Musik dieser Art wurde noch selten im Radio gespielt und weder Burnette, noch der großartige Rockabilly Pionier Gene Vincent hatten mehr als einen kurzen Erfolg mit ein paar Singles. Später würden noch Musiker wie Buddy Holly und Eddie Cochran etwa mit diesen Klängen für die aufrührerische Jugend jener Zeit erfolgreich sein, aber spätestens als Elvis zur Army musste und Buddy Holly und Richie Valens (ein Rock'n'Roller mit mexikanischen Wurzeln, dessen La Bamba“ bis heute bekannt sein sollte...) bei einem Flugzeug-Crash umkamen, war es vorbei mit der ersten Welle des Rock'n'Roll in den USA. Aber diese Welle war jetzt nach England geschwappt, wo sich Vincent und Cochrane ein treues Gefolge erspielten und Adepten wie Cliff Richard und Billy Fury ihre Musik an die Vorbilder aus den USA anlehnen sollten. Musiker wie Chuck Berry oder Bo Diddley haben – meines Wissens - in diesen Zeiten als „Schwarze“ ihre Probleme bei einem weissen Publikum gehabt, da die Rassentrennung noch etliche Jahre simples Fakt war - zumal ihr Rock'n'Roll tiefer im Blues verwurzelt war und mit Elvis wenig zu tun hatte. Dennoch: Mitte der Fünfziger lag Rock'n'Roll einfach in der Luft, weil eine junge Generation nach etwas anderem, wilderem als der Musik der Eltern-Generation verlangte. Dass der Elan und die Wucht dieser Musik dann Ende der Fünfziger brach und erst einmal Platz machte für „leichtere“ Musik, hat mit besagten personellen Gegebenheiten zu tun – aber auch mit einem erstarken konservativer Werte in der US-Gesellschaft. Aber der erste Schritt Richtung Differenzierung vom Alten, Richtung Revolte/Protest und Musik war getan.