Montag, 5. März 2018

1993 – Swirlies bis 3Ds - Alternative Rock – Independent – Post-Punk – Noise Pop – zu viel des Guten ?


Ein weiteres Mal der Hinweis: Ich benutze gerne Genrebegriffe - sie sind praktisch - aber ich bin mir der Tatsache bewusst (bzw. will sie deutlich machen...) dass sie fast immer falsch, ungerecht und dümmlich vereinfachend sind. Gerade zu Beginn der Neunziger werden hunderte von eigenständigen Bands und Musikern unter dem Begriff “Alternative/Independent” zusammengekippt. Die Musik von Bands wie Yo La Tengo, Seam, Dinosaur Jr etc hat tatsächlich zunächst nur eine Gemeinsamkeit: Sie hat Wurzeln im Hardcore/Post-Punk/Punk – was ja für sich schon extrem breite Felder sind - und sie wird zunächst meist auf sogenannten Independent-Labels veröffenlicht, die aber gerade in dieser Zeit dazu übergehen, sich großen Labels unterzuordnen, wenn ihre Künstler nicht (wie Nirvana etwa) sowieso schon zu einem “großen” Label wie Geffen abgewandert sind. Offenbar lohnt es sich in dieser Zeit, gewagtere Musik zu machen und zu veröffentlichen – mich erinnert das immer ein bisschen an das Ende der Sechziger, als ebenfalls “progressive” Musik bei Plattenfirmen veröffentlicht wurde, die damals aber den Künstlern zumindest hier und da die Zeit ließen, sich zu entwickeln. Ein gewichtiger Unterschied zu damals ist, dass viele Bands des “Indie-Rock” schon seit Jahren Musik machen, mitunter schon seit Ende der Achtziger wegweisende Alben veröffentlicht haben – bei Labels die da tatsächlich noch “independent” waren – und nun hoffen, die Ernte für ihre idealistische Arbeit einfahren zu dürfen. Leider aber hatten die inzwischen als pure Wirtschaftsunternehmen geführten Majors keine Geduld - zumal sie den Markt schnell übersättigten - und so manche vielversprechende Band ging unter. Aber es gibt auch eine ganze Reihe von Bands, die bis heute unverdrossen weitermachen, selbst wenn ihre Musik nach dem Goldrausch unter bornierten Hipstern dem ungerechtfertigten Verdacht unterliegt, entweder irgendwie kommerziell, altmodisch oder beliebig zu sein. Wer sich die folgende Auswahl in ihrer stilistischen Breite und Kompromisslosigkeit anhört, wird eines Besseren belehrt. Und um auf die Frage in der Überschrift zurückzukommen: Alternative/Indie... ist die Musik, die Pop (in jeder Form) mit Lärm (in jeder Form) paart (daher auch die Bezeichnung Noise Pop), und dabei gerade NICHT angepasst genug war - und bis heute ist - um breite, gelangweilte Hörermassen zu erreichen. Hier 15 Beispiele aus den USA im Jahr 1993...

Swirlies


Blonder Tongue Audio Baton

(Taang, 1993)

Wie breit gefächert das Spektrum des Indie Rock der Neunziger ist, mag man an den zehn hier vorgestellten Alben erkennen – Und die zeigen wiederum nur einen Bruchteil der stilistischen Vielfalt, die unter dieser doch recht beliebigen Bezeichnung zusammengefasst wird. Das erste Full-Length Album der Swirlies' zum Beispiel vermengt einige recht disparate Elemente zu einer eigenwilligen Mixtur. Hier sind es die noisigen Gitarren, die man eigentlich vom (britischen) Shoegaze kennt, dazu süßliche Boy-Girl Vocals und Samples die sich zu einer Art Dream Pop zusammenfügen, dem jedoch erfreulicherweise jede unnötige Politur fehlt. Blonder Tongue Audio Baton ist zugleich komplex und sanft, lärmend und melodisch. Das zentrale „Pancake“ mit haushohen Gitarren, Mellotron und Seana Carmody's zurückhaltenden Vocals ist Fuzz-Pop in Perfektion, „His Life of Artistic Freedom“ zeigt die Band von ihrer experimentelleren Seite, Bei „Tree Chopped Down" und „Wrong Tube“ bilden die Stimmen von Damon Tuntunjian und Seana Carmody eine wunderbare Einheit inmitten des Lärms und das süßlich-noisige „Wait Forever“ zeigt die Lo-Fi Ästhetik der Swirlies in all ihrer Schönheit. Und auch Blonder Tongue Audio Baton klingt heute noch erstaunlich frisch. Schönes Cover-Motiv übrigens. Collagen sind '93 hip.

Swirlies - Wait Forever 



Seam


The Problem With Me

(Touch & Go, 1993)

Ähnlich vergessen wie die vergleichbar tollen Silkworm oder Swirlies sind Seam, obgleich die Bandmitglieder zumindest später als Teilnehmer bei diversen Post-Rock Bands eine gewisse Bekanntheit in Insider-Kreisen erlangen sollten. Bandkopf Soo-Young Park hatte sich schon zuvor mit Bitch Magnet einen Namen (und gute Musik) gemacht. The Problem With Me war Seam's zweites Album, ein schmerzhaft intensives Stück Hardcore/Indie/Whatever, das das Auseinanderbrechen der Beziehung zwischen Park und der Bassistin Lexi Mitchell ohne jedes Pathos und ohne jede Weinerlichkeit beschreibt. Wenn Park bei „Rafael“ halb murmelt „I turn off the lights when I'm thinking about you / I feel guilty just for feeling afraid“ ist seine Trauer fast greifbar, was die Harmonien bei „Stage 2000“ noch trauriger klingen läßt. Letztlich spielten Seam, wie so mache Band dieser Zeit, eine Art Post-Hardcore, der sie klingen ließ wie eine verlangsamte Version von Hardcore Bands wie Hüsker Dü oder Fugazi. Eine Art von Musik die wiederum den Slow-Core von Bands wie Codeine vorwegnahm, diesen hier mit sanfteren, süßeren Melodien versetzte und das Spiel mit der Dynamik nah an die Perfektion trieb. The Problem With Me klingt wie die Vertonung eines Vulkanausbruches in Zeitlupe, und der Umstand, dass dieses Album ziemlich obskur blieb, ist eigentlich nur mit einem Zuviel an Intensität zu erklären.... und mit dem zu großen Angebot an Bands und Alben, die in eine ähnliche Kerbe schlugen.

Seam - Rafael 

Silkworm


In the West

(C/Z Rec., 1993)

Die Neunziger waren wie gesagt die Zeit, in der „Indie Rock“ seinen Höhepunkt erreichte, in der fantastische Platten im Wochentakt erschienen – und in der diese dann vollkommen unbemerkt untergingen. Das galt - neben etlichen anderen - auch für das zweite Album von Silkworm. Die Band aus Missoula/Montata hatte im Produzenten Steve Albini einen prominenten Unterstützer gefunden, der ihnen über Jahre treu bleiben würde und spielte auf In the West einen trockenen, harten Dekonstruktivisten-Rock, der zwei Jahre später von einem größeren Plattenlabel an den Grunge-Trend angehängt wurde (was natürlich nicht gelang, sondern die Band eher einiges an Glaubwürdigkeit kostete – aber siehe 1996). Auf ihrem Debüt war neben Tim Midgett und Andy Cohen noch Joel R. Phelps dabei, womit gleich drei hervorragende Songwriter in der Band waren, was zu einer gewissen Uneinheitlichkeit hätte führen können, aber der Sound Silkworms war ungemein eigenständig – und streng monolithisch, was alle Songs sozusagen unter einen Fels schiebt. Sie verwandeln sogar Robert Johnsons „Dust My Broom“ in harten Indie-Punk und Phelps' „Dremate“ ließ Emo-Sänger nach ihrer Mutter schreien. Ihr Sound aus Momenten der Stille und kathartischen Gitarrenausbrüchen war hier schon perfekt definiert. Das Album verdient schon längst eine adäquate Wiederveröffentlichung. 

Silkworm - Dremate 

Polvo

Today's Active Lifestyle

(Touch & Go, 1993)

Der Einfluss, den Bands wie Steve Albini's Big Black mit ihrem Sound und ihrer Musik auf Andere hatte, ist bei einer Band wie Polvo deutlich zu erkennen. Ihre Musik wird ob ihrer Komplexität gern mit dem etwas abschreckenden Begriff „Math-Rock“ bezeichnet - allein, verkopft ist das hier gewiß nicht. Die beiden Gitarren von Ash Bowie und Dave Brylawski umspielen einander, brechen aus, klingen als wollten sie explodieren um dann wieder zueinander zu finden. (Ihnen wurde von Ignoranten und Oberlehrern vorgeworfen, ihre Gitarren nicht aufeinander gestimmt zu haben). Die vier Musiker zeigten allerdings eine Neugier und einen Experimentierwillen, der es zwar schwer macht, dem Album über seine 40+ Minuten zu folgen, der es aber zugleich zu einer lohnenden Beschäftigung macht, sich hineinzuhören. Mit dem noch relativ klar strukturierten „Tilebreaker“ versuchte die Band sogar so etwas wie eine „Hit“-Single, aber am besten funktioniert Today's Active Lifestyle doch im Albumformat als Komplettpaket – allerdings als Musik für Fortgeschrittene. Übrigens bedeutet „Polvo“ auf portugiesisch Oktopus, auf spanisch Staub und ist zugleich ein spanischer Slangausdruck für Sex...

Polvo - Tilebreaker 

Archers of Loaf


Icky Mettle

(Alias, 1993)

"She's an indie rocker and nothin's gonna stop her, her fashion fits...“ Icky Mettle ist eine weiteres 90's Indie-Rock Album, das irgendwie vergessen worden ist, obwohl es doch zweifellos voller wunderbarer Musik ist – und obwohl es seinerzeit in allen möglichen Medien äußerst positiv aufgenommen wurde. Bandkopf Eric Bachmann – der vor seiner Karriere mit den Archers of Loaf als Saxophonlehrer an einer Uni gearbeitet hatte - hatte selber produziert, und er soll später gesagt haben, dass die „Unschuld und die Energie, mit der sie hier zuschlugen kaum reproduzierbar war“. Es ist eine Mischung aus freudvollem Noise, einer gewissen Anti-kommerziellen Haltung und einem Sinn für Pop, der die Musik hier auszeichnet, - und den viele der hier genannten Alben gemein haben. Welches dieser Alben die echte Quintessenz des 90er Indie-Rock bildet...? Es könnte jedes sein und Icky Mettle ist ein weiterer sehr geeigneter Kandidat. Kantig und in your face, die Gitarren voll aufgedreht, dabei ein ganzer Haufen feiner Hooks und Melodien, dazu seltsame und selbst-ironische Lyrics lassen Songs wie „Web in Front“, „Wrong“, „Might“, „Plumb Line“... wie Singalong-Klassiker klingen – irgendwie zeitlos, aber eben auch irgendwann vergessen. Vielleicht wird eines Tages solche Musik auch in der Second Wave of Indie-Rock recycled werden. Die Archers of Loaf machten bis 1998 noch ein paar feine Alben und reformierten sich 2011 wieder. Da bekamen sie die inzwischen übliche ReIssue – Behandlung mit Extra-Tracks undsoweiter. Besser, man war 93 dabei, aber wer ist schon so alt ?

Archers of Loaf - Web in Front 

Yo La Tengo


Painful

(Matador, 1993)

Matador ist – wie Drag City oder Thrill Jockes etwa - eines der Label, die erfolgreich aus dem Trubel um Indie-Pop ab Nirvana Anfang der Neunziger herausgekommen sind – und Yo La Tengo sind eine der Bands die bis weit in die 2010er Jahre bei Matador bleiben sollten. Die hatten schon ein paar schöne Alben zwischen Country und Lärm gemacht, hatten mit Fakebook ('90) eine tolle Sammlung von Coverversionen veröffentlicht und im Vorjahr mit dem Album May I Sing with Me erfolgreich begonnen, auf ganz eigene Art Country, Sonic Youth und Velvet Undergroud miteinander zu versöhnen. Aber so gut das Vorjahres-Album ist, erst Painful ist dann die Ausformulierung ihres Stils für viele fruchtbare Jahre. Man kann den Sound auf die Sonic Youth Gitarren von Ira Kaplan, das stoische Mo Tucker-Drumming von Georgia Hubley und die Farfisa Orgel-Drones von James McNew reduzieren, aber das wäre nur für ein Album interessant. Die drei Kernmitglieder Yo La Tengo's haben dazu noch die Fähigkeit, auch mal einen perfekten Pop-Song zu schreiben – gerne mit Surf-Untertönen, sie sind schließlich bekennende Beach Boys Fans – und dazu gleiten sie immer wieder in einen träumerischen Flow, machen sozusagen Drone-Rock mit Romantik. Freilich würden sie diese Bestandteile auf den kommenden Alben immer wieder unterschiedlich gewichten, aber auf Painful setzten sie erstmals diese Einzelteile zusammen. Da ist „Sudden Organ“ einer der Höhepunkte - ruhig und schwebend, aber mit einem krachenden Freakout in der Mitte, ein Lehrstück in Dynamik. Oder "Nowhere Near," ein Ausflug in widescreen Landschaften aus Drone und Feedback. Painful ist der eigentliche Beginn der Karriere einer der wenigen wirklich kanonisierten Indie Bands der kommenden Jahrzehnte. 

Yo La Tengo - Sudden Organ 

Dinosaur Jr.


Where You Been

(Blanco Y Negro, 1993)

Ähnlich unkaputtbar wie Yo La Tengo, mit einer noch längeren Karriere, mit glorreichen Alben VOR dem Indie Hype (You're Living All Over Me und Bug von '87 bzw '89) – und eigentlich einer der Grundsteinleger des Indie-Rock und des Grunge, wurde J Mascis – der Kopf von Dinosaur Jr – eher unfreiwillig populär, als ihn Kurt Cobain auf Nachfrage als eines seiner Vorbilder benannte. Ich vermute, dass ihm das dann einerseits zwar Recht war, seitdem so etwas wie eine „Karriere“ als Rockstar zu haben, aber er war auch immer so sehr Lakoniker, dass er dem „Ruhm“ gleichgültig gegenüberstand – was dazu führte, dass er musikalisch meiner Meinung nach keine Kompromisse einging. Das allerdings wird Where You Been immer wieder gerne vorgeworfen. Tatsächlich hatten sie mit der Single „Start Choppin'“ ihren größten Hit (in den US-Top 20) – aber solche Musik wurde 1993 eben gerne gehört - und eigentlich ist Where You Been ihr melancholischstes und düsterstes Album. Es gibt die von Dinosaur Jr. bekannten, charakteristischen großen Gitarren-Momente (Neil Young als Hardcore), die gemurmelten und geleierten Lyrics und diese unverschämt ins Ohr gehenden Melodien und Hooks, aber die unterschwellige feel good Natur der vorherigen Alben fehlt irgendwie - da kann ich nicht konkreter werden... es ist eine Frage des Gefühls – vielleicht wirkt das nur so, weil es mehrere dunkle Balladen gibt, aber eigentlich sind auf Where You Been auch viele typische Elemente enthalten: Der genannte Hit "Start Choppin" ist einfach cool – nur wurde er damals zu oft auf MTV gespielt, aber Songs wie „What Else Is New“, „Get Me“ und „Going Home“ gehören zum Besten und vor Allem Eigenständigsten, was man dereinst an Indie Rock hören konnte. In den 10er Jahren haben Dinosaur Jr. sich nach einer langen Pause reformiert – und sind glorreich wie immer. Ich finde, ihre Musik hat die Haltbarkeit von Cola und ihr Style ist zeitlos. 

Dinosaur Jr. - Get Me 

Superchunk


On The Mouth

(Matador, 1993)

"(...) they are today considered one of indie rock's definitive bands", steht bei Wikipedia - verweislos. Solches lässt sich vielleicht über Pavement ohne Quellenangabe behaupten. Aber Superchunk? Da wäre interessant zu erfahren, wer da so considered'. Dann wüsste man zumindest, wer diese High-Speed-Version der Pixies überhaupt kennt. On the Mouth, Superchunks drittes Album, lebt von einer Sorglosigkeit und einem Übermut, der vielleicht nur bei major-vertragslosen Menschen möglich ist. Und vielleicht ist es ganz gut, wenn nicht ZU viele Leute diese Band als irgend etwas considern – man will schließlich der Einzige unter Vielen sein, der so was Exklusives kennt.... Was man – auch heute noch – bekommt, ist eine Art fröhlicher Hardcore, mit viel zu lauten Gitarren (Man wirft ihren Alben bis heute vor, schlecht produziert zu sein – was ich nicht glaube – das ist Absicht...) mit der wenig beeindruckenden Stimme von Gitarrist, Sänger und Songwriter Mac McCaughan und mit gewaltiger Energie. Es gibt – kommt im „Indie“ häufig vor – vier bis fünf tolle und sechs bis sieben ein bisschen weniger tolle Songs, da ist der rasante Opener „Precision Auto“ - später öfters gecovert und typisch 90er Indie, oder dieser Punk mit Pop-Affinität bei „For Tension“ - die Band sprüht vor Energie – da sind die Singles „Mower“ und das bezeichnend benannte „The Question Is How Fast“ und wenn sie auf On the Mouth mehr Pop wagen, als auf den vorherigen Alben, dann ist das eine willkommene Erweiterung ihres Spektrums – und zwar eben NICHT in Richtung bessere Verkäuflichkeit...nach diesem Album veröffentlichten Superchunk nämlich auf dem eigenen Merge-Label, weil Matador mit dem Major Atlantic kooperierte. War ihnen nicht unabhängig genug. Auch eine Option, um glaubwürdig zu bleiben. Superchunk sind bis heute aktiv – haben ihre bequeme Nische gefunden.

 Superchunk - The Question Is How Fast

Girls Against Boys


Venus Luxury No. 1 Baby

(Touch And Go, 1993)

Girls Against Boys sind da schon eine weniger humorige Geschichte. 1988 vom Fugazi-Drummer Brendan Canty zusammen mit Eli Janney gegründet, hatte die Band von Beginn an einen härteren Sound als andere Noise-Pop Bands ihrer Zeit. Canty verließ die Band schon 1990, aber Janney machte weiter, holte sich mit dem Drummer und Gitarristen und einem zweiten Bassisten die Ex-Dischord Band Soul Side hinzu und machte mit dem zweiten Album Venus Luxury No. 1 Baby den entscheidenden Schritt in Richtung Eigenständigkeit und – tatsächlich, das war damals mit solcher Musik möglich – kommerziellen Erfolg. Das führte später sogar zum Major Vertrag mit Geffen – bei denen sie dann scheiterten, das Album dort (Freak*On*Ica von 1998) ist mies – aber mit diesem und den beiden nachfolgenden Alben gibt es drei sehr eigenständige Varianten des Post-Hardcore/Alternative Rock/you name it, die aller Ehren wert geblieben sind. Girls Against Boys sollen wohl auch Live ein Erlebnis gewesen sein, und mit ihrem Sound irgendwo zwischen Killing Joke, Fugazi, The Fall und Joy Division, mit Eli Janney's heiserem Organ und dem kraftvollen Doppel-Bass-Sound kann ich mir das lebhaft vorstellen – zumal alle vier Musiker ein bisschen wie Indie Poster-Boys aussahen. Aber bitte kein Vertun hier: Venus Luxury No. 1 Baby ist ein Album voller ungemein kraftvoller, ernsthafter Songs, da gibt es einen frühe Neunziger Sonic Youth Track wie “Bullet Proof Cupid”, der aber keine bloße Verbeugung ist, da ist das subtil unheimliche “Learned It” und dann ist da das Meisterwerk “7 Seas” - einer der besten Post-Hardcore Tracks, die du nie gehört hast. Aber dieses Album funktioniert komplett, hat kaum mal schwache Momente. Eli Janney war nicht nur ein beachtlicher Sänger, Bassist und Songwriter, er war auch ein hervorragender Produzent (der sich hier allerdings von Fugazi-Intimus Ted Niceley helfen ließ) und Venus Luxury No. 1 Baby soll hier als Beispiel dafür stehen, dass die alternative Rockmusik '93 hart und gleichzeitig eigenständig sein kann. Girl Vs Boys gingen zu Beginn der 00er Jahre den Weg allen Zeitlichens, aber Eli Janney ist bis heute als Produzent sehr gefragt.

Girls Against Boys - 7 Seas 

Sebadoh


Bubble and Scrape

(Domino, 1993)

1993 hat sich Ex-Dinosaur Jr. Bassist und J Mascis Intim-Feind Lou Barlow mit seinem ehemaligen Lo-Fi Side Project Sebadoh deutlich etabliert. Ist doch auch schön, wenn aus einer tollen Band zwei genauso tolle Bands hervorgehen. Barlow ist inzwischen auch noch das weit tolerantere Band-Mitglied – hat mit Jason Loewenstein und Co-Bandgründer Eric Gaffney zwei gleichberechtigte Songlieferanten neben sich . So gesehen – Sebadoh sind die korrektere Band – und mit diesem vierten, erstmals richtig im Studio „produzierten“ Album kommt wieder so etwas wie das Anti-In Utero zu Nirvana – so wie '91 Sebadoh III die dunkle Entsprechung zu Nevermind war. Bubble and Scrape ist zwar cleaner als III, aber es hat immer noch die zerfledderte Würde, welche die besten Alben dieser Band auszeichnen. Insbesondere Eric Gaffney's sechs Songs sind so experimentell, noisy und ausserweltlich – und schimmern zugleich in solcher Schönheit - wie Nichts anderes in dieser Zeit. Dass dann Barlow's Songs fast (aber zum Glück wirklich nur fast...) konventionell wirken, trägt zur Spannung des Albums bei. Und dann hat Jason Loewenstein auf Bubble and Scrape auch noch zu Stil und Klasse gefunden. Er hatte gerade eine schlimme Trennung hinter sich und sowas führt mitunter zu großen Leistungen (Siehe „Happily Divided“), Barlow kommt mit Perlen wie „Soul and Fire“, „Think (Let Tomorrow Bee)“ und einem traurigen Song über's Onanieren namens „Homemade“ daher und Gaffney singt und schreit bei seinen seltsamen Tracks wie z.B. „Telescopic Alchemy“ oder „Fantastic Disaster“ als wäre es das Letzte mal – und das war es dann auch - er verließ die Band, und mit ihm ging der Lärm. Sebadoh blieben trotzdem noch für mindestens zwei weitere Alben richtig spannend, aber III und Bubble and Scrape sind für mich die Alben der Wahl – weshalb dieses Album hier steht...

Sebadoh - Homemade 

Pavement


Westing (By Musket and Sextant)

(Drag City, 1993)

Ich bleibe mal bei den bekannteren und daher als typisch angesehenen Indie-Bands der Neunzigre – und ganz nebenbei auch bei der Collage-Cover Gestaltung, die '93 hip zu sein scheint. Pavement sind eine DER Indie-Bands der Neunziger. Sie veröffentliche '93 „nur“ eine Compilation, aber die hat es in sich: Nach dem Erfolg des Debüts Slanted and Enchanted versammelt die Band auf Westing (By Musket and Sextant) die drei EP's und diversen Singles der Vorjahre. Alles noch strengstens Lo-FI, alles mit noch mehr White Noise als auf ihrem ersten regulären Album, aber auch hier schon enorm melodisch und ziemlich cool - eben unverkennbar Pavement. Man muss bedenken - eine richtige „Band“ existierte in den Jahren 89 bis 91 eigentlich nicht. Steven Malkmus und Scott Kannberg hatten Pavement als experimentelles Studio-Projekt begonnen und erst mit den Jahren und dem wachsenden Erfolg wurde eine Band daraus. Die ersten vier Songs (von der Slay Tracks EP) zeigen, was man verpasst hatte, wenn man Pavement jetzt erst kennenlernte. Die sechs Songs der Demolition Plot J-7 EP und die fünf Songs der schon fast „konventionellen“ EP Perfect Sound Forever sind im Vergleich dennoch arg krachig - aber dadurch ungemein sympathisch. Das Ganze ist als kompilierte CD natürlich nicht stilecht, aber all die EP's und Singles zu suchen und zu bezahlen wäre mühevoll und teuer und hier wurde alles versammelt, was man damals verpasst hatte, und was Kenner wie z.B. John Peel schon früh zu schätzen wussten. Hier kann man zuhören, wie ein Sound definiert wurde, der sich inzwischen etabliert hatte.

Pavement - Home 

Mercury Rev


Boces

(Columbia, 1993)

Einerseits nur eine weitere Facette des Independent Rock der Neunziger, andererseits wieder eine ganz eigenständige Erscheinung, bewegen sich Mercury Rev '93 zwischen Noise, Psychedelic und Pop – und sind damit natürlich auch „alternativ“. Boces ist ihr zweites Album, nicht weniger durchgeknallt als das '91er Meisterwerk Yerself Is Steam, eine Etablierung des Wahnsinns sozusagen. Und vielleicht passt Boces hier nicht hin – es ist kein normaler Alternative Rock, aber ein quintessenzielles dieser Art suche ich hier ja auch nicht. Mit diesem Album bekommt man – ich benutze wieder Vergleiche - Doo-Wop/Noise-Rock/Beefheart Freak Outs. Man fühlt sich an Pere Ubu erinnert, stelle sich vor, Joy Division würden ihrem Namen Ehre machen wollen und Charles Mingus auf Ketamin würde dabei mitmachen. Oder vielleicht doch besser ein paar Fakten: Noch haben Mercury Rev den Sänger/Exzentriker David Baker an Bord – aber mit ihm gibt es bei den Aufnahmesessions ständig Auseinandersetzungen, er will den Kurs Richtung Wahnsinn beibehalten, der Rest der Band will mehr veträumte Psychedelik, er will Düsternis und Experimente und die Aufnahmen zu Boces werden so traumatisch, dass die Band die Songs später kaum noch live spielt. Baker verlässt Mercury Rev im Anschluss an die Tour um im folgenden Jahr als Shady ein sehr schönes/verrücktes Album (World) zu machen. Ob man es bedauern soll, dass Mercury Rev bald in ruhigere Gewässer fahren? Wenn ich das fünf Jahre später erschienene Deserter's Song höre, wohl nicht. Aber es ist zweifellos Bakers Einfluss, der die beiden ersten Alben Yerself is Steam und Boces so aussergewöhnlich macht. Eine Verschiebung von Dream Pop in rasende Gitarren Freak-Outs wie im 9+-minütigen Opener „Meth of a Rockette's Kick“, oder einen so scharfer Kontrast wie zwischen dem Technicolor-Pop von „Something for Joey“ und dem harschen Gitarren-Noise von „Trickle Down“ würden Mercury Rev nicht mehr malen. Das folgende Album See You on the Other Side ('95) ist noch näher an der pillen-beeinflussten Experimentierlust der ersten beiden Alben, aber dann gehen auch noch Flötistin Suzanne Thorpe und Drummer Jimmy Chambers und die restliche Band lässt dunkle Experimente bleiben. Beim Lollapalooza Festival '93 werden sie noch wegen zu großer Lautstärke von der Bühne geholt... das kommt dann nicht mehr vor. 

Mercury Rev - Meth of a Rockette's Kick 

The Flaming Lips


Transmissions from the Satellite Heart

(Warner Bros. 1993)

Logisch, dass ich mit den Flaming Lips und ihrem Transmissions from the Satellite Heart hier die Schwester-Band von Mercury Rev hin stelle. Die Lips existieren seit Beginn der Achtziger, haben sich mit ihren neo-psychedelischen Verrücktheiten inzwischen einen Major-Vertrag erschwindelt (erstaunlich, was damals alles so einen Vertrag bekam...) - und sie haben mit der Single “She Don't Use Jelly” einen CHARTS-ERFOLG!!! Die Kids kommen über die Nutzung des Songs bei MTV und bei den Teenie-Soap Opera's Beverly Hills 90210 und Charmed in Kontakt mit ganz gefährlichen Substanzen. Somit waren die Flaming Lips schon in diesem Jahr für einen kurzen Zeitraum “coole Pop-Stars”. Vielleicht hatte sich ihre seltsame Auffassung von Musik inzwischen in die Gehirnwindungen der jungen Generation geschlichen – weder “She Don't Use Jelly” noch Transmissions... sind “your average indie rock”. Aber die Vorstellung ist schön, dass da 12-15-jährige im Gefolge der Single das Album kaufen und entweder mutieren oder das Album nach einmaligem Hören zum Plattendealer zurückbringen. Das dürfte bei Vielen spätestens nach dem zweiten Track “Pilot Can at the Queer of God” der Fall gewesen sein, aber da war's dann hoffentlich schon geschehen. Da waren sie schon ein erstes Mal in den Genuss dieser Chorknaben-auf-Magic-Mushrooms Stimmen gekommen. Da hatten sie erstmals diese broken glass Gitarren gehört und gefühlt, wie der Bass im Mix 'rein und rausflutscht, wie der Finger des Proktologen im Anus. Zwar war diesmal nicht Mercury Rev's David Fridman Produzent, aber der für die Flaming Lips so typische übersteuerte Drum-Sound lässt das Herz auch hier bis zum Halse schlagen. Wer damals bei der Band blieb, bemerkte sicher schnell, dass der ganze Wahnsinn Methode hatte, dass das Album viel zu ambitioniert für die Charts ist – und dass Songs wie „Oh, My Pregnant Head (Labia in the Sunlight)“ ihrem Titel alle Ehren machen, dass sogar das sanfte „Plastic Jesus“ so viel mehr ist, als nur eine kleine Ballade. Auf einer Stufe mit dem Durchbruchs-Album The Soft Bulletin von '99. (Wie übrigens die meisten Flaming Lips Alben zwischen '90 und 2010...)

Flaming Lips - Pilot at the Queer of God 

Further


Sometimes Chimes

(Christmas, 1993)

Weil ich hier einen Querschnitt durch den „alternativen“ Pop/Rock des Jahres '93 herstellen will (und kann) nutze ich die Gelegenheit, auch obskure Bands/Alben zu beschreiben. Ich habe Further durch das sehr lohnende Buch „Gimme Indie Rock“ von Andrew Earles kennengelernt. Und auch diese Band hätte weit mehr verdient, als eine Fußnote in einem Liebhaber-Kompendium. Es klingt beliebig, wenn ich sage, hier treffen Einflüsse von My Bloody Valentine, Galaxie 500, Sonic Youth und Dinosaur Jr. auf Lo-Fi-Ästhetik und eigenständiges Songwriting. Man nennt immer die Namen, die bekannter sind, als Bezug - und tut diesen Bands Unrecht, weil man sie so in eine Ecke mit Cover-Bands und ideenlosen Epigonen stellt – ganz falsch bei Further. Die Musiker um das Brüderpaar Radermaker hatten Ende der Achtziger als Shadowmaker ein Album mit psychedelischem Pop bei einem Majorlabel veröffentlicht. Aber Geffen tat nichts für sie und desillusioniert machten die beiden mt neuen Musikern bei diversen Indie's als Further weiter. Beim ersten Album (Griptape LP) war Lee Ranaldo von Sonic Youth dabei, mit dem Dinosaur Jr.- und Helmet-Produzenten Wharton Tiers hatten sie einen Mann mit Credibility an den Reglern, aber auch '93 war der Erfolg trotz Kritikerlob immer noch nicht absehbar. Und auch dass der Creation Label Chef Alan McGee der Band für ihr letztes Album den Titel Charmed Life vorschlug, würde nicht helfen. Dabei hätte diese monumentale Lo-Fi-Tour de Force durch den alternativen Rock der Neunziger mehr verdient als die Missachtung, die ihr zuteil wurde. Die Radermaker-Brüder können verdrehte Songs schreiben wie Steven Malkmus, sie lassen die Melodik unter krachendem Noise verschwinden um dann wieder zurückhaltend und romantisch zu werden (siehe „Jaded Ball“), sie kennen sich mit Pop und Lärm aus und sind kein bisschen schlechter, als bekanntere Vertreter ihres Geschäftes. Nett, dass sie '94 mit einer EP immerhin in England ein bisschen Erfolg hatten, aber '95 ging die Band dennoch auseinander, Brent Rademaker gründete die etwas erfolgreichere Alternative Country Band Beachwood Sparks und Darren Rademaker hatte mit seiner Schwester etwas mehr Erfolg mit Tyde. 

Further - Phase Out 


The 3 D's


The Venus Trail

(Flying Nun, 1993)

Bis jetzt war alles hier aus den USA – aber auch aus Neuseeland kommt schon seit Jahren ganz großen Noise-Pop. Das Flying Nun-Label ist seit Jahren Lieferant einer ganz eigenständigen Form von Rockmusik – die man jetzt “alternativ” nennen würde – die man unter Bezugnahme auf die Herkunft auch den “Dunedin Sound” nennt. Wer da wen beeinflusst hat, weiss ich nicht. Ich denke Yo La Tengo (als notorische Music Nerds und Plattensammler) haben diesen Sound als Muttermilch aufgesogen, Pavement kennen auch Bands wie The Clean, The Chills, The Bats oder eben die 3d's. The Venus Trail ist der Sound der hier oben reviewten Pavement und Yo La Tengo schon in diesem Jahr zuende gedacht. Die 3Ds hatten im Jahr zuvor in Neuseeland Nirvana supported, sie hatten mit der Single “Hey Seuss” tatsächlich trotz ihrer “exotischen” Herkunft einen kleinen Erfolg in den USA, sie freundeten sich – ganz passend – auf der folgenden US-Tour mit den Kollegen von Pavement an – und dabei waren sie allen eigentlich um ein bis zwei Jahre voraus. Sie schweben dahin wie Yo La Tengo, brechen in Noise a la Sonic Youth aus, behalten dabei aber immer eine irgendwie britische coolness im Songwriting bei. „Man on the Verge of a Nervous Breakdown“ ist Independent Rock mit metallischen Sludge-Obertönen und folkigem Frauen-Gesang, „Jane Air“ ist hyperaktiv und romantisch, aber als Band, die die Kakophonie so liebt, können die 3Ds auch ruhigere Stücke erfreulich gut. Da sollte man sich mal das von der Mandoline getragene und von Denise Roughan sehr folky gesungene „Beautiful Things“ anhören oder das noch schönere „Spooky“ - und dass die 3Ds all das unter einen Hut bekommen, ohne an Stil oder Sicherheit zu verlieren, ist nur ihr geringster Verdienst. Ihre geasmte Diskografie lohnt das Zuhören – ob der Vorgänger Hellzapoppin' oder das '96er Album Strange News From the Angels oder ihre diversen EP's. Blöd nur, dass man an Platten von Flying Nun mitunter schwer herankommt. Ich MUSSTE The Venus Trail hier ans Ende stellen, weil es exemplarisch zeigt, wie großartig der inzwischen in Verruf geratene „alternative“ oder „unabhängige“ Rock in Wirklichkeit war – und ein eigener Bericht über die Musik aus Neuseeland steht kurz bevor.

The 3d's - Spooky 

Ach ja...



...und um aufgebrachte Alleswisser zu beruhigen – Bands wie Scrawl, Breeders, Bikini Kill... kommen in einem Bericht über Frauen im Wirbel des Indie Hype vor, Bands wie The God Machine oder Swell hätten hier auch hin gepasst, aber ich habe sie woanders unter gebracht – genauso wie Stereolab oder Mazzy Star. Ein anderer Mensch würde anders auswähen, ich bin aber kein anderer Mensch...

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