Mittwoch, 3. August 2016

1995 - Massenmord in Srebrenica und Ende des Friedensprozesses in Israel - Smashing Pumpkins bis Genius/GZA

In Europa werden die Grenzen zwischen den EU Mitgliedsstaaten geöffnet, Grenzkontrollen entfallen nun in der Regel, in Srebrenica kommt es zu einem der schrecklichsten Massaker an der Zivilbevölkerung im Bosnienkrieg. Serbische Truppen töten bis zu 8.000 Zivilisten, die niederländischen UN Blauhelme vor Ort schauen vor Angst erstarrt tatenlos zu. Erst im Anschluss daran beginnt die NATO ernsthaft gegen die serbischen Truppen vorzugehen. In Israel wird der Regierungschef und Friedens-Nobelpreisträger Jitzchak Rabin bei einer Friedenskundgebung von einem israelischen Rechtsextremisten erschossen. Mit dieser Tat ist Der Friedensprozess zwischen Palästinensern und Israelis praktisch beendet. Man kann hier einen der auslösenden Momente im Konflikt zwischen Islam und der westlichen Welt finden. Frankreich testet gegen internationale Proteste und jede Vernunft in der Südsee weiterhin Atomwaffen. Jerry Garcia, der Gitarrist von den Grateful Dead stirbt. 1995 ist das Jahr des Brit-Pop – nicht nur wegen Oasis vs Blur, auch weil Pulp und Supergrass definitive Alben veröffentlichen. Der alte Trend Grunge tritt nun endgültig ins zweite Glied, die Smashing Pumpkins machen noch ein letztes definitives Album, das man dieser Stilrichtung zuordnen mag. Elektronische Musik nimmt durch Künstler wie die Chemical Brothers oder etwa Björk gewaltigen Einfluss auf den Mainstream, die musikalischen Sparten und Szenen splitten sich immer weiter auf. Es ist ein Jahr der Vielfalt. Ob Black Metal, Hip Hop, Trip Hop, Alternative Rock oder Post Rock – in all diesen Genres findet man 1995 definitive Platten. Neil Young macht endlich ein Album mit Pearl Jam, seinen Kindern im Geiste, Bruce Springsteen macht sein John Steinbeck-Album, mit Alanis Morisette's Debütalbum gibt es wieder neuen und modernisierten Befindlichkeits-Pop für junge Frauen und die Popmusik startet ab jetzt in die Zukunft – ins nächste Jahrtausend. Und natürlich gibt es einen Haufen prominenten Müll – Pop - Pop (Country) von Shania Twain oder Garth Brooks, Hochglanz-Plastik R&B von Janet und Michael Jackson, schlimmen Retro Schlock von Lenny Kravitz etc... aber das lassen wir unter den Tisch fallen.

The Smashing Pumpkins

Mellon Collie and the Infinite Sadness


(Hut, 1995)

Grunge lag in seinen letzten Zuckungen als Billy Corgan 1995 mit seinen Smashing Pumpkins kam und mit Mellon Collie... einen übergroßen Grabstein aufstellte. Wobei er sich gewiß nicht neben Bands wie Pearl Jam oder Nirvana in eine Reihe gestellt sehen wollte. Corgans Visionen gingen immer schon viel weiter, er hatte weit mehr im Sinn als „nur“ Pop und Punk zu verbinden. Hier nun baute er aus allen Elementen seines Baukastens ein Monster zusammen. Ob 70ies Metal, beatelesker Pop oder Art Rock, die Band setzte seinen Ambitionen jedenfalls keine Grenzen und er sah in all seinen Einflüssen – die er auch nie verleugnete, mochten sie noch so „uncool“ sein – immer nur einen Startpunkt für eigene Ideen. Dadurch gelang es ihm, ein Album zu machen, dass so eindeutig nach dieser einen Band klingt. Wobei man auch sagen muß: Die Smashing Pumpkins klangen zunächst immer nach Billy Corgan, und wo der Egomane mit den Leistungen seiner Mitmusiker nicht zufrieden war wird er ganz sicherlich selber Hand angelegt haben. Die Einordnung neben den oben genannten Bands ist weit eher eine zeitliche als eine stilistisch fundierte. Dass Corgan an diesem aufgeblasenen Konzept nicht scheiterte, dass Mellon Collie... tatsächlich mitnichten zu lang ist - was man bei zwei Stunden Spielzeit mit 28 Songs annehmen müsste, liegt am Ideenreichtum und an der Menge guter Songs. Es gibt sicherlich auch Momente, in denen man sich etwas weniger von Allem gewünscht hätte, aber das Album ist gewollt so barock, überwältigt mit seinem Ideenreichtum, ist dank Corgans Organ, dank des speziellen Sounds der Pumpkins und dank seiner Stilsicherheit aus einem Guß und enthält mit „1979“, dem explosiven „Zero“, „Bullet with Butterfly Wings“ oder „Galapagos“ diverse Songs für die Ewigkeit. Und wie sehr der Egomane Corgan dann doch von seinen Mitstreitern abhängig war, würden die kommenden Jahre zeigen.

Tricky

Maxinquaye


(Island, 1995)

Das erste Solo-Album des Ex Massive Attack Kollaborateurs Tricky gilt zu Recht neben deren Blue Lines und Portishead's Dummy als eines der einflussreichsten Trip-Hop Alben der Neunziger. Maxinquaye (nach Tricky's Mutter benannt) verschiebt den warmen, elektronischen Soul von Blue Lines in eine düstere Welt und behandelt die destruktiven Seiten der Liebe mit harschen Sounds und Texturen. Freundin/Sängerin Martina Topley-Bird eröffnet das Album mit hypnotischer Phrasierung auf dem sexuell aufgeladenen „Overcome“ und bei „Suffocated Love“ röchelt Tricky glaubhaft „Now I could just kill a man“. Tricky's geflüsterte Vocals bilden dabei einen perfekten Kontrast zum grundsätzlich in einem Take aufgenommenen Gesang von Topley-Bird. Tricky sampelte die Smashing Pumpkins (passenderweise bei „Pumpkin“ - mit Vocals von Alison Goldfrapp!), er sampelt bei „Hell is Round the Corner“ tatsächlich Portisheads „Glory Box“ - und machte daraus in der Tat einen vollkommen eigenständigen Song – ja sogar Hit daraus, er sampelt Schnipsel von Soundtracks wie Blade Runner und The Rapture. Und sollte es je Zweifel an der Verwandtschaft zwischen Hip Hop und Trip Hop gegeben haben, dann sind „Aftermath“ und „Brand New You're Retro“ eindeutiger Beweis für ihre Verbindung. Dies sind Beats, von denen Dr Dre und Timbaland träumen sollten. Das Album hat unverdienterweise einen weniger guten Ruf als die Alben der Kollegen, aber man kann es ja wiederentdecken.

Björk

Post


(One Little Indian, 1995)

Wer die Schönheit von Eiskristallen erkennt (Das mußte ja jetzt sein, Björk ist nun mal Isländerin), oder das Murmeln eines Gebirgsbaches mag, der sollte auch dieses Album zu schätzen wissen. Man sollte allerdings das Meiste, was man über populäre Musik weiß, erst einmal vergessen, wenn man sich Post zuwendet. Oder sagen wir mal so: Ein solches Wissen ist zwar kein Fehler, aber es ist hier nicht nötig. Die Musik von Björk Gudmundsdóttir auf ihrem zweiten Album baut auf der schon recht eigenwilligen Soundästhetik des Vorgängers auf, fügt dem aber noch mehr Dance Vibes hinzu, wird von Industrial-Sounds durchzogen und zielt immer wieder Richtung Klassik, und all das macht Björk mühelos und ohne sich um Konventionen und Formalismen zu kümmern. Sie benutzt spielerisch die Elemente, die ihr gerade ins Konzept passen, ohne über ihre Herkunft oder mögliche Zusammengehörigkeit – und damit verbundenes Zusammenpassen - nachzudenken. Das Ganze passierte unter Mitarbeit von etlichen seinerzeit angesagten Leuten wie Nellee Hooper, Tricky, Graham Massey von 808 State und Electronica-Produzent Howie B. Aber bei all der personellen und technischen Planung wird zugleich deutlich, dass perfekte Popmusik nicht automatisch mit den geläufigen Mitteln, die wir kennen, gemacht werden muß. Oft sind die zauberhaften Momente hier fragil und beiläufig – und dadurch umso schöner. Und bei all seiner Seltsamkeit ist Post nicht avantgardistisch, sondern bildhaft, verspielt und zugänglich – und somit der Beweis, dass Björk's Musik zu den besten Dingen gehört, die die Neunziger zu bieten haben.

PJ Harvey

To Bring You My Love


(Island, 1995)

Und die nächste Häutung der Polly Jean Harvey. Sie war immer irgendwie beängstigend und ein bisschen wahnsinnig gewesen, ihre vorherigen Alben konnten Männer das Fürchten lehren, und hier gab sie uns nun den Vamp - und zwar nicht in der niedlichen Variante. Sie sang alle Songs aus verschiedenen – natürlich immer weiblichen – Perspektiven. Die Charaktere waren wie immer extremen Gefühlen ausgesetzt - Lust, Angst, Verzweiflung – dem, was sie immer am Besten darzustellen vermochte und was auch die vorherigen Alben bestimmt hatte. Wichtigster veränderter Bestandteil der Musik der PJ Harvey von To Bring You My Love war jetzt die Betonung des Blues. Nicht durch die amerikanischen Brille gesehen, wie bei Tom Waits oder Nick Cave etwa – nein, PJ Harvey war ein Kind des Post-Punk und Blues war Zitat, wurde theatralisch zelebriert und ist von Elementen der Avantgarde durchzogen. Allerdings tat gerade die Verfremdung des Blues der Musik gut – zumal sie große Fortschritte im Songwriting gemacht hatte. „Down By the Water“ hat einen unwiderstehlichen Hook und klingt bedrohlich, „Meet Ze Monsta“ ist psychotischer Stomp-Blues, das quälende „Long Snake Moan“ und das pompöse „C'Mon Billy“ sind auch hervorragende Songs. Sie war nicht mehr so explizit und unmittelbar wie auf Rid of Me und hatte damit einen neuen Weg für ihre Musik gefunden.

Radiohead

The Bends


(Parlophone, 1995)



Es ist leicht zu erkennen, warum Radiohead nach diesem Album neue Wege gehen mussten: The Bends ist ein Höhepunkte des Alternative Guitar Rock - grüblerisch, versponnen, virtuos und ekstatisch. Radiohead waren all das in Einem und dadurch mit diesem Album allen anderen Gitarrenbands ihrer Zeit um Lichtjahre voraus - und sie hatten mit diesem, ihrem zweiten Album schon alles gesagt, was es in diesem Bereich der populären Musik zu sagen gab. (Nur hörten das noch nicht so viele Menschen... übrigens...) Dass The Bends mit schnödem Brit-Pop nichts zu tun hat, wird jedem klar, der es einmal hört. Die Basis mag Rock'n'Roll aus dem United Kingdom sein, aber Experimente durchziehen The Bends wie Goldadern das Gestein. Ein verhallter Zwei-Noten Organ Drone, gespenstische Ambient-Flächen im Background, unmögliche, komplexe Chord-Strukturen, plötzlich ein Latin-Beat, Elemente, die im Grunge-Pop dieser Zeit eigentlich undenkbar waren und auf einen Weg wiesen, den Radiohead dann demnächst alleine gehen würden. Sie sind die Band, die die Ästhetik des Punk-Rock mit den Visionen und der Virtuosität des Prog-Rock zu paaren vermochten, ohne dabei peinlich oder bloß artifiziell zu erscheinen. Und ein Song wie „Fake Plastic Trees“ enthält schon die Essenz dessen, was den Nachfolger OK Computer dann zum wichtigsten Album der 90er machen sollte – und es enthält zugleich einen der traurigsten Texte, die Thom Yorke je schreiben sollte: "Her green plastic watering can for her fake Chinese rubber plant in the fake plastic earth, that she bought from rubber man… She looks like the real thing. She tastes like the real thing, my plastic love".

Autechre

Tri Repetae


(Warp, 1995)

Dem schottische Duo Sean Booth und Rob Brown gelang unter dem Namen Autechre mit dem Album Tri Repetae der Quantensprung von der modularen Mathematik der Vorgänger Incunabula und Amber zu insektoidem cybernetischem Funk. Für viele Fans des Duos repräsentiert dieses dritte Album zusammen mit den dazugehörigen EPs Autechre's beste Zeit. (Das US-only Album Tri Repetae++ kombiniert die hier weiter unten besprochenen, genauso unverzichtbaren wie exzellenten EP's Garbage und Anvil Vapre zusätzlich auf einer Dopple CD). Da sind Album-Tracks wie „Clipper“, „Rotar“, „Leterel“, „Gnit“, die virtuos zusammengebaut sind, bei denen sogar die Songtitel an mechanische Monströsitäten denken lassen, die irgendwelche Bauteile aus Metall und Melodie zu Musik verschmelzen. Das Bild, das ich bei Autechre's Musik immer vor Augen habe, ist das von hydraulisch betriebenen Superinsekten, die sich zusammenfügen, auseinanderfallen und wieder neu aufbauen. Ein Vorgang, der sich zu Techno-Tracks und mechanische Sounds in melodisch exquisite Musik verwandelt. Die dabei entstehenden Klänge sind vollkommen abstrakt, haben mit „Rockmusik“ rein gar nichts zu tun. Das ist 1997 tatsächlich innovative Musik, auch wenn es elektronische Musik schon lange vorher gab, das Maß an Abstraktion - diese Fremdheit - war zu dieser Zeit neu. Autechre hatten mit Tri Repetae auf der einen Seite anderen Musikschaffenden einen Weg in die Zukunft gewiesen, die aber auf der anderen Seite nur von den Ausführenden selber adäquat in die Zukunft geführt wurde. Eiskalte IDM. Perfekt.

Autechre

Garbage EP


(Warp, 1995)




Autechre

Anvil Vapre EP


(Warp, 1995)



Auch für Autechre gilt das Verdikt: Wer sie wirklich kennenlernen will, sollte sich die EP's beschaffen. Ihre Musik ist für die normale CD-Spielzeit > 60 Min. manchem zu anstrengend, die EP's sind kürzer – und hier verbergen sich teils die lockerer hingestreuten Tracks – so wie "Vletrmx21." auf Garbage. -einer der schönsten Ambient Tracks, den sie je zustande bringen sollten, ein über 8-minütuger Loop, der sich unmerklich verändert, eine Art elektronisches Gewitter, aus der Ferne beobachtet. Auch die restlichen drei Tracks auf Garbage sind ruhiger, zugänglicher als der Rest ihres Outputs, vermitteln eine düstere, fast will man sagen melancholische Atmosphäre, was das Album zu einem ihrer zugänglichsten macht. Die EP war als Begleiter zum 94er Longplayer Amber gedacht, das Cover eine digitalisierte Verfremdung des Covers dieses Albums. Die zweite EP des Jahres ist dementsprechend der Begleiter zum zwei Monate später veröffentlichten Tri Repetae. Es zeigt, wie die beiden Musiker einen neuen Weg erkunden, den sie dann kurz darauf auf dem regulären Album weiter beschreiten würden. Die vier Tracks auf Anvil Vapre sind noch Loop-basiert, noch fokussiert auf das Zusammenspiel von Beats und melodischen Melodiefragmenten, aber die Abstraktion hat zugenommen, die Musik klingt kälter und bedrohlicher, Autechre waren offenbar auf dem Weg in die Unmenschlichkeit. Natürlich gab es ab hier auch Hörer, die ihnen nicht mehr folgen mochten. Bestes Beispiel für ihre Herangehensweise ist wohl „Second Scepe“: Hier ist es die Art, wie sie die einzelnen Bausteine ihrer elektronischen Musik miteinander verbauen, die sie so unverwechselbar macht. Es beginnt mit einem stotternden Vocal Sample der gegen ein paar versetzte Töne gestellt wird, mit dem üblichen polyrhythmischen Pattern dahinter, Im Laufe der 7 Minuten werden nur wenige Elemente hinzugefügt, aber die Komplexität wächst dennoch soweit, dass man sich mit der Zeit in dem Soundlabyrinth verliert. Diese beiden gehören mit zu ihren besten EP's – und das will was heißen bei Autechre.

Sonic Youth

Washing Machine


(Geffen, 1995)

Sonic Youth sind in den Neunzigern zur Institution geworden – der Hort des guten Geschmacks und der Glaubwürdigkeit, kompromisslos, trotz Major Vertrag nicht korrumpiert und innovativ, sie haben eine beachtliche Karriere hinter sich - und vor sich - und sie leben ihre Musik. Sie sind ein bisschen heilig. Das waren sie zwar auch schon vorher – in den Achtzigern hatten sie spätestens mit Daydream Nation den New York - Noise-Rock und alternative Rockmusik definiert – zu einem Zeitpunkt als alternativ noch wirklich alternativ war. Goo, das Album mit dem sie die Neunziger eingeleitet hatten, war ihr „Pop-Album“ gewesen, wenn es überhaupt so etwas in ihrem Koordinatensystem gab, und nun, in der Mitte des neuen Jahrzehnts kam mit Washing Machine ein weiteres Highlight in ihrer reichen Diskografie. Thurston Moore, Lee Ranaldo, Steve Shelley und Kim Gordon haben inzwischen einen Klang-Pantheon geschaffen, der nur ihnen gehört, in den niemand anders eindringen kann und der Platz lässt für unendliche Variationen. Mit diesem Album verabschieden sie sich (und ihr Label) von der sowieso nur halbherzigen Suche nach Mainstream-Erfolg, haben aber – da sie eine Band sind die sich immer in Schritten weiterentwickelte – immer noch ein paar Songs, die durchaus konsumerable Eleganz mit Noise verbinden. Da ist der laidback Indie-Rock von „Unwind“, sie spielen auf „Panty Lies“ mit Elementen von japanischem Hardcore, es gibt gar pseudo-Motown doowop „Little Trouble Girl“ und dann ist da das psychedelische Monster „The Diamond Sea“ - mit allen Texturen die ihnen möglich sind über 19 Minuten ausgedehnt – ohne eine Sekunde Langeweile. Und ich liebe sie für die krachenden und fiependen Gitarren-Workouts von „Becuz“, „Junkie's Promise“ oder „Washing Machine“. Nach diesem Album wurden sie nicht schlechter, nur experimenteller – natürlich alles mit Geschmack und Niveau. Das einzige, was ich ihnen da noch vorwerfen könnte, wäre ihre correctness, aber das wäre unfair.

Tindersticks

s/t. (Second Album)


(Island, 1995)




Tindersticks

The Bloomsbury Theatre 12-3-95


(This Way Up, 1995)

Das Debüt der Tindersticks war ganz große Kunst – es war so groß, dass man sie für Frühvollendete halten konnte, zumal sie doch so desillusioniert, so heartbroken klangen, dass man eher um das pure Weiterleben des Protagonisten Stuart Staples besorgt war, als um seine musikalische Fortentwicklung. Aber dann kam das zweite, ebenfalls schlicht Tindersticks betitelte Album und alles war gut – bzw alles wurde ein weiteres mal in tiefstes Blau getaucht. Die romantische Tristesse der ersten Platte wird noch einmal überhöht, die Schuhe haben Löcher, „tiny tears“ füllen ganze Ozeane und in einem Bild sitzt der Erzähler unter dem tropfenden Dach um den Fluss seiner Tränen zu verbergen. Die Stimme Staples' hebt sich kaum einmal über ein Murmeln, aber er scheint ganz nah am Ohr des Zuhörers zu sitzen, um ihm seine intimsten Gedanken einzuflüstern, die Streicher seufzen und schwellen und die Band im Hintergrund spielt dezent dazu, weiss aber ganz genau um die Effektivität von Dynamik – die Tindersticks haben – vielleicht wie Sonic Youth, nur auf einam ganz anderen Gebiet – ebenfalls ihren eigene Klang - Pantheon erschaffen – ihre ganz eigene Ästhetik, die viel Platz für Variationen lässt. Ist das zweite Album besser als das erste ? Die Dichte an großen Songs ist nicht einmal höher, da ist „A Night In“, da sind „Tiny Tears“ und „Travelling Light“, das wunderbare Duett mit Carla Torgerson von den Walkabouts, und „She's Gone“ und die vom Vibraphon angetrieben Erzählung „My Sister“. In der Tat, Tindersticks II scheint einen Deut besser als Tindersticks I, vielleicht sind die Arrangements noch gekonnter als auf dem Debüt, aber auf diesem Niveau ist der Unterschied kaum erkennbar.... und die Band gab dem erschöpften Hörer im selben Jahr noch einen Nachschlag in Form einer Live Doppel 10'' titels The Bloomsbury Theatre 12-3-95. Dass sie live beeindrucken konnten, war bekannt, mit den besten Songs aus den beiden ersten Alben, mit einem kompletten Orchester im Rücken, mit diesem stilsicheren auftreten – was konnte da schief gehen? Und in der Tat: Dies ist eines der wenigen Beispiele von nicht überflüssigen Live Alben, kein schlichtes Best of mit Applaus, die Intimität, die sie auf den Studioalben erzeugen ist hier noch intensiver, und die Dynamik bei Stücken wie „Talk to Me“, dem wundervollen „Jism“ oder „Raindrops“ noch deutlicher, das Aufbäumen und Niedersinken in Klang und Emotion noch stärker. Hier wird noch einmal deutlich, wie gekonnt sie mit einem Orchester umgehen können. Und bei „Drunk Tank“ klingt das Orchester dann nach Apokalypse. Es mag überraschen, dass mit solcher Musik auf der Bühne ein solcher Sturm entfesselt werden kann, aber geschmackvolle Theatralik ist das Geschäft der Tindersticks – und sie sind gut darin. Nach diesen drei Alben fiel es den Tindersticks schwer das immens hohe Niveau zu halten, aber sie haben bis heute keine schlechte Platte gemacht – und Live sind sie immer noch unschlagbar. The Bloomsbury Theatre 12-3-95 war zunächst nur als limitiertes Sammelobjekt erhältlich – inzwischen ist es als Bonus CD zusammen mit dem zweiten Album erhältlich.

Ulver

Bergtatt – Et Eeventir i 5 Capitler


(Head Not Found, 1995)



Black Metal zu hören – und ihm auch noch die Bedeutung beizumessen, die er hier von mir bekommt ist ja inzwischen durchaus akzeptiert. 1995 war diese Art von Musik allerdings noch mit dem Stigma behaftet, das sie durch nihilistische und faschistoide Kirchenverbrenner erhalten hatte. Ulver (= norwegisch für “Wölfe”) allerdings gehörten von Anfang an nicht wirklich zur Black Metal Szene Norwegens, sie hatten neben ihren Thrash und Black Metal-Wurzeln auch ein starkes Interesse an der norwegischen Mythologie – und der Volksmusik ihres Landes. Nicht dass sie mit diesen Themen alleine gewesen wären, aber sie banden neben den textlichen Bezügen schon von vorneherein klaren Gesang, Folk-Instrumentierung und einen professionellen und klaren Sound in ihre Musik ein. Ihr komplett in altertümlichem Norwegisch teils eingebrülltes, aber auch eingesungenes Debüt ist bis heute einzig- und eigenartig. Bergtatt – Et Eeventir i 5 Capitler ist ein Konzeptalbum um ein kleines Mädchen, dass sich im Wald verirrt und von Trollen in die Berge gelockt wird – ein archaisches norwegisches Märchen, teilweise sogar vertont wie ein Hörspiel - dann wieder mit harschem Kreisch- und Brüllgesang versetzt, und es ist ein Album von immer wieder überraschender Schönheit. Die Einflüsse der norwegischen Volksmusik, die mittelalterlichen Klänge von Flöten, Lauten und Gitarren, dann wieder der Wechsel vom Mönchsgesang zum harschen Kreischen durch Sänger Garm, rasantes Black Metal Drumming und wirbelnde Gitarren – all das ohne Peinlichkeit, ohne dass Langeweile aufkommt... Es ist zu dieser Zeit sicher kein kleines Kunststück gewesen, Black Metal so zu “gestalten”. Dabei mag geholfen haben, dass die fünf Musiker Wert auf eine klare Produktion legten – und dass das Album mit 39 Minuten recht kurz ist (es war eigentlich als Split-Release mit den Kollegen von Gehenna vorgesehen) kann auch von Vorteil sein. Aber da ist vor Allem die schiere Musikalität der Band – die sich im Laufe der Zeit zu einer Art “Pink Floyd des Black Metal” entwickelte und die kontrollierte Kraft, mit der sie spielen, die dieses Album so herausheben. Es gibt etliche Black Metal Alben, die ich für wichtig und für großartig halte - Bergtatt – Et Eeventir i 5 Capitler ist nicht nur wichtig, es ist auch noch ungewöhnlich und einfach schön.

Genius/GZA

Liquid Swords


(Geffen, 1995)

Der Wu-Tang Clan war der Beweis dafür, dass neun Individualisten in der Lage sind, mit etwas Disziplin und mit einer Vision ein perfektes Album zu erschaffen. Nach dem Debüt und Meisterwerk Enter the Wu-Tang (36 Chambers) ('93, ....siehe ebenda) begannen die einzelnen Mitglieder des Clan den Hip Hop Markt mit teilweise ganz hervorragenden Solo-Projekten zu überfluten – Solo Alben, bei denen freilich immer auch andere Mitglieder des Clan mithalfen. Und dann kam DER Wu-Tang Meister Gary Grice aka Genius/GZA mit seinem Solo-Album daher – und stellte klar, wer der spirituelle Kopf des Ensembles war. Liquid Swords ist das archetypische Wu-Tang Album incl. Kung Fu Film-Samples vom B-Klassiker „Shogun Assassin“ und Gastbeiträgen der gesamten Mannschaft, die auf Enter the Wu-Tang... unter den Production-Skills von Kollegen RZA zusammengearbeitet hatte. Die Atmosphäre auf Liquid Swords ist unnachahmlich düster, man sieht das Betonlabyrinth eines winterlichen Queens, der Bronx, irgendeines Prospects regelrecht vor sich, in dem Gangsta mit dem Ehrenkodex der Samurai gegen massenhaft ehrlose Gegner und ihr eigenes hartes Leben standhalten. GZA erwies sich hiermit als der definitive Rap-Texter, seine Story ist finster, klug durchdacht und die Lyrics kommen mit einem unwiderstehlichen Flow und trotz der kompetenten Gäste ist GZA der Star der Geschichte. Und die Produktion von RZA ist über jeden Zweifel erhaben, mit ungewöhnlichen Sounds, smoothen Beats und einfallsreichen Samples. Es wurden vier Singles ausgekoppelt, das Titelstück, "Shadowboxin' und „Cold World“ mit Erfolg – erstaunlich bei diesen finsteren Inner City Stories. Liquid Swords (der Titel bezieht sich auf den Kung-Fu Streifen Legend of the Liquid Sword, in dem das Samurai - Schwert so scharf ist, dass der abgeschlagene Kopf der Feinde auf deren Hals sitzen bleibt...) ist das beste Album aus der Vielzahl der Side Projects des Clan. GZA sagte dazu ganz treffend: „Wu-Tang is a sword style, and this here is the sharpest. I'd rather slip on the pavement than slip on my tongue.“


















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