Dienstag, 30. Oktober 2018

1973 – Chile und Allende, Jom Kippur und Ölkrise – Lou Reed bis Stevie Wonder

Das Jahr 1973 wird politisch vor allem durch die Ölkrise und den Jom Kippur Krieg in Israel bestimmt. Da die OPEC den Ölpreis um 70% anhebt nachdem Israel sich im Krieg mit Ägypten und Syrien befindet, steigen die Benzin- und Rohölpreise weltweit gewaltig an. In Chile kommt es mit Unterstützung des CIA zu einem Militärputsch, bei dem der demokratisch gewählte Präsident Allende umgebracht wird. Augusto Pinochet wird für lange Jahre Staatschef und Folter und Mord werden vom Staat gegen alle demokratisch denkenden Menschen angewandt. Die US-Streitkräfte ziehen sich derweil langsam aus Kambodscha zurück und der unselige Vietnamkrieg nähert sich seinem Ende. Der amerikanische Präsident Richard Nixon wird nach der letztjährigen Aufdeckung eines Abhörskandals - dem sogenannten Watergate Skandal - tatsächlich wegen Amtsmissbrauchs angeklagt. 1973 werden DJ Shadow und Josh Homme geboren. J.R.R. Tolkien stirbt, ebenso der Country-Visionär Gram Parsons. Der Exorzist kommt ins Kino. Kommerziell und auch musikalisch wird 1973 noch vom Progressiv-Rock bestimmt und es ist die hohe Zeit der Rock-Alben. Pink Floyds kommerzieller Durchbruch, Mike Oldfields Tubular Bells, Genesis, Yes sind die Bands die man hört, allerdings bläht sich diese Art der Rockmusik auch immer mehr auf - und natürlich gibt es eine Gegenreaktion. David Bowie, Iggy Pop mit den Stooges, Lou Reed, Roxy Music und die New York Dolls machen eine andere, weniger opulente Rockmusik – und werden mehr und mehr gehört. Es ist Musik, die sich wieder auf die Grundlagen des Rock'n'Roll besinnt. Und Deutschland glänzt in diesem Jahr mit Meisterwerken des Krautrock, Country kehrt in Form der Outlaw-Bewegung ebenfalls zu seinen Wurzeln zurück und paart sich parallel mit Rockmusik, die Fusion aus Jazz und Rock gebiert immer mehr Kinder, Soul blüht immer noch, Southern Rock hat seine beste Zeit. Reggae wird in Europa wahrgenommen, überall gibt es eine reiche Ausbeute an sehr guter Musik, die 60er glühen in all dem höchstens noch nach. Man kann, wenn man die Ohren öffnet, die Vorzeichen der Punk-Revolte von 77 erkennen... allerdings wohl eher nicht in den Alben, die ich wegen mangelnder Qualität gerne ignoriere: Steve Miller's „The Joker“, The Sweet's„Ballroom Blitz“, Chicago VI – verkaufen sich wie geschnitten Brot, finde ich allesamt nicht ganz schlimm, aber auch nicht gut, dafür aber..

Lou Reed

Berlin

(RCA, 1973)

Nach dem überraschenden Erfolg von Transformer und vor Allem dem Hit „Take a Walk on the Wild Side“ durfte Lou Reed so ziemlich alles machen, was er wollte. Also versuchte er sich erst einmal an einem Konzept-Album über ein drogensüchtiges Liebespaar im geteilten Berlin. Die Reaktionen des Publikums und der Kritiker waren zunächst negativ, aber Berlin hat im Laufe der Jahre - vollkommen zu Recht - immer mehr an Reputation gewonnen. Natürlich ist das Album ein schwerer Brocken und gilt nicht umsonst als eines der depressivsten, schwärzesten Alben der Rockgeschichte, und Ja - es ist aufgeblasen, zumindest für Reed's Verhältnisse. Produzent Bob Ezrin holte einige Studiocracks dazu, Musiker wie Jack Bruce und Steve Winwood, es gab Bläser und ein großes Orchester, aber all das kann wieder einmal die Klasse der Songs und ihre erzählerische Kraft nicht überdecken. „Caroline Says“ ist eine andere Version des VU Stückes „Stephanie Says“, auch andere Songs beruhen auf ehemaligem Velvets-Material, das Titelstück ist von Lou Reed's ansonsten weniger erklecklichem Debütalbum bekannt, die Atmosphäre des Albums ist intensiv und hat irgendwie tatsächlich auch das morbide Flair des Berlin der 20er Jahre. Die Kritiker mögen zur damaligen Zeit den ungewohnten Pomp bemängelt haben, sich gewundert haben, dass Reed nicht Transformer Teil 2 liefern wollte, aber Berlin ist inzwischen zu Recht im Kanon der Klassiker in Reed's Diskografie angekommen. Seine Zerrissenheit zwischen Pop und Unkommerzialität wird inzwischen als Qualität erkannt. 

Lou Reed - Caroline Says II 


John Cale

Paris 1919

(Reprise, 1973)

John Cales Verehrung für Brian Wilson mag ein gut gehütetes Geheimnis sein, wer aber Paris 1919 - das zugänglichste und sicher „schönste“ Solo-Album des anderen Velvet Underground-Kopfes - gehört hat, wird den Einfluss des Beach Boys Masterminds erkennen. Nun ist Cale viel zu subversiv - oder zu stur und zu walisisch - um Songs über Liebe und Harmonie ohne einen Haken zu schreiben, das hinderte ihn jedoch nicht daran auf seinem dritten Solo-Album in klanglicher Schönheit und klugen Arrangements zu schwelgen. Chris Thomas - zuvor mit Procol Harum beschäftigt - produzierte und orchestrierte gemeinsam mit dem klassisch geschulten Cale, und die Musiker von Little Feat brachten ein süffiges Southern-Feeling ein. Konzipiert war Paris 1919 als literarisches Werk, als Ansammlung von Kurzgeschichten, und im Geschichten erzählen ist Cale auf diesem Album erstaunlich gut. Schon die Songtitel sagen alles: „Child's Christmas in Wales“, „Macbeth“ und „Graham Greene“! „Hanky Panky Nohow“ und „Half Past France“ sind melancholisch oder vergnügt und dabei berauschend schön, und das Titelstück, aufgebaut auf einem simplen Cellolauf, ist einer der besten Songs, die Cale je schrieb. Laut Aussage des Künstlers war das Album "An example of the nicest ways of saying something ugly...“ Vergleichbar barockes machte er allerdings nicht mehr. Paris 1919 bleibt ein Album voller wundersamer Schönheit. Man sagt, Brian Wilson habe nach dem Hören seinen Pyjama gewechselt. Und als PS: Dieses ist zusammen mit Veedon Fleece von Van Morrison mein absolutes Lieblings-Album.

John Cale - Half Past France 


Pink Floyd

Dark Side of the Moon

(Harvest, 1973)

Auch 1973 kann man als eines der „entscheidenden“ Jahre in der Rockmusik bezeichnen – und wenn auch nur wegen dieses Albums: Auf Dark Side of the Moon kondensierten Pink Floyd die Soundexperimente und instrumentalen Trips ihrer bisherigen Karriere zu Songs, ließen all das sauber produzieren und schufen eine kommerzielle Supernova. Die größte Erkenntnis die man aus dem Album ziehen konnte, war, wie fokussiert Pink Floyd mit ein bisschen Disziplin sein konnten. Roger Waters schrieb Texte über banale und profane Dinge wie Geld, Wahnsinn, Krieg und Religion – Ein-Wort-Themen sozusagen – und in Pink Folyd's atmosphärischem Soundkosmos entstanden mit ein paar wolhgesetzten Effekten und ein paar geschickt gewählten Melodiebögen Songs von großer emotionaler Tiefe und Bedeutung. Die Kraft, die von Dark Side of the Moon bis heute ausgeht, und die es nebenbei zu einem der bestverkauften Alben der Rockgeschichte macht, liegt in der Textur dieser Musik, die von Psychedelic Rock über Fusion und Blues wieder zurück zu Space Rock und Psychedelia changiert. Die Effekte sind mit Liebe zum Detail ausgedacht und klingen doch nie konstruiert, und das Songwriting ist simpel und exzellent. Pink Floyd mögen bessere Platten gemacht haben, aber Dark Side of the Moon würde sie für den Rest ihrer Karriere definieren – was Fluch und Segen zugleich war.

Pink Floyd - Us and Them 


King Crimson

Lark's Tongues in Aspic

(Island, 1973)

Das für's fünfte Album von King Crimson zusammengestellte Lineup brachte die Wende: Zusammen mit Ex-Yes Drummer Bill Bruford, dem Bassisten und Sänger John Wetton, Percussionist Jamie Muir und Geiger David Cross ließ Robert Fripp Jazz Jazz sein und erkannte im harten Rock das richtige Gewand für seinen purpurnen König. Am Anfang und Ende von Lark's Tongues in Aspic steht das im Laufe der Zeit in vielen Versionen reinkarnierte Titelstück, ein überlang hyperventilierendes Liedmonster mit all den vertrackten Rhythmen, mathematischen Disharmonien und irrsinnigen Gitarrenläufen, die man seither mit Fripp verbindet – und die in weiteren Jahrzehnten hunderte von Prog- und Math-Rock Vertretern beeinflussen sollten. Der Sound des verzerrten Bass, die kreischende Violine, die extrem körperlichen Percussion von Muir (der bald darauf die Band verließ um Mönch zu werden) und Fripps Gitarre machten King Crimson zu einem einzigartigen Klangerlebnis mit einem Sound, der für die nächsten drei Alben nur noch verfeinert werden sollte. Auf den drei an King Crimson anno '69 angelehnten Vocal Tracks sang John Wetton Lyrics von Richard Palmer-James (zuvor für Supertramp tätig) mit einer Stimme die in ihrer Kraft fast an die seines Vorgängers Greg Lake heranreichte, Lark's Tongues... ist sicher anstrengende „Brain Music“, aber es gelang der Band den emotionalen wie physischen Aspekt ihrer Musik zugleich herauszustellen. Ein Album das alle Synapsen zum schwingen bringen kann.

King Crimson - Larks' Tongues In Aspic Part I 


Can

Future Days

(United Artists, 1973)

Auch „Krautrock“ - die erste halbwegs eigenständige „deutsche“ Form von Musik seit den Zwanzigern - ist im Jahre '73 auf einem Höhepunkt angelangt. Bands wie Can sind gewissermaßen „etabliert“ - weil nun auch im englisch-sprachigen Ausland, wie man an diesem Album sieht: Es ist das dritte Meisterwerk des anarchistischen Kollektivs Can (...wie Drummer Jaki Liebzeit sie seinerzeit bezeichnete) und es hat zwar denselben Sound – als würden James Brown und The Velvet Underground miteinander jammen – aber die Wolken aus Acid haben sich verzogen und einem klaren Himmel Platz gemacht, unter dem sich trefflich reflektieren und aufeinander eingehen lässt. Damo Suzuki's Vocals (Ein letztes Mal, er verließ die Band um sich den Zeugen Jehovas anzuschließen) sind so ungewöhnlich wie immer, oft reine Improvisation, Michael Karoli's Gitarre deutet Melodien eher an und Jaki Liebzeits Drumming und Holger Czukay's Bass sind ein äußerst dynamisches Gerüst, auf dem alles schwingt und tanzt. Can verschwenden hier keine Zeit mit schwierigen Klangcollagen (wie beispielsweise bei „Aumng“auf Tago Mago ). Auf Future Days gehen sie tatsächlich in die Zukunft, das Album klingt mitunter wie eine analoge Version des 25 Jahre später erschienen Albums Moon Safari von Air (...die Can auch als Einfluss gewürdigt haben...) und Can zeigen hier einen feinen Sinn für Atmosphäre. Es driftet, fließt, hüpft und segelt dahin und macht manchmal regelrecht Angst, wenn es sich beim 17-minütigen „Bel Air“ etwa verträumt in Richtung Kollaps steigert. Vier langgestreckte Songs, die sich drehen wie Diamanten, die immer neue Facette zeigen ohne sich ein einziges Mal zu wiederholen. 

Can - Bel Air 


Iggy & The Stooges

Raw Power

(CBS, 1973)

Sollte Jesus irgendwann tatsächlich zu uns armen Seelen zurückkehren, um die Spreu vom Weizen, die Seligen von den Sündern und die Kenny G's von Iggy Pop zu trennen, dann wird er möglicherweise Raw Power auf seinem iPod haben. Und wahrscheinlich werden die Engel diese nitroglyzerin-haltigen Riffs mit ihren Gitarren als Thema spielen, wenn sie uns zur Hölle schicken. Rock'n'Roll ist nach der Meinung vieler Pharisäer Sünde, und wir werden zur Hölle fahren und dort all die anderen Sünder treffen, Kurt Cobain, Jimi Hendrix und Janis Joplin und natürlich Robert Johnson und den ganzen Rest der Ahnengalerie des Rock'n'Roll, aber für Gottes Sohn wird es ok sein, sich dabei "Search and Destroy" von den Stooges anzuhören, und wir werden wissen, dass er Iggy Pop einen ganz speziellen Platz gesichert hat. Warum? Weil niemand so singt, schreit und den Zorn Gottes herausgröhlt wie James „ Iggy Stooge“ Osterberg. Denn ER ist der Vater des Punk und Raw Power ist genau so apokalyptisch wie Krieg, Hunger und Pestilenz. Und Iggy mag nicht für unsere Sünden gestorben sein, aber er tat das Nächst-Beste: Er suhlte sich für den Rock'n' Roll in Blut, Pisse und Peanut Butter. Amen. - Und das noch als Nachsatz: Dass es heute eine Persiflage seiner Selbst geworden ist, gehört zur Sünde. Es hätte ja auch noch schlimmer kommen können, und er hätte die große Musik, die er bis ca '77 gemacht hat, via Adult-Rock völlig in den Schmutz ziehen können. 

Iggy & the Stooges - Search and Destroy 


New York Dolls

s/t

(Mercury, 1973)

Dass aus New York nicht nur die Velvet Underground/Lou Reed/John Cale Kreativzelle kommt – dass da auch andere Blumen des Bösen erblühen, zeigen Bands wie die New York Dolls – 1971 entstanden und wie die Stooges Vordenker von Glam und Punk... Nach diversen skandalös-glorreichen Live-Events kam es zum Plattenvertrag und zur ersten LP. Als Produzent wurde der namhafte Studio-Wizard Todd Rundgren ausgesucht, und der hätte die Dolls vielleicht auch einfach in ihrer schmierigen Proto-Punk Glorie ohne Studiospielereien aufnehmen können - das hätte vielleicht schon gereicht, aber auch mit seiner Zauberei wurde New York Dolls eine großartige LP- ein unsterbliches Rockalbum. Hier wurde die Atmosphäre von alten Horrorfilmen mit schmutzigen Gitarrenriffs gepaart, gespielt von fünf zugedröhnten Teilzeit-Transvestiten, denen es mit ihrem Image und ihrer Musik gelang, die hippen New Yorker Szene-Freaks zu unterhalten. Und wem sollte so etwas auch nicht gefallen? Irgendwie gelang es den Dolls in einem Chaos aus Drogen und Image sogar die für diese Zeit einmalige musikalische Melange aus Stones' Energie und Phil Spector Genie zu erschaffen. Der Underground-Starkult, den sie in der kurzen Zeit ihrer Existenz schufen, reicht weit über die 70er hinaus, Fans dieser Band waren unter Kritikern wie Musikern zu finden (Morrissey von den Smiths ist einer ihrer größten Fans) und ihre Form der Verkleidung wurde mehr noch als Bowie's Glam-Maskerade zum Vorbild für die Hair Metal Bands der Neunziger. Und unabhängig von Starkult und Image ist dieses Album ganz einfach eines DER Proto-Punk Alben der 70er – und weist somit weit in die Zukunft.

New York Dolls - Personality Crisis 


David Bowie

Aladdin Sane

(RCA, 1973)

Ziggy Stardust hatte David Bowie auf beiden Seiten des Atlantik zum Star gemacht. Aladdin Sane war ein deutlicher Schritt zurück aus dem Rampenlicht – und aus der Glam-Rock Welt von Ziggy und Hunky Dory's stylischer Pop-Welt. Es war daher kein Wunder, dass Aladdin Sane etwas unterging im Vergleich zu seinen Vorgängern – was wiederum selbstverständlich nicht wirklich berechtigt ist. Bowie machte in den gesamten 70ern fast alles richtig. Bei diesem Album war er der Glam-Klischees müde - nachdem er dieses Genre im Alleingang definiert hatte. Statt ein Stardust Redux zu erschaffen setzte er sich stilistisch zwischen alle Stühle und versuchte mit den Spiders of Mars Jazz, Rock, Lounge, Glam, Cabaret, und Pop auf einem Album zusammenzuführen – obwohl das Cover mit dem klassischen geschminktem Gesicht noch in Glam-Richtung feuert ist Aladdin Sane's charakteristischste Eigenschaft, dass es ein eklektizistisches Album ist, das eigentlich nur von Bowie's Stimme zusammengehalten wird. Bei vielen Künstlern ist eine solch schizophrenes Style Hopping nicht besonders vergnüglich. Bowie schuf mit dem Titelsong, „Lady Grinning Soul“ und „The Cracked Actor“ mindestens drei seiner besten Songs. Als Chamäleon war er wirklich gut – dass er bis zum Ende der Siebziger als Vorreiter für Post-Punk und New Wave fungieren würde, war schon hier deutlich erkennbar. '73 ist – wie man an den Alben der New York Dolls, Lou Reed's und von Bowie erkennen kann – eine Jahr, in dem Fundamente gesetzt werden .

David Bowie - Cracked Actor  


John Martyn

Solid Air

(Island, 1973)

John Martyn

Inside Out

(Island, 1973)

John Martyn mag als Folk-Musiker begonnen haben, aber die Grenzen des Genres hatte er 1973 schon längst gesprengt. Was nach meiner Meinung keine bewusste Entscheidung war, sondern sich zwingend aus seiner Musikalität und seiner Abenteuerlust ergab. Dazu muss man nur das Titel-Track von Solid Air hören (übrigens Nick Drake gewidmet - bevor dieser starb), bei dem er die Worte zerdehnt und zerkaut wie ein Jazz-Sänger, die Gitarrensaiten knallen lässt, ein Saxophon in Pharoah Sanders-Bereiche gleitet und die Melodie nichts Traditionelles mehr an sich hat. Da kommt dann der Nachfolger „Over the Hill“ fast wie die Vergewisserung daher, dass die Begleiter überhaupt noch Folk können – die sind nämlich auch aus dem Umkreis um Fairport Convention – und kommen natürlich mit der anspruchsvollen Musik bestens zurecht. Martyn's Gitarrenspiel mit dem Echoplex-Effektgerät bei „I'd Rather be the Devil“ sprengt dann noch einmal eine Grenze.... Und „May You Never“ sollte später von Clapton gecovert werden - vielleicht kann man beklagen, dass das Album Zeit braucht: Das Experiment überdeckt manche Schönheit, und man muss sich an seinen Gesang gewöhnen – aber es lohnt sich. Der ein halbes Jahr später veröffentlichte Nachfolger Inside Out ist die ideale Ergänzung. Das Album gilt als „noch experimenteller“ - nicht zu Unrecht. John Martyn ließ sich von John Coltrane inspirieren ( bei „Make No Mistake“), er setzt sein geliebtes Echoplex noch mehr ein und benutzt seine Stimme nun endgültig eher als Instrument denn als Organ zur Textverbreitung, aber immer noch und immer wieder gelingen ihm wunderschöne Songs wie „Fine Lines“, oder „So Much in Love With You“. Die These, dass die Intensität seiner Musik Katharsis war, kann ich nicht beweisen, aber die Songtitel weisen darauf hin – auf Inside Out heißt einer der Songs „Beverley“ - der Name seiner Frau, mit der er zu Beginn gemeinsam Musik gemacht hatte, die dann ihre Karriere beendete um auf Haus und Kinder aufzupassen, während er das exzessive Tourleben inklusive Frauen, Drogen und Alkohol führte. Der Stress muss groß gewesen sein... 

 John Martyn - Solid Air

 John Martyn - Fine Lines


Stevie Wonder

Innervisions

(Motown, 1973)

Schwarz, von Geburt an blind und in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen, und dennoch – oder eben deswegen - wurde Stevie Wonder zu einem DER Superstars des Soul. Nachdem Barry Gordy den Teenager zum Kinderstar gemacht hatte, hatte er sich seit seinem 21. Geburtstag von seinem Mentor emanzipiert, einen neuen, verbesserten Vertrag mit Motown ausgehandelt und in den letzten Jahren seine musikalischen Entscheidungen zunehmend selbst gefällt. Mit Music of My Mind und Talking Book vom Vorjahr hatte er sich dann endgültig von allen Fesseln befreit und schloss nun – gerade mal sieben Monate später – eine Trilogie von Alben mit seinem visionärsten und vielseitigsten Werk ab (… diese Sache mit den Album-Trilogien – da sollte ich mal drüber nachdenken. Siehe Dylan, Fairport Convention, Neil Young, Tom Waits etc...). Innervisions jedenfalls ist zwar explizit politisch, aber Wonder vermied es dankenswerterweise zu predigen, beim großartigen „Living for the City“ beschrieb er den Absturz eines Burschen vom Lande in Verbrechen und Drogen im faulen Big Apple, „Visions“,die Hitsingle „Higher Ground“, „Jesus Children of America“, sie alle behandeln seine Sorge über das auseinanderfallen der amerikanischen Gesellschaft und „He's Mista Know-It-All“ war direkt an Tricky Dick – Richard Nixon – gerichtet und vertonte die Empörung und Enttäuschung der Menschen über die Lügen ihres Präsidenten. Und all das gelang ihm mit Soulmusik die zunehmend mit Rock Elementen angereichert wurde und die durch Synthie-Sounds experimentell und zugleich ungemein funky klang. Kurz nach Fertigstellung des Albums hatte er einen schweren Autounfall, der ihn veranlassen sollte sich danach mit Spiritualität und der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Innervisions bleibt als eines der großen „politischen“ Soul-Alben bestehen und würde dann von Wonder nur noch einmal durch den Nachfolger Songs in the Key of Life 1976 übertroffen werden.

Stevie Wonder - Living for the City 








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