Dienstag, 7. März 2017

1984 - Der Wald stirbt und Menschen sterben in Bhopal - Metallica bis Coil

1984 ist das Jahr des gleichnamigen Romans von George Orwell, aus diesem Anlass beschäftigen sich viele Medien mit dem Datenschutz etc. Der Waldzustandsbericht in Deutschland bescheinigt, dass 50 % des Waldes geschädigt ist. In der Stadt Bhopal in Indien sterben Tausende bei einem Giftgasunfall (Union Carbide), die Indische Ministerpräsidentin Indira Gandhi wird bei einem Attentat umgebracht. Der AIDS-Erreger wird genetisch entschlüsselt. Dürren und Missernten in Äthiopien führen zu Hunderttausenden von Toten, US-Präsident Reagan macht vor einer Wahlveranstaltung beim Mikrophon-Check üble Scherze über die Bombardierung der UdSSR – und Alle hören mit. Marvin Gaye wird von seinem eigenen Vater bei einem Streit erschossen. Count Basie und Jackie Wilson sterben da schon eines natürlicheren Todes. 1984 ist wie oben gesagt eine bedeutungsschwere Jahreszahl; es ist ein Jahr, in dem einige der für die 80er typischsten Künstler (Bruce Springsteen, Madonna, Prince) ihre kommerziell erfolgreichsten Platten veröffentlichen sollen, aber auch ein Jahr in dem einige der Klassiker des Independent-Rock erscheinen. The Smiths, Hüsker Dü, die Replacements, Echo & the Bunnymen, alles Bands mit großen Platten in diesem Jahr. Metallica haben zuvor schon den Thrash-Metal erfunden und liefern jetzt einen seiner Höhepunkte ab, Sade verbindet Jazz auf's angenehmste mit Soul, und löst eine kleine Jazz-Pop Welle aus, Frankie Goes to Hollywood sind eine Saison lang DAS Ding in der Popmusik, auf der Seite der E-Musik erscheint Arvo Pärts Tabula Rasa, eine Platte mit klassischer Musik auf einem Jazz Label, die immensen Einfluß auf die experimentelle Seite der Rockmusik haben soll. Dennoch: Es ist die Mitte der 80er und irgendwie gibt es neben den genannten Highlights auch etliche Ohrverletzungen: Yes' „Owner of a Lonely Heart“ wird die Radiosender genauso verseuchen wie Tina Turner's Comeback und Phil Collins' blöde Popmusik. Oder der Soundtrack zum unsäglichen Film Footloose – mir bis heute ein Rätsel, warum so etwas in die Charst kam. Und dann säuseln etliche abgehalfterte Pop-Stars gemeinsam voller Bewunderung für die eigene Güte ein Lied titels „Do They Know Its's Christmas?“ und prägen damit die nächsten 30 Jahre Weihnachten in unseren Wohnzimmern.

Metallica

Ride The Lightning


(Music For Nations, 1984)

und hier das Album, das in den kommenden Jahren als Gussform für gelungenen Thrash Metal stehen wird – wobei man Master of Puppets, den Nachfolger von Ride the Lightning durchaus zu Recht noch über dieses Album stellen könnte. Aber warum wählen...? ich kann ja beide Alben besitzen und anhören. Die Erwartungen an Metallica waren nach dem gelungenen Debüt ziemlich hoch, die Band hatte durch extensives Touren inzwischen einiges an Kraft und Reife gewonnen, nun gingen sie zur Produktion ihres zweiten Albums nach Dänemark, zum respektierten Produzenten Fleming Rasmussen – vermutlich hatte Drummer Lars Ulrich- selber dänischer Abstammung – da auch seine Finger im Spiel – und setzten all ihre neu gewonnene Erfahrung und ihr Talent ein, um den Erwartungen gerecht zu werden. Sie hatten sich auf der ganzen Linie verbessert. Das Songwriting auf Ride the Lightning ist (fast) durchgehend auf hohem Niveau. Sie haben zu einer gelungene Mischung aus Kraft, Schnelligkeit und Komplexität gefunden, James Hetfield hat inzwischen viel besser in seine Rolle als Sänger gefunden, er scheint die Limitierung seiner Stimme zu akzeptieren und nutzt sie als Stilmerkmal – und beeinflusst damit etliche andere Sänger. Kirk Hammett, der ja zunächst „nur“ Ersatz für den Gitarristen Dave Mustaine war, spielt immer einfallsreicher und darf nun auch mitkomponieren – auch wenn der Titelsong des Albums und das Instrumental „The Call of Ktulu“ noch in der Zeit vor dem Debüt von Mustaine mitkomponiert worden waren. Bassist Cliff Burton zeigt im Instrumental ein weiteres mal, was für einen großen Bassisten die Welt verlieren sollte, und die ganze Band geht virtuos mit dem komplexen Material um. Ride the Lightning lebt aber vor Allem von den drei als Single ausgekoppelten Thrash Klassikern “Fade to Black", "Creeping Death" und „For Whom the Bell Tolls“. Diese Songs sind bis heute ungeschlagene Klassiker des Metal - egal welchen Mikro-Genres - und es sind dementsprechend Songs, die die Band bis heute (über dreißig Jahre später) auch live spielt. Gegen diese Drei fällt das restliche Material tatsächlich leicht ab – auch wenn weniger talentierte Bands für einen Song wie„Trapped under Ice“ vermutlich morden würden. Man muss Eines beachten: Das Album erschütterte zunächst einmal nur die Welt der Kuttenträger und Metal-Fans, noch waren Metallica „nur“ die großen Hoffnungsträger in einer Sparte, die seinerzeit noch recht hermetisch war. Metal war nur für Eingeweihte „cool“, noch gab es keinen Mainstream-Erfolg, aber wer hinhörte, konnte erkennen, dass hier noch einiges zu erwarten war – und für Fans harter Musik gehört dieses und das folgende Album in den Kanon der Klassiker.

Hüsker Dü

Zen Arcade


(SST, 1984)

Zen Arcade, das zweite Album von Hüsker Dü ist die Platte, die die Grenzen des ansonsten so hermetischen Hardcore und Punk-Genres in den USA in ganz neue Bereiche verschoben hat. Bob Mould und Grant Hart trauen sich hier einige Dinge die man im Hardcore so noch nicht kannte: Zunächst einmal ist da der Umstand, dass Zen Arcade ein Konzeptalbum ist – auch noch ein Doppelalbum - mit einem Song von über 13 Minuten Dauer, es gibt Experimente mit Tape Loops, es gibt Pop und akustische Instrumentierung und das harder, faster, louder des Hardcore wird ignoriert und somit einfach außer Kraft gesetzt. Sie hatten schon ein paar Monate zuvor mit einer halsbrecherischen Version von „Eight Miles High“ von den Byrds gezeigt, wo sie hin wollten. Sie wollten Hardcore versetzen mit 60s Psychedelia, Folk, Rock 'n' Roll, Pop, und ihrem gitarrengetriebenen Wall of Noise. Und wer dem Trio zuvor zugehört hatte, hatte vielleicht schon bemerkt, dass sie unter diesem Lärm auch tolle eigene Songs versteckten. Auf Zen Arcade kamen diese Power-Songs zum Vorschein wie Klippen in der Strömung. Das unheimliche „Pink Turns to Blue“, das rasende „Something I Learned Today“ und viele andere Songs auf diesem Album haben neben der ungeheuren Dynamik auch noch Pop-Appeal - im Hardcore eigentlich undenkbar. Kaum zu glauben, dass all das in gerade mal 85 Stunden aufgenommen wurde. Kommende Generationen von Musikern sahen hier, was auch im Hardcore möglich war und die Kollegen von den Minutemen ließen sich sprichwörtlich sofort beeinflussen – siehe unten.... Und Hüsker Dü war nun ganz offensichtlich mehr als nur eine Hardcore Band mit einem ganz eigenen Sound - und SST wurde zum besten Label der Achtziger – zwei weitere Beweise folgen.

Minutemen

Double Nickles On The Dime


(SST, 1984)

Dass die meisten Menschen in den Achtzigern lieber Mötley Crue und Michael Jackson hörten, ist schon irgendwie traurig. Wirklich tragisch wird es, wenn man im Vergleich Double Nickles On The Dime, dieses Füllhorn an Ideen und Stilarten hört. Es ist das überbordende Doppelalbum einer der größten Hardcore Bands mit 45 kurzen Funk-Punk Ausbrüchen – und es ist NICHT Hüsker Dü's Zen Arcade, sondern ein völlig eigenes, gleichwertiges Album – gesegnet sei das Jahr 1984.... Den Minutemen gelang es tatsächlich – inspiriert natürlich von dem einen Monat zuvor erschienen Doppelalbum der Label-Kollegen - keinen der 45 Songs überflüssig erscheinen zu lassen. Zehn Tracks als wilder Warm-up, dann ein kluger und irgendwie immer noch aktueller Monolog über Politik, Gesellschaft und das Leben in Amerika zur Zeit der Reagan-Administration. Unterlegt wird das Alles mit kraftvollem und eigenständigem Post-Punk vom großartigen D. Boon als Gitarrist und Sprech-Sänger und vom kraftvollen Bass von Co-Writer Mike Watt. Michael Jackson wird mit dem „Political Song for Michael Jackson to Sing“ gedisst, sie erinnern an ihre Einflüsse aus dem Hardcore und geben uns den Klassiker „Our band could be your life“. Das Van Halen (!Ain't Talkin' 'bout Love“) - bzw. Steely Dan Cover („Dr. Wu !“) funktioniert genau so gut wie das eigene Material, kurze, explosive Songs voller Hooks und Melodien. Nach dem Hören all dieser Songs ist man erschöpft - als Doppel LP ist Double Nickles.. am besten zu genießen, da man dann vier Seiten hat.

PS: Der Begriff „Double Nickles“ übrigens bezieht sich auf die Geschwindigkeitsbegrenzung von 55 m/ph in den USA..

Meat Puppets

II


(SST, 1984)
 

 

Ende der Achtziger gab es diesen Begriff „Cowpunk“ - mit dem ich eigentlich nicht wirklich etwas anfangen konnte. Punk und Country vermischen ? So sehr Musiker wie Willie Nelson und Johnny Cash als Outlaws durchgehen, mit Punk haben sie wenig zu tun - meinte ich jedenfalls. Als ich aber dann das zweite Album der Meat Puppets zu hören bekam, konnte ich mich mit diesem Begriff aussöhnen. Es sind junge Musiker, die Punk und Hardcore aufgesogen haben, und sich auch von Country beeinflussen lassen – so wie sich Bands wie Grateful Dead in den Sechzigern Country einverleibten – zumal die Meat Puppets deren Spaß an Gitarrenexkursionen teilen (Siehe etwa „We're Here“). Der Vergleich mit Grateful Dead passt auch, wenn man sich anhört wie leicht dahingeschludert sich hier so mancher Song anhört – wohlgemerkt – ich halte genau das für eine große Kunst. Der erste Song - „Split Myself in Two", ist noch nah am Punk, „Plateau“ klingt dann aber schon surreal, nach Peyote und einer Nacht in der Wüste, und nur Curt Kirkwoods immer etwas unsichere Stimme kann Lyrics singen wie „holy ghosts and talk show hosts are planted in the sand to beautify the foothills and shake the many hands.'Für „New Gods“ steigern sie nochmal das Tempo, aber sie haben - wie andere SST Bands auch – immer die Kontrolle über das, was sie machen, klingen nie angestrengt, sondern so, als wäre alles nebenbei gespielt. Und „Oh Me“ ist wunderschön und seltsam – kein Wunder, dass Kurt Cobain das Album und die Band so sehr verehrte, dass er diesen und zwei weitere Songs coverte – er war eben immer auch Fan. Und dann ist da noch das Instrumental „I'm a Mindless Idiot“ - wie kann man nur so leicht Hardcore und instrumentale Finesse vereinen? Seltsamerweise ist keiner der Songs länger als drei Minuten – einige unter zwei Minuten lang, aber man verliert sich in der Musik, so dass die knapp 30 Minuten von II zugleich länger und viel zu kurz scheinen. Es gibt keine andere Band, die so klingt, wie die Meat Puppets zu dieser Zeit. Einzigartig

 

Lloyd Cole & The Commotions

Rattlesnakes


(Polydor, 1984)


Eines der großen Pop-Alben der 80er Jahre, zugleich ein sträflich unbekannt gebliebenes und für mich fraglos eines der besten Alben des Jahres 1984. Lloyd Cole war erst 23 als er Rattlesnakes aufnahm, und er war ein Frühvollendeter, ein Songwriter der schon auf der Höhe seiner Kunst war. Tatsächlich hat er danach zumindest keine komplette Songsammlung mehr geschafft, die besser war, auch wenn so manches Solo-Album später einige Perlen enthält. Aber Tracks wie das Titelstück ,“Perfect Skin“ oder gar das unglaubliche „Forest Fire“ sind vielleicht noch zu widerholen, aber man kann die Qualität kaum steigern, Cole singt mit einer Stimme, die die Emotionen offensichtlich unterdrückt seine Lyrics und sein Stil sind eigenständig, haben eine distinguierte britishness unter der sich bekanntermaßen die großen Gefühle verbergen können. „Are You Ready to be Heartbroken ?“ ist das Portrait eines mit der Liebe und anderen Wirrungen Überforderten, „2CV“ der lakonische Bericht über die Affäre mit einer älteren Frau. Textzeilen wie „Must you tell me all your secrets, / when it's hard enough to love you knowing nothing?“ sind unterlegt vom Jangle Pop der Commotions, bei denen insbesondere Neil Clark's Gitarrenton mit einem altmodischen Twang Akzente setzt. All dies macht diese LP zum Klassiker – und zum erkennbaren Einfluss auf spätere Bands wie Belle and Sebastian.

 

David Sylvian

Brilliant Trees


(Virgin, 1984)
 

David Sylvian war zu Beginn der 80er ziemlich erfolgreich mit seiner Band Japan, und er wurde auch noch als „the most beautiful man in pop“ bezeichnet, was nicht im Geringsten mit seinen musikalischen Ansprüchen einherging. Was also tun ? Sylvian entschied sich, es so zu machen wie dereinst Scott Walker, der gerade vor ein paar Monaten nach Jahren des Schweigens sein neues, rätselhaftes Solo-Album veröffentlicht hatte. Band auflösen und auch ein „schwieriges“ Solo-Album machen. Das Ergebnis war Brilliant Trees und schon die Liste der Kollaborateure zeigte, wo es hingehen sollte: - unter anderem Folk/Jazz Koryphäe Danny Thompson (bass), ECM-Kammer-Jazzer Jon Hassell (trumpet) und Kenny Wheeler (trumpet/flugelhorn), Ryuichi Sakamoto (synths) und Can's Holger Czukay (guitar, Dictaphone, French horn) – und all diese Kunsthandwerker und Künstler kreierten unter Sylvian's Ägide gemeinsam ein Album, das den logischen Gipfel aus progressivem Pop und dämmrigem Funk mit ECM-Jazz Ästhetik und Elektronik verbindet: Das fließende „The Ink in the Well“ (mit Wheeler's Solo), das majestätische „Red Guitar“ und der Blick in Sylvians Vergangenheit mit dem wissenden „Pulling Punches“. Und trotz all der Anti-Pop Referenzen: Brilliant Trees sollte zunächst den Pop Star Status seines Erschaffers ausbauen: Es landete in den UK Charts auf einem unfassbaren Platz 3. "That was just people giving me the benefit of the doubt," sagte Sylvian später. "They soon knew better."

 

The Smiths

s/t


(Rough Trade, 1984)



The Smiths

Hatful Of Hollow


(Rough Trade, Rel. 1984)
 



Das Debüt der Smiths war im Jahre '84 in vieler Hinsicht ein revolutionäres Album – ein Ausbruch aus unseligen Sackgassen wie Synth-Pop, New Romantic und düsterem Post Punk. Aber die Klasse von The Smiths und seinem Nachfolger Meat Is Murder wurde vom '86er Album The Queen Is Dead sowie der Compilation Hatful of Hollow übertroffen. Hätten die Smiths nur dieses Debüt veröfffentlicht, dann bekäme es die Wertschätzung, die es verdient hat. Oberflächlich gesehen war der Sound der Smiths im britischen Gitarrenpop verwurzelt, aber bei genauem Hinhören sind das Songwriting, Johnny Marrs exzellentes Gitarrenspiel und Morriseys Texte und Gesang schon auf diesem Debüt erstaunlich subversiv. Die Songs sind zwar catchy und melodisch, aber die Struktur ist mitunter äußerst unkonventionell. Und dieses Songwriting wird durch Morrisey Texte -über Homosexualität („Hand in Glove“) Pädophilie und Mord - noch exzentrischer und innovativer. Morrissey trug dazu seine literarischen und ironischen Texte mit einer Stimme vor, die übergangslos von klassischem Crooning zu hysterischem Überschlag wechselte. Die Produktion von The Smiths mag einfach gehalten sein, aber die Songs allein sind große Kunst, und sie brauchen nicht mehr – obwohl genau diese Produktion – bzw ihre Mängel – der Grund war, warum das Album nach den wundervollen Singles ewig auf sich warten ließ. Schon 1983 war Steven Morrissery eine schwierige Diva.... Und damit wurde mit Hatful of Hollow, - wie gesagt eigentlich nur einer schnöden Zusammenstellung von Singles der Band - weit deutlicher erkennbar, welche Klasse The Smiths seinerzeit hatten. In guter alter britischer Pop-Tradition sahen sie ihre Singles als eigenständige Statements an, die nicht auf den ein paar Monate später veröffentlichte Longplayer gehörten: So war die Veröffentlichung von solch wunderbaren Singles wie „William, It Was Really Nothing,“, dem sardonischen „Heaven Knows I'm Miserable Now“, „Please, Please, Please Let Me Get What I Want“ oder gar dem fantastischen, tremolo-geladenen „How Soon Is Now?“ für alle Fans ein Segen. Hinzu kamen auf dieser Compilation rohere BBC Versionen einiger Songs vom Debüt und andere Raritäten. „Girl Afraid“, „This Charming Man“ - all das sind Songs die - vielleicht besser noch als das Debütalbum - deutlich machen, welchen Reiz diese Band ausübte und warum die britische Presse einen derartigen – ausnahmsweise mal berechtigten - Hype veranstaltete. Hatful of Hollow mag als Sampler dem Debüt zwar überlegen sein. Unverzichtbar sind aber eigentlich beide Platten. Das großartige Corporate Design aller Veröffentlichungen der Smiths ist da nur noch ein zusätzliches Bonbon.



R.E.M.

Reckoning


(I.R.S., 1984)


Wenn es eine Band gibt, die für den glaubwürdigen Übergang vom Underground in den Mainstream steht, dann sicher R.E.M. Mit ihnen gelangte der Begriff „Alternative Rock“ über die College-Radios der USA zu den großen Radiostationen - und eine Musik in das Bewußtsein der Öffentlichkeit, die zuvor nur eingeweihten Kreisen bekannt war. Mit ihrem Debüt Murmur hatten sie schon im Vorjahr mehr als nur den Underground erreicht, für ihr zweites Album öffneten sich R.E.M. musikalisch, ließen sich wieder von Don Dixon und Mitch Easter produzieren, die den Live-Sound der Band noch besser einfangen sollten, und klangen dementsprechend direkter. Zugleich nahmen sie ihre Post-Punk Einflüsse zurück, und erdeten ihr Songwriting für Reckoning weit mehr im Country als auf dem Vorgänger. Aber natürlich ist das Country im R.E.M. Stil, Musik die eher an Byrds und Gram Parsons orientiert ist, als an George Jones und Johnny Cash. Von Beginn an war ihr einzigartiger Band-Sound die größte Stärke dieser Band - egal welcher Stil den Songs zugrunde lag, sie klangen immer nach dieser einen Band. Dank Sänger Michael Stipe, dank Gitarrist Peter Buck und dank des melodischen Bassspiels von Mike Mills waren sie unverwechselbar. Und dazu gibt es großartige Songs auf Reckoning: - „Pretty Persuasion“ und „Harborcoat“ sind Country/ Folkrock, teils düster, aber durch die einfallsreichen Arrangements immer spannend. Beste Songs aber sind „(Don't Go Back To) Rockville“ - ihre zweite Single - sowie die desolate Country Ballade „So, Central Rain“ in der Stipe im Chorus so verzweifelt „I'm Sorry“ herausheult - auf das Peter Buck mit diesem tollen Gitarrenriff antwortet. Spätesten jetzt war klar, die waren für Größeres bestimmt – und die Independent-Moralaposteln konnten natürlich schon den Ausverkauf vorhersagen.



The Replacements

Let It Be


(Twin Tone, 1984)


Manche sagen, die Quintessenz dessen, was Rock'n'Roll bedeutet, wurde von The Clash auf ihrem Großwerk London Calling eingefangen. Dasselbe könnte man auch über Let it Be von den Replacements sagen. Es ist die perfekte Synthese aus Aggression und äußerster Finesse beim Songwriting, die dieses leider viel zu unbekannte Album zu einem Ausnahmewerk machen. Die Replacements hatten als eine Art Looser-Punk-Band begonnen, hatten erratische Konzerte und chaotische Alben gemacht und waren vor Allem „trotzdem“ immer noch da... und nun hatten sie bzw. ihr Songwriter Paul Westerberg beschlossen, nicht mehr nur laut und wild zu sein, sondern auch echte Songs zu schreiben. Zunächst war Peter Buck von R.E.M. Als Produzent im Gespräch gewesen, aber da hatte die Band noch nicht genug Songs beisammen. So ließen sie sich vom Minneapolis-Musiker Steve Fjelstad und von ihrem Manager und bekennenden Beatles-Fan Peter Jesperson produzieren (der den bewusst gewählten Titel der LP vielleicht garnicht mal so lustig fand...) Ein Song wie "Androgynous" ist perfekt gerade durch die raue Produktion, überhaupt gab die Tatsache, dass hier nicht - wie in den 80ern üblich - „clean“ produziert wurde der Musik eine besondere Glaubwürdigkeit. Und es mag Millionen von Songs über's Erwachsenwerden geben, aber "Sixteen Blue" ist sicher einer der Besten, weil Sehnsüchtigsten. Oder der Albumcloser "Answering Machine". - mit seinen fantastischen, pointierten Gitarren, dem sehnsüchtigen Gesang und seiner großartigen Melodik ist es DER Song über romantische Obsession. Und die Replacements coverten sogar Kiss' „Black Diamond“ und machten sich auch diesen Song zu eigen. 1984 jedenfalls war Let it Be die Zukunft des Rock'n'Roll und das Beatles-Zitat im LP-Titel war nicht unangebracht..



Coil

Scatology


(Force and Form, 1984)


Peter "Sleazy" Christopherson verließ 1983 Throbbing Gristle und Psychic TV um kurz danach mit Jhon Balance zusammen das Projekt Coil zu gründen. Und bis zu Balance's frühem Tod schlug dieses Duo einen singulären, düster-magischen Pfad durch die Musikwelt. Literarisch, intensiv, inspiriert von Mördern, Häretikern, Philosophen, Surrealisten, Alchemisten und kontroversen Autoren machten sie eine Musik weit weg von der Mitte der Popwelt. Scatology ist Coil's erstes (und spartanischstes) Album – ein beunruhigender Mix aus Okkultem, Vulgärem und Transzendentalem. Die Geister von Psychic TV und Throbbing Gristle schweben natürlich über der Musik der beiden Grenzgänger während sie versuchen einen seltsamen Bastard aus Pop und gespenstischer Improvisationsmusik mit rituellen Anklängen zu erschaffen. „Panic“, „Godhead - Deathhead“ und „Aqua Regis“ haben noch den Industrialcharakter der Musik der vorherigen Bands inklusive ratternder Drum-Machines und Gitarrenlärm. Die Stimme von Gavin Friday von den ähnlich grenzgängerischen Virgin Prunes macht aus „Tenderness Of Wolves“ ein Schalchtfest, das von Charles Manson inspirierte „Solar Lodge“ ist nicht nur thematisch beängstigend. Und Marc Almond's Hit „Tainted Love“ beendet in der fatalen Version von Coil das Album als düsteres Requiem für alle AIDS-Toten






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