Donnerstag, 13. Oktober 2016

2003 - Der Golfkrieg und die Vogelgrippe und ein Hitzerekord in Deutschland - White Stripes bis Pelt

Dies ist das Jahr, in dem der durch gezielte Fehlinformationen der amerikanischen Regierung forcierte dritte Golfkrieg beginnt – gegen intensive Proteste auch in der westlichen Welt. Er endet auch sehr schnell mit dem Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein, ist aber dennoch für die Rüstungsindustrie eine Investition in die Zukunft, denn nun ist die Golfregion völlig destabilisiert und in der Konsequenz finden in verschiedenen Ländern schon mal etliche islamistisch motivierte Attentate statt. Die Raumfähre Columbia verglüht beim Eintritt in die Erdatmosphäre, alle Bestzungsmitglieder sterben, die Infektionskrankheit SARS – auch als Vogelgrippe bekannt - wird zur Pandemie und insbesondere in den westlichen Ländern wollen ein paar Wochen lang nur noch wenige Menschen Chicken McNuggets essen. In Deutschland wird im Sommer mit 40,3 Grad ein Temperaturrekord aufgestellt, die Klimaveränderungen lassen sich zwar nicht mehr leugnen, aber Politik und Wirtschaft sind nach wie vor nicht bereit die Umweltpolitik den Notwendigkeiten anzupassen. 2003 ist das Jahr, in dem Johnny Cash nur vier Monate nach dem Tode seiner Frau June Carter Cash stirbt. Auch Soul/ Jazz Sängerin Nina Simone stirbt. Musikalisch geschieht wenig weltbewegendes in diesem Jahr. Es gibt natürlich wieder einige sehr gute Alben, die White Sripes zum Beispiel sind sowohl künstlerisch als auch kommerziell erfolgreich, Musik von Zwei-Personen Bands könnte so etwas wie ein kleiner Hype sein, die zu Allem fähigen Kayo Dot machen eines der besten Alben des Jahres und bleiben außer in Insider-Kreisen völlig unbekannt, Radiohead wandern weiter den Weg zwischen Anspruch und Erfolg entlang, Black- und Death Metal dreht sich im Kreise, mit den Bangles und den Go-Betweens sind zwei schöne 80er Bands wieder aktiv – und machen gute Alben – wie man überhaupt erkennen kann, dass aus Altem oft erfreuliches Neues entsteht, siehe Kings of Leon mit ihre Holzfäller-Version des „The-Band/Post-Punk“, aber die wirklich guten Alben bleiben meist im Untergrund. Das Animal Collective hat seine eklektizistische Arbeit zwischen Folk, Elektronik und Psychedelik aufgenommen und wird nun mit seiner Form der modernisierten Folk-Musik wahrgenommen, genauso wie Sufjan Stevens' Spieldosen-Kammer-Folk. Nach vielen schönen Perlen dieses Jahres muß man etwas tiefer tauchen – und auf der verschmutzten Oberfläche schwimmen Leichtgewichte wie Hinternwacklerin Shakira, die Pathos-Goth-Rocker Evanescence, die es auch Versicherungsangestellten ermöglichen „Metal“ zu sagen oder die allzu nette Dido. Aber da ist auch Norah Jones mit immerhin geschmackvollem Capuccino Jazz. Kommerzieller Erfolg KANN auch mit Verstand und Geschmack erzielt werden

The White Stripes

Elephant


(V2, 2003)

Den Garagenrock, den die White Stripes nun seit ca. fünf Jahren spielten, hatten Musiker wie PJ Harvey – in anderer Form beispielsweise auf den 4-Track Demos – irgendwie ja schon zehn Jahre zuvor auf die Spitze getrieben. Aber Jack White hatte in den langen Jahren zuvor - und übrigens auch gegen alle Trends - eine eigene, von Blues und traditionellem Rock geprägte Version dieser Spielart der Rockmusik inklusive einer bestechenden Corporate Identity auf den Weg gebracht. Dazu hatte er nie einen Hehl aus seinem sowohl sympathischen wie auch konsequenten Traditionalismus gemacht. Also erschien das endgültige Durchbruchsalbum der White Stripes NACH dem kommerziellen Erfolg von White Blood Cells gegen alle digitalen Vorgaben zunächst auch ganz Old School als Doppel-Vinyl, und so war die Musik - seit dem Debüt unverändert – wieder reduzierter Garagen Blues samt Led Zeppelin Gitarrensoli und völlig überzogener Rock-Posen. Das Schöne und Besondere an Elephant sind zweifellos die unverschämt eingängigen Songs, die man ob der Credibility der beiden Musiker sogar als Hipster gut finden darf. Elephant war einfach noch härter und vielseitiger als der Vorgänger und hatte mit dem apokalyptischen Marsch „Seven Nation Army“; dem Stop-Start Kracher „The Hardest Button to Button“ oder dem berserkerhaften Blues-Punk von „Girl, You Have No Faith in Medicine“ einige kommende Indie-Klassiker im Programm. Und dann coverten sie auch noch Burt Bacharachs „I Just Don't know What to do with Myself“ ganz famos, spielten echten 70er Jahre Bluesrock bei „Ball and Biscuit“ und beendeten das Album wie so oft absurd fröhlich mit „It's True That We Love One Another“, einem Song zu dem sowohl Holly Golightly als auch Meg White Gesang beisteuern..

Kayo Dot

Choirs of the Eye


(Tzadik, 2003)

Den Metal-Anteil (für den Moment und nur ein bisschen) aus der Gleichung entfernend, nannte der Ex Maudlin of the Well Leader und Musician Extraordinaire Toby Driver sein neues Projekt nun Kayo Dot. Letztlich sollte der Unterschied zwischen beiden Projekten allerdings eher akademisch bleiben und die Musik sich nur als Weiterentwicklung des progressiven Wir-Können-Alles-Spielen Mixes entpuppen. Driver's neues Baby Kayo Dot bestand von Anfang an schon mal aus drei Gitarristen, Drums, Bass, Violine und Trompeter. John Zorn's Tzadik Label war zweifellos ein passendes Zuhause für die Fusion aus Death-Metal, Post-Rock, Jazz und Klassik auf dem Debüt Choirs of the Eye. Die technischen Fähigkeiten der Musiker waren natürlich über jeden Zweifel erhaben. Das ging so weit, dass man manchmal unangenehm an solch prätentiösen Acts wie Dream Theater - in intelligenterer und bescheidenerer Form immerhin - erinnert wurde. Drivers Vocals reichen von Jeff Buckley-esquen Tönen bis zu extremen Grindcore-Growls, und die Musik ist in ihren extremsten Momenten - eben extremer – Metal. Aber es gibt zur Erholung immer wieder kammermusikalisch ausgeführte Passagen, oder auch Post-Rock, oder freien Jazz - was wiederum die Band so geeignet für das Free-Jazz/Noise-Rock Label Tzadik macht. Der allergrößte Verdienst aber ist, dass dieser Stil-mischmasch in keiner Weise gezwungen klingt. Toby Driver ist zweifellos einer der Musiker, die Stilmittel ihren Bedürfnissen anpassen können, ohne sich ihren Limitierungen unterwerfen zu müssen - die Vermischung von Kammermusik mit Thrash Metal klingt daher nie gezwungen, sondern organisch. Die fünf Songs sind - zumindest solange man sie hört - einfach beeindruckend, insbesondere das 15-minütige „The Manifold Curiosity“ klingt mit seinen Stil-Sprüngen wie nichts zuvor und dennoch organischen. Allerdings ist man nach dem Anhören dieses Albums seltsamerweise nicht unbedingt versucht, es direkt erneut aufzulegen. Es kann anstrengend werden, hört sich an, wie eine Leistungsschau, die ein bisschen ZU wenig menschliche Makel hat. Manchmal ist diese Musik ein bisschen zuviel von Allem...

Radiohead

Hail to the Thief


(Parlophone, 2003)

Und schon wieder tauchen Radiohead hier auf. Nicht unbedingt weil dieses – ihr sechstes - Album so großartig wäre, sondern weil sie spätestens seit dem 97er OK Computer beständig neugierig und innovativ waren und in der Weiterentwicklung der Popmusik eine tragende Rolle gespielt haben. Dadurch sind sie so etwas wie die Beatles ihrer Generation geworden, die ja zweifellos (... das muss man einfach anerkennen, selbst wenn man die Beatles nicht mag...) über einen langen Zeitraum immer wieder neue Facetten der (Pop) Musik ausgeleuchtet hatten. Oder ganz einfach ausgedrückt: Radiohead-Alben sind wichtig – selbst wenn sie, wie Hail to the Thief „nur“ einen Zwischenschritt darstellen. Aber letztlich waren bisher alle Alben der Band Zwischenschritte - und zugleich definitive Momente in der Entwicklung der postmodernen Popkultur. Hail to the Thief vereint die Ideen der drei vorherigen Alben. Es hat einiges von den Weitwinkel-Panorama Songs von OK Computer – siehe „Sail to the Moon“, es hat die nervöse Elektronik von Kid A und Amnesiac, die den Song bestimmt, ihm aber seine Qualität nicht nimmt – siehe den Opener „2 + 2 = 5“ oder „Backdrifts“. Aber Radiohead wären nicht Radiohead, wenn sie dem Ganzen nicht noch eine weitere Facette hinzufügten. Hier sind es mitunter fast tanzbare Grooves, es ist Thom Yorke's Art seine Stimme einzusetzen, die sich immer weiter entwickelt, wenn er beim Closer „A Wolf at the Door“ den ersten gemurmelten Verse fast rappt, wenn er dann aber wieder im Chorus an OK Computer-Zeiten anknüpft. Hail to the Thief mag nicht den Effekt gehabt haben, den vorherige Alben hatten – es erfordert ein zweites und drittes Anhören, die Songs brauchen mehr Zeit, um zu wachsen. Aber zum Einen können Radiohead sich das inzwischen künstlerisch und materiell leisten, und zum anderen haben sie sich vermutlich bewusst via Experiment und Verweigerung von den Charts verabschiedet. Hail to the Thief mag also auf den ersten Blick in der zweiten Reihe stehen, aber eigentlich steht bei dieser Band Nichts in der zweiten Reihe.

M83

Dead Cities, Red Seas & Lost Ghosts


(Mute, 2003)

Und nun zum Thema „Old is the new New“. Zwölf Jahre nach Loveless und Shoegaze war eine Wand aus Distortion und schönem Gitarrendröhnen nicht mehr so beeindruckend oder gar revolutionär wie 1991. Während zahllose Bands mehr oder weniger erfolgreich versucht hatten, My Bloody Valentine's Ästhetik zu kopieren, brachen die beiden Franzosen Nicolas Fromageau und Anthony Gonzalez alias M83 diese Ästhetik im neuen Jahrtausend bis auf die Grundmauern nieder und rekonstruierten sie dann mit Synthesizern und billigen Drum-Computern. Heraus kam mit ihrem zweiten Album eines der schönsten des Jahres 2003. Statt sich um Soundnuancen zu scheren, legten sie Wert auf organisches Songwriting, das sich ganz wunderbar mit den anorganischen Sounds verband. Man mag manchmal an Jean Michel Jarre denken - oder an Air, wenn man's moderner will - aber im Gegensatz zu diesen gibt es auf Dead Cities, Red Seas & Lost Ghosts weniger französische Leichtigkeit als eher Songmonolithen - von beeindruckender Schönheit, aber "schwerer" - meinetwegen mit mehr Tiefe. Es ist eines dieser Alben, deren Reiz sich schwer in Worte fassen läßt, weil es um eine Atmosphäre geht, die man eher empfindet als hört. Songs wie das hymnische "In Church" oder das weit aggressivere "America" sind mehr als nur MBV mit Synthesizer statt Gitarre. Anders ausgedrückt: M83 nehmen die Erkenntnisse von Brian Eno und übersetzen sie in weniger subtile, dafür kraftvollere Musik. Sag meinetwegen Shoegaze mit Synthesizer oder Post-Rock dazu, das beschreibt zumindest den Sound, aber noch lange nicht die Wirkung.

Boris

Akuma no Uta


(Diwphalanx, 2003)



Boris

At Last – Feedbacker


(Diwphalanx, 2003)

Egal welches Stück auf Boris' Akuma No Uta man sich anhört, immer wird man an eine andere Band erinnert: Earth, Motörhead, Stooges, Melvins, Fushitsusha (... wer obskure japanische Psychedelik-Bands kennt...). Aber wenn das Album dann als Ganzes überstanden ist, wird klar - es gibt nur eine Band, der das gelingt, und die dabei zugleich charakteristisch klingt: Die japanische Band Boris – die sich nach einem Song der Melvins benannt hat (einem Drone-Monster von deren formidablem Album Lysol). Eigentlich hatte man das Trio als japanische Entsprechung zu den Drone-Priestern SunnO))) auf dem Schirm, und natürlich sind sie denen nah – nicht nur insofern als ihre Alben bald (2005) für die westliche Welt auch auf Southern Lord veröffentlicht wurde, sondern weil sie mitunter auch wie SunnO)) klingen und bald auch mit ihnen ein gemeinsames Album machen. Der Unterschied ist, dass Boris immer auch Songs schreiben, selbst wenn diese sich so langsam voran schieben wie ein Gletscher (man höre die über neun-minütige „Introduction“). Dass Boris mit dem Coverdesign Nick Drake zitieren, hat wenig mit dessen introvertiertem Folk zu tun, Akuma No Uta brennt eher die Stille weg. Wie bei so mancher anderen japanischen Noise Band ist der Klang der Gitarren hier so überzogen, so massiv, dass wir das mit unserem Verständnis von Rockmusik kaum vereinbaren können. Die beiden kurzen Tracks „Ibitsu“ und „Nuri“ jedenfalls lassen Motörhead lasch klingen. Das zentrale „Naki Kyoku“ beginnt immerhin in Nick Drake-Melancholie - um dann als komplexer Stoner-Rock die Zwölf-Minuten Marke zu überschreiten. Und so geht’s weiter. Feurige Gitarren-Workouts, donnernder Bass, donnernde Drums, japanische Lyrics, Proto-Rockmusik, wie Japaner sie sich vorzustellen scheinen. Um die andere wichtige Facette Boris' kennenzulernen braucht man sich nur das im selben Jahr in Japan veröffentlichte - und ebenfalls zwei Jahre später in Europa und den USA bei Southern Lord erschienene At Last – Feedbacker anzuhören. Dieses Album zeigt - wie der Titel verspricht - die „droney“ Seite der Japaner. Man hat bei Boris, wie bei den meisten anderen Gitarren-Noise und Drone Bands Japans, den Eindruck, sie vertonen ohne jede Ironie die vollkommen Hingabe an ihre bevorzugte Art von Klang und Musik. Diese Einstellung zieht sich von der Flower Travelin' Band über Les Rallizes Denudes oder Zeni Geva bis zu Acid Mothers Temple durch, und es trifft eben auch auf Boris zu. Die fünf titellosen Tracks sind der Klang der Gitarre, langgezogen und dröhnend, physisch spürbar, und Gitarristin Wata ist das personifizierte Gitarrensolo. (..erstaunlich übrigens, dass im noch männerdominierteren japanischen Rock-Business eine Frau eine so tragende Rolle spielt). Es gibt wiederum so etwas wie Song-Strukturen – nicht den puren Drone a la SunnO))) – aber Boris leben hier ihren Fuzz- und Distortion Fetisch aus. Sie beginnen ihre Tracks mit einem Chord und lassen dann Bass, und Gitarre bis zum letzten Knacken ausdröhnen – und auf Feedbacker verlieren sie sich in diesem Klang. Schön, dass sie dabei ab und zu Drums und zurückhaltende Vocals unterlegen, aber hier spielen diese Elemente eine untergeordnete Rolle, hier ist die Hingabe tiefer, und Feedbacker daher das bessere von zwei tollen Alben – wenn man sich mit Extrem-Musik anfreunden kann.

Four Tet

The Rounds


(Domino, 2003)

Ich schätze mal, Kieran Hebden, der Mann, der Four Tet ist, schert sich einen Teufel um Genre-Klassifizierungen – er macht die Musik, die er machen will, mit den Mitteln, die er frei gewählt hat, aus einer enzyklopädischen Kenntnis um die Popmusik heraus, ohne zu überlegen, wie man das Ergebnis am Ende nennen wird... Und wird dann von Hörern, Kritikern und auch von mir in ein bestimmtes Genre eingeordnet. Einfach um anderen sagen zu können, was sie erwartet, wenn sie seine Musik hören. Am interessantesten wird es immer dann, wenn Musik sich nicht so genau einordnen lässt – und das ist bei Rounds der Fall. Four Tet macht elektronisch (bearbeitete) instrumentale Musik - man nennt es IDM - aber dafür klingen die Tracks zu organisch, man sagt Glitch Pop, aber der basiert auf vom Computer generierten Klängen – und die kommen hier zwar vor, aber selbst in seinen „elektronischsten“ Momenten prägen Piano, Gitarre, ein Saxophon den Klang. Entscheidend ist: die Betonung von Four Tet's Musik liegt nicht auf den schlau zusammengebauten Rhythmen, nicht auf der Atmosphäre – Rounds ist eigentlich ein Songwriter-Album. Es ist fast trügerisch leicht den Tracks zuzuhören. Kieran Hebden macht intime, persönliche elektronische Musik – fast ein Widerspruch und von Anderen kaum erreicht, vielleicht auch weil nicht gewollt. Das über 9-minütige „Unspoken“, basierend auf einem Piano-Sample von Tori Amos' „Winter“, „And They All Look Broken Hearted“ ist Meditation mit Jazz-Schlagzeug, „My Angel Rocks Back and Forth“, „Hands“ und „She Moves She“, sind emotionaler Downbeat, Hebden kanalisiert einen gewaltigen Fundus aus Sounds und Rhythmen diversester Quellen in seinem Laptop, um daraus völlig neue, majestätische, freundliche, fiebrige „Songs“ einer ganz eigenen Art entstehen zu lassen.

Broadcast

HaHa Sound


(Warp, 2003)

Ach ja. Alt ist 2003 das neue Neu. Und auch bei der Birminghamer Band Broadcast wird man deutlich die Bezüge zu den vergangenen 40-50 Jahren Popgeschichte erkennen. Die graben sogar tiefer noch in der Geschichte der Popmusik als die aktuellen Post-Punk Revivalisten und holen sich ihre Inspiration aus den Sechzigern – von den Hippies, aus Woodstock, vom Peter Thomas Sound Orchester und von den Moog Experimenten der Sechziger, von Bands wie den Silver Apples und The United States of America. Trisha Keenan, James Cargill, Tim Felton und Roj Stevens hatten ihre Kreise seit 1995 im Umfeld solcher Bands wie Stereolab und Pram gezogen, wobei die Gemeinsamkeit insbesondere ihre Verwendung von analogen Synthesizern und ihre experimentelle Auffassung von Musik war – und natürlich die Tatsache, dass sie – wie Stereolab mit Laetitia Sadier – mit Trisha Keenan eine besondere Sängerin in ihren Reihen hatten. Eine deren ruhige, mädchenhafte Stimme bei mir die Bilder von 60er Jahre Lounge Bars, Turmfrisuren und den Farben Rosa und Hellgelb evoziert. Ihre Stimme schwebt über analoger Elektronik, die einem der kultigen „Raumpatrouille Orion“-Filme entnommen sein könnte und über massiven Drums, die bei „Pendulum“ etwa fast an stoischen Krautrock erinnern. Die Sounds im Hintergrund sind oft ungemein exzentrisch, würden allein für sich einem der experimentellen Alben der Sechziger gut zu Gesicht stehen, die auch heute noch nur von Spezialisten gehört werden. Aber dann holen Trisha Keenan's Stimme und die mitunter fast niedlichen Melodien das Album aus dem Nebel der Obskurität. Man höre nur als Beispiel den Fast-Folk-Song „Valerie“ mit gezupfter Gitarre, Kinderliedmelodie und elektronischen Sounds aus der Hölle. Und dann stampfen wieder die massiven Drums von Gast-Drummer Neil Bullock über eine weitere Songperle titels „Man is not a Bird“. Broadcast hatten mit dem Debüt- und Vorgängeralbum The Noise Made by People schon ein vergleichbar gutes Album geschaffen – aber Haha Sound kling noch etwas spontaner und leichter, Songs wie „Before We Begin“, „Lunch Hour Pops“ oder „Ominous Clouds“ sind kleine Pop-Preziosen mit Keenan's scheinbar unschuldigen Texten und ihrer nonchalanten Art zu singen. Broadcast mögen Stil und Ideen solcher Bands wie Stereolab als Ausgangspunkt für ihre Musik gewählt haben, aber sie haben mit diesem – ihrem zweiten Album einen eigenen Zugang gefunden und das Postmoderne Pop-Album des Jahres gemacht

Sufjan Stevens

Greetings From Michigan: The Great Lake State


(Rough Trade, 2003)

Auch hier ist - wenn man so will - Alt das neue Neu . Singer/Songwriter = Liederschmiede hat es schon immer gegeben, und sie werden vermutlich auch in Zukunft ihrem Geschäft nachgehen. Sufjan Stevens ist einer aus dieser Rige - und er ist einer mit großen Fähigkeiten in Storytelling und Komposition, er hat einen ganz eigenen Stil, man erkennt seine Songs sofort, diese Spieldosenmelodien, die klugen Arrangements um Piano, Banjo, Bläser. Sufjan Stevens hat diesem uralten Genre eine weitere neue Facette abgewonnen. Aber Originalität würde mir nicht reichen, dieses Album hier so zu exponieren. Man darf nicht außer Acht lassen, dass Sufjan Stevens hier quasi alle Instrumente selber eingespielt hatte, aber es sind vor Allem die wunderbaren Songs auf diesem Album, die er besser (bisher) nicht mehr hinbekommen hat, deren Klasse er mit dem opulenteren Nachfolger Illinoise „nur“ egalisierte. Das lose Konzept „Songs über einen Bundesstaat“ löst sich nach ein paar Songs auf, der Opener behandelt noch Jobverlust, Arbeitslosigkeit und Einsamkeit nach dem Zusammenbruch des GM-Werkes im kleinen Örtchen „Flint“, das zuvor schon Filmemacher Michael Moore in Roger and Me beschrieben hatte. Auch bei „Detroit, Lift Up Your Weary Head“ nutzt Stevens diese Thematik, wenn er in Schlagworten die Stadt, ihre Helden, Freuden und Unglücke vom Chor aufzählen lässt – und all das im Rhythmus der rollenden Räder der ehemaligen Autostadt. Aber es ist grundsätzlich so, dass er das übergeordnete Thema einzig dazu nutzt, die Fatalitäten des Lebens in all ihrer Schönheit zu beschreiben, und die Schönheit des Lebens im Verfall zu präsentieren. Das ist das Beste an diesem Album: Die unterschwelligen Strömungen, die Bedrohung, die unter den netten Melodien liegen, die von Stevens' kindhafter Stimme so sanft besungen werden. Michigan blickt mit Trauer, Sympathie, Mitleid und mit Lokalkolorit auf das Leben als Ganzes. Es richtet den Blick  vielleicht auf bestimmte Orte, aber im Grunde ist es zeitlos. Was will man mehr verlangen.

Songs: Ohia

Magnolia Electric Co.


(Secretly Canadian, 2003)

Jason Molina gehört auch zu dieser Generation von Songwritern. Aber er beleuchtet andere Facetten der Songschreibe-Kunst als Sufjan Stevens. Er ist weniger hoffnungsvoll, vielleicht ungnädiger mit sich und der Welt. Und damit zu Magnolia Electric Co. Titel und Bandname tragen bei Erbsenzählern zur Verwirrung bei - der bisherige Bandname Songs: Ohia ist nirgends zu finden, der Titel des Albums – Magnolia Electric Co. - hielt ab hier als Bandname her, und in der Tat hatte Jason Molina mit diesem Album neues Terrain betreten. Man kann sich das Album – oberflächlich – als eine Art Neil Young Pastiche, produziert von Hardcore-Koryphäe Steve Albini vorstellen – schon eine tolle Paarung - aber es ist doch viel mehr als das. Die immer wieder in die moll-getränkten Melodien hineinkrachenden Gitarren und Molina's Stimme mögen an Neil Young denken lassen, ebenso wie die getragenen Songs, aber dann sind da Tracks wie „The Old Black Hen“, komplett von Freund/Gast Lawrence Peters mit tieferer Stimme eingesungen und durch Anklänge an schottischen Folk verfeinert. Dann singt mit Scout Niblett eine Schwester im Geiste den folgenden „Peoria Lunchbox Blues“ und klingt wie ein weiblicher Van Morrison (... für mich. Andere finden ihren Gesang durchaus nervig - soviel dazu...). Das darauf folgende "John Henry Split My Heart“ und vor Allem der Opener des Albums „Farewell Transmission“ zeigen die versammelte Band in vollem Flug, tatsächlich auf der Fährte von Crazy Horse, aber Jason Molina's Stimme und seine mysteriösen Lyrics ziehen die Musik in seine Generation. Magnolia Electric Co. Ist ein amerikanisches Album – so wie Neil Young's Zuma ein amerikanisches Album ist (...von einem Kanadier – ganz nebenbei). Aber es ist zugleich deutlich ein Album der 2000er Jahre, und es ist vor Allem fast fehlerlos.

Pelt

Pearls From the River


(VHF, 2003)

Und nun zu einem „Trend“, der zwar schon einige Jahre anhält, der aber in diesem Jahr eine große Anzahl von hervorragenden Beispielen bietet. Zu der Musik, die man unter den Begriffen „New Weird America“ oder „Freak“ – bzw „Free Folk“ zu erfassen versucht – wobei diese Begriffe grundsätzlich sehr unterschiedliche Bands, Musiker und Projekte vereint. Über die genaueren Hintergründe schreibe ich weiter unten, als Beispiel, soll hier Jack Rose's Album Pearls from the River mit dem Projekt Pelt stehen – unter anderem weil er Teilnehmer des Brattelboro Free Folk Festivals war – aber als Beispiel könnte auch ein anderes Album wählen, wie etwa Six Organs of Admittance's Compathia oder The Queen of Guess vom Vibracathedral Orchestra oder Rose's Solo Album Opium Musick. Ich nenne Pearls... deshalb, weil sich auf diesem Album, das Jack Rose (g, banjo) gemeinsam mit Patrick Best (b, cel.) und Mike Gangloff (banjo) aufgenommenen hat, fast alle Einflüsse finden, die sich hinter dem obskuren Begriff Free Folk verbergen. Da ist Jack Rose's an John Fahey und American Primitivism geschultes Gitarrenspiel, da sind lange, mäandernde Kompositionen, die schnell in Raga-artige Improvisationen abtauchen, da sind vom Cello erzeugten Drones und psychedelische Folk-Strukturen, da sind sogar Noise-Ausbrüche, auch wenn sie „nur“ mit akustischen Instrumenten erzeugt werden. Zugleich aber ist dieses Album, wie alle anderen Beispiele dieser Musik in diesem Jahr auch, hochgradig individuell. Pelt hatten in den Jahren zuvor mit etlichen anderen Vertretern ihrer Zunft kollaboriert und improvisiert, hatten schon einige Alben im Rucksack, und machten mit Pearls... ein relativ „konventionelles“ Album – wenn man psychedelische Folkmusik mit indischen Raga Einflüssen konventionell nennen will - (...es gibt, wie ich unten zeigen werde, tatsächlich weit experimentellere Alben aus dieser Ecke). Pearls... hat seinen Charm dadurch, dass es ungemein organisch dahinfließt, dass es trotz aller exotischen Einflüsse auch für westliche Ohren überraschend angenehm klingt – eben weil die drei bis zu 20-minütigen Tracks mit letztlich „westlichen“ Instrumenten wie Banjo und 6- und 12- String Gitarre eingespielt sind und dadurch nicht zur simplen Raga-Imitation werden. Weil hier Einflüsse vermischt werden, was wiederum Hauptmerkmal und auch Ziel von „New Weird America/ Free Folk“ ist. Dass diese Musik alt und zugleich neu ist, ist ein Gewinn, der Begriff „New Weird America“ beinhaltet ja schon den Gedanken, dass es ein „Old Weird America“ gegeben hat – die alten Folk- Klänge von Dylan und The Band sind da gemeint, die wiederum auf den Klängen von Race Music Schellack-Platten aus den 20ern und 30ern beruhen. Pearls from the River ist natürlich weit internationaler, viel weniger einer einzelnen Traditionslinie verpflichtet, es zeigt die „Folk“-Musik der 00er Jahre und ist damit weit weniger konventionell, und wird dadurch vermutlich obskurer bleiben, aber wer weiss ? Vielleicht nimmt man diese Musik in 50 Jahren als Vorläufer einer echten „Weltmusik“ wahr. Schön genug ist sie.



















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