Montag, 27. Juni 2016

1976 – Mao gestorben, Apple geboren und Giftunfall in Seveso – Ramones bis Upsetters

In China stirbt der Mao Zedong, der kommunistische Alleinherrscher, in den USA wird der Demokrat Jimmy Carter zum Präsidenten gewählt, und die Todesstrafe wird wieder eingeführt – sie war 1972 kurz abgeschafft worden. Die Firma Apple wird von den jungen Computerfreaks Steve Jobs und Steve Wozniak gegründet. In Argentinien wird die Präsidentin und Marionette der bis dahin regierenden Peronisten Isabel Peron vom Militär abgesetzt. Zunächst ist das Volk begeistert, aber in der Folge verschwinden tausende von Linken und Intelektuellen in Folterzellen und die Militär-Junta führt bis 1983 ein grausames Regime. Im italienischen Seveso kommt es zu einem Dioxin-Giftunfall, in dessen Folge hunderte Menschen sterben. England und Island führen einen regelrechten Krieg um Fischereirechte. Der Bluesmusiker Howlin' Wolf stirbt. Die Punk-Revolution des kommenden Jahres kündigt sich an – insbesondere in New York sorgen Bands aus dem Dunstkreis des CBGB's (Country, Bluegrass and Blues Club !) wie die Ramones oder Blondie für Aufregung. In England ist es der Pubrock (siehe Graham Parker...), der den Punk vorwegnimmt – ganz abgesehen davon, dass Bands wie die Buzzcocks und die Sex Pistols ihre ersten Singles veröffentlichen – das eigentliche Medium, in dem Punk funktioniert – und mit ihren randalösen Auftritten etliche junge Zuschauer dazu bringen, selber Bands zu gründen und Musik zu machen. Es ist ein weiteres tolles Jahr für Liebhaber des Reggae, während progressiver Rock verwelkt und Dinosaurier wie die Rolling Stones oder Led Zeppelin schwächeln. David Bowie lässt sich von Drogen und elektronischer Musik beeinflussen und ist auf dem Sprung nach Berlin. Im „Mainstream“ haben ABBA derweil ihre ersten großen Hits, ein mittelmäßiger Gitarrist namens Peter Frampton macht ein ungeheuer erfolgreiches Live-Album – und ich frage mich nur, was Millionen Menschen daran finden und musikalisch inzwischen deutlich als erzkonservativ erkennbare Bands und Musiker wie Bob Seger, Kansas, Chicago oder der dem JetSet verfallene Rod Stewart regieren die Charts genau wie die etwas interessanteren Boston und Eagles. Seltsame Zeiten.

 

Ramones

s/t


(Sire, 1976)



Hier beginnt es also mit den Ramones. Müde vom immer gleichen Radioprogramm in den USA, angewidert von schaler Disco-Musik und Langweilern wie Styx und Kansas gründeten vier Jungs in New York eine Band in der Absicht, zu den einfacheren Pop & Rock Regularien der 60er zurückzukehren. Musik zu machen, die schnell und ohne Prätention zur Sache kommt. Dee Dee Ramone war zunächst Sänger der Band, konnte aber nicht zugleich den Bass bedienen, also griff Joey, der sowieso nicht der weltbeste Drummer war, zum Mikro. Daher mußte für die nächsten Alben Manger Tommy die Sticks übernbehmen, ehe Marky (auch bekannt als Marc Bell) Richard Hell & the Voidoids verließ und sich auf den Drumstuhl setzen sollte - aber all der Drehungen des Bestzungskarussells mal unbenommen - die Musik der Ramones war von Beginn an klar definiert. Mit Johnny's Kreissägen-Gitarrensound und seinen simplen, harten Riffs ist Ramones sofort immens memorabel, so wie beim Opener „Blitzkrieg Bop“, einem Song, den vermutlich jeder irgendwann mal gehört hat. Da sind die Songs mit Lyrics ausgestattet, die Gewalt wie im Cartoon darstellt wie „Beat on the Brat“. Da ist der Tongue-in-Cheek Humor von „Now I Wanna Sniff Some Glue“ („...all the kids want something to do!“). Die Band neigt mitunter zu Monkee-artiger Albernheit – aber sie haben zumindest diesen Humor, ganz anders als viele der krampfhaft ernsthaft bis zynischen Punk Bands ihrer Generation. Sie werden romatisch bei „I Wanna Be Your Boyfriend“, brechen gar in Tränen aus bei „Listen to My Heart.“. „53rd & 3rd“ wiederum – von Dee Dee geschrieben – behandelt eine berüchtigten Schwulenstrich in New York City. Alles in Allem ist es ein variables Album, das in einer knappen halben Stunde nie zu ernst wird, nie seinen Punch verliert und viel Spaß bereitet - und vor Allem: Es ist ein Klassiker, der in den Alternative/ Indie/ Punkszenen der kommenden Jahre so gut wie jeden irgendwie beeinflusst hat. Und Ramones ist erst der Beginn einer Quadriga von essentiellen Pop-Punk Alben

 Ramones - Now I Wanna Sniff Some Glue

David Bowie

Station To Station


(RCA, 1976)




 

David Bowie war endlich in den USA angekommen. Mit dem Vorgängeralbum Young Americans (das ich wenig interessant finde...) und der Single „Fame“ hatte er den US-Markt geknackt, er hatte im Film "The Man Who Fell to Earth“ mitgespielt, er hatte sich eine massive Kokainsucht angeschafft – und war nun anscheinend nicht mehr zufrieden mit diesen "Errungenschaften". Zumindest konnte er jetzt machen, was er wollte – so beschloss er, seiner im Film entstandenen Kunstfigur – dem „Thin White Duke“ Leben einzuhauchen – einer emotionslosen, klinisch reinen Maske, die wenig mit den Glam-Kreaturen seiner vorherigen Häutungen gemein hatte. Aber – so interessant Bowie's Verkleidungen sind - die Musik ist mir immer wichtiger gewesen, und Station to Station gehört definitiv zu seinen besseren Alben – zu denen, die man auch ohne Image lieben kann, bietet es doch, obwohl in LA entstanden, einen deutlichen Ausblick auf die kommende Berlin-Trilogie mit den Alben Low, Heroes und Lodger, ja es passt sogar besser in die Trilogie als Letzteres. Das fängt schon mit dem Synthesizer- Zug-geräuschen beim 10-minütigen Titeltrack an, der körperlosen Stimme, die das Kommen des „Thin White Duke“ verkündet, dann verwandelt sich der Song via Monster Chords und Wiederholung in ein Stück Power-Rock, bei dem er fragt „And who will connect me with love?“ und „Does my face show some kind of woe?“- Bowie ist Schauspieler – den Rocker kann er also auch geben. „TVC 15“ erinnert wieder an die Zeiten, als Bowie uns Songs wie „Suffragette City“ gab – und zu dieser Zeit hatte Bowie noch etliche andere Facetten vorzuzeigen, trotz seiner Drogensucht (die ihn dann auch bewog nach Berlin zu gehen) trotz der Tatsache, dass er diese Phase als die Schlimmste seines Lebens bezeichnen würde. Man kann beklagen, dass die leidenschaftliche Überzeugung seiner früheren Arbeit verloren ist, das Album ist gewiss nicht sein „Bestes“, aber man kann Station to Station auch - unter anderem wegen dieser Kühle - als eines der ersten New Wave Alben bezeichnen. 

David bowie - TVC15 

 

The Modern Lovers

s/t


(Beserkley, Rel. 1976)




Jonathan Richman &

The Modern Lovers


(Beserkley, 1976)


 

So geht das oft genug bei Bands, die irgendwann später einflussreich genannt werden: Jeder kennt ihre Platten, jeder behauptet von Anfang an Fan gewesen zu sein, aber irgendwie hat keiner ihre Platten gekauft. Keiner war da, als zum Beispiel Jonathan Richman, Jerry Harrison (- der spätere Gitarrist der Talking Heads), Ernie Brooks und David Robinson im Herbst 1971 in der Gegend um Boston umherzogen und ihre impertinent simplen Songs spielten. Richman war einer der wenigen echten Velvet Underground Fans (d.i. - tatsächlich von 67 an...), er ging sogar soweit, nach New York zu reisen und auf dem Sofa ihres Managers zu nächtigte, um die bewunderten Musiker kennenzulernen. 1972 produzierte John Cale dann wirklich ein Demo für seine Band Modern Lovers, die Silvester '72 mit Suicide, Wayne County und den New York Dolls im Mercer Arts Center den Urkeim des New Yorker Art-Punk setzten. Nachdem sein anderes Idol, der Country-Erneuerer Gram Parsons (ja, den kannte er auch, der war sein Freund...) starb, nach diversen Streitereien mit den anderen Bandmitgliedern und nachdem er mit den Aufnahmen zum Debut einfach nicht zufrieden war,brach Richman die Aufnahmen ab, löste die Band auf und wurde ein andere Mensch. Seine alten Songs „Roadrunner“ und Pablo Picasso“ wollte er nicht mehr so aggressiv spielen und das Album, das dann erst 1976 - also drei Jahre später gegen seinen Willen - erschien, war eigentlich nur eine Sammlung von Demos - die ganze Generationen von Indie Musikern prägen sollte. Richman selber gründete eine andere, neue Inkarnation seiner Modern Lovers mit denen nun seine aktuelle Musik spielte. Der Unterschied ? Der Sound ist nun näher am Bubblegum-Pop, das zweite Album klingt „softer“: War The Modern Lovers Proto Punk-Rock, so ist Jonathen Richman & the Modern Lovers Proto Pop-Punk. Richman spielt nun häufiger akustische Gitarre, die Themen der Songs sind nach wie vor absurd und kindisch, beide Alben klingen auf sympathische Weise naiv und „unprofessionell“ - was ja schon eine Kunst für sich ist. Der Einfluss von Velvet Underground? Jonathan Richman liebt wie Lou Reed Doo Wop und frühen Rock'n'Roll, auch er kann simple Melodien – siehe das berühmte „Roadrunner“ oder „Pablo Picasso“ vom ersten Album, siehe „Hi Dear“ oder „Here Come the Martian Martians“ vom zweiten Album. Aber wo Velvet Underground urban, illusionslos und gefährlich sind, da sind die Modern Lovers ländlich, blauäugig und nett. Und man nimmt Richman seine Freundlichkeit, seine Seltsamkeit und sein Verliebtsein in die Mädchen und das Leben völlig ab. Beide Alben haben einen eigenartigen Charme, das erste ist düsterer, soweit man das bei Jonathan Richman sagen kann, klingt getriebener und drogeninduziert, das zweite ist absurder und zugleich „cleaner“. Beide sind eine Klasse für sich, beide sind klassisch.

The Modern Lovers - Pablo Picasso 

 Jonathan Richman & The Modern Lovers - Here Come The Martian Martians

 

Cluster

Sowieso


(Sky, 1976)



Krautrock“ - vor Allem mit der Betonung auf „Rock“ - mag sich ja nach Mitte der Siebziger totlaufen, aber Cluster haben nie Rock gemacht, waren immer Ausserhalb – irgendwo da, wo sie sich dann mit dem Ambient-Erfinder Brian Eno getroffen haben – um mit ihm gemeinsam als Harmonia oder in anderen Konstellationen Musik zu erfinden. Das vierte Album der beiden Musiker Moebius und Roedelius kam ohne den Briten aus, die beiden deutschen Avantgardisten nahmen Sowieso an nur zwei Tagen in ihrem Studio im ländlichen Forst auf, aber der Einfluss Eno's auf ihre Musik ist deutlich genug herauszuhören. Man könnte Sowieso als ihre Version von Eno's Another Green World bezeichnen – wobei – um der Gerechtigkeit genüge zu tun - der Einfluss von Cluster auf Eno ist umgekehrt mindestens genauso groß gewesen... was Eno immer auch bestätigte. Sowieso ist ruhiger als der exzellente Vorgänger Zuckerzeit, Cluster arbeiten mit Drones, manchmal mit den bekannten pulsierenden Rhythmen, bleiben mitunter völlig ohne Rhythmus, der Opener und Titeltrack führt den Hörer sozusagen am frühen Morgen in den Wald, und das letzte Stück - „In Ewigkeit“ - führt in der späten Nacht wieder heraus. Naturassoziationen, die geplant und gewollt sind. Moebius und Roedelius Aufenthalt im kleinen Forst im Weserbergland wird (nicht nur da) seine Spuren hinterlassen haben. Dies ist ambiente Elektronik mit den Mitteln der Mitt-Siebziger im Einklang mit der Natur. Nur bitte nicht mit simpler Entspannungsmusik für Wellness-Oasen verwechseln. Dazu passiert zu viel im echten Wald. Die vier Cluster-Alben gehören zum Besten, was Deutschland musikalisch hervorgebracht hat 

Cluster - In Ewigkeit 

Stevie Wonder

Songs In The Key Of Life


(Motown, 1976



 

Wie sehr eine spätere, kommerziell erfolgreiche Karriere im Pop Business die Wahrnehmung auf einen Musiker doch verzerren kann. Heute kennt man Stevie Wonder als den blinden Klavierspieler mit den bunten Rasta-Löckchen und der hohen Stimme, der mit McCartney „Ebony & Ivory“ intonierte, der schmalzte „I Just Called to Say I Love You“ - aber in den frühen und mittleren Siebzigern war er DER Soul-Musiker – innovativ, inspiriert und politisch – und er konnte Alles: Pop, R&B, Soul, Jazz. Die drei (!!) formidablen Vorgängeralben hatten auf Songs in the Key of Life vorbereitet, hatten ihn an der Spitze des modernen Soul – vielleicht sogar knapp vor Marvin Gaye positioniert (dessen Stimme ich persönlich lieber mag). Songs in the Key of Life war nun Zurschaustellung all seiner Fähigkeiten – sein Hauptwerk – was man seinerzeit natürlich noch nicht wusste. Eine dreifach LP, mühelos gefüllt mit Hits, Spielereien, Experimenten, quer durch alle Gattungen, ohne beliebig zu werden, immer zusammengehalten von Wonder's Stimme, seinem Keyboard- und Harmonika-Spiel. Ein Album, das zeigt, wie R&B/Soul in den kommenden Jahren sein könnte – wenn er gelingt (aber etwas vergleichbares gelang dann kaum noch... und der Eklektizismus ist es auch, den man dem Album vorwerfen kann, wenn man will...) Da sind die Drei-Minuten Stücke: „Isn't She Lovely, bei dem Wonder die pure Existenz seiner 3-jährigen Tochter feiert, mit einem phänomenalen Harmonika-Solo, da ist „Sir Duke“, auf dem er seine musikalischen Vorbilder - u.a. den titelgebenden "Duke" Ellington - abfeiert und zu ihnen auf dieselbe Stufe steigt, da ist der superbe Funk vom klar politisch positionierten „Black Man“, da ist „Another Star" mit Killer Soli und einem hypercatchy "na na na ...." Refrain, oder - wenn du willst: Da ist die Jazz-Rock Fusion von „Contusion“ und das beste Stück des Albums (für mich – ebenfalls eine der Radio-Singles) - „As“ mit Wonders kraftvollem Gesang, mit einem Fight zwischen rasanten Drums, akustischen Gitarre und Herbie Hancocks Keyboards. Über das ganze Album mit allen Facetten immer der Bass von Nathan West, flink, kraftvoll, völlig rhythmisch. Ganz einfach – Songs in the Key of Live ist ein korrekter Titel, denn es ist Stevie Wonders bestes Album und eines DER Soul-Alben der Siebziger. 

Stevie Wonder - As 

 

Tom Waitts

Small Change


(Asylum, 1976)



 

Erstmal: Als dieses, Tom Waits drittes Studioalbum erschien, war der gerade mal 27 Jahre alt – und dann hört man diese raue, verbrauchte, alte Stimme, dann hört man diese Songs, die ein desillusionierter Mitt-Fünfziger zu intonieren scheint ? Jedenfalls hatte Waits zu dieser Zeit ein massives Alkohol-Problem, fühlte sich auch künstlerisch Missverstanden und konnte mit aufkommendem Punk genausoweing anfangen wie mit der etablierten Rock-Szene. Er saß zwischen den Stühlen, und fühlte sich dort noch nicht einmal wirklich wohl. Bei einem Europabesuch hatte er immerhin einen kräftigen Kreativitätsschub und schrieb innnerhalb weniger Tage die elf Songs von Small Change, seinem kommerziellen Durchbruch. Das Setting ist jazzig, klingt nach verrrauchter Bar zwischen 2.00 und 5.00 Uhr morgens, er hatte Musiker um sich, die ihm gefielen, ging immer mehr in seiner Rolle als 50er Beatnik auf, legte sich nun auf diesen verrauchten Louis Armstrong-Gesangsstil fest – und hatte vor Allem die Songs und Stories, die das Album so überzeugend machen. Mir persönlich gefällt aus dieser Phase seiner Karriere das Debut Closing Time von 1972 besser, aber hier gibt es immerhin den „Tom Taubert's Blues – der 1:1 die inoffizielle australischen Nationalhymne „Waltzing Mathilda“ zitiert, hier sind Pianoballaden wie „I Wish I Was in New Orleans (In the Ninth Ward)“ incl. Streicherbegleitung, oder das berühmte „The Piano has Been Drinking“ nur mit Piano und Gesang. Die Atmosphäre von Bars und All-Night Diners zu erzeugen – und mit Songs wie dem wunderbar betitelten „Bad Liver and a Broken Heart“ zu untermalen, die dann auch noch wirklich tiefgründig, klug und so schön sind, ist eine Kunst, die Tom Waits über die kommenden Jahre verfeinern und verändern würde – bis er zur Ikone wurde. Small Change mag nicht Tom Waits bestes Album sein – aber das gilt nur, weil er noch bessere machen sollte. 

Tom Waits - Bad Liver And A Broken Heart 

 

Flamin' Groovies

Shake Some Action


(Sire, 1976)



 

Eines der besten 60ies Alben, das aber aus den 70ern stammt: Ganze fünf Jahre liegen zwischen dem epochalen, aber leider obskur gebliebenen Teenage Head und der Rückkehr der Flamin' Groovies mit Shake Some Action. Sie hatten ihren Plattenvertrag bei Buddah verloren, Sänger Roy Loney hatte die Band verlassen und Cyril Jordan die uneingeschränkte Herrschaft übergeben, sie hatten eine (relativ erfolgreiche) Zeit in Europa gehabt und insbesondere in England eine Menge Fans mit ihren energetischen Live-Auftritten gewonnen. Das Ergebnis dieser Zeit war ein deutlich vom britischen 60ies-Rock beeinflusster Sound – nicht mehr so zügellos wie auf den Vorgängern Teenage Head und Flamingo, nicht mehr so sehr von Rockabilly und Blues beeinflusst, sondern vielmehr dem Fieber der „British Invasion“ und der Mod-Szene verpflichtet. Nicht von ungefähr war es nun auch Dave Edmunds, der sie produzierte. Und natürlich konnten sie noch immer Songs schreiben, die sich mit den besten ihrer Zeit messen konnten – die sie mit dem Titelsong „Shake Some Action“ auch überflügelten. Das war der Sound der Beatles und der Stones ca. 66 – mit der erforderlichen Prise Punk. Natürlich gab es auch wieder einige wohlgesetzte Coverversionen – Chuck Berry's „St. Louis Blues“ etwa – durch die britische Brille gesehen und zum eigenen Song gemacht, eigene brilliante Interpretationen der Musik aus den glorreichen Tagen des britischen Rock wie "Please Please Girl," "I Can't Hide," and "Let the Boy Rock and Roll“. Es ist Musik, die mit dem Rock der Prä-Hippie Ära in England genausoviel zu tun hat, wie mit den immer stärker werdenden Bands des aufkommenden Punk. Nicht umsonst gingen sie dann in Great Britain mit den Ramones auf Tour. Die Tatsache, dass sie ein weiteres Mal nicht den verdienten Popularitätsschub bekamen ist so bedauerlich wie unverdient. 

Flamin' Groovies - Please Please Girl 

 

Dr. Feelgood

Stupidity


(United Artist, 1976)




 

Aus nachvollziebaren Gründen werden Dr. Feelgood gerne in die Punk-Ecke geschoben, ist die Musik des Punk doch eigentlich nichts anderes als Rock'n'Roll mit modernen Mitteln und einer bestimmten Haltung: Gitarre, Bass, Drums und Gesang, etwas schneller, etwas agressiver als man es seinerzeit gewohnt war, aber letztlich Musik auf dem willkommenen Rückweg zur Simplizität. Dass der Kopf hinter Dr. Feelgood – Gitarrist Wiko Johnson – ein riesiger Verehrer der Urväter des Rock'n'Roll war, wird schon beim ersten Ton ihres Live Albums Stupidity klar. Chuck Berry's „Talking About You“, als Titelsong „Stupidity“ vom Soul-Giganten Solomon Burke, eine Version von Muddy Waters „I'm A Man“, „I'm A Hog for You, Baby“ vom Elvis-Songwriterduo Leiber/Stoller, dazu Eigengewächse wie „All Through the City“, die sich vor diesen Originalen nicht verstecken müssen, die eben Das sind: Zeitgemäße Variantionen von urwüchsigem Rock'n'Roll/ Rhythm'n' Blues, die Gitarre spielt keinen unnötigen Ton, der Rhythmus ist hart und straight – und dann ist da die no fun Stimme von Lee Brilleaux, die alles so sehr in Richtung Arbeiterviertel schiebt. Ohne ihn wären Dr. Feelgood nur eine von vielen Bands geblieben, er bellt und beißt und kann dem irren Tempo von Gitarrist Wilko Johnson mühelos folgen. Stupidity wurde quasi ohne Overdubs aufgenommen, so authentisch wie möglich – was funktionierte, weil Dr. Feelgood eine furiose Live Band waren, die man ganz einfach so schwitzend und lärmend wie auf diesem Album erleben musste. Eines der besten Live Alben zwischen Punk und rohem Rhythm'n'Blues – und eines, das zu Recht Erfolg hatte. 

Dr Feelgood - Stupidity 

Joni Mitchell

Hejira


(Asylum, 1976)




 

Hejira ist eine Abwandlung des arabischen Begriffes „hijra“ - die Reise – insbesondere die Reise Mohammed's von Mekka nach Medina. Und tatsächlich hatte Joni Mitchell die Songs für ihren Nachfolger von The Hissing of the Summer Lawns auf mehreren Reisen geschrieben. So war sie mit ihrem Ex-Freund unterwegs gewesen, hatte den Rückweg quer durch Amerika dann alleine angetreten, hatte Zeit über ihre Beziehung zu ihrem Freund und zu anderen Bekannten zu reflektieren. Dementsprechend sind die Bilder von Strassen, Reisen, von Alleinsein, Heimweh und der Suche nach Liebe prägend, und Mitchell hat selten bessere Texte gemacht. So schreibt sie im wunderbaren „Amelia“ über die Flugpionierin Amelia Earheart :I was driving across the burning desert / When I spotted six jet planes / Leaving six, white vapour trails / Across the bleak terrain / They were the hexagram of the heavens / They were the strings of my guitar... / Oh Amelia, was it just a false alarm?" Hejira ist ein zutiefst persönliches Album, aber es ist trotzdem keine pure Selbstreflektion, wie sie in den Siebzigern von etlichen Langweilern betrieben wuirde. Mitchell hatte immer auch eine gewisse kühle Distanz zu sich selbst. Alle Songs wurden auf der Gitarre komponiert, was wohl erklärt, wo solch einprägsamen Songs wie „Coyote“ oder „Furry Sings the Blues“ herkommen. Mitchell war zu dieser Zeit vom Bass-Sound der bisherigen Alben gelangweilt, und sie hatte den Weather Report Bassisten Jaco Pastorius kennengelernt, der hier seinen bundlosen Bass als regelrechtes Lead-Instrument einsetzt. Es sollte eine fruchtbare Koalition werden, die sie musikalisch noch weiter in Richtung Jazz führen würde. Wobei es immer auch eine Art Jazz bleiben würde, die eindeutig von ihrer Stimme, ihren Lyrics und ihrer Art Songs zu schreiben geprägt sein würde. Hejira ist genau an dieser Schwelle zwischen Folk und Jazz: Das Songwriting ist völlig Ihres, der Sound nähert sich dem Jazz an – das mag der Grund sein, warum dem Album nicht mehr Erfolg beschieden war. Also : Neu hören! 

Joni Mitchell - Coyote 

 

The Upsetters

Super Ape


(Island, 1976)



 

Für mich eines der ganz großen Dub/ Reggae-Alben. Bob Marley mag die erfogreichere Karriere und eine ganze Reihe wunderbarer Hits und Alben gehabt haben, aber Lee „Scratch“ Perry ist der wirkliche Meister, The Upsetters waren seine Band, und Super Ape ist sein komplettestes Album – neben dem '73er Dub Monster Upsetters 14 Dub Blackboard Jungle - genauso von ihm produziert. Aber das ist ja das Geheimnis bei den Hunderten von Alben, auf denen dieser Exzentriker sein Hände im Spiel hatte. Und natürlich ist das wichtigste Instrument das legendäre Black Ark Studio in Kingston/Jamaica. Super Ape wurde, wie das so häufig geschah – zunächst in Jamaica veröffentlicht, ehe Richard Branson's Island Label das leicht an den "westlichen" Geschmack angepasste Album in den USA und Europa herausbrachte – Perry hatte wegen des Erfolges des von ihm produzierten Albums War in a Babylon von Max Romeo & The Upsetters (fast genau so toll) einen Deal mit Island, die sich in den letzten Jahren als Wegbereiter des Reggae in Europa und den USA hervortaten, und die größeren finanziellen Mittel ermöglichten es ihm nun, ein Album mit den eigenen Rhythm-Tracks plus Gesang von diversen Kollaborateuren zu veröffentlichen. Denn genau das sind die Alben der Upsetters – Perry's Produktions-Skills mit einer sich in ständiger Fluktuation befindlichen Studio-Band. Er nimmt hier beispielsweise den Rhythm Track von Max Romeo's „Chase the Devil“, lässt Prince Jazzbo Nonsense-Verse darüber singen und benennt den Song um in „Croaking Lizard“. Da ist der vor unterschwelliger Kraft zitternde Opener "Zions Blood“, mit minimalistischen Vocals von Perry, der singt: „Zion's blood is flowing through my veins / So I and I will never work in vain...“, da ist das Titelstück am Ende des Albums, in dem Perry dich auffordert: „This is the ape-man, trodding through creation, are you ready to step with I man?“. Und da ist das zentrale „Dread Lion", mit explodierenden Drums, Melodica und Flute und den Zeilen „Dread lion / King of the jungle / King of the forest / Strong like iron“. Das ganze Album ist in Schatten getaucht, klingt wie der nächtliche Dschungel, es ist Perry's Aufruf an die Rastafari zur Revolution und zur Rückkehr zum natürlichen Leben, und es erfüllt das Versprechen „Dub it up, blacker than dread“ auf dem Comic-haften Cover vollkommen. Ein Album, das so ganz anders ist als Marley's Song-orientierte Platten, das Reggae in seiner rhythmisch kraftvollsten Variante zeigt. Dub in Perfektion.

The Upsetters - Dread Lions 









Samstag, 25. Juni 2016

1975 – Brian Eno bis Pôle - Vom Autounfall, der Ambient verschuldete bis zur Krautrock-Musik aus Frankreich

Nachdem Brian Eno im letzten Jahr Roxy Music verlassen hatte, war er mit zwei Solo-Alben irgendwo zwischen Art-Pop und Experiment recht erfolgreich gewesen. Aber 1974 wurde seine Arbeit dann durch einen Autounfall unterbrochen. Die von ihm kolportierte Geschichte lautet, dass er - ans Bett gefesselt - beim Anhören mittelalterlicher Harfenmusik nicht die Kraft fand, das Tape richtig zum Laufen zu bringen. Er stellte fest, dass die im Hintergrund nur fragmentarisch hörbare Musik seltsam beruhigend und zugleich interessant war. Er beschloss, Musik mit diesem Charakter selber zu kreieren, Melodiefragmente mit den Mitteln der Wiederholung und Verfremdung zu „akustischen Möbeln“ zu machen. Dass es vorher schon Musiker gab, die ähnliche Klangexperimente gemacht hatten, wird er gewusst haben: Schon Eric Satie hatte den Begriff „Furniture Music“ geprägt, Etliche Bands aus Deutschland – wie Cluster oder Tangerine Dream und deren Ex-Mitarbeiter Klaus Schulze – machten zu dieser Zeit mit anderer Intention ähnlich klingende experimentelle „elektronische“ Musik (wobei da mitunter nicht einmal Synthesizer verwendet werden – die sind '75 noch teuer und unausgereift. Manuel Göttsching etwa loopt seine Gitarren...) und Eno würde ganz logisch bald mit den Cluster-Musikern zusammenarbeiten und seine Bewunderung für Bands wie Kraftwerk in den entsprechenden Kreisen verbreiten. Aber seine ureigene Version der ambienten Musik klang immer anders, hatte immer einen gewissen artifiziellen Pop-Ansatz, der vielleicht noch aus seiner Zeit mit Roxy Music herrührt. Damit sollte er bald auch etliche andere Musiker beeinflussen - einer der Ersten würde David Bowie in seinem selbstgewählten Exil in Berlin sein... Aber die Verbindung ist da – und wer Eno '75 mag, dürfte auch an Klaus Schulze oder Harmonia gefallen finden. Und in diesem Zusammenhang muss man auch die französischen Electronique-Musique Pioniere von Pôle Records und die Musik von Heldon kennenlernen. Ob Eno sie kannte, weiss ich nicht – damals gab es keine Streaming Dienste und kein Internet. Aber deren Musik hätte ihn interessiert, sie liegt nah an Krautrock und an Ambient – eine vielleicht unbewusste Verbindung zwischen beidem.

 

Bian Eno

Another Green World


(Virgin, 1975)




Brian Eno

Discreet Music


(E.G., 1975)



Mit Another Green World entfernte Brian Eno sich endgültig vom Art Pop/Rock Sound der zwei vorherigen Alben Here Come The Warm Jets (1973) und Taking Tiger Mountain (By Strategy) (1974) und begann seine Suche nach einer experimentellen, „ambienten“ und hauptsächlich instrumentalen Musik- Er hatte die Idee, Musik zu erschaffen, die zwar wie ein Möbel „funktioniert“, aber dabei mehr sein sollte, als reine Hintergrundmusik. So haben nur fünf der vierzehn Tracks auf Another Green World noch Lyrics, und selbst da klingen Eno's Vocals unpersönlich und passen so in die Atmosphäre des gesamten Albums. Auf manchen Tracks lässt er sich noch von Freunden wie John Cale, Phil Collins und Robert Fripp unterstützen, meist hat Another Green World aber den klaren, kalten Klang, den er mit Keyboards, und Synths selber erzeugen kann. Er hatte im Studio mit dem üblichen Instrumentarium experimentiert, verfremdete diesen Sound dann, nutzte die sogenannten „Oblique Strategies“ um Ideen für seine Kompositionen zu sammeln (Das sind kurz gesagt: Karten, auf denen in kurzen Sätzen Tips und Anweisungen in kreativen Zwickmühlen gegeben werden) und erschuf – zufällig und zugleich organisch – eine neue Art von Musik. Das, was wir heute als „Ambient“ kennen, was damals aber noch unbenannt war. Übrig blieben nur noch die Skelette seiner früheren Songs und Kompositionen - ihre pulsierenden Herzen. Diese neue Herangehensweise eröffnete eine komplett neue Welt für Eno (und ganz nebenbei in den kommenden Jahren für ganze Generationen von Adepten – Bowie, Talking Heads, IDM, Techno etc pp...) so dass er noch im selben Jahr zwei weiter Alben veröffentlichte: Zum einen das Solo-Album Discreet Music, eines, auf dem er den Gedanken der „Furniture Music“ -bzw. Ambient Music viel weiter und konsequenter ausführt, als auf Another Green World. Hier setzte er das Konzept radikal um, beim Titelstück, das sich über eine ganze LP-Seite erstreckt (jaja, die angenehmen 20 Minuten...) werden die Klänge des Synthesizers auf Tape aufgenommen, wiederholt und übereinander geschichtet, wodurch sich überlagernde Loops entstehen, Auf der zweiten Seite der LP spielt Gavin Bryars Cockpit Ensemble Variationen des Pachelbel Kanons, wobei sie ihre Themen nach Anweisungen verändern. Interessant, aber dieser Teil verblasst hinter dem Titelstück, das mit Recht eines der ersten Ambient Stücke genannt werden kann. Ob er seine Ideen einzig aufgrund des geschliderten Hörerlebnisses nach dem Autounfall hatte, oder ob er sich hier auch von deutschen Elektronik-Bands wie Tangerine Dream beeinflussen ließ – die von einer anderen Seite kommend zu ähnlichen Ergebnissen gekommen waren – und das 5 Jahre vorher – ist eine akademische Frage. Eno's Musik ist tatsächlich eher Klangskulptur als „kosmisches Rauschen“, sie ist funktionaler und zugleich näher am Pop als die der deutschen Kollegen. Er sollte bald Musikern wie David Bowie sowohl seine Ideen, als auch die Ideen socher Kraut-Rock-Bands wie Cluster nahebringen. Ein perfektes Beispiel für gegenseitige Befruchtung...

 Brian Eno - Sombre Reptiles

 Brian Eno - Fullness Of The Wind


Fripp & Eno

Evening Star


(Polydor, 1975)


.... und Eno kam mit seinem Konzept auch zu einem weiteren geschätzten Kollegen, Der King Crimson Kopf Robert Fripp hatte schon auf No Pussyfooting (1973) mit ihm zusammengearbeitet, Als Eno nun die Aufnahmen zu Discreet Music begann, hatte er zunächst Fripp's Gitarren als improvisierte Begleitung zu seinen Loops und Tapes im Kopf gehabt. Ein Teil des dann mit Fripp zusammen aufgenommenen Albums Evening Star beruht tatsächlich auf diesen Loops, die er für Discreet Music aufnahm, „Wind on Wind“ sollte eigentlich zunächst auf Eno's Album, aber Fripp's Gitarrensounds scheinen so dominant gewesen zu sein, dass der Gedanke nahelag, ein eigenes Album mit Fripp als Hauptfigur aufzunehmen. So sind die Stücke auf der ersten Seite geloopte und verfremdete Gitarrenspuren von Fripp, und das ganze Album klingt wahlweise so, wie man sich Ambientmusik von dessen Band King Crimson vorstellt - oder eben wie King Crimson mit Brian Eno als Kopf. Und das über die komplette zweite Seite der LP gehende gigantische „An Index of Metal“ dröhnt dann finster über 28 Minuten dahin, ohne eine einzige Sekunde langweilig werden. Hier entsteht eine Art „Dark Ambient“, der Aufmerksamkeit nicht einfordert, sondern so fasziniert, dass nichts anderes übrig bleibt, als zu lauschen.

Fripp and Eno - Wind On Water 

 

Gavin Bryars

The Sinking of the Titanic

(E'G, 1975)



Bei der "Erfindung" von Ambient auf dem Album Discreet Music hatte Brain Eno mit dem der Komponisten und Musiker Gavin Bryars zusammengearbeitet – der wiederum dann auf dem selben Label sein schon 1969 verfasstes Werk The Sinking of the Titanic einspielen und veröffentlichen durfte. Bryars hatte zuerst Philosophie und dann Musik studiert, war also – passend zu Eno – ein Musiker mit intellektuellem Hintergrund, hatte mit Grenzgängern wie dem Free-Jazzer Derek Bailey und Tony Oxley gespielt und die freie Improvisation für sich entdeckt. Nach den Stationen John Cage und Morton Feldman hatte er dieses Stück Musik komponiert, bei dem die Beteiligten Klangquellen verwenden sollten, die sie „mit dem Untergang der Titanic verbinden“. Hört sich anstrengend an, ist aber tatsächlich wunderbar maritime, durchaus bedrohliche und vor Allem intensive Musik, die verstehen lässt, warum Eno sich so gut mit Bryars verstand – und warum er dieses Album dann auch produzierte. Das Ergebnis ist keine Hintergrund-Musik, sie beruht auf Wiederholungen, ist minimalistisch, und das Thema mag nicht besonders positiv sein, aber es ist beeindruckend. Der zweite Track - „Jesus Blood Never Failed Me Yet“ basiert auf dem Gesang eines New Yorker Obdachlosen, über dessen Worte improvisiert wird – man sieht es - schwerer Stoff, aber ist es nicht immer genau das, was sich lohnt anzuhören ?

Gavin Bryars - Jesus' Blood Never Failed Me Yet 

Und nun nach Deutschland Anno '75...

Warum ? Hier findet Brian Eno – der titelgebende Protagonist dieses Kapitels – geistesverwandte Kollegen, die ihm bei der Erforschung der Musik, die man heute Ambient nennt, zur Seite stehen...


 

Harmonia

Deluxe


(Brain, 1975)



 

Diverse Bands aus Deutschland wandelten wie gesagt auf einem ähnlichen Pfad wie Eno: Tangerine Dream mögen vordergründig näher an Eno's Alben sein – über deren Alben werde ich hier auch noch sprechen - aber es war die Krautrock „Supergroup“ Harmonia – bestehend aus den beiden Cluster Musikern Moebius und Roedelius sowie dem Neu! Gitarristen Michael Rother, die sich sehr bald mit Eno vereinen würden – und ein Album machen würden, das dann leider erst Jahrzehnte später veröffentlicht wurde. Eno selber wurde vermutlich spätestens durch dieses zweite Album auf die Band aufmerksam. Deluxe vereint besser noch als das Debüt vom Vorjahr (Musik von Harmonia) die Musik der beiden Cluster-Musiker mit der von Neu!'s Gitarristen. Die Texturen von Roedelius und Moebius stehen hier ganz gleichberechtigt neben Rothers Gitarre – die wiederum ein bisschen an Robert Fripp's Sounds erinnert. Der Rhythmus – teilweise vom Guru Guru Schlagzeuger Mani Neumeier geschaffen, hat die maschinenhafte Kraft, die die wichtigsten Krautrock-Alben so faszinierend macht. Deluxe ist für diese Art von Musik überraschend songorientiert – Rother wollte wohl den Aspekt, der ihm bei Neu ! '75 (siehe unten) so gefallen hatte, vertiefen. So klingt „Monza“ tatsächlich wie ein gelungener Outtake der Sessions zu Neu ! '75. Die Musiker ergänzten sogar hier und da Vocals, hatten mit „Walky Talky“ den notwendigen über 10-minütigen Jam dabei und man kann sich sehr gut vorstellen, wie fasziniert Eno von den pulsierenden elektronischen Rhythmen der beiden Cluster-Musiker und dem durchaus auch an Pop orientierten Ansatz der Musik auf Deluxe war. Eine Zusammenarbeit war logisch – und der Bezug zu den folgenden Alben ist (nicht) zusammenfantasiert. 

Harmonia - Monza 

Neu !

Neu ! '75

(Brain, 1975)



Ein paar Monate vor den Aufnahmen zu Deluxe hatte Michael Rother sich noch einmal mit seinem Intimfeind Klaus Dinger unter dem etablierten Namen Neu! zusammengetan. Der Erfolg ihrer beider Ex-Band Kraftwerk veranlasste sie wohl, sich noch einmal versuchsweise zusammenzuraufen – wobei es beiden dann nur auf zwei der sechs Stücke gelingen würde, wirklich gemeinsam zu spielen. Neu! '75 ist somit in gewisser Weise ein Split-Album mit zwei Ambient Collagen Rother's auf der ersten LP-Seite, zwei krachenden Proto-Punk Stücken von Dinger auf der zweiten Seite – Tracks mit den Titeln „Hero“ und „After Eight“, die einen kleinen Burschen namens John Lydon in London aufhorchen ließen (...man beachte den „Gesang“). Bei den Songs von Dinger ließ er sich von seinem Bruder Thomas und von Hans Lampe beim „infernalischen Lärm machen“ an den Drums begleiten. Und „Isi“ und "After Eight“ zeigen, was herauskommen kann, wenn sich die beiden Plus und Minus- Pole dann doch irgendwie vereinen. Auf Neu '75 ließ Rother einfach manchmal seine Gitarren und Synthesizer von der Leine und Klaus Dinger unterstützte dessen romantische Klangspielereien mit seinem kraftvollen „Motorik“ Beat – in schöner Erinnerung an die beiden vorherigen glorreichen Neu! Alben. Dass beide Musiker nie mehr wirklich zusammenkommen sollten (Sie gingen 1986 noch einmal gemeinsam ins Studio, aber da gab es wohl nur Streit und ein paar Takes mit unvollendeten Stücken...), mag eingedenk ihrer Mentalität logisch sein, aber Schade ist es schon. Neu ! '75 steht den beiden vorherigen Alben in Nichts nach...

Neu! - After Eight 

 

Kraftwerk

Radio-Aktivität

(Kling Klang, 1975)



Radio-Aktivität gilt gemeinhin als das schwächste der fünf großen Alben der Düsseldorfer Musik-Institution Kraftwerk zwischen 74 und 81. Was zum Einen sicher daran liegt, dass es auf diesem Album keine „Hit-Single“ gibt, zum Anderen daran, dass es sperriger ist, als der wunderbar blauäugige Vorgänger Autobahn. Darauf hatten die Musiker noch voller Enthusiasmus die Freuden der Mobilität gefeiert, in die Sterne geguckt oder einen „Morgenspaziergang“ gemacht. Aber dann hatte sie der Schlagzeuger Wolfgang Flür verlassen und Karl Bartos war gekommen – die Band würde in der Konstellation Hütter/ Schneider/ Bartos/ Flür bis 1987 zusammenbleiben – und nun legte Kraftwerk sich mit Radio-Aktivität endgültig auf ein rein elektronisches Konzept fest: Heisst - es wurden nur noch Synthesizer und entsprechende Rhythmuserzeuger benutzt. Das Album hat somit ein klares Konzept, dem sich die teilweise sehr kurzen Songs unterordnen müssen. Aufgeteilt in die Themen Radioaktivität und Radio (jaja, logisch, oder ?) erfinden Kraftwerk hier eine Art elektronische Kammermusik, nicht mehr so melodieverliebt und poppig wie zuvor und noch nicht so ausgefeilt und minimalistisch wie auf den drei nachfolgenden Alben, was das Album zu einem Übergangswerk macht und seine geringere Beliebtheit erklären mag. Songs wie das Titelstück, „Ätherwellen“ und "Ohm Sweet Ohm“ allerdings sind schon auf dem Niveau des Nachfolgers Trans-Europa Express. Radio-Aktivität wurde als erstes Album auch mit englisch-sprachigem Titel und „Gesang“ veröffentlicht – ein Zugeständnis an den Markt in Großbritannien - was bei Kraftwerk zwar dann üblich wurde, mir aber nie sinnvoll erschien. Die deutsch-sprachige Version ist vorzuziehen.

Kraftwerk - Ohm Sweet Ohm 

Tangerine Dream

Rubycon


(Ariola, 1975)




Tangerine Dream

Ricochet


(Virgin, 1975)



Auf die Musik Tangerine Dreams habe ich hingewiesen... Brian Eno wird sie sicher gekannt haben, ihre Musik ist in meinen Augen „romantischer“, oder vielleicht eher mit einer Art Science Fiction Philosophie verbunden, die der funktionalen „Furniture Music“ Eno's entgegensteht. Ihre beiden Alben von 1975 allerdings sind das perfekte Beispiel für 70er-Jahre Synthesizer Musik. Die Band – inzwischen bestehend aus Edgar Froese, Peter Baumann und Christopher Franke - hatte im Vorjahr mit Phaedra einen regelrechten Hit in England gelandet, ihre Sequenzer-basierten Klangflächen wurden fast nur noch mit Synthesizern erzeugt, höchstens ab und zu erklingt noch ein verfremdetes Piano, So gesehen ist Rubycon „nur“ eine Wiederholung des Konzeptes des erfolgreichen Vorgängers. Sie hatten definitiv ihren Sound gefunden. Beide Alben sind minimalistisch, sparsam und immens stimmungsvoll, Es werden Soundscapes geschaffen, die eine unterschwellige Spannung schaffen, Die Kunst ist, diese Spannung hochzuhalten, und zu dieser Zeit waren Tangerine Dream gerade darin sehr gut. Rubycon geht von Space Age Drones über das Brummen und Zischen elektronischer Maschinen in einer unbelebten Welt bis zu Sounds, die an singende Wale erinnern. Die beiden je eine Seite überspannenden Stücke regen die Phantasie an, das beste, was elektronische Musik dieser Art erreichen kann – und das funktioniert immer noch, obwohl es Musik aus einer Zeit ist, als Synthesizer noch analog waren, und die elektronische Musik noch in den Kinderschuhen steckte. Im selben Jahr noch nahmen die drei Musiker mit Ricochet ihr erstes Live-Album auf, das seltsamerweise in gewisser Weise ein Schritt zurück zu den Anfängen war. Die beiden Stücke – hier natürlich „Ricochet I“ und „...II“ genannt - sind weit dynamischer als die Musik auf Phaedra und Rubycon. Edgar Froese spielte Gitarre und Christopher Franke Drums, was die Kompositionen in Richtung elektronischer Rockmusik verschiebt. Dabei hatten sie das Rohmaterial zu Ricochet bei einem Konzert in England aufgenommen und dann im Studio noch überarbeitet. Die übereinander gelegten Rhythmen wurden dann im Studio hinzugefügt – und machen das Album zu einer Art Vorläufer von elektronischer Dance Music und Trance-Techno. Ricochet sollte eines der populärsten Alben der Band werden, obwohl es die Chart-Positionen der beiden Vorgänger nicht erreichte. Dass Tangerine Dream bald als Film Score Lieferanten reüssierten, mag ihrer Musik nicht gut getan haben – eigentlich versinken ihre Alben nach 1975 immer mehr in Belanglosigkeit – oder je nach Gusto in angenehme Meditations- und New Age Träumereien. Der Nachfolger Stratosfear jedenfalls verschob die Musik Richtung Melodieseligkeit... und damit für mich leider auch Banalität. 

Tangerine Dream - Rubycon Part 1 

 Tangerine Dream - Ricochet (Part 1)



Klaus Schulze


Picture Music

(Brain, 1975)

Klaus Schulze


Timewind

(Brain, 1975)

und Ersatz werde ich aus den kommenden Jahren beim ehemaligen Tangerine Dream-Mitglied und Schlagzeuger Klaus Schulze finden. Dessen Discografie ist in den folgenden Jahren reich an äußerst spannender Musik – Avantgarde, elektronische Musik der „Berlin School“, Ambient – nenn' es wie du willst. Picture Music und Timewind sind sein viertes, respektive fünftes Solo-Werk seit 1972 - in dieser Zeit hat er auch noch mit Ash Ra Tempel oder (eher unfreiwillig...) den Cosmic Jokers Krautrock und elektronische Musik in Deutschland mindestens mit-definiert. Spätestens 1973 - mit Cyborg - hatte Schulze seine eigene musikalische Sprache definiert und damit erfreulich viel Erfolg gehabt. Picture Music war wohl zunächst als Nachfolger für Cyborg gedacht, wurde dann aber erst in diesem Jahr veröffentlicht. Vielleicht weil es „nur“ eine Art Selbst-Vergewisserung ist, keine wirkliche Weiterentwicklung wie das '74er Album Blackdance. Was aber wiederum – vor Allem aus heutiger Sicht, wo diese Art von Musik sozusagen in kosmischem Nebel verschwimmt – kaum auffällt. Picture Music bietet zwei 20+-minütige Tracks, von denen „Mental Door“ mit „echten“ Drums und Percussion an alte Ash Ra Tempel Tage erinnert. Das ist dann sehr organische, aber durch grelle Sounds manchmal etwas anstrengende Musik. „Totem“ – auf der ersten LP-Seite – zeigt, wo der Weg hin gehen würde. Das ist die spacige Synthesizer-Musik, die bei Schulze so wunderbar natürlich klingt. Allein für diesen Track schon lohnt das Album. Und mit Timewind bekam man im gleichen Jahr eines der Kronjuwelen in Schulze's Diskografie geliefert. Eigentlich sind die zehn (!) Klaus Schulze Alben zwische 1972 und 1978 allesamt zu empfehlen – eigentlich sind sie alle ähnlich, haben einen minimalistischen Ansatz und spiegeln Schulze's Liebe zur klassischen Musik (insbesondere Wagner) wider. Mit Cyborg ('73), Mirage ('77), „X“ ('78) – und mit Timewind gibt es vier echte Meilensteine „elektronischer“ Musik von ihm. Bei diesen vier Alben sind Komposition, Sounds, Stimmung – all das, was diese Art von Musik ausmacht - noch ein bisschen stimmiger, als sonst bei Schulze üblich. Die Liebe zu Wagner wird auf seinem zweiten '75er Album allein schon durch die Songtitel deutlich: „Bayreuth Return“ und „Wahnfried 1883“ lassen keine Zweifel, wo sich Schulze für dieses Album die Inspiration geholt hat. „Bayreuth Return“ ist eine Studie in Tempowechseln und weichen klanglichen Übergängen, die ins meditative Nirvana führen, „Wahnfried 1883“ baut sich zu majestätischen Klanglandschaften auf - und diese Beschreibungen klingen alberner, als sie sein sollen. Erstaunlich ist wirklich, wie eigenständig dieses Album ist – zwar durchaus in den Siebzigern gefangen, aber höchstens von Bands wie The Orb etwa zwanzig Jahre später noch einmal mit anderen Mitteln erreicht. Für mich eines der schlausten und schönsten Synthesizer-Alben der Siebziger.

Klaus Schulze - Totem 

 Klaus Schulze - Wahnfried 1883




Manuel Göttsching


Inventions for Electric Guitar

(Kosmische Musik, 1975)


Man könnte Manuel Göttsching als „Kopf“ von Ash Ra Tempel bezeichnen und sein erstes Solo-Album hat in manchen Fällen auf dem Cover (wie hier oben zu sehen) sogar den Namen des Projektes als Überschrift, bei dem auch Klaus Schulze zeitweise Mitglied war. Aber Inventions for Electric Guitar ist de facto Göttsching's erstes Solo-Album - von ihm alleine geschrieben, produziert und mit nur einer E-Gitarre eingespielt. Und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass dieses Album mit seinem minimalistischen Kompositions-Konzept, mit den gelayerten Gitarrenspuren, mit völlig verfremdeten Sounds von Brian Eno und seinem Kollegen Robert Fripp gehört wurde - dass es da vielleicht keine Kommunikation, aber zumindest gegenseitige Inspiration gegeben hat. Aber natürlich ist die Musik hier „trippiger“, weniger akademisch, sind hier Gitarren-Improvisationen zu hören, die weit psychedelischer sind, als Fripp's Beiträge zu Evening Star (siehe oben). Die Rhythmik ist eindeutig Krautrock, wenn auch komplett ohne Percussion erzeugt. Da ist der Opener „Echo Waves“ bei dem Göttsching auf einem durchgehenden Ostinato wellenförmig improvisiert, Gitarren übereinander schichtet um dann wieder ruhiger zu werden. „Quasarsphere“ ist dann eine ruhige Improvisation als Zwischenspiel, bei der der Klang der Gitarre sich nicht mehr vom Synthesizer unterscheidet. Der letzte Track - „Ostinato“ - trägt das Programm dann im Titel: Ein Ostinato ist eine Melodie-Figur, die beständig wiederholt wird – und auf dieser Figur steigert Göttsching über zwanzig Minuten beständig die Intensität bis er kurz vor dem Ende eine kleine Unterbrechung einfügt, um dann wieder ein in allen Farben funkelndes Solo anzuschliessen. Ein Lehrstück in Sachen Dynamik, das vermutlich einige Post-Rock-Musiker Jahrzehnte später beeinflusst hat. Irgendwie tatsächlich zukunftsweisend...

Manuel Göttsching - Echo Waves 



Und nun nach Frankreich Anno '75...


Die Gleichzeitigkeit mancher musikalischer Entwicklungen ist wirklich immer wieder erstaunlich. Ob Free Jazz, Psychedelic Rock, Folkrock, Punk oder diverse Spielarten von Metal – man kann immer wieder beobachten, dass Musiker unterschiedlicher Herkunft (scheinbar) voneinander unbeeinflusst auf ähnliche Ideen kommen. Ich nehme an, dass Eno die Musik von Can, Tangerine Dream und Cluster kannte, als er seinen „Ambient“ erfand (siehe oben), aber ich weiss nicht, ob er und die französischen Künstler bei Pôle Records Kontakt hatten. Deren Musik wiederum, die in verschiedenen Kombinationen von diversen Projekten in kleinen Stückzahlen (auf ärgerlich schlecht gepressten LP's) veröffentlicht wurde, ist der von deutschen Acts wie Ash Ra Tempel, Cluster oder Tangerine Dream nah – wenn auch nicht so ähnlich, dass man von Nachahmung sprechen müsste.





Heldon


Allez Téia

(Disjuncta, 1975)

Heldon


Third (It's Always Rock and Roll)

(Disjuncta, 1975)

Heldon ist Mitte der Siebziger die wichtigste französische Band im Bereich progressiver Rock/ elektronische Musik, die Beteiligten Musiker machen eine eigenständige, europäische Musik, die man sicher mit Krautrock vergleichen kann, die aber genauso von Musikern wie Robert Fripp und Brian Eno beeinflusst sein dürfte. Heldon sind die Kopfgeburt von Richard Pinhas, seines Zeichens Gitarrist, Keyboarder, Komponist und Produzent mit abgeschlossenem Philosophie-Studium. Genialer Musiker, der leider ausserhalb Frankreichs nicht die Aufmerksamkeit bekam, die er verdient hätte. Allez Téia ist das zweite Album seines Projektes Heldon, schon das letztjährige Debüt Electronique Guerilla trug das Programm im Titel, erinnert stark an die Eno/Fripp Kollaborationen, Allez Téia setzt das Ganze in noch verbesserter Form fort. Heldon macht aus seiner Bewunderung für den King Crimson Chef kein Geheimnis: der erste Track des Albums heisst „In the Wake of King Fripp“ - aber damit verbeugt er sich unnötig tief. Der Titel mag der Tatsache geschuldet sein, dass Fripp seinen Rückzug vom Musik-Business angekündigt hatte (… und bald wieder da sein würde). Es ist auf jeden Fall ein komplettes Album, auf dem Richard Pinhas und sein Kollege Georges Grunblatt gemeinsam mit zwei weiteren Gitarristen mit King Crimson-Sounds und Stilmitteln spielen und dabei durchaus Fripp's Gitarrensounds (seine Frippertronics) verwenden – aber Tracks wie „Omar Diop Blondin“ etwa klingen viel zu eigenständig, als dass man von Nachahmung sprechen könnte. Heldon untersuchen auf Allez Téia eine breite Palette von elektronischen Ambient-Sounds unter Zuhilfenahme aller möglicher verfremdeter Gitarren-Sounds. Eigentlich ist Allez Téia kein „Ambient“ Album – aber es passt meiner Meinung nach wunderbar in diese Aufzählung von experimentellen, „elektronischen“ Alben dieses Jahres. Heldon sind die französische Antwort auf Can, Neu!, Cluster und Eno. Und noch näher an Eno gerät das im gleichen Jahr veröffentlichte Album Third (It's Only Rock and Roll) – das seinen Titel aber so was von Lügen straft. „Mechamment Rock“ ist klar von King Crimson beeinflusst, klingt wie ein Track von Lark's Tongue in Aspic, Aber mit „Aurore“ und „Doctor Bloodmoney“ stehen da zwei seitenlange Tracks auf der Doppel-LP zu Buche, die nun wirklich auch als Ambient durchgehen könnten. Aber auch hier liegt die Betonung auf den verfremdeten Gitarren-Sounds von Richard Pinhas und Georges Grunblatt. Und all das gelingt so gut, dass ich Third (It's Only Rock and Roll) eine halbe Stufe über den Vorgänger stellen würe (wenn ich müsste). Beides sind hervorragende Alben... die ausserhalb Frankreichs sträflich unbekannt bleiben würden. Ich empfehle sie aber hier jedem, der sich nach spannender Musik sehnt. Auch die Alben Interface ('77) und Stand By ('79)

 Heldon - Omar Diop Blondin

 Heldon - Aurore



Besombes - Rizet


Pôle

(Pôle Rec., 1975)

Der Produzent und Musiker Philippe Besombes hatte schon Anfang der Siebziger mit Jean-Michel Jarre gearbeitet, mit Leuten wie Stockhausen, Morricone oder Xenakis Festivals für elektronische Musik veranstaltet und durch den Zugang zu elektronischem Instrumentarium dann begonnen, selber Musik produzieren (Er hatte einen entsprechenden Händler kennengelernt...). Gemeinsam mit dem Gitarristen und Keyboarder Jean-Louis Rizet veröffentlichte er '75 das Album Pôle – das also nach dem Label benannt ist, aber mit dem Projekt/der Band Pôle nur am Rande zu tun hat. Pôle ist schwer zu beschreiben, weil es ein Konglomerat verschiedener Arten elektronische Musik darstellt. Das Cover mit den beiden ziemlich klischeehaft gekleideten Gammlern zeigt vielleicht ein bisschen, wie elektronische Musik hier zu verstehen ist – französische Hippies machen elektronische Musik: Den Opener „Haute Pression“ und den über 17-minütige Closer „Synthi Soit-il“ kann man als „elektronischen Rock“ bezeichnen. Beide Tracks bekommen Tempo durch „echte“ Drums, beim letzten Track denke ich unweigerlich an Klaus Schulze. Der zweite Track auf dem Doppel-Album - „Evelyse“ - könnte mit seinen Flöten-Klängen peinlich klingen – tut das aber nicht. Auf Pôle fehlt vielleicht der durchgehende Faden – aber die Musik ist in all ihren Facetten innovativ und eigenständig und eine wunderbare Ergänzung zu der ihrer deutschen Zeitgenossen. Dass die Alben des Labels nur sehr schwer zu bekommen sind, ist traurig, sie hätten schon längst eine vernünftige Re-Issue-Behandlung verdient. Was natürlich auch für das folgende Album gilt...

Besombes-Rizet - Evelyse 


Pôle


Inside the Dream

(Pôle Rec., 1975)

Um zur Konfusion beizutragen – das Label Pôle Records wurde vom Produzenten und Musiker Paul Putti zusammen mit seiner Frau Evelyne Henri gegründet, um Künstlern aus dem Bereich progressiver/ elektronischer oder meinetwegen avantgardistischer Musik ein Heim zu bieten. Und die beiden benannten dann auch noch ihre „Band“ - besser ihr eigenes musikalisches Projekt - nach ihrem Label. Auf dem Album Inside the Dream spielt u.a. Jean-Louis Rizet mit, es gibt die erste LP-Seite mit einem 24-minütigen Track progressiver Folk, angereichert mit Synthesizer-Sounds und keine Minute zu lang – es gibt die zweite LP-Seite voller elektronischer Zauberei, ohne Anzeichen von „normaler“ Instrumentation. Insbesondere „Outside the Nightmare“ ist ein Berlin-School-auf-Acid-Trip... allein von Rizet eingespielt. Band-Begründer Putti sah dieses Album und seine „Band“ wohl eher als Sammelbecken für Ideen (genau wie Rizet und Besombes) – ein gewagtes Konzept zu dieser Zeit. Und das ging dann auch schnell schief, zwei Jahre später ging das Konstrukt den Weg alles Zeitlichens und alles wurde ans Tapioca Label verkauft, das dann auch schnell Pleite ging. Viele Alben auf diesem Label sind hörenswert, die beiden hier mögen als Appetizer für spannende elektronische Musik aus Frankreich stehen. Und dann: Auf der Cover-Rückseite steht „Ce disque est dédicacé à Heldon“ - womit wir diesen kleinen Kreis geschlossen hätten...

Pôle - Outside the Nightmare