Mittwoch, 10. August 2016

1997 - Tony Blair, Harry Potter und Prinzessin Diana's Tod - Radiohead bis Roni Size

Nach 12 Jahren kommt in England die Labour Party mit Tony Blair an der Spitze an die Macht. In Europa scheinen die Sozialdemokraten einen Run zu haben, aber vor den internationalen Konzernen und der Globalisierung werden sie allesamt einknicken. Hongkong wird nach 99 Jahren an China zurückgegeben. In Ägypten kommt es bei diversen Terroranschlägen islamistischer Fundamentalisten zu etlichen Toten. In Algerien herrschen Unruhen mit vielen Toten, die islamische Welt ist im Aufruhr. In Kyoto treffen sich Vertreter der Industrieländer und beschliessen, etwas gegen den Klimakiller Kohlendioxid zu tun – es wird sich aber zeigen, dass es sich bei diesen „Beschlüssen“ um leere Worthülsen handelt. Prinzessin Diana stirbt und die Klatschpresse hat ein Thema für die nächsten Jahre. Der erste Band von Harry Potter wird veröffentlicht. Rapper Notorious B.I.G. wird erschossen, Jeff Buckley ertrinkt im Mississippi und Townes Van Zandt stirbt. Mit OK Computer erscheint eine DER Platten der 90er, Bob Dylan meldet sich mit Macht zurück, in Techno, Breakbeat und IDM erscheinen diverse Klassiker, Big Beat mit den Chemical Brothers und The Prodigy hat seinen kurzen Höhepunkt, Der Post Rock ist ungemein fruchtbar und der Einsatz einiger Stilmittel des altehrwürdigen Kraut-Rock führt zu erstaunlich guter Musik. In Black- und Death Metal entstehen etliche Klassiker. Der immer noch so genannte Alternative Rock wendet sich irgendwie dem Progressiven Rock zu - inklusive Gitarrensoli, viele Bands und Musiker des „Indie-Rock“ sind inzwischen etabliert... und ihr Output vorhersehbar. Björk, Nick Cave, Portishead, Smog - sie alle machen gute Platten, aber nichts „Neues“ mehr. Das was erscheint ist oft zwar nicht innovativ, aber von hohem musikalischem Anspruch. Dazu passt, daß in diesem Jahr die Luxusversion von den Pet Sounds der Beach Boys veröffentlicht wird. Die Musikszene scheint sich auszuruhen, zurückzublicken und dabei aus Altem Neues zu machen – Die Postmoderne eben. Und dennoch: Irgendwo gibt es immer noch visionäre Klänge.... und den üblichen Müll wie etwa „Mmmm Bop“ von den singenden Teenagern Hanson (denen ich nicht ihre Jugend vorwerfe) oder Elton John's über-kitschiges „Candle in the Wind“ für die tote Princess Diana, oder den Ersatz für Take That, die Backstreet Boys, oder „My Heart Will Go On“, Celine Dions Titelsong zum Schmacht-Film Titanic... die Single Charts sind komplett vermüllt

Radiohead

OK Computer


(Parlophone, 1997)

So wie Nirvana mit Nevermind den (Punk) Rock zu Beginn der Neunziger neudefinierten und popularisierten, modernisierten Radiohead mit OK Computer die experimentelle Rockmusik, hauchten ihr neues Leben ein und schafften es sogar, diesem sonst so akademischen Bereich der Musik Massenappeal zu verleihen. Seltame Tempoverschiebungen, dynamische Schwankungen, fremdartige Texturen und unbekannte Sounds in einer brilliant übereinander geschichteten Produktion wurden zu etwas Neuem und Überraschendem zusammengesetzt. Die Musik auf OK Computer ist zweifellos düster und befremdlich, sie ist auch elitär mit ihrer Tendenz zur Avantgarde, und diejenigen, die radio-freundliche Musik hören wollen, sind hier falsch. Auch ihre Plattenfirma rechnete vermutlich mit einem Flop. Es war nicht der geringste Verdienst der Band, dass sie sich ihrer eigenen Vision so vollkommen unterwarfen und keinerlei Kompromisse eingingen. OK Computer klingt als hätten Radiohead ihre Sicht der Geschichte von Pop und Underground verinnerlicht und daraus etwas persönliches geschaffen. Dieses Album schimmert in tausenden, immer wieder überraschenden Facetten, und es kann höchstens noch im Vergleich mit dem Nachfolger – dessen Glanz aber ein anderer ist – verblassen. Wenn ich den üblichen Gepflogenheiten genüge tun will, muss ich nun Songs wie „Paranoid Android“ oder „Karma Police“ hervorheben – aber um der Wahrheit gerecht zu werden: Das sind nur die bekannten Singles, das Album selber funktioniert als Einheit noch besser als es die Singles im Einzelnen tun.Und es ist eines der letzten Alben einer der letzten Bands, die noch eine länger andauernde Bedeutung hatten. Was mit dem neuen Jahrtausend kommen würde, ist mit wenigen Ausnahmen nur noch Musik als Gebrauchsgegenstand - da ist ein Album von jemandem, der seine Kunst immer im gesellschaftlichen Kontext machte, ganz passend...

Bob Dylan

Time Out Of Mind


(Columbia, 1997)

... wobei klar sein dürfte, dass ein Musiker aus dieser Generation inzwischen Themen behandelt, die wenig mit Rebellion und dem Zeitgeist zu tun haben.  Bob Dylan galt, ähnlich wie Neil Young, als Musiker, der die 60er und 70er geprägt hatte, der aber in den 80ern und 90ern nur noch selten an seine Leistungen anknüpfen konnte (auch wenn seine beiden Cover-LP's World Gone Wrong und Good As I Been to You ganz große Kunst waren, - aber da waren nicht seine eigenen Songs darauf...) und ab den 80ern hatte Dylan an Popularität und Bedeutung bei der jüngeren Generation verloren – oder war zumindest im Bewusstsein der Pop-Öffentlichkeit in den Hintergrund getreten und hatte mit seiner Never Ending Tour meist nur seine ergebenen Fans (davon gab es ja reichlich) bedient. Als September '97 Time Out of Mind veröffentlicht wurde, erwartete wohl niemand ein definitives Album. Es waren zwar seine ersten eigenen Songs nach sieben Jahren Schweigen und man hatte hoffen dürfen, er habe wieder etwas zu sagen, aber der Produzent war wie beim 89er Album Oh Mercy wieder Daniel Lanois und Dylan ging schon stramm auf die Sechzig zu. Dann hatte er auch noch dem Tod ins Auge gesehen, als er wegen einer Pilzerkrankung der Lunge im Krankenhaus gelandet war. So schienen Songs über das Altern, über Verlust und über das Licht, das immer verführerischer wird, je weiter man sich von ihm entfernt, mit Bedeutung befrachtet, die grabesschwer lastet. Songs und Texte hatte Dylan allerdings schon vor seiner Erkrankung aufgenommen –.was nichts daran ändert, dass die finstere Stimmung des Künstlers trefflich zum nahenden Schicksal passen wollte. Dass mit Lanois einer an den Reglern saß, der seine Aufnahmen gerne mit einer kräftigen eigenen Handschrift versieht, merkt man Time Out of Mind kaum an. Lanois soll wenig begeistert gewesen sein, dass seine Aufgabe nur darin bestand, die Bänder laufen zu lassen. Aber ich vermute, es wäre fast gleichgültig gewesen, wer auf dem Produktionsstuhl saß, die Songs nämlich haben die Kraft, die man so lange bei Dylan vermisst hatte. Auch wenn es das stoische Weitermachen eines Mannes ist, der das Ende des Weges schon lange sieht: „It doesn't matter where i go anymore, I just go“ Die Stimmung des Sich-Abfindens mit dem Ende aller Dinge beherrscht das Album und insofern mag man es Musik für alte Leute nennen können. Aber Songs wie „Not Dark Yet“ und vor allem das 16 minütige „Highlands“ sind – für jeden, der Ohren hat erkennbar - einfach große Kunst.

Nick Cave & The Bad Seeds

The Boatman's Call


(Mute, 1997)

Im Vorjahr war Nick Cave zu so etwas wie einem Popstar geworden – seine Single „Where the Wild Roses Grow“ mit Kylie Minogue ist ja auch eines der verrücktesten und zugleich schönsten Beispiele dafür, wie die Schöne und das Biest sich gegenseitig erheben können – zumal das dazugehörige Album alle Banalität geschickt vermieden hatte – Murder Ballads eben – Da war es umso spannender, was der einst so wilde Mann nun zu sagen hatte. Keine Mordgeschichten mehr, sondern Stories über verlorene Liebe und religiöse Zweifel, dazu Songs, die getragen dahinschaukeln, ohne unnötigen Ballast von den Bad Seeds zelebriert. Und was vielleicht ein wenig langweilig/ altväterlich daherkommen könnte, war dank der - wie bei Cave üblich - tiefgründigen Texte weder zu schwermütig noch zu belehrend. Hier sang Einer, der seine Erfahrung mit Zweifeln jeder Art hatte und der dazu eine zerbrochene Liebe zu verarbeiten hatte. Seine kurze Beziehung zu PJ Harvey durchzieht das Album ebenso wie die religiösen Zweifel. „Into My Arms“ lässt sich genauso auf die scheinbar doch so seelenverwandte Musikerin beziehen wie „Black Hair“ und „Green Eyes“ wobei man um die Tatsache, dass es eine konkrete Person hinter diesen Songs gab, garnicht unbedingt wissen muss. Solche Songs funktionieren besser – und behalten ihre Allgemeingültigkeit -ohne persönliche Zuordnungen. Und zum Thema Religion: Die wunderbar sparsame Kommunion „Brompton Oratory“, nur von einem Kirchen-Casio getragen, zeigt welche Fortschritte Nick Cave als Sänger und als Songwriter gemacht hatte. The Boatman's Call sollte – vielleicht weil es so balladenlastig ist - nicht so erfolgreich werden wie sein Vorgänger, aber es ist die Basis der kommenden Alben und man kann es als das Album ansehen, das ihn zum Leonard Cohen für die Independent-Generation macht. Womit man freilich beiden Musikern auch Unrecht tut.

Elliott Smith

Either/Or


(Kill Rock Stars, 1997)

Was mit Elliott Smith in den Monaten nach Veröffentlichung seines dritten Albums Either/Or geschehen sollte, war für einen Menschen mit seiner zynischen und depressiven Weltsicht gewiss der Gipfel an Absurdität: Drei ! - ganze drei Songs dieses Album, schafften es auf den Soundtrack für den Hollywood-Streifen „Good Will Hunting“ - und Smith wurde für den Oscar nominiert.... mit Musik, die doch so persönlich ist, die nur deswegen nicht völlig nach Lo-Fi klingt, weil Smith dazu neigt, bei den Aufnahmen seine Stimme zu doppeln. Elliott Smith war natürlich kein Ian Curtis, seine Texte klangen immer so, als wäre auf gewisse Weise mit seinem traurigen Schicksal im Einklang, als würde er sich selbst von Aussen beobachten, und wäre vom eigenen Unglück nicht sonderlich beeindruckt. Daher klingen die Songs wie Eintragungen in ein Tagebuch - leicht dahingeschrieben – eine Kunst an sich wohlgemerkt – denn simpel sind weder Songs noch Stories. Aufgenommen hatte er diese Kollektion über eine lange Zeit an diversen Orten, und zu guter letzt hatte er so viele Songs beisammen, dass er sich kaum entscheiden mochte, was auf das Album sollte. Zu diesem Zeitpunkt spielte Smith noch in seiner Band Heatmiser (deren Mic City Sons vom Vorjahr ein tolles und ziemlich unbekanntes Album ist). Auf Either/Or, dessen Titel vom Philosophen Søren Kierkegaard beeinflusst ist, sind etliche Songs die in all ihrer instrumentalen Einfachheit melodisch wunderbar reich sind, die für mich ein bisschen so klingen als würde Nick Drake mit Simon & Garfunkel Musik machen. Und so wenig ihm die Popularität letztlich geschmeckt haben mag, das Geld das nun floss gewährte Smith zumindest zeitweise sicher eine Unabhängigkeit, die man einem solch begabten Künstler wünschen will. Eines der besten Folk-Alben seiner Zeit.

Yo La Tengo

I Can Hear the Heart Beating as One


(Matador, 1997)

Die beiden besten Alben von Yo La Tengo haben auch die längsten Titel: And The Nothing Turned Itself Inside-Out würde 2000 folgen, I Can Hear the Heart Beating as One ist 1997 – in dem Jahr das für den „Indie-Rock“ das ist, was wie 1968 für Psychedelic Rock war – das herausragende Album in einem Genre, das sich vor Allem dadurch auszeichnet, dass es unendlich viele verschiedenen Facetten der Rockmusik unter sich vereint. Die Erklärung, WAS genau denn Alternative- oder Independent Rock ist, folgt später, dies hier, sowie das weiter unten reviewte Album Perfect From Now On zeigen zwei der glänzendsten Facetten der intelligenten Rockmusik der Mitt-Neunziger. Yo La Tengo haben sich 1997 schon längst vom „Sonic Youth Light“ Image verabschiedet. Sie spielen in einer ganz eigene Kategorie, die einzigen Faktoren, die mit den New Yorkern vergleichbar sind, sind ihre Kenntnis im Umgang mit „Noise“ und die Tatsache, dass sie sich darum einen eigenen Klang-Kosmos geschaffen haben, der viele Variationsmöglichkeiten bietet – und dass sie eine Institution geworden sind. I Can Hear Your Heart... ist ihre bislang freundlichste, am wenigsten "noisige" Platte. Selten klangen sie so entspannt, nie war die Stimmung so sommerlich – sie covern sogar „Little Honda“ von den Beach Boys – und sie sind gut darin, die ungewöhnlichsten Quellen in ihren Sound zu übertragen. Gerade in den ruhigen Passagen strahlt das Album, „Autumn Sweater“ ist sparsam, ruhig und der beste Song hier, aufgebaut um eine Organ-Melodie und einen Hip Hop Beat. „Moby Octopad“ klingt, als hätten sie Velvet Underground's „European Son“ zu einem Dance Track umgebaut. Auf dem 10-minütigen „Spec Bebop“ kehren sie noch einmal zu den langen Noise - Ausbrüchen früherer Alben zurück, aber selbst dabei scheint das Ziel nicht Ekstase sondern Hypnose. Ein großes Album einer großen, kleinen Band.

Built To Spill

Perfect From Now On


(City Slang, 1997)

Mitte der Neunziger war J. Mascis von Dinosaur Jr. - der ausgewiesene Gitarrenvirtuose des Indie-Rock – kreativ ein bisschen ausgepumpt. Da kam so jemand wie Doug Martsch mit seinem Trio und seiner Version von „Indie meets Prog auf die bestmögliche Weise“ ganz richtig. Schon der Vorgänger There's Nothing Wrong With Love war toll, Perfect From Now On ist... perfekt – DAS Indie Album '97 neben dem oben reviewten Werk von Yo La Tengo (... und zeigt ganz nebenbei, was für eine Bandbreite der Begriff „Indie“ hat). Built to Spill hatten im Zuge des Indie Cash-In nun auch einen Major Vertrag und Doug Martsch gab das Geld für einen größeren Sound und größere Ambitionen aus. Mit den ersten fließenden Noten von „Randy Described Eternity“ verschiebt er den Sound seiner Band von Crazy Horse immer mehr in Richtung Pink Floyd/Slint/Post Rock oder Sonic Youth/Radiohead . Zuvor hatten sie LoFi Perlen abgeliefert, nun dehnten Built To Spill sich in alle Richtungen. Das Album dauert fast eine Stunde, hat aber nur acht Songs – die dann auch mal über 8 Minuten dauern können. Man hört das robuste Trio kraftvoll die Grundstrukturen legen, Scott Plouf (dr) und Brett Nelson (b) sind in dieser Band nicht nur Erfüllungsgehilfen, ohne Sie würde so ein Album nicht gelingen, Und Doug Martsch hat nicht nur seine Songideen, er ist auch ein immens kreativer Gitarrist, spielt mit Sounds, Tempi, Effekten – holt damit das, was in den frühen Siebzigern so mancher Gitarrenheroe geschafft hatte, in die Neunziger. Und seine Songs hier haben – ähnlich wie die von Radiohead – mitunter drei bis vier Teile, werden durch den Klang von Moog und Cello angereichert, haben in jeder Phase wieder eine neue Facette, einen nächsten überraschenden Moment und sind auch noch von melodischer Finesse. Man kann's auch einfach sagen: Doug Martsch war ganz groß in Form. Es muss an der Masse von Veröffentlichungen in dieser Zeit liegen, dass Perfect From Now On nicht so bekannt wie - sagen wir mal OK Computer – ist.

Blur

s/t


(EMI, 1997)

Der Brit-Pop Hype ist (gottseidank) zuende, seine Protagonisten dürfen beweisen, dass sie mehr sind, als eine Mode. Blur's Gitarrist Graham Coxon hatte das '95er Album The Great Escape ob seiner „britishness“ eine „Rinder-Wahnsinn Album genannt und machte inzwischen keinen Hehl aus seiner Bewunderung des US Indie Rock und solcher Bands wie Pavement. Für ihr neues Album gingen Blur nach Island und setzten auf Weiterentwicklung statt Zementierung. Das neue, selbstbetitelte Album verzichtete auf polierte Keyboardsounds und Bläserarrangements und setzte dafür auf Rückkopplung und Lärm. Natürlich konnten Blur ihre Herkunft nie verleugnen, Damon Albarn's Stimme allein wäre in den USA undenkbar, und sie hatten nun mal 30 Jahre britische Pop-Historie in ihrem Gedächtnis, aber die Kinks und Beatles-Einflüsse wurden nun unter rauen Gitarren, seltsamen Sounds, klappernden Percussion, gemurmeltem Gesang und einem rumpelnden Bass vergraben. Man nehme allein schon „Beetlebum“, die erste Single und den Opener der LP. Eine herzergreifende Beatles-Melodie mit schmelzenden Harmonien wird gegen eine krachende Rhythmus-Gitarre und eine mäandernde Basslinie gesetzt. Unter der Schönheit der Melodie wächst der Noise an, Sound Effekte häufen sich an und Damon Albarn verfällt ins Falsett. Und direkt darauf der 2-Minüter „Song 2“ - mit dem bekanntesten „Woo-Hoo“ der Neunziger, mit ultra-verzerrtem Bass und mehr Punk-Attitüde als man es dieser immer so intellektuell wirkenden Band je zugetraut hätte. Ein perfekter Adrenalin-Rausch. Aber das sind nur die bekannten Songs, und Blur hat die Eigenschaft aller Blur-Alben: Die Non-Single Tracks fallen nicht ab. „Death of a Party“ paart Glam mit elektronischen Störgeräuschen, „Chinese Bombs“ ist wieder purer (Post)Punk „I'm Just a Killer for Your Love“ ein Beispiel dafür, dass Blur auch den lyrischen und musikalischen Freak-Out beherrschen – und „Look Inside America“ passenderweise der einzige Song, der an die älteren Blur erinnert. Sie hatten sich ihre Zukunft erobert.

Spiritualized

Ladies And Gentlemen, We Are Floating In Space


(Dedicated, 1997)

Schon mal grundsätzlich: Ein Album mit 70 Minuten Musik als Medikament zu verkaufen, muss ja was bedeuten. Spiritualized's drittes Album kann man ohne weiteres als Inbegriff und Überhöhung all dessen sehen, was in der psychedelischen Musik der letzten Jahrzehnte erschaffen wurde. Sie fliegen höher als Jim Morrison, spielen kosmischere Musik als Pink Floyd und schreiben Songs die an Beatles und an Rave gemahnen und haben Textzeilen wie: „Sun's so bright that I'm nearly blind, cool 'cause I'm wired and I'm out of my mind, warm as the dope running down my spine“. Und als Timothy Leary sein berühmtes „Turn On, Tune In, Drop Out“ postulierte, muß er die Zeile „ladies and gentlemen, we're floating in space“ - die ersten Worte, die man auf diesem Album zu hören bekommt – vorausgesehen haben. Jason Pierce, Kopf Spiritualized hatte auf den beiden vorherigen Alben noch das Erbe seiner vorherigen Band Spaceman 3 bzw von My Bloody Valentine fortgeführt. Auf Ladies And Gentlemen, We Are Floating In Space, diesem Album, das tatsächlich als CD in einer Pillenbox samt Beipackzettel mit ausführlich beschriebenen Nebenwirkungen verkauft wurde, kreierte er nun einen eigenen Sound , indem er die Songs ins galaktische verlängerte und mit Bläsern und Streichern vergrößerte. Shoegaze und Pop und Rave in seiner besten Form so zu erweitern hätte auch ganz fies in die Hose gehen können, aber Pierce hatte Songs, die so elastisch waren, dass man sie so überdehnen kann – ja sogar muss... Irgendwann würde das vielleicht zur Masche werden, hier war es neu und aufregend. Natürlich ist das wunderbare „I Think I'm In Love“ ungeheuer ausladend, aber wie soll das auch anders gehen, schließlich geht es nicht wirklich um Liebe, sondern um Heroin: “love in the middle of the afternoon / Just me, my spike in my arm and my spoon” - zu dieser Zeit trennte sich Pierce von seiner Gitarristin Kate Radley und hatte mit der Drogensucht zu kämpfen und entsprechend düster ist das Album, aber es ist auch eine Supernova der Kreativität und Musikalität. Am Schluß lässt das 17-minütige „Cop Shoot Cop“ mit seinen Anklängen an Talk Talk's „The Rainbow“, seinem Nihilismus und den Zeilen „Hey man there's a hole in my arm where all the money goes, Jesus Christ died for nothing, I suppose“ keinen Raum für Hoffnung. Es ist erhebend und erschreckend – man treibt zwischen den Sternen – umgeben von kalter Schönheit.

Portishead

s/t


(Go Records, 1997)

Die dunklen Unterströmungen, die unter der Oberfläche des Vorgängers Dummy lauerten, sind nun auf dem selbst-betitelten zweiten Album der Band aus Bristol an die Oberfläche gekommen. Portishead sind deutlich düsterer, die Jazz- und Klassik informierten Samples aggressiver, die Gitarren schneidender – aber es ist vor Allem Beth Gibbons' Stimme, die nun noch stärker nach Wut, einer seltsamen Art von nihilistischem Hohn oder betäubter Verzweiflung klingt. Und man spürt eine dunkle Freude, eine Würde, die den desperaten Sound des Albums noch halbwegs erträglich macht. Dummy und Portishead sind zwei Alben, die voller Logik aufeinander folgen. Aber es wäre dumm und ein - dimensional zu sagen, das zweite Album könnte auch Dummy 2.0 heißen. Damit würde man die künstlerische Entwicklung der Band in den letzten drei Jahren diskreditieren, und man würde vor Allem ihrer singulären Stellung nicht gerecht werden. Der Sound ist nicht verbessert, er hat nur andere, dunklere Dimensionen bekommen, das Songwriting ist auf dem gleichen hohen Niveau wie auf dem Vorgänger, die Singles „ All Mine“, „Over“ und „Only You“ hatten zwar nicht den kommerziellen Erfolg wie „Sour Times“ vom Debüt, aber was scheren mich Verkaufszahlen – und erfolgreich war das Album schon – nur eben zu düster und verstörend für gen ganz großen Erfolg. Wäre aber auch irgendwie seltsam, wenn so etwas die Charts anführen würde. Es gibt die Kritik, dass sie sich mit diesem Album zu sehr auf ihren Sound und zu wenig auf Songs konzentriert hätten – eine Ansicht, die ich nicht teile, die Songs sind „schwerer“, man muss sich an sie gewöhnen und der Sound ist logischerweise besser ausgearbeitet. Dummy war sicher zugänglicher, aber Portishead ist der dumpfe Knall, mit dem die Tür zum Trip Hop geschlossen wurde. Portishead selber würden nun 11 Jahr pausieren, Beth Gibbons' 2002er Album Out of Season mit Rustin' Man zeigt nur, wie sehr man sie vermissen sollte.

Roni Size Ft. Reprazent

New Forms


(Talkin' Loud, 1997)

Welches der vielen „elektronischen“ Alben des Jahres '97 das beste sein soll, ist Geschmackssache und bei mir zusätzlich stimmungsabhängig. In diesem Jahr wurden wir gesegnet von Aphex Twin, Autechre, Photek, Daft Punk, Gas, etc pp (Da gibt es einen eigenes Kapitel). Dass hier nun New Forms exponiert wird, ist reine Willkür, ausgewürfelt... zumal die Unterschiede zwischen den oben genannten Acts und dem „Drum'n'Bass“ von Roni Size doch teilweise recht groß sind. Ich habe da einen un-nerdigen Ansatz – für mich ist es egal welchem mikroskopischen Sub-Genre Aphex Twin, Gas, Photek, Biosphere oder eben Roni Size angehören, sie alle haben ihren eigenen Weg, (Pop-) Musik mit elektronischen Mitteln zu abstrahieren – und somit das zu erreichen, was elektronische Musik zu dieser Zeit so hervorragend leistet. Roni Size – bürgerlich Ryan Williams und seine „Band“ Projekt Reprazent (= Si John (b), Clive Deemer (dr), Sängerin Onnalle und diverse andere Freunde/ Produzenten) bauten 1997 mit New Forms das definitive Jungle/ Drum'n'Bass Album zusammen. Hier ist Alles dabei, was für dieses Genre, für diese Musik wichtig ist – und es ist alles in größter Perfektion ausgeführt. Das einzige regelrechte "Album", das da heranreicht, wäre Timeless von Goldie, aber New Forms ist abwechslungsreicher und bleibt über seine fast 80 Minuten Dauer spannender. Hier gibt es den „Hit“ „Brown Paper Bag“ mit singendem Stand-Up-Basslauf, mit den rasanten Drum-Patterns, mit den unterlegten urbanen elektronischen Sounds und Effekten – das archetypische Drum'n'Bass Stück eben, das so ewig weitergehen könnte. Aber es gibt eben auch noch andere Tracks, die die Spannung hochhalten: „Share the Fall“, mit Jazz Einsprengseln und massiven Rhythmussprüngen und den Soul-Vocals von Onnallee, das Titelstück, in dem Soul Gesang und Rap sich vermischen, „Mad Cat“, ein „Instrumental“ das mit Recht „Drum und Bass“ genannt werden kann. Auf New Forms werden elektronische Musik, organische Bestandteile und eine düstere Atmosphäre durch Roni Size' Produktions-Skills zu einem kohärenten Album zusammengehführt. Das Album erschien in diversen Versionen – als Einzel- und Doppel-CD, als 4-fach und 5-fach 12'', als Deluxe Edition ++ – und es hat seine Längen... aber das ist bei dieser Musik vor Allem im Albumformat normal. Ich würde sagen: New Forms + Timeless und du weißt schon sehr viel über D'n'B..





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