Schon für's Jahr 2001 habe ich ein eigenes Kapitel über „Free Folk“ verfasst – die Spielart des Folk, oder des „New Weird America“ oder des Avant-Folk oder Psychedelic Folk oder oder – die gerne das Songformat sprengt, Einflüsse aus anderen als den in der populären Musik der westlichen Welt üblichen integriert – und die schwieriger ist, als es den meisten Musik-Konsumenten lieb ist. Das heisst: Ab hier wird der Horizont erweitert – biochemisch und intellektuell. Viele der unten genannten „Bands“ und Musiker haben Mitte der Neunziger als lose Improvisations-Kollektive mit fluktuierendem Personal begonnen, und sie haben dieses Konzept zehn Jahre später nicht geändert. Aber inzwischen sind bestimmte Namen/ Personen etabliert – d.h. Sie sind diejenigen, die den Spaß vorantreiben, die den Alben den Charakter geben – und sie sind diejenigen, die inzwischen die Erfahrung und das Können gesammelt haben, das ihre Art des Musikmachens interessant bleiben lässt. Und man kann behaupten, dass inzwischen kommerziell weit erfolgreichere und weit konventioneller agierende Acts wie Devendra Banhart oder Joanna Newsom ihnen ein Publikum bescheren – genauso wie respektierte Indie-Größen wie Sonic Youth, die in den letzten Jahren Bands wie die No-Neck Blues Band ge'namedroppt haben. So ist 2005 nicht nur ein Jahr, in dem es „weitergeht“ - wie in den vier Jahren nach 2001 - es ist auch ein Jahr, in dem via Compilations Rückschau gehalten wird – nicht wie im „Pop“ mit Kompilationen der Hits der letzten Jahre, sondern mit Kollektionen von Tracks der bekannten und der vielen obskuren Freigeister, die man mühevoll unter dem Hut „Free Folk“ versammeln könnte. Die Versammlung etlicher großer und kleiner Namen des freien Folk auf Invisible Pyramid: Elegy Box ist die absolut perkekte Übersicht darüber, was Free Folk ist bzw. sein könnte – genau so wie Gold Leaf Branches.... aber dazu mehr im Review. Und natürlich gibt es eine breite Palette von Ideen von diversen bekannten Künstlern ihrer Art aus den letzten Jahren. Die meisten davon haben es zwar nicht auf „größere“ Labels geschafft, aber VHF und ATP/R verkaufen ihre Waren inzwischen in größeren Stückzahlen. Diese Bands, die ich etwas hilflos unter dem Moniker Free Folk zusammenfasse, haben nicht den Erfolg eines Devendra Banhart, einer Joanna Newsom oder auch nur eines Alasdair Roberts, aber ich bewundere die Konsequenz, mit der die allermeisten dieser Künstler hier unten inzwischen schon zehn Jahre lang – und bis weit in die 2010er Jahre – ihre Idee einer „freien“ Musik verfolgen, ohne sich einem breiterem Publikum anbiedern zu wollen. Die meinen das ernst...
Various Artists
Invisible Pyramid: Elegy Box
(Last
Visible Dog, 2005)
Das Konzept hinter dieser Box: Musiker und Bands aus dem Umfeld/der Stilrichtung Drone/ (Free) Folk/ Ambient (alle auf dem Label Last Visible Dog natürlich) machen ca. 15 Minuten Musik, inspiriert von einer vom Aussterben bedrohten bzw. von einer ausgestorbenen Tierart. Man darf einen Track aufnehmen, man kann die 15 Minuten für mehrere Tracks verwenden – nur dieses Zeitlimt sollte ungefähr eingehalten werden. Dazu gibt es ein Essay von Urdog's Jeff Knoch, und all das wird auf 6 CD's mit über 7 Stunden Spielzeit präsentiert. Das ist natürlich eine Tour de Force. Und wer da am besten arbeitet, ist subjektiv -und stimmungsabhängig, wie immer bei dieser Musik. Die Musiker mögen stilistisch/ soundmäßig teils weit von Bands wie Jackie O-Motherfucker entfernt sein, aber „Free Folk“ ist ja wie gesagt schon ein sehr schwammiger Begriff, und wenn sich hier ein Noise-Terrorist wie Birchville Cat Motel (= Gitarrist Campbell Kneale) mit den Space Rockern Bardo Pond, den lupenreine Free Folk Vertreterin Fursaxa und diversen finnischen Freigeistern zum guten Zweck zusammentun, wäre die Frage nach einem Reinheitsgebot nur peinlich. Die Elegy Box bietet einen Überblick über eine Art Musik, die bei nur einem Künstler für die übliche CD-Länge von 60 bis 70 Minuten manchmal schwer zu goutieren ist. Hier kann man also mal 'reinhören, was der Einzelne denn so macht, es sind einige Meister ihrer Zunft versammelt und das übergreifende Konzept bringt all das in einen sympathischen und überraschend gut funktionierenden Zusammenhang. Invisible Pyramid: Elegy Box ist ein perfekter Überblick und ein toller Einstieg in die Welt von Drone und Free Folk. Einziges Problem: Die CD-Box ist ein teurer Spaß und schwer zu bekommen, aber es gibt ja YouTube und Streamingdienste.
Invisible Pyramid - Urdog - The Open
Various Artists
Gold Leaf Branches
(Digitalis,
2005)
2005 scheint wie gesagt das Jahr der Rückschau in der experimentellen (Folk)musik zu sein – der Rückschau in Form gewaltiger Compilations. Gold Leaf Branches vom Digitalis Label dauert knapp fünf Stunden - wenn man es denn in Einem durchhören will. Das Label, gegründet vom Multi-Instrumentalisten, Literaten, und Hansdampf in allen Gassen Brad Rose, ist auch so ein Sammelbecken verschiedener in diesem Bereich der Musik „namhafter“ Künstler. Hier kommt die geisterhafte Folk-Chanteuse Marissa Nadler zu Wort, der Fahey-Adept James Blackshaw spielt mit, die Begründer des Free Folk Charalambides sind dabei, Brad Rose mit diversen eigenen Projekten wie z.B. Ajilvsga (man höre auch deren Medicine Bull 2008…) oder The North Sea (man höre deren Bloodlines in fünf Jahren..) oder der tolle Lo-Fi Songwriter Elephant Micah etc pp... aber es sind vor Allem die Unbekannten (bzw. NOCH Unbekannteren...), die Gold Leaf Branches zu mehr als einer unübesichtlichen Kollektion machen. Steven R. Smith's Projekt Hala Strana mit deren „Fanfare“ gefällt mir sehr, The Weird Weeds' „Soda Jerk“ ist kurz und prägnant (und deren Album Hold Me aus dem Vorjahr ein Segen...) - es gibt Etliches zu entdecken und was mir gefällt mögen andere weniger toll finden, Es ist eben eine Compilation - aber eine, die mit Liebe gemacht wurde: Die drei CD's sind in mit besagten goldenen Blättern bedrucktem Wachspapier eingeschlagen, Man konnte sie nur bei Digitalis bestellen – und heute gibt es sie für wenig Geld bei Discogs...
Gold Leaf Branches - Claypipe - Amongst Slow Dust of 60 Years
Jackie-O Motherfucker
Flags of the Sacred Heart
(ATP/R,
2005)
Jackie O-Motherfucker sind alte Bekannte im Bereich Free Folk. Vielleicht DAS Vorzeige Kollektiv für diese Musik-Gattung, die Band, die man dem Neugierigen vorspielt, weil sie die konziseste Diskografie haben, weil sie sich mit dem „Genre“ weiterentwickelt haben, und immer wieder neue Ideen auf ihren Alben verarbeiteten. Ihre Alben in den drei Jahren von '99 bis '02 sind toll, Flags of the Sacred Harp ist in Ausführung und Konzept sowas wie die Gussform für Free und Freak-Folk whatever.... Es gibt in den USA ein Hymn-Book aus dem 19. Jahrhundert, das The Sacred Harp heisst, eine Sammlung von Chor-Stücken aus der Zeit der Kolonisation Amerika's, aufgeschrieben in vereinfachter Notenschrift mit nur vier Noten – um auch den musikalisch Unkundigen zum Mitmachen anzuregen. Dieses Gesangsbuch nimmt das Kollektiv aus Portland als Ausgangspunkt für seine musikalischen Exkursionen – mal weit hinaus auf einen Ozean von Klang und Improvisation, mal streng und konzentriert am Geist der Originale ausgerichtet. Die „originalen“ Tracks („Nice One“, „Rockaway“, „Loud and Mighty“, „The Louder Roared the Sea“) sind mal folky, wie man es von Jackie-O bisher nicht kannte - „Rockaway“ wird zum ein Zeitlupen-Blues mit Lyrics, die Blind Willie McTell geschrieben haben könnte ("tombstone is my pillow/ graveyard's gonna be my bed") oder sie klingen nach Bonnie „Prince“ Billie. Aber aus dem finalen Track „The Louder Roared the Sea“ machen sie dann einen 16-minütigen Drone - die Avantgarde lauert immer hinter der nächsten Ecke. Auch die eigenen Songs pendeln zwischen Drone und Folk. „Hey! Mr. Sky“ ist einer der nettesten verschlafenen Folk-Songs des Jahres, das Zentrum des Albums ist dann der viertelstündiger Drone „Spirits“, eine allmählich aufsteigende Exkursion, die den religiösen Hintergrund der themengebenden Traditionals mit elektronischen Spielereien in weltumspannende Spiritualität übersetzt. Da ist das Cover mit der Plaid-Decke nur noch das Pünktchen auf dem i... Besser wurden Jackie-O Motherfucker nicht mehr.
Jackie O-Motherfucker - Rockaway
Fursaxa
Lepidoptera
(ATP/R,
2005)
Fursaxa ist die Musikerin und Esoterikerin Tara Burke, die schon seit Beginn der 00er Jahre völlig ironiefrei eine mttelalterlich/ psychedelisch anmutende Musik macht, die sie in Verbindung mit der Free Folk Community bringt. Dazu hat sie den Segen und lobende Worte von Sonic Youth's Thurston Moore und einen Plattenvertrag mit ATP/R – dem Label, das sich aus einer Konzert-Promotion-Agentur zu einem beachtlichen Indie-Label entwickelt hat. Was sich die Label-Macher von ihr versprechen, ist ein bisschen rätselhaft, Fursaxa's Lepidoptera ist hermetische Musik, mit Wurzeln in Folk, in religiösen Madrigalen und im Drone einer Nico etwa. Die Tracks basieren auf Gitarrenchords, Organ-Drones, gklöppelten Tamburinen und Tara Burke's gedoppeltem und verdreifachtem Gesang. Der ist nicht notwendigerweise verständlich, es geht ihr um das Entstehen von Stimmungen, der Raum ist ein weiteres Instrument, er klingt mit, Dynamik soll anscheinend nicht entstehen, sondern eine kontemplativer Stimmung. Das könnte albern wirken ob seiner Esoterik, ist aber so ernst gemeint – und so gelungen - dass man sich einfangen lassen kann. Ich sehe Tracks wie das pastorale „Pyrcantha“ mit übereinander geschichteten Gitarren oder das bedrohliche „Freedom“ als aurale Mandalas. Muster aus Klang, die nicht als „Folk“ im bekannten Sinne zum mitsingen oder nachpfeifen gedacht sind, sondern eine archaische Form der Meditationsmusik neu empfinden und erfinden.
Fursaxa - Freedom
The No-Neck Blues Band
Qvaris
(5RC,
2005)
Eine weitere Lieblingsband von Sonic Youth's Thurston Moore ist die No-Neck Blues Band. Er nannte sie seinerzeit tatsächlich "the best band in the universe ever." Und die Referenz Richtung Universum trifft es auf gewisse Weise auch ganz gut: Das basisdemokratische Improv-Kollektiv ist immer noch in New York beheimatet, hat dort im Harlemer Hint House bei seinen wöchentlichen Sessions eine traumhafte Sicherheit darin entwickelt, disparate Musikformen zu einem gewagten Mix zu verwirbeln und dabei tatsächlich zu klingen, als würde ein Flug durch fremde Galaxien musikalisch untermalt. Da treffen Sun Ra, Grateful Dead, Captain Beefheart's Magic Band und Robert Johnson aufeinander und spielen Free Jazz auf einem Blues, Raga und Folk Fundament. Oder ich sag's mal so: Qvaris klingt fremd. So fremd wie seinerzeit Beefheart's Trout Mask Replica geklungen haben mag. Nur dass Qvaris in eine Welt eintritt, in der es Ausserirdisches wie Trout Mask schon gibt. Und die No-Neck Blues Band teilt mit Beefheart in meinen Augen vor allem die angenehme Eigenschaft, sich durch ihren naiven Spass am Abseitigen intellektueller Analyse zu entziehen. Da sind Tracks wie „Live Your Myth in Grease“ mit minimalistischen Gitarrensplittern über Tribal-Rhythmen, das gibt es das völlig abstrakte „Black Pope“ mit spooky Keyboard-Sounds in einem seltsamen Klang-Universum (Mit einem lustigen Video bei YouTube...), da ist eine Band mit einem komplett anti-kommerziellen Anspruch, die aber mit diesem Album - und mit den beiden Vorgängern Sticks and Stones May Break My Bones (siehe Free Folk 2001) und dem 2003er Album Intonomancy - einen ganz eigenen Claim abgesteckt hat – die wirklich „neue“ Musik gemacht hat (und die dazwischen freilich eine Unzahl von Kleinst-Veröffentlichungen auf Mini-Labels gemacht hat...). Ich weiss nicht, ob Qvaris irgendwann eine vergleichbare Bedeutung wie Trout Mask Replica haben wird - vermutlich eher nicht, weil die Flut an seltsamen Musik inzwischen reissend geworden ist, aber Qvaris ist allemal eines der besten Alben seiner selsamen Art. Thurston Moore hat Ahnung, und wenn man sich auf sein Urteil nicht verlassen will, dann kann man immerhin meinen Worten glauben...
No-Neck Blues Band - Live Your Myth in Grease
Spires That in the Sunset Rise
Four Winds the Walker
(Secret
Eye, 2005)
Free Folk hat im Gegensatz zum Free Jazz eine starke feministische/weibliche Komponente. Frauen sind selbstverständlich gleichberechtigte Mitglieder in den Kollektiven, die die improvisierte Musik dieser Zeit kreieren, Da sind Tara Burke/Fursaxa, Charalambides' Christina Carter oder Erika Elder von den Tower Recordings - und die sind nicht nur Begleiterinnen, sie haben massiven Einfluss auf die Musik ihrer „Bands“ – und mit Spires that in the Sunset Rise (wieder so ein toller Bandname) etabliert sich nun ein all-female Quartett aus Chicago mit seinem zweiten Album.... und arbeitet im Gegnsatz zu den anderen Protagonisten des Free Folk mit elektrisch verstärktem Instrumentarium, das man doch eher mit Männer-dominiertem Rrrock verbinden könnte. Aber dann ist es auf Four Winds the Walker doch so, dass die Wahl der Instrumente unwichtig ist, und die rein weibliche Perspektive, aus der die Musik hier gemacht ist, nicht plakativ 'rausgehauen wird, sondern sich selbstverständlich in Energie, Innovation und Klang zeigt. In dieser Art von Musik ist das Geschlecht (hoffe ich jedenfalls) gleichgültig. Four Winds the Walker ist ebenso einzigartig und eigenartig wie Qvaris von der No-Neck Blues Band, das Universum, das Spires... erforschen, bietet unendlich viele unerkannte Möglichkeiten. Natürlich benutze ich wieder (obskure) Bands als Vergleiche – Das Quartett könnte sich auf die Slits, die Raincoats und Yoko Ono berufen, auf die großartigen Sun City Girls, auf die abwegige Sixties-Folk Band Comus, und auf die durchkonzipierten Verrücktheiten diverser ESP-Disk Folk-Alben der Sechziger, aber – auch wie immer – die Vergleiche hinken. Spires... nutzen ihre Instrumente, als wären sie die Ersten, die ein verstärktes Banjo mit dem Bogen streichen, sie setzen ihre diversen, teils selbst-erfundenen Insrumente unter massive Spannung, sie erfinden tatsächlich eine weitere Facette im neuen, freien Folk. Ihre Songs klingen fremd, aber erstaunlich präzise, sie verlieren sich nicht - wie bei anderen Free Folk Acts üblich - in ellenlangen Improvisationen, sie bleiben fast immer innerhalb des Song-Formates zwischen drei und fünf Minuten (was ihnen eine angenehme Ökonomie verleiht)... aber diese Songs sind fremd, neu und erfreulich abwegig. Tracks wie "Sheye" oder „Born in a Room“ haben theatralische Background Vocals, die man eher aus dem Prog-Rock zu kennen glaubt. Und ein Song wie „The May Han“ ist fast „normal“, würden da nicht seltsame String-Instrumente, schwirrende Saiten und zischende Becken den Hintergrund aufwühlen. 2005 ist ein Jahr, in dem Free Folk seine Grenzen weit nach aussen verschiebt. Dass das Gros der Menschheit nichts von weiss, ist ein bisschen schade und sehr egal.
Six Organs Of Admittance
School Of The Flower
(Drag
City, 2005)
Dass Free Folk ein breiteresPublikum erreicht hat, kann man vielleicht an Six Organs of Admittance' erstem richtig im Studio produziertem Album erkennen. Der Kopf hinter diesem Namen – Ben Chasny – ist befreundet mit Freak Folk Posterboy Devendra Banhart, er hat einen Plattenvertrag beim doch recht großen Indie-Label Drag City – mit Musik, die mitunter in die abstrakten Bereiche der Free Folk-Improvisationen und Drones eintaucht, die aber auch immer wieder ins Songformat zurückkehrt. School of the Flower ist Free Folk Light – und das meine ich nicht negativ!! Denn was Ben Chasny hier mit dem experimentellen Percussionisten Chris Corsano (von Sunburned Hand of the Man...) veranstaltet, ist keinesfalls als Einknicken vor einem „Massengeschmack“ zu sehen. School of the Flowers ist einfach auf die Grenze gebaut. Da passt es, dass Chasny's Vorbilder - nach eigenen Aussagen – bei Bands wie The Dead C, SunnO))) oder bei dem japanischen Experimental-Musiker Keiji Haino und dessen Band Fushitsusha zu finden sind – und eben nicht nur unter alten Folk-Meistern der amerikanischen Geschichte. Eben das hört man auch immer wieder auf School of the Flower. Das Album startet gelinde psychedelisch mit „Eighth Cognition / All You've Left“, aber schon innerhalb dieses Tracks beginnt auf einmal Corsano mit diversen Instrumenten zu rattern und rasen, dass es eine Freude ist. Da ist der pure Free Folk Drone von „Saint Cloud“ und dann ist da das zentral Titelstück mit einer uhrwerkhaften Gitarrenfigur, die im Verlauf von dreizehn aufregenden Minuten immer tiefer in einem zart gesponnenen Chaos aus rasanten E-Gitarren (siehe japanische Noise Bands...), Rückkopplung, freien Percussionwirbeln und Lärm versinken. Und auch hier nannte Chasny mit John Cale/Terry Riley's Church of Anthrax ein Vorbild, das weit ausserhalb der Grenzen des Folk steht. Dass er zwei relativ konventionelle Folk-Tracks ans Ende des Albums stellt, dass er hier erstmals nicht mit 4-Spur-Recorder sondern mit vollem Studio.Equipment arbeitete – all das macht dieses Album zu einem sehr genießbaren Einstieg in seine Arbeit und in die hermetische Musikform, der ich es hier zuordne. Und das Album zeigt, dass dieser Ben Chasny völlig zu Recht ein so profilierter Künstler ist. Er begleitete Joanna Newsom und seinen Freund Banhart, arbeitet mit Extremisten wie Charalambides oder Current 93 und stand unwillig - und damit sympathisch - im Rampenlicht des „New Weird America“ ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren und ohne die Vorbilder zu verleugnen, die eben ausserhalb der Free Folk Norm lagen. Six Organs of Admittance sollte man hören – und mit diesem Album beginnen.
Lichens
The Psychic Nature of Being
(Kranky,
2005)
Ich gebe diesen Einträgen immer Überschriften, die EINEN ganz bestimmten Stil – ein Genre zum Thema der Reviews und Bemerkungen machen – wissend, dass diese Schubladen den Musikern meist wohl nicht passen würden, dass kaum ein Musiker beschliesst, EIN bestimmtes Genre mit seiner Musik zu bedienen und wissend dass andere Hörer das Album X der Band Y eher einem anderen Genre zuordnen könnten. Aber ich sehe solche Kategorisierungen nicht besonders streng, sie sind letztlich lediglich praktisch zur „Erklärung“ von Musik. Das Prinzip für mich ist: Wer das eine Album mag, das man möglicherweise dem lockeren Begriff Free Folk zuordnen könnte, der mag vielleicht auch das folgende Album etc.... Da ist zum Beispiel das Alias Lichens des 90 Day Men bzw. TV on the Radio Musikers Rob Lowe – ein Album das der Multi-Instrumentalist (fast) alleine eingespielt hat, und das weder mit dem Math Rock der Einen, noch mit dem Art-Rock der Anderen viel gemein hat - das mich ganz einfach eher an die Musik diverser Bands aus diesem Artikel erinnert. Die drei Tracks – 10 bis 20 Minuten lang – wurden ohne Overdubs live improvisiert, was mir fast unglaublich erscheint, denn Lowe arbeitet mit geloopter Stimme, Gitarrenklustern und organischen Synthie-Sounds gleichzeitig. Er macht aus wortlosem Gesang schwebende Drones, aus denen die gezupften Gitarrentöne wie Regentropfen fallen („Kirlian Auras“) das ganze Album klingt völlig organisch, seine Wurzeln mögen nicht in überlieferten Folk Traditionen liegen, aber die Früchte von Lowe's Arbeit schmecken mir eher nach Fursaxa (ohne Esoterik), spätem John Fahey und indischem Raga als nach gewollt experimentellem Drone mit all seiner Dissonanz. The Psychic Nature of Being ist so freundlich, dass es für mich perfekt in eine Reihe mit anderen Free Folk Alben dieser Zeit passen kann. Insbesondere der abschließende 20-Minuten Track „You Are Excrement, You Can Turn Yourself Into Gold“ mag etwas ZU lang geraten sein, aber Durchhalten ist in dieser Form von Musik Bedingung – und mir fällt das Durchhalten leicht, weil Lowe immer wieder neue Loops, Distrortions und Sounds ergänzt. Ich wüsste auch ein paar andere Bezeichnungen für diese Musik, aber mir scheint, wer die obigen Alben mag, könnte Lichens auch mögen.
Free Folk und primitive Gitarrenmusik ?
Und nun zu einem dem Free Folk anverwandten Bereich der Musik, zum „American Primitivism“, der instrumentalen Gitarrenmusik, die ihre Wurzeln ebenfalls im Folk des alten Amerika hat, der sich aber von Anfang an (Mitte der Fünfziger...) mit seinem „Erfinder“ John Fahey in alle Richtungen ausdehnte – der klassische Musik, indischen Raga, Drone und meinetwegen sogar „Rock“ in seine Sprache einfügte – und damit vieles vorwegnahm, was die Musiker der diversen Free Folk Kollektive heute praktizierten. Daher mag es kommen, dass Jack Rose (siehe hier unten) bei den Free Folk Könnern von Pelt seine Heimat fand, und daher mag es kommen, dass eine Band wie die No-Neck Blues Band bei John Fahey's Revenant Label eine Heimat fand...
Jack Rose
Kensington Blues
(VHF,
2005)
Jetzt ist der Name John Fahey gefallen, und mit Kensington Blues steht hier auch ein Album, das in der Reihe der Free Folk Alben streng genommen nicht ganz richtig ist. Jack Rose ist Mitglied der Band Pelt und er hat 2004 mit Raag Manifesto ein Album gemacht, das seine Gitarrenexkursionen – wie so viele andere Bands seiner Zunft – nach Indien überführt. Nun veröffentlicht er Kensington Blues auf dem Free Folk-affinen Label VHF - aber er macht mit diesem Album einen großen Schritt aus der Free Folk/Raga Ecke in Richtung von Blues- und Folk-inspirierter instrumentaler Gitarrenmusik. In Richtung der Musik mithin, die man „American Primitivism“ nennt, die viele Musiker aus dem Umfeld des Free Folk beeinflusst hat und deren „Erfinder“ und größter Vertreter John Fahey drei Jahre zuvor gestorben ist. So hört der kundige Hörer dann auch jenen Fahey heraus, aber auch dessen Schüler Robbie Basho, den britischen Folk-Gitarristen John Renbourn, Elizabeth Cotton, Richard Thompson und sogar Grateful Dead's Jerry Garcia. Was mich beeindruckt, ist der ständige Ideen-Flow, die (Neu)- Erfindung einer eigenen Musik aus uralten Wurzeln. Rose ist offensichtlich ein großer Techniker, aber er stellt – wie Fahey – sein Können in den Dienst eines höheren Konzeptes, er wäre vermutlich auch mit jedem anderen Instrument ein herausragender „Musiker“. Aber natürlich ist es eine Freude ihn auf der 12- String, mit Slide-Gitarre und als Ragtime Fingerpicker zu hören. So wie es interessant und spannend ist, zu hören wie er bei „Cross the North Fork“ Raga und Ragtime organisch ineinander fliessen lässt. Dann ist da das Fahey-Cover „Sunflower River Blues“, das Rose mit seinem eigenen Flow versieht oder das ganz eigene „Cathedral et Chartres“, das mit Slide Gitarre am Ende in einen Drone abgleitet. Schön, dass immer wieder kürzere Tracks wie „Flirtin' with the Undertaker“ auf die Ursprünge seiner Musik verweisen und für Erholung nach den ausladenden experimentelleren Tracks sorgen. Jack Rose hatte mit Pelt und Allein einen eigenen Pfad eingeschlagen und wurde nun spätestens mit Kensington Blues zum berechtigten Nachfolger von John Fahey. Um so tragischer war da sein Tod vier Jahre später an einem Herzinfarkt. Seine Musik: Kostbar,
James Blackshaw
Sunshrine
(Digitalis,
2005)
Wenn Jack Rose der neue Fahey wäre, könnte James Blackshaw der neue Leo Kottke sein – jedenfalls was die Wahl seines Instrumentes angeht – er ist ein Meister der 12-String Gitarre. Aber Kottke lebt noch und James Blackshaw ist weit weniger in amerikanischen Blues Traditionen verwurzelt als Kottke – oder als Jack Rose, was das angeht. Sunshrine erscheint ebenfalls – wie die oben beschriebene Compilation Gold Leaf Branches - auf Brad Rose's Digitalis Label (… der ist nicht mit Jack Rose verwandt...) und ist in seiner Konzeption näher an anderen Free Folk Alben, als Kensington Blues.... eben weil hier Folk und Weltmusik, Raga und Drone mit offen gestimmter 12-String Guitar, Organ, Glockenspiel und anderen Klangerzeugern zu einer neuen, „freieren“ Musik zusammenfinden – zu einer Folkmusik, die ich eher mit dem 21. Jahrhundert verbinde, als mit dem amerikanischen Folk des frühen 20. Jahrhunderts. Aber der Brite James Blackshaw wird – so wenig wie andere hier genannte Musiker - beschlossen haben instrumentale, gitarrenbasierte Musik mit dem Etikett „Free Folk“ zu spielen. Er verfolgt einfach seine eigene Version der Instrumentalmusik, er mag Vorbilder wie Fahey und vor Allem Robbie Basho haben, aber er ist ideenreich und konsequent in der Verwirklichung seiner Vision. Das über 25-minütige Titelstück geht von Folk über Raga-Passagen bis zu harten Orgel-Drones, man hört, warum Noise-Spezialist Campbell Kneale ihn ein Jahr zuvor auf seinem eigenen Label ein Album (Celeste) machen ließ. Das kurze „Skylark Herald's Dawn“ ist weniger extrem, sozusagen ein Ausklang in Ruhe. James Blackshaw entpuppte sich hier endgültig als ein weiterer Ideenreicher Vertreter einer neuen, abenteuerlichen und avantgardistischen Folkmusik
Harris Newman
Accidents With Nature and Each Other
(Strange
Attractors, 2005)
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