Dienstag, 18. Oktober 2016

2006 - Religiöse Konflikte, Wetter-Extreme und Saddam's Ende - Joanna Newsom bis Natural Snow Buildings

Im Iran und Irak, in Israel, im ganzen Nahen Osten ist die politische und gesellschaftlich/religiöse Situation enorm angespannt. 2006 ist das Jahr, in dem jeder gegen jeden irgendeinen Kampf ausficht, das Jahr, in dem die meisten Journalisten in Ausübung ihres Berufes umkommen und ein weiteres Jahr in dem Hunderte durch politisch und religiös motivierte Selbstmordattentate sterben müssen und in dem in der westlichen Welt diverse Attentatsversuche vereitelt werden. Derweil ziehen sich immer mehr Länder aus dem Irak-Krieg zurück. Die Akzeptanz für diesen Krieg sinkt und sinkt. Am Ende des Jahres wird Saddam Hussein, der ehemalige Staatschef des Irak hingerichtet. Die Stimmung zwischen konservativen Moslems und weniger religiösen Menschen wird weltweit immer schlechter, insbesondere alberne Mohammed-Karikaturen in europäischen Zeitungen führen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, die Fundamentalisten verstehen da keinen Spaß. Und die klimatischen Verhältnisse werden weltweit merklich immer schlechter – es kommt zu Extrem-Wetter Katastrophen durch Stürme und Schneeschmelzen (Elbhochwasser in Deutschland, Hitze-Notstand in New York) – eine Entwicklung, die sich schon seit Jahren fortsetzt. Die weltpolitische Lage ist durch all diese Entwicklungen äußerst unruhig. In diesem Jahr sterben der legendäre Ex-Pink Floyd Musiker Syd Barrett und Arthur Lee (von Love). Musikalische Highlights gibt es auch in diesem Jahr aus allen möglichen Genres: Ob Folk, Post Punk, elektronische Musik, Metal, Post Rock, Screamo, klassische Singer/Songwriter.... Da sind die Alben von Joanna Newsom, Brand New, Burial, da ist der enorm erfolgreiche Retro-Soul von Amy Winehouse, das Debüt der durch das Web bekannt gewordenen Arctic Monkeys etc. Aber wirklich innovativ ist mal wieder kaum jemand. Gute Musik zuhauf, und meine persönlichen Favoriten sind die Alben von Rachel Unthank und ihrer Folk-Familie, von Joanna Newsom und Corrina Repp. Folk von Frauen in verschiedenen Varianten... und ein stundenlanges Folk/Drone Monster von den obskuren aber majestätischen Natural Snow Buildings. Und welche Musik missfällt mir ? Ich mag die Scissor Sisters nicht, deren „I Don't Feel Like Dancin'“ aber auch irgendwie gut ist, ich kann immer noch nichts mit Rihanna oder Nelly Furtado anfangen, deren Musik mir einfach ZU geplant ist – genau wie die von Justin Timberlake, den toll zu finden irgendwie hip zu sein scheint. Aber ganz schlimm ist der Erfolg von James Blunt dem singenden Soldaten mit Quäkstimme, oder etwa der Teen-Pop-Hype um Tokio Hotel. Also, Nichts mehr davon, sondern lieber....

Joanna Newsom

Ys


(Drag City, 2006)

Als Ys 2006 herauskam, wurde es sofort und einhellig als DAS Ereignis des Jahres gefeiert. Joanna Newsom hatte schon zwei Jahre zuvor mit The Milk-Eyed Mender ein ungewöhnliches und auch ungewöhnlich schönes Album gemacht, eines, das sicher – insbesondere wegen ihrer Stimme - polarisierte, dessen schiere Musikalität aber selbst der größte Verächter ihrer gewöhnungsbedürftigen Stimme nicht verleugnen konnten. Dass sie aus einer Hippie-Famile stammte, dass sie Harfe spielte und eine durchaus elfenhafte Schönheit besaß – all das trug natürlich dazu bei, dass man neugierig war, was als nächstes kommen würde. Und dann hatte auch noch der weise alte Van Dyke Parks seine Hände beim neuen Album im Spiel, ebenso wie die Indie Koryphäen Steve Albini und Jim O'Rourke - und Bill Callahan (Smog) war dabei, der Leonard Cohen der Internet-Generation ! Ys musste zwingend gut und vor allem ungewöhnlich werden. Es ist für sich alleine gesehen schon keine geringe Leistung, dass diese Erwartungen erfüllt wurden. „Ys“ ist der Name einer Stadt in der Bretagne, deren Reichtum so legendär war, wie die Schönheit ihrer Königstochter, und die dann vom Ozean verschlungen wurde – und unter solch bedeutsamen Mythen macht Joanna Newsom es auch nicht. Aber die Texte behandeln nicht einfach nur Märchenhaftes, sie schicken den Hörer natürlich in Phantasiewelten, kehren dann aber erfreulicherweise doch immer wieder auf die Erde zurück, lassen Spielraum für Imagination und Interpretation (was man ihnen auch vorwerfen mag...) und sind vielleicht auch einfach nur vokaler Hintergrund, der sich einem klaren Konzept unterwerfen soll. Das Album ist ein Gesamtkunstwerk, das durch seine Individualität besticht. Und wer sich auf den Reiz der Stimme von Joanna Newsom und ihr klassisches Harfenspiel einlässt, das so delikat von Van Dyke Parks Orchestrierungen untermalt wird, der kann die Klasse von Ys nicht mehr leugnen. Natürlich ist die musikalische Ausführung superb, Alles wird bis ins Detail ausgeschmückt - das Cover des Albums ist nicht nur in dieser Hinsicht bezeichnend - „Only Skin“ mit seine fast 17 Minuten Dauer mag manchem zuviel sein, das ganze Album ist sehr barock, mit seinen Varianten und Veränderungen in der Textur, mit seinen ruhigen und dann wieder voluminösen Passagen, das Songwriting ist versponnen – aber wer hätte unter solchen Voraussetzungen etwas anderes erwartet ? Der 12- minütige Eröffnungstrack „Emily“ mit dem fast erschreckend abrupten Vocal-Einsatz ihrer Stimme und mit Texten, die zwischen Fantasiebildern und Konkretem wechseln ist bezeichnend für das ganze Album: "That the meteorite is a source of the light, and the meteor's just what we see... You came and laid a cold compress upon the mess I'm in. Threw the windows wide and cried, 'Amen, Amen, Amen...'" Tatsache ist, es ist eines diese unerklärlichen Alben in der Tradition etwa von Van Morrison's Astral Weeks oder Robert Wyatts Rock Bottom - Ausdruck purer Individualität und nur in seiner Ganzheit verständlich. Kein Wunder, dass es in fast allen Publikationen abgefeiert wurde. Es ist ein Meisterwerk im klassischen Sinne.

Amy Winehouse

Back To Black


(Island, 2006)

Ob Musik einen künstlerischen Anspruch erfüllen kann, und zugleich kommerziell extrem erfolgreich sein kann? Es gibt etliche Beispiele dafür, und mich hat solch ein Erfolg dann immer eher gefreut, als Zweifel an so etwas diffusem wie „Glaubwürdigkeit" zu erwecken. In den 00er Jahren war das zweite Album der Soul-Sängerin Amy Winehouse eines dieser kommerziell erfolgreichen Exemplare mit großen Qualitäten. Back to Black ist einerseits altmodisch – mit einem Vintage-Sound, mit einer Soul-Stimme, die sich an Vorbilder aus den 60ern, an altem Reggae/Ska und am Sound der Girl-Groups der Mitt-Sechziger orientiert - und die Hochleistungs-R&B-Sängerinnen der 80er und 90er komplett ignoriert. Ein Album mit Songs, die so sehr nach altem Soul/Ska/Rhythm 'n Blues klingen, dass man vermuten möchte, sie entstammen den Federn altvorderer Songwriter – was man allein schon als Kunststück bezeichnen könnte. Zumal die Vermischung der Einflüsse so mühelos gelingt und in so hitparadentauglicher Form ausgeführt wird, dass gar nicht auffällt, dass hier bislang disparate Elemente in eine ganz neue Form gegossen werden. Und all das funktioniert vor Allem, weil Amy Winehouse's Stimme mit einer unglaublichen Mühelosigkeit alle erforderlichen Emotionen aufruft, ohne technisch zu klingen und so an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Die Hitsingle „Rehab“ war wirklich nicht erst im Nachhinein nachvollziehbar, die Frau, die sich bei „Love Is a Loosing Game“ selber aufgibt, konnte man sich auch vor Bekanntwerden von Amy's katastrophaler Beziehung zu ihrem zeitweisen Ehemann/Drogenlieferanten vorstellen. Und die Stärke und Coolness, die sie bei „Tears Dry on Their Own“ besang, hätte man ihr im Nachhinein gewünscht – 2006 dachte man noch, sie stünde vor einer großen Karriere. Back to Black ist ein Album mit fantastischen Songs, postmodern und geschmackvoll, stylish, voller Versprechen auf Mehr - und der jahrelange Niedergang der so entsetzlich öffentlichen Person Amy Winehouse ändert nicht das Geringste an seiner Qualität. Sie starb dann zuletzt zu Niemandes Überraschung im Jahr 2011 ohne die Versprechen einlösen zu können. Um zu erkennen wie traurig das ist, muss man nur noch einmal zuhören... und noch einmal... und noch einmal...

Burial

s/t


(Hyperdub, 2006)

Was elektronische Musik leisten kann ? In den 00er Jahren kann sie schon lange die gleichen emotionalen Extreme anrühren, die früher nur mit Hilfe von Stimme und Gitarre erreicht wurden. Dabei haben Dubstep oder dessen Weiterentwicklung Future Garage ihre Wurzeln im Techno, in Musik mithin, die ausdrücklich Emotionen aussparen will. Und Burial (das Alias, hinter dem sich der Brite William Emmanuel Bevan verbirgt) hat auch – entgegen dem Prinzip der meisten elektronischen Musik – seinen völlig eigenen Stil – ob soundmäßig, oder ob bezüglich seiner Corporate Identity incl. sich gleichenden Sleeves etlicher formidabler EP's. Das erste „Album“ - nach einer wundervollen EP titels South London Boroughs aus 2005 – ist der düstere Soundtrack zu einer Fahrt durch die kalten Industrie-Vororte und die Slums einer dystopischen London. Vocals werden nur noch als kurze Cut-Up Samples eingesetzt, Sirenen, Regentropfen, dazu bass-schwere, gedubbte Sounds, die sich in den Magen graben. Darüber gehetzte Rhythmen, Melodiefragmente, die dem Album gerade genug Zugänglichkeit heben, dass man nicht verzweifelt, Wie ein einzelner Mensch so viele Ideen, so viele Sounds zu einem kohärenten Ganzen verbinden kann, ohne einmal den Faden zu verlieren, bleibt mir ein Rätsel. Bevan/Burial muss wohl ein Genie sein. Und es gibt auch echte Schönheit - „Forgive“ zum Beispiel ist fast schmerzhaft schön – erinnert in seinem Minimalismus an Eno und besten TripHop zugleich. Burial ist zweifellos ein Meilenstein, der aber nur erster (bzw. zweiter) Schritt auf einem langen Weg – siehe Untrue im folgenden Jahr etc pp... Kein Wunder, dass das schlaue Wire Magazin dieses Album als bestes 2006 auswählte.

The Knife

Silent Shout


(Rabid/V2, 2006)

The Knife direkt nach Burial – das ist mitnichten zu viel elektronische Musik. Zum Einen besteht im neuen Jahrtausend ein großer Teil der interessanten Musik aus elektronisch erzeugten Klängen – was zum Zweiten darauf hinweist, wie breit das Spektrum dieser Klänge ist. Die schwedischen Geschwister Karin Dreijer Andersson und Olof Dreijer machten schon seit 1999 zusammen Musik – Synth-Pop, wenn man es so einfach bezeichnen will. So lange mithin, dass sie 2006 schon aus einem reichen Fundus aus selbst entwickelten Sounds schöpfen können – einen eigenen Stil entwickelt haben, der – siehe Burial – auf seltsame Weise hoch emotionale und zugleich kalte Musik entstehen lässt. Sie sind Herren ihres eigenen Labels – Rabid – haben eine gewisse Reputation, die sich mit Silent Shout massiv vergrößert und sie können „Songs“ schreiben: Da ist zum Beispiel „Like a Pen“ - eine 80er Synth-Pop Ode ins neue Jahrtausend gebeamt, da ist das hüpfende Titelstück, modernistisch und zeitlos zugleich, da ist „We Share Our Mothers Health“, klinisch und lebendig - und das sind nur die drei Singles. Da sind Album-Tracks wie das seltsam beruhigende „From Off to On“ in all seiner minimalistischen Schönheit oder „Forest Families“ mit perfekten Vocals von Karin Dreijer – ein Vorgriff auf ihr Fever Ray Album. The Knife machen Pop-Musik, sie versuchen nicht gewollt intellektuell zu klingen, Silent Shout ist nicht bewusst Avantgarde – und weil das Album so ungewöhnlich klingt, ist es natürlich in hohem Maße avantgardistisch – obwohl die Sounds durchaus auch nach Synth Pop aus den 80ern klingt. Und damit nehmen sie schon die Musik des kommenden Jahrzehnts vorweg. Kein Wunder also, dass Silent Shout von allen Wissenden abgefeiert wurde.

Liars

Drum's Not Dead


(Mute, 2006)

Die Liars: Ein New Yorker Avantgarde-Trio, das mit seinem Debut scheinbar auf der Post-Post-Punk Welle der frühen 00er Jahre mitschwamm, den Part von Gang of Four übernahm, aber beim zweiten Album einen überraschenden Schritt Richtung tribalistischer Hexen-Mythen machte und nun – nach Berlin ging, um in den alten Ost-Berliner Planet Roc Studios ihr drittes Album Drum's Not Dead aufzunehmen. Auch dieses Album hat ein Konzept, das aber etwas rätselhaft ist. Laut Wikipedia sind „Drum“ und „Mount Heart Attack“ zwei fiktionale Charaktere die sich wie Yin und Yang gegenüberstehen, Drum ist die Kreativität, Mount Heart Attack die Destruktion... irgendwie ist es egal, denn die Musik die dabei herauskommt - zugleich elektronisch, symphonisch und von bis ins Mark gehenden Rhythmen angetrieben - entschädigt für den schwer verständlichen Hintergrund. Bei den Aufnahmen im ehemaligen Ost-Studio wurden die verschiedenen Räume und ihre jeweils spezielle Akustik genutzt, um für jeden Song eine eigene Atmosphären zu schaffen und die Songs sind extrem rhythmisch – ja, der Rhythmus - „Drum“ eben – ist das prägende Element. Dazu kommen verzerrte Gitarren, Angus Andrews unirdischer Falsett-Gesang, Drones und immer wieder Tribal-Rhythmen – alles Elemente, die man natürlich mal hier mal dort gehört haben mag, die aber so zusammengesetzt sind, dass sie ein völlig neues, unterschwellig bedrohliches Ganzes bilden. Der Opener „Be Quiet, Mr. Heart Attack“ wird von vielen als bester Song der Liars bezeichnet, für mich steht das komplette Album als Manifest wie ein großer Felsklotz in der musikalischen Landschaft. Um es zu beschreiben, will ich mal vergleichen: Radiohead ohne Prätention, Sonic Youth im neuen Jahrtausend, Gang of Four aus dem Urwald... und all das trifft es nicht genau. Man höre einfach den Drone bei „Hold You, Drum“, man beachte, wie perfekt der Closer „The Other Side of Mr. Heart Attack“ klingt... Es ist ein schwieriges, aber ein lohnendes Album. Lustiges Faktum am Rande: Das vorherige, zweite Album der New Yorker Liars - They Were Wrong, So We Drowned – erhielt 2004 sehr gemischte Reaktionen - aber nach diesem Meisterwerk wurde es offenbar auf einmal verstanden.

J Dilla

Donuts


(Stones Throw, 2006)

J Dilla, Jay Dee, James Yancey, in seiner kurzen Karriere arbeitete dieser Produzent unter verschiedenen Namen, den Moniker Jay Dee änderte er zuletzt in J Dilla, um Verwechslungen auszuschließen. Egal, er war jedenfalls einer der einflussreichsten HipHop Produzenten, die Liste seiner „Klienten“ liest sich wie ein Who's Who des Neo Soul/HipHop: Erykah Badu, Roots, D'Angelo, Common, Pharcyde, DeLa Soul, A Tribe Called Quest, Madlib etc pp... und er war vor Allem Innovator. Donuts nahm der vier Jahre zuvor mit dem Moschcowitz-Syndrom – einer seltenen Bluterkrankung - diagnostizierte J Dilla hauptsächlich im Krankenhaus mit einem Boss SP 303 Sampler und einem kleinen Plattenspieler auf. Es ist ein Instrumental-Album mit 31 Tracks, die eine beeindruckende Show seiner Fähigkeiten darstellen, das aus den diversesten Sounds und Tonschnipseln etwas komplett Eigenes und vor Allem Neues zusammensetzt. Es gibt Samples von Old School R&B, Soul, Zappa, Kool & the Gang, Supremes, Temptations etc, und er lässt diese Samples sich überlagern, verfremdet sie, verlangsamt, legt Beats darüber, erschafft wie ein Free- Jazz Musiker Schichten aus Sounds und macht dadurch etwas bis dahin unerhörtes Neues. Das Album ist wegen seiner Dichte an Ideen anstrengend, es ist tatsächlich so, als würde man einem extrem talentierten DJ dabei zuhören, wie er die von ihm geliebte Musik auf einem einzigen Album zusammenfasst. Und letztlich ist Donuts ja auch genau das. Dass er 31 Tracks von maximal 90 Sekunden Laufzeit zusammenstellte, und dass er selber gerade mal 31 Jahre alt wurde, dürfte geplant gewesen sein. Ihm war wohl klar, dass er bald sterben würde - und drei Tage nach dem Release des Albums starb Yancey tatsächlich. Donuts wurde zum Vermächtnis, das von etlichen Künstlern zitiert – und auch benutzt – wurde. Das wiederum war gewiss auch in seinem Sinne.

Brand New

The Devil and God Are Raging Inside Me


(Interscope, 2006)

Achtung ! Jetzt kommt Emo - und das heißt, der Sänger jammert, er fühlt sich von Allen missverstanden, denkt an Selbstmord, trägt vermutlich meist Schwarz und hat die Haare vor'm Gesicht – soviel zum Klischee, das sich zunächst aufdrängt (zumindest seinerzeit), wenn man sich The Devil and God... erstmals anhört. Aber dieses Album ist kaum im Emotional Hardcore verwurzelt, die Vorbilder heißen eher R.E.M. oder Modest Mouse - und man beachte: Tiefe Emotionen waren immer Voraussetzung für großer Musik. Dass es zu dieser Zeit – Mitte der 00er Jahre – eine Welle von Bands gab, die Indie-Rock mit desperaten Lyrics machten, die mit einem Image auftraten, das Elemente aus Gothic, New Romatic und vielleicht auch ein bisschen Hardcore verbanden – und dass dabei unter genau diesem Etikett Bands wie Fall Out Boy bei einem sehr jungen Publikum Erfolg hatten, hat dazu geführt, dass eine ganze Stilrichtung diskreditiert wurde (Dabei haben im Pop doch immer die jungen Leute verstanden...?). Aber vielleicht kann man mit einem gewissen zeitlichen Abstand eine Band wie Brand New nun mit offeneren Ohren hören. Sänger/ Gitarrist und Songwriter Jesse Lacey jedenfalls weiss genug über kluges Songwriting, über Dynamik und Spannungsbögen, um Songs zu schreiben, die zeitlos im besten Sinne des Wortes sind. Schon das vorherige Album Deja Entendu (2003) war beachtlich gewesen, The Devil... ist nahezu perfekt. Dass die Musiker zur Zeit der Aufnahmen vom Tod von Familienmitgliedern und Freunden regelrecht verfolgt wurden, dass Lacey eine Jugend in einem streng religiösen Elternhaus hinter sich hatte – all das spiegelt sich in den Texten wieder und mag Grund für diese simple Zuordnung sein. So behandelt „Limousine“ den Tod einer 7-jährigen aus der Heimatstadt Lacey's , die bei einem Autounfall ums Leben kam. Lacey beschreibt den Unfall aus verschiedenen Perspektiven. Der Albumtitel bezieht sich auf den an einer bipolaren Störung leidenden Musiker Daniel Johnston, Der Titel des besten Songs des Album lautet „Jesus“, ein um eine simple Gitarrenfigur aufgebaute theatralische Tour De Force mit einem der besten Outro's der Rock-Historie. Ja, Theatralik spielt in der Musik von Brand New eine tragende Rolle, das haben sie mit Bowie, Queen, Roxy Music und Metal gemeinsam. Es ist die perfekte Mischung aus tiefsten Emotionen (um das Wort nochmal zu benutzen) und durchdachten Songs und es ist letztlich kaum verwunderlich, dass The Devil... auch zu dieser Zeit und trotz stilistischer Uncoolness - von etlichen Independent-Medien abgefeiert wurde. Dass die Band wenig Erfolg hatte, liegt an ihrer Weigerung, bei den üblichen Publicity-Ritualen (Video's. Interviews etc) mitzumachen. Wer wirklich wissen will, wie Emo in Gut klingt, sollte hier zuhören, und wer Emo nicht mag: The Devil and God Are Raging Inside Me IST gar kein „Emo“, sondern Hardcore und noch viel mehr.

Scott Walker

The Drift


(4AD, 2006)

Künstler wie Scott Walker veröffentlichen nicht in regelmäßig Platten – sie „äußern“ sich in Abständen. Walker hatte seit dem letzten Album – Tilt - elf Jahre vergehen lassen, machte nun mit The Drift in dreißig Jahren gerade mal sein drittes Album, aber dafür kann man ja dankbar sein. Dass er sich vom kommerziellen Musikbetrieb verabschiedet hatte, war schon seit dem '84er Album Climate of Hunter klar und dass es bei seiner Vorstellung von Musik schwierig sein würde, eine veröffentlichungswillige Plattenfirma zu finden ist sicher auch EIN Grund für den Zeitverzug. Aber Scott Walker macht es ja auch niemandem leicht. Wer will, kann The Drift durchaus auch der Kategorie „Kunstkacke“ zurechnen. Auf jeden Fall ist es harter Stoff, es geht um politische Verbrechen in Europa und den USA, da wird bei „Clara“ die Hinrichtung des nationalsozialistischen Diktators Mussolini und seiner Geliebten Clara Petacci behandelt und dazu ganz passend ein Stück Schweinefleisch mit dem Baseballschläger bearbeitet, da erklingen String-Arrangements, die an Angelo Badalamenti und David Lynch erinnern, Gitarren klingen - wenn eingesetzt – nach Sludge und Swans. Drift ist definitiv keine Rockmusik, das Instrumentarium wird im Sinne Neuer Musik oder meinetwegen Avantgarde eingesetzt... „Jesse“ zitiert Elvis' „Jailhouse Rock“´, aber Walker beschreibt den Song als seinen Kommentar zu 9/11 und benutzt dabei das Motiv des totgeborenen Zwillingsbruders der amerikanischen Ikone. Und dann ist da "Cue," die epische, 10-minütige Studie über eine sich ausbreitende Pandemie, mit dem Klang von Holzkisten, aus denen etwas ausbrechen will, mit kreischenden Violinen und unmenschlichen Stimmen – ein Song wie der Abstieg in Dantes' Hölle. Ja, The Drift ist nicht düster, es ist vielmehr unheimlich und auch ein bisschen prätentiös, aber das ist gewollt und genau so auch richtig. Walker's Bariton klingt kaum noch so, wie er mit den Walker Brothers oder auf seinen gloriosen, existenzialistischen Pop-Alben Scott 1 bis 4 der Jahre vor 1970 geklungen hat – aber dennoch kreist die Musik um seine Stimme – man höre nur den mit akustischen Gitarren versehenen Closer „A Lover Loves“, der sogar ein gewisses Maß an Humor verrät, wenn zwischen den Verses ein sanftes „pssst, pssst, pssst“ erklingt. Walker ist einer der Musiker, die nur die Musik machen, die sie wollen, und die bei dem was sie tun nur nach sich selbst klingen. Ulkigerweise erreichte das Album dank guter Kritiken und der Mithilfe des ehrenwerten 4AD Labels tatsächlich Rang 51 in den britischen Charts. Na also, es geht doch...

Wolves in the Throne Room

Diadem of 12 Stars


(Vendlus, 2006)

Ab hier gab es im Black Metal die Option, etwas Anderes zu machen als die barbarischen Black Metal Acts Skandinaviens oder gar die dumpfem NSBM Bands der USA. Wolves in the Throne Room waren drei Musiker, die ohne „Corpse Paint“ und die sonst im BM üblichen Pseudonyme a la „Necroslaughterer“ oder dgl. auskamen. Nathan und Aaron Weaver und Rick Dahlin sagen selber, sie spielen Black Metal, der die Energie ihrer Heimat, der Landschaft der Pazifik-Küste des Nordwestens der USA widerspiegelt. Sie nennen als Einflüsse Old School Black Metal wie Burzum, Bands wie die Amerikaner Weakling und die Sludge-Hardcore Pioniere Neurosis, aber auch Folkmusik und Elektronik Pioniere wie die Krautrock Band Popol Vuh. Auf ihrem fantastischen (regulären - da gibt's natürlich noch Demo's etc) Debüt Diadem of 12 Stars kann man sich trefflich auf die Suche nach all diesen Einflüssen machen, und manchmal wird man sogar fündig. Black Metal ist sicher ein hermetisches Genres, bei dem für den Nicht-Initiierten so ziemlich alles gleich klingt – Songs und Texte verschwinden hinter Wällen aus Noise, der Gesang wird herausgekreischt, die Geschwindigkeit ist so hoch, dass die Musik vorbeizurasen scheint, und all das prägt auch Diadem of 12 Stars – aber den drei Musikern gelang es auf vier überlangen Stücken dennoch, erstaunlich differenziert zu klingen. Schon der Opener „Queen of the Borrowed Light“ hat nicht nur ein paar famose Riffs, es gibt auch überraschende Tempowechsel, irgendwo im Mix erklingen sogar klare Gesänge, zugleich bläst der Song die Ohren frei. „Face in a Night Time Mirror (Part 1)“ wird von einer klaren und wunderbar unkitschigen Folk Passage unterbrochen, gesungen - nicht gekreischt - von Jamie Myers von der Progressive-Metal Band Hammers of Misfortune (man beachte deren diesjähriges Album The Locust Years), es gibt Passagen, die an Post-Rock erinnern, aber bei denen gelingt es der Band, nicht in allzu formalistische Posen zu verfallen, ihre Basis ist und bleibt eindeutig Black Metal mit rasantem Tremolo Picking und höllischem Tempo. Irgendwie gelang es der Band unterschiedlichste Einflüsse organisch und glaubwürdig in ihren Black Metal einzufügen, dabei nicht den Faden zu verlieren und die Einflüsse ihrer kompromisslosen Musik unterzuordnen – wodurch die vier Stücke überraschend abwechslungsreich werden. Das finale, über 20-minütige Titelstück mit Neurosis-artigem Beginn und völlig ausgerastetem Ende ist dann Katharsis und Höhepunkt, Diadem of 12 Stars ist eines der ersten Alben, das Black Metal vom Stigma des elitären Underground befreite. Noch im selben Jahr kamen die Wolves beim Qualitäts-Label Southern Lord unter.

Natural Snow Buildings

The Dance of the Moon and the Sun


(Digitalis, 2006)

Und hier wieder eines der Alben, das kaum einer kennen mag, das ich selber aber für überragend halte. Nerd Kram ? Vielleicht. Erstmal die Kurzfassung: Dies ist eine massive, zweieinhalbstündig ausufernde Song-, Mantra- und Drone-Kollektion, die vom Transzendentalen bis zum Betäubenden reicht, ohne dabei an versponnener Pracht zu verlieren... Aber ich will das gerne besser erklären: Natural Snow Buildings sind die beiden Franzosen Mehdi Ameziane und Solange Gularte, die sich als Studenten in Paris in der Bibliothek kennenlernten, in diversen Bands zusammenspielten ehe sie dann zusammenzuleben und gemeinsam eine ganz seltsame Form der Musik zu kreieren begannen. So weit, so banal. Ihr x-tes Album The Dance of the Moon and the Sun ist natürlich – siehe oben – extrem lang, es handelt sich um 25 Tracks, vier davon teils weit über 10 Minuten lang, und man bemerkt schnell, dass hier so gut wie Alles improvisiert ist, dass den Klängen hinterhergespielt wird, dass der Kosmos, aus dem Songs wie „ Rain Serenade“ oder „All Animals in the Form of Water“ ein schamanistischer sein muß. Zugleich haben die Beiden einen Hang zum Horror (Einer der Songs heißt „John Carpenter“) und bei Ihnen ist definitiv nicht alles nur Blümchen und Schmetterlinge. Trance und Raga rutschen in Albtraum und Verzerrung, schon das erste Stück „Carved Heart“ stellt den Hörer auf eine lange Reise in einen mal folkig-schönen, mal elektronisch verzerrten Klangkosmos ein. Hand-Drums und Finger Cymbals bauen ein Rhythmusgerüst, und unter Allem liegt ein Drone, der immer wieder bedrohlich anschwillt. Über die ganze Länge von The Dance of the Moon and the Sun gelingt es den beiden Musikern die Balance zu halten zwischen hinwegdriften und mal sanft, mal heftiger aufwachen. Das wird - wenn man sich traut zuzuhören - nicht langweilig, sogar eher spannender. Es gibt keine „Songs“ die man herausheben möchte. Der beste lange Song mag der erste sein: „Cut Joint Sinews and Divine Reincarnation“. Manche der kürzeren Songs wie „Away, My Ghosts“ oder „The Cursed Bell“ sind erholsame Ausflüge ins Folkidiom, klingen aber bewusst so, als kämen sie aus einem fernen Autoradio – oder aus einer Welt, aus der man sich soeben verabschiedet hat. Noch eins, ehe du nach der CD suchst: NSB lassen alle Releases immer nur in skandalösen Mini-Stückzahlen veröffentlichen. Man kann ihre Alben (insbesondere Dieses) nur irgendwo downloaden. BaDaBing Records hat ein paar ihrer Alben wiederveröffentlicht, dieses soll vielleicht folgen, Ich empfehle einen Probelauf auf Youtube und bei entsprechender Neugier eine intensive Suche oder Abwarten. Ich finde, es lohnt sich.







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