Freitag, 24. Juni 2016

1975 - Der Vietnamkrieg ist vorbei und Microsoft und die RAF werden gegründet - Patti Smith bis Sam Dees

Noch immer herrscht weltweit die Ölkrise, aber irgendwie haben die meisten Länder sich mit den Preissteigerungen abgefunden. Im US Atomkraftwerk Brown's Ferry kommt es zu einem Großbrand – natürlich gibt es wie immer keine Auswirkungen auf die Umwelt. Der Vietnamkrieg endet mit dem Sieg der Roten Khmer. Die US Streitkräfte sind derweil aus Saigon geflohen. In Europa wird die KSZE (Konferenz zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) gegründet – ein Zeichen der Entspannung. Derweil wird in Deutschland die linksradikale Terror-Organisation RAF gegründet und auch direkt aktiv. In Spanien stirbt General Franco und eine 36-jährige Diktatur endet. Zwei junge Amerikaner namens Bill Gates und Paul Allen gründen die kleine Firma Microsoft, es ist ein Jahr der Polyester-Klamotten und der breiten Hemdkragen und fürchterlichen Frisuren, es ist die Mitte der Siebziger und eigentlich müßte alles schrecklich sein, in China kommen bei Staudammbrüchen über 230.000 Menschen ums Leben, Hawaii wird von einer 14 Meter hohen Tsunami-Welle getroffen und Tim Buckley stirbt. Aber musikalisch ist '75 überraschend interessant, voller toller Alben: Es ist ein gutes Jahr für Singer/Songwriter – Bob Dylans neues und altes Album, Neil Young auch mit zwei Meisterwerken, der junge Bruce Springsteen, Joni Mitchell, Paul Simon. Und das sind nur die namhaftesten. Patti Smith debütiert mit ihrer ureigenen Musik, Reggae ist in voller Blüte, genauso wie Outlaw-Country - der diverse Blüten und Ableger hinterlässt -während der Krautrock glorreich verglüht. Das ECM Label bringt tollen Jazz, die Dictators machen schmutzige Musik und Dr. Feelgood spielen ihren Rhythm 'n' Blues so roh, dass man schon fast „Punk“ sagen will. Auch der progressive Rock blüht ein letztes Mal in Person von Peter Hammill und den reformierten Van Der Graaf Generator, aber auch mit Pink Floyd und noch ein paar anderen auf, um demnächst von Punk weggefegt zu werden. Derweil finde ich Donna Summer's Disco- Hit „Love to Love You“ nicht unwichtig, aber uninteressant, Jeffersons Starship langweilig und Rod Stewarts nur noch einen Schatten seiner selbst – und schweige somit darüber.

 

Patti Smith

Horses

(Arista, 1975)


Über die Frage, welches das wichtigste Album des Jahre '75 ist, kann man eigentlich nicht diskutieren. Ich vermute die meisten würden mir zustimmen, dass Patti Smith's Debüt Horses ganz oben steht – weil es voller Klasse, Wucht und Wut weit in die Zukunft weist und weil es ohne jede Verkrampfung Feminismus in die Männerdomäne Rock einbringt. Dazu kommt die Tatsache, dass Horses als ein wichtiger Grundstein des Punk gilt – mit Hintergrund in der künstlerischen New Yorker Punk Szene – ohne die „No Future“ Attitüde britischer Punks wie der Sex Pistols freilich – im Gegenteil: Patti Smith's fiebriger Gesang, die Virtuosität der Musik, die Literatur-Zitate (Smith liebt Rimbaud und zollt ihm in „Land“ Tribut), die unverstellten Jazzeinflüsse bei „Birdland“... all das hat wenig mit dem teils gewollten Dilettantismus des Punk zu tun. Was aber 1975 regelrecht skandalös ist: Das bewusst ungeschönte Image der Musikerin, ihre Selbstbestimmtheit, diese „Ich mache was ICH will“ Haltung die im Jahr 1975 noch ausserordentlich ist – und die wiederum das ist, was Punk wirklich ausmacht.... Natürlich hatte die Band ihre Position in der New Yorker Szene um das CBGB's, war befreundet mit und beeinflusst von Musikern und Bands wie Television, Blondie, den Ramones und in diesem Umfeld „aufgewachsen“. Mit all dem steht Patti Smith als Role Model für Musikerinnen wie Siouxie oder PJ Harvey, und das wiederum hat nichts mit Punk zu tun, sondern einfach mit intelligenter und nicht einzig am kommerziellen Erfolg ausgerichteter Musik. Vom Coverfoto von Robert Mapplethorpe bis zu den Lyrics ist das Album Kunst, und jeder sollte Horses gehört haben, so wie jeder mal einen Van Gogh gesehen oder ein Buch von John Steinbeck gelesen haben sollte. Ihre Version von Van Morrison's „Gloria“, mit den damals skandalösen einleitenden Zeilen „Jesus died for somebody's sins / but not mine“, das erwähnte „Land“ oder das Television-artige „Break it Up“ - bei dem Tom Verlaine seine Gitarre beisteuert - klingen für mich weniger nach Punk als nach der Musik einer Band, die das Weniger zu Mehr macht. Kein Wunder: John Cale hatte produziert und den Musikern Freiraum zur Improvisation gelassen – was kein Produzent bei den folgenden Alben mehr zulassen wollte.

 

Peter Hammill

Nadir's Big Chance

(Charisma, 1975)


 

Noch weniger mit Punk zu tun hatte eigentlich Peter Hammill, ehemaliger - und ab '75 wieder – Sänger der großartigen Van Der Graaf Generator. Mit denen hatte er exzellenten und exzentrischen progressiven Rock gespielt, der für seine vorherigen vier Solo-Alben ein wenig eingedampft worden war. Aber „unkomplexe“ Songs hatte er bislang nicht geschafft – und auch wenn er sich für sein 5. Solo-Album den Namen Rikki Nadir gab - ein jüngeres Selbst, das wütender, aggressiver und straighter sein sollte als er sich selber normalerweise sah - ist Nadir's Big Chance mitnichten simpel. Es ist kraftvoll, die Songs sind etwas kürzer als von Hammill gewohnt und kommen eher zum Punkt. Es handelt sich teilweise um ältere Songs - „The Institute Of Mental Health, Burning“ war sogar noch mit seinem Jugendfreund und VdGG Mitgründer Chris Judge Smith geschrieben, „The People You Were Going to“ eine frühe Single der Band – und vor allem die ersten vier Songs sind verglichen mit dem meisten, was man damals zu hören bekam tatsächlich roh und wild. Dabei ist zu beachten: VdGG hatten sich wie gesagt zu dieser Zeit reformiert und Hamill nahm dieses Album mit allen drei Muskern auf. David Jackson's Saxophon quäkt so eigenartig und eigenständig, Hugh Banton's Bass so kraftvoll und melodisch und Guy Evan's Drums so komplex, wie bei der Haupt-Band, aber die Musik, die sie im ersten Drittel des Albums spielen, ist im Vergleich wirklich etwas einfacher. Die Balladen „Been Alone So Long und der schöne „Shingle Song“ haben mit Punk allerdings nichts zu tun und das sechs-minütige „Two or Three Spectres“ ist sogar typisch End-Sechziger VdGG. Es ist wohl die Tatsache, dass Johnny Rotten von den Sex Pistols dieses Album später in höchsten Tönen lobte und die Tatsache, dass in den Liner Notes der Begriff „Punk“ benutzt wird, der Nadir's Big Chance in diesen Kontext stellt. Egal warum. Auch hier handelt es sich einfach um gute Musik.

 

Van der Graaf Generator

Godbluff

(Charisma, 1975)


 

Wie oben schon gesagt, Van der Graaf hatten sich 1974 reformiert – die Musiker hatten festgestellt, dass ihr Zusammenspiel noch immer funktioniert, und dass die Band auch immer noch genug zu sagen hatte. Hinzu kam wohl, dass Hammill den drei anderen Mitgliedern in dieser Konstellation nun Mitspracherecht beim Songwriting zugestand – vermutlich, weil er sich auf seinen Solo-Alben genügend austoben konnte. Es gibt Unterschiede zu den ersten drei Alben der Band genauso wie zum Solo-Werk Hammill's, alle vier Musiker hatten sich weiterentwickelt – was neben ihrem eigen- und einzigartigen Sound ein Grund ist, warum VdGG MK II als eine der „progressiven“ Bands gilt, die alle Moden überstanden hat. Wie das reduzierte, düstere Cover von Godbluff schon andeutet, es ist ein sehr intensives Album - nicht „Heavy“ im Sinne von Hard-Rock, sondern emotional intensiv. Die klanglichen Experimente des Vorgängers Pawn Hearts von 1971 werden reduziert – besser destilliert – ohne die Komplexität aufzugeben. Noch immer gibt es ausgedehnte Instrumental-Passagen, auch wenn die Band sich nicht in Stimmungsmalerei verliert (was ja durchaus auch seinen Reiz hatte). Insbesondere das Saxophon-Spiel von David Jackson, das den Gesang Hammills in den instrumentalen Teilen ersetzt, macht den Sound ungemein prägnant. Die vier Stücke sind alle sehr lang, aber es kommt keine Langeweile auf, das Prinzip der Steigerung, der Dynamik hatte diese Band so drauf, wie es 30 Jahre später nur die besten Post-Rock Bands konnten, dazu Hammill's eigenartige Stimme und seine Lyrics – bei „Scorched Earth“ gleitet der Protagonist langsam in den Wahnsinn ab, bei „Arrows“ geht es um Angst und Krieg, - der kraftvolle Bass und das Orgelspiel von Hugh Banton untermalt die Dramatik der Texte und der Musik ungemein effektiv. Über die instrumentalen Fähigkeiten dieser Band konnte kein Zweifel bestehen und man konnte zu Recht hoffen, dass es mit Ihnen weitergehen würde.

 

Pink Floyd

Wish You Were Here

(Harvest, 1975)


 

Ich würde mal sagen, Wish You Were Here gehört zu den kommerziell langlebigsten Alben der Musikgeschichte – und das zu Recht. Es wurde 1975 von der Presse eher lauwarm aufgenommen, aber Pink Floyd waren nach The Dark Side of the Moon nun einmal die größte Band der Welt – und die werden dann von arroganten Besserwissern (= Kritikern) oft schlechter behandelt, als es sinnvoll wäre. Egal. Die Musik wird bis heute von genug Menschen gehört und gut gefunden. Tatsache ist, dass der als Opener und Schluss-Stück aufgebaute Song „Shine on You Crazy Diamond“ einer der besten Songs der Band ist. Getragen im Tempo und basierend auf schlichten Akkordfolgen, aber so effektiv ausgestattet wie möglich ist er als Tribut an den ehemaligen Bandkopf Syd Barrett gedacht, der inzwischen durch LSD geistig zerstört, zurück-gezogen bei seiner Familie lebte. Dass bei der Abmischung von „Shine On...“auf einmal der zur Unkenntlich-keit aufgedunsene und glatzköpfige Barrett im Studio auftauchte, den zunächst keiner erkannte, trägt zur Mythenbildung um Wish You Were Here bei. Mit „Welcome to the Machine“ und „Have a Cigar“ zeigte Roger Waters seine wachsende Unzufriedenheit mit dem Musikbusiness. Die im Text gestellte Frage „And which one is Pink?“ wurde der Band tatsächlich gestellt und Waters gab dem Business eine große Mitschuld an Barretts Niedergang. Bei „Have a Cigar“ übernahm mit Roy Harper ein bewunderter Freund der Band den Gesang, der zu der Zeit ebenfalls im Abbey Road Studio aufnahm (und er machte das hervorragend, obwohl Waters das später anders sah). Pink Floyds Musik auf Wish You Were Here mag simpel strukturiert sein, aber sie kommt von Herzen, sie wissen genau, wie man aus den 4-5 Akkorden Musik machen kann, die fesselt, sie sind innovativ, nutzen Keyboards und Synthesizer effektiv und spielen mit Soundschnipseln und Alltagsgeräuschen wie man es von ihnen kennt und mag. Das Album ist als komplettes Werk beeindruckend – mir selber gefiel es noch besser als der so erfolgreiche Vorgänger, Es ist neben dem folgenden Animals ihr bestes Album.

 

Neil Young

Tonight's The Night

(Reprise, 1975)


Neil Young

Zuma

(Reprise, 1975)


 

Neil Young als Meister der kathartischen Musik: Sein sechstes Album war tatsächlich schon zwei Jahre zuvor – noch vor On the Beach, dem Album des Vorjahres – an einem einzigen Tag aufgenommen worden. Die Stimmung sowohl bei Crazy Horse als auch bei Young selber wird zu deser Zeit ist auf dem Tiefpunkt gewesen sein, denn das Album ist halb Beerdigung, halb Séance. Es behandelt den Drogen-Tod seiner Freunde, des Crazy Horse Kollegen Danny Whitten und des Roadies Bruce Berry. Die Band ist teilweise völlig out of tune, Neil Young's Stimme, die sowieso gerne mal zum Wimmern neigt, ist womöglich noch trunkener, aber all das trägt eher zur Intensität und Klasse der Musik bei. Die Idee, die Songs in einem einzigen Take auf Tape zu bannen, ist da nur logisch gewesen. Vielleicht war Neil Young selber auch erschrocken über das Resultat der Session – die Plattenfirma jedenfalls weigerte sich zunächst das Album zu veröffentlichen – und brachte es dann - wie oben gesagt - zwei Jahre später heraus. Die Songs selber mögen nicht zu den Besten seiner Karriere gehören, das Titelstück- das in zwei Versionen Anfang und Schluß des Albums bildet – allerdings wurde zum Klassiker, Tonight's the Night ist als Gesamtpaket eines seiner besten Alben – und Neil Young hat etliche tolle Alben gemacht. Man muß bei diesem Album bedenken, dass er noch drei Jahre vorher mit Harvest ein No 1 Album hatte, Man konnte ihm sicher nicht vorwerfen, sich von kommerziellen Erwägungen leiten zu lassen. Da ist das ebenfalls 1975 veröffentlichte Zuma zwar vielleicht tatsächlich weniger kompromisslos, aber hier hatte er ein Konzept, die passenden Songs und mit Frank Sampedro einen Nachfolger für Danny Whitten – und inzwischen war wohl auch genug Zeit vergangen, um neu anzufangen. Zuma ist oberflächlich gesehen ein Album, das sich um Amerikas Ureinwohner dreht. Höhepunkt ist sicher „Cortez the Killer“, das von Hernan Cortez und seinem Völkermord an den Inkas handelt – was wiederum dazu führen sollte, dass Zuma in Spanien verboten wurde. Das Stück glänzt mal wieder mit Young's unnachahmlichen brennender Gitarre, es hat die für Young so typische, bestechend einfache Melodik, und es ist so viel mehr, als nur ein „Bericht“ über die Greuel an den Ureinwohnern Mittelamerika's. Und auch „Dangerbird“, das auch das Covermotiv thematisiert, ist einer seiner großen Songs. Auf „Through My Sails“ wird er von Crosby, Still & Nash begleitet, offenbar herrschte da mal wieder kurz Frieden. Das ganze Album verströmt eine Stimmung von trauriger Friedfertigkeit, es zeigt eine weitere Facette von Neil Young's Kunst – und es ist ein weiteres Meisterwerk.

 

Bruce Springsteen

Born To Run

(CBS, 1975)


 

...das Foto auf dem Sleeve eine Ikone der Coverkunst, die Musik nach zwei Alben endgültig ausformuliert, und auch noch (bald) befreundet mit Patti Smith. Bruce Sprinsteen, der Mann der ungerechtfertigterweise ein paar Jahre später von Ignoranten wegen seines „Born in the USA“ in die Ecke dümmlichen Patriotismus gestellt werden sollte, hatte Mitte der Siebziger einiges an Credibility – und er hatte in diesem Jahr mit dem opulenten Born to Run ein immens erfolgreiches Album, das ihn wiederum so sehr verfolgen sollte, dass er danach sein bestes „reduziertes“ Album machen würde. Born To Run ist so amerikanisch wie Hot Dogs. der Super Bowl und der Cadillac, aber es zeigt all diese Archetypen des amerikanischen Traums mit ergreifender Hingabe, mit einem Blick auch auf die dunkleren Seiten des amerikanischen Traumes und aus einer unkitschigen Working-Class Perspektive. Dadurch ist das Album für uns Europäer vielleicht schwer zu verstehen, aber man muß Songs wie „Thunder Road, den Titelsong oder den 9+ Minüter „Jungleland“ nicht intellektuell verstehen, um ihre pure Leidenschaft und Wucht mitzuempfinden – vielleicht schadet ein analytisches Verständnis dieser Musik sogar. Es ist ja so: Der Sound der E-Street Band hat mich nie wirklich begeistert. Sie mögen Live eine Wucht sein, aber sie klingen mir persönlich manchmal zu sehr nach schmalbrüstiger White Soul Kapelle, und Springsteens Gesang bekommt bei manchen Stücken diesen Testosteronschub, den ich lächerlich finde, und der ihm dankenswerterweise bei den ruhigen Alben komplett abgeht – so dass man dann seine wunderbar erzählten Stories noch besser mitbekommt. Aber die drei oben genannten Songs, und mit kleinen Abstrichen auch noch „Night“, „Backstreets“ und „Meeting Across the River“ sind große Songs die in wenigen Zeilen den amerikanische Mythos abbilden. Born to Run funktioniert auch mit den schwächeren Songs als Einheit – eben trotz einiger schwächerer Songs. Es ist ur-amerikanisch und darin völlig authentisch. Ein großes Album, aber nicht Springsteen's Bestes.

 

Bob Dylan

Blood On The Tracks

(Columbia, 1975)

Bob Dylan & The Band

Basement Tapes

(Columbia, Rec. 1968,  Rel. 1975)


 

Nach dem fatalen Motorradunfall von 1966 und nachdem die Sechziger endgültig vorbei sind, ist Bob Dylan künstlerisch anscheinend auf dem absteigenden Ast. Er ist nicht vergessen – dazu sind seine Leistungen zu groß, aber man wähnt ihn im kreativen Ruhestand – schließlich ist er schon 33 Jahre alt und sein Publikum ist mit ihm gealtert. Auf dem durchaus feine Live Album Before The Flood aus dem Vorjahr war er gut in Form, hat mit seinen alten Freunden von The Band die altbekannten Songs recycled. Dass er dann aber so fantastisches neues Material in der Hinterhand haben würde, dürfte viele überrascht haben. Blood on the Tracks reicht locker an die Trilogie von 65/66 heran, und es bietet auch noch keine bloße Wiederholung der wilden, aufgeregten Musik der Mitt-Sechziger – stattdessen klingen die Songs hier „musikalischer“, die Lyrics sind Mini-Film Scripts, der Sound ist regelrecht theatralisch, die Songs unterwerfen sich nicht mehr den Lyrics, die Melodien sind feiner ziseliert, sind wieder an Folkmusik angelehnt, die Country und Rock Versuche sind beiseitegeschoben und natürlich erkennt jeder Dylans Stimme, seine Mundharmonika und sein Gitarrenspiel. Bei den Sessions sind neue Musiker dabei, die den Sound geschmeidiger machen. Dylan hatte wieder zur Fähigkeit gefunden, echte Songs zu schreiben, und diese neugefundene Quelle schien ergiebig. Da sind der Opener „Tangled up in Blue“ der zu Recht als einer seiner besten Songs gilt, direkt gefolgt von „Simple Twist of Fate“ - gleich mal eine Ansage, wer der beste Songwriter ist. Lyrics und Melodie eine perfekte Einheit, klug und schön. Da ist „Lily, Rosemary, and the Jack of Hearts“, eine ganze Novelle in neun Minuten, da ist das fast acht-minütige „Idiot Wind“ - und keine Sekunde ist zuviel. Blood on the Tracks könnte zu jeder Zeit entstanden sein, es klingt zeitlos/ modern, wollte ich jemandem Dylan's Musik schmackhaft machen, dann würde ich dieses Album nehmen. Dylan als Ästhet, und das zu einer Zeit, als er durch eine hässliche Trennung ging – obwohl er immer leugnete Blood on the Tracks sei ein „Trennungsalbum“. (P.S. - es gibt ein sehr lohnendes Bootleg mit den Aufnahmen zu diesem Album, genannt The New York Sessions ). Und Dylan Fans – Neue und Alte – bekamen im selben Jahr noch einen Nachschlag vorgesetzt. 1967, Im Jahr nach seinem Unfall hatte Dylan's damalige Band – The Band eben - sich ein großes, rosafarbenes Haus gemietet, dort im Keller ihr eigenes Album (Music from Big Pink) aufgenommen, und zuvor in etlichen Sessions mit Bob Dylan gemeinsam 105 Songs aufgenommen – meist klassischen Folk, Country, Blues und etliche neue Dylan-Songs. Es war Musik, die völlig gegen die psychedelischen Trends jener Zeit lief, Musik, die Dylans Versuch dokumentiert, sich wieder auf das Einfache und Essenzielle zu konzentrieren, So ließ er ein paar dieser Songs („The Mighty Quinn* z.B.!) für andere Künstler freigegeben und den Rest einfach liegen. Ab 1968 kursierten Teile der Aufnahmen dann als erster Bootleg der Rockgeschichte unter dem Namen The Great White Wonder, und nun – nach dem Erfolg von Blood on the Tracks - beschlossen Dylan und Columbia, einen Teil der Songs unter dem Namen Basement Tapes zu veröffentlichen.Das Album wurde entgegen den Erwartungen nur ein moderater kommerzieller Erfolg, es war wohl zu viel Dylan in diesem Jahr und tatsächlich sind die Basement Tapes auf eine gewisse Weise anstrengend: Es ist ein lockerer Querschnitt durch die Musik Amerikas – Americana nennt man das heute – bei dem soviele Facetten beleuchtet werden, dass man geblendet ist. Der Einfluss von The Band ist groß, aber Dylan ist der wahre Kopf hinter der Musik, voller Humor, Spaß, Neugierde, mit feinen eigenen Ideen und vor Allem völlig locker, da er keinen Druck verspürte, diese Musik zu veröffentlichen. Heutzutage existiert das Album im üblichen 5-fach CD Komplettpaket, mit allen 105 Aufnahmen – und welche man davon unbedingt haben muß, bleibt jedem selbst überlassen. Mir reichen die '75er Basement Tapes, mit Favoriten wie „Million Dollar Bash“, dem Traditional „Ain't no More Cane“, dem The Band-Song „Bessie Smith“.... eigentlich findet man bei jedem Hören einen neuen Favoriten. Dylan war wieder da.

 

Joni Mitchell

The Hissing Of Summer Lawns

(Asylum, 1975)


 

Über sieben Jahre lang hat Joni Mitchell auf ihrem Feld niemanden neben oder gar über sich, sie ist die völlig eigenständige, selbstbestimmte Künstlerin, die so manche Songwriterin heute gerne wäre. Sie hat eben auch die Fähigkeiten – und damit wohl das entsprechende Selbstvertrauen. Eine erfinderische, unakademische Gitarristin mit einer Stimme in der Schnittmenge zwischen Folk und Jazz, und genau da hat sie sich inzwischen auch musikalisch positioniert. The Hissing of the Summer Lawns verbindet manches für diese Zeit revolutionäre Klangexperiment mit messerscharfem Songwriting und surrealer Imagination. Da gibt es bei „The Jungle Line“ Weltmusik-Experimente mit den „Drums of Burundi“, sie verlässt die akustische Folk-Instrumentierung zugunsten eines warmen Jazz-Sounds. Sie beobachtet Leben und Liebe in der modernen Gesellschaft in scharfsinnigen Bildern, die es bewusst vermeiden, persönlich zu sein. Und die Musik, hier mit einer versierten Band aus Fusion- und Jazzmusikern wie Larry Carlton und Robben Ford, verweigert sich der instrumentalen Leistungsschau, die ansonsten in dieser Zeit – und besonders von diesen Musikern – gerne betrieben wird. Die ordnen sich den Songs unter, die Jazz und Folk organisch miteinander verbinden und – wie das Vorbild Kind of Blue - souverän und gleichmäßig dahinfließen. The Hissing of the Summer Lawns ist in Joni Mitchells Karriere ein Album des Überganges zwischen akustischem Folk und ihrer ureigenen Form des Jazz. Und sie schafft darauf erstmals die Atmosphäre, die sie auf den fokgenden Alben ausformulieren würde, und die niemand sonst so erzeugen konnte.

 

Sam Dees

The Show Must Go On

(Atlantic, 1975)



 Sam Dees kennen eigentlich nur Soul-Spezialisten – und wie so oft – sehr zu Unrecht. Dees hatte für etliche große Stars des Soul Hits geschrieben, hatte selber auch durchaus einige erfolgreiche Singles gehabt, war ein fantastischer Arrangeur und Sänger mit einer Stimme, die nach tiefergelegtem Curtis Mayfield klingt – mit dem er auch das kritische gesellschaftliche Bewusstsein teilt. The Show Must Go On beginnt mit den Zeilen „Your Father Is a Pusherman“, der Song „Child of the Streets“ könnte inklusive Instrumentierung und Atmosphäre zu den besten Curtis Mayfield's gehören. Das Album teilt die eine wichtige Qualitäten mit anderen, weniger bekannten Soul Preziosen: Auch die nicht als Singles veröffentlichten Songs haben Klasse, es gibt quasi kein Füllmaterial hier. Bei allen Songs war Sam Dees Co-Autor, die Band, die er in zwei Studios in seiner Heimatstadt Birmingham um sich versammelte, spielte wunderbar zusammen, Dees' Stimme ist ein Genuss. Und Songs wie „Troubled Child“ oder „What's It Gonna Be“ hätten weit mehr Aufmerksamkeit verdient. Aber es war die Zeit des aufkommenden Disco-Sounds, Musik mit soviel Tiefe passte nicht zum Hedonismus der jungen Generation, dabei wird auf The Show Must Go On hier und da der sogar aktuellen Mode Tribut gezollt wird - „Just Out of My Reach“ oder „Worn Out Broken Heart“ – die „Love Song“-Abteilung mithin. Aber auch ein kraftvoller Soul Stomper wie „Claim Jumpin'“ war bei aller Klasse und trotz fantastischer Stimme zu dieser Zeit nicht mehr up to date. Und obwohl das Album nicht im tiefen Sumpf des Southern Soul brodelt – der Erfolg blieb aus. In der Zeit danach stieg die Anerkennung für das Album kontinuierlich, inzwischen gilt es als Klassiker des Soul der Siebziger – und ist nach einer Ewigkeit auch als CD veröffentlicht und somit der Obskurität entrissen. Für mich DAS Soul Album '75... mindestens.

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