Donnerstag, 28. März 2019

2011 - Arabischer Frühling, Fukushima und Massenmord in Norwegen – PJ Harvey bis Danny Brown

2011 steht ganz im Licht des sogenannten „arabischen Frühlings“ - dem Versuch der Bevölkerungen verschiedener islamischer Staaten rund ums Mittelmeer, demokratische Verhältnisse via Revolution zu erzwingen. Zunächst ensteht auch so etwas wie Hoffnung in Ägypten, Tunesien, Marokko und vielen anderen Staaten, aber bald werden diese Bemühungen von religiösen Fundamentalisten und den etablierten Herrschaftskasten blutig unterdrückt und speziell in Syrien bricht ein furchtbarer Bürgerkrieg aus. Am 11. März kommt es in Japan zu einem Tiefsee-Erdbeben mit nachfolgendem Tsunami (über 19.000 Tote), der das Kernkraftwerk von Fukushima komplett zerstört – und wieder einmal ist ein völlig undenkbarer Super-GAU eingetreten, kommt es zu eine nuklearen Verseuchung – und wieder einmal verharmlost die weltweite Atom-Lobby alle Folgen. Immerhin entscheidet Deutschland sich für den schnellen Atomausstieg – irgendwann demnächst... Weltweit kommt es zu Naturkatastrophen, Stürmen, Dürren etc wegen der nun immerhin erkannten Klimaveränderungen, dazu Erdbeben in Neuseeland, im Iran und wie gesagt in Japan. Osama Bin Laden, Chef der Al Qaida Attentäter wird - live vom US Präsidenten via Satellit verfolgt – von einem US Kommando erschossen und in Norwegen killt ein fanatischer Faschist 77 Jugendliche, die mit einer sozialdemokratischen Jugend-Organisation auf einer Ferieninsel kampieren. Weltweit ist politischer und religiöser Extremismus auf dem Vormarsch und Gesellschaften driften politisch immer weiter auseinander. Der Nordkoreanische Superheld Kim Jong Il, einzigartiger Führer und glorreicher General, der vom Himmel abstammt stirbt - bzw fährt wohl auf ins Paradies. Sein Erbe Kim Jong Un ist genauso bekloppt, Soul-Sängerin Amy Winehouse stirbt zu Niemandes Überraschung mit gerade mal 28 Jahren. Das Jahr 2011 ist geprägt von der elektronischen Musik, Avantgarde wird zum Mainstream (Siehe Oneohtrix Point Never etc) wie immer in den letzten Jahren gibt es in fast jedem Genre lohnendes zu kaufen. PJ Harvey macht Folk, Kate Bush kehrt zurück, extreme Musik bleibt extrem ohne sich zu verschlechtern. R'n'B und (Neo)-Soul bekommt erstaunliche relevanz, das neue Jahrzehnt bietet einiges – aber Musik ist zugleich nur Begleitprodukt zum Lifestyle. Oberflächlichere Soundtracks dazu verkaufen Lady Gaga, Bruno Mars, Katy Perry, David Guetta und andere Leichtgewichte, Coldplay blähen sich bis zur Unkenntlichkeit auf, Müll überall, aber eben auch...

PJ Harvey


Let England Shake

(Island, 2011)

und da ist sie ein weiteres mal: PJ Harvey ist - ganz objektiv – in der populären Musik seit den Neunzigern eine Konstante. Eine produktive, wandelbare, intelligente und geschmackvolle Künstlerin, die durch kluge stilistische Wendungen nie langweilig wird. Ihr letztes Solo-Album von 2008 habe ich im entsprechenden Leitartikel beschreiben müssen, weil es so großartig war, das folgende Album mit John Parish war auch gut, aber eben nicht PJ allein, Let England Shake erinnert wieder daran, dass man an dieser Frau nicht vorbei kommt. Sie schafft es inzwischen scheinbar spielend, die feine Balance zwischen Pop, (Folk)Rock, Experiment und Anspruch entlang zu schreiten. Auf diesem Album setzt sie sich mit den schwierigen Themen Krieg, Verlust, (fehlgeleitetem) Patriotismus und Fanatismus auseinander und hat dazu englische Soldaten, Iraner und Afghanen befrag, Berichte über die Schlacht von Gallipoli gelesen, behandelt auf „The Words That Maketh Murder“ die Kriegsverbrechen unter Tony Blair, bei „On Battleship Hill“ den zweiten Weltkrieg – immer aus der Perspektive des einzelnen, fehlgeleiteten und benutzten Individuums. Let England Shake ist ein Anti-Kriegs-Album, das erschreckend und zugleich schön ist. PJ Harvey hatte schon auf White Chalk mit höherer Stimme gesungen - auch hier singt sie eine Oktave höher als früher, eine bewusste Entscheidung, die sie beim Einüben der Songs traf. Die Aufnahmen fanden in einer umgewidmeten Kirche in Dorset statt – was dem Album seinen hallenden Sound verleiht - und sie ließ ihre Musiker - John Parish, Mick Harvey und Drummer Jean-Marc Butty - bewusst improvisieren. Im Gegensatz zu White Chalk ist Let England Shake nicht vom Klavier bestimmt, PJ hatte inzwischen die Autoharp (eine Art Zither...) entdeckt und arbeitet mit Saiteninstrumenten, Saxophon und Blasinstrumenten – und hat dazu einige schöne Folk-Melodien gefunden, die im Kontrast zu den bitteren Themen zu stehen scheinen. Man vermutet beim fröhlich dahin-hüpfenden Titeltrack keine Lyrics, die sich mit dem Tod beschäftigen, die sanfte, mit Autoharp und Bläsern verzierte Ballade „All and Everyone“ über das Massaker von Bolton im britischen Bürgerkrieg Mitte des 17. Jahrhunderts hat zwar bedrohliche Untertöne, aber ist die Melodie nicht zu lieblich für 1.600 Tote...? Letztlich macht Harvey mit Let England Shake - nach White Chalk – den nächsten Schritt in Richtung klassischer britischer Folk-Musik, deren Themen dunkel, deren Melodien aber oft hell und lieblich sind. Sie hat in den Jahren zuvor ihre Art Songs zu schreiben geändert – inzwischen sind die Worte Leitmotiv der Musik, die Autoharp als Instrument zum Komponieren bewirkt eine noch deutlichere Hinwendung zum Folk-Sound. Dass PJ Harvey sich längst von Patti Smith (mit der sie von Ignoranten immer noch verglichen wird) emanzipiert hat, versteht sich. Let England Shake hat zeitlose Klasse.


Chelsea Wolfe


Ἀποκάλυψις

(Pendu Sound, 2011)

Dummköpfe könnten sich hier und jetzt beklagen, dass Chelsea Wolfe sich (zu eng) an PJ Harvey anlehnt = Dass ihr zweites richtiges Album - Ἀποκάλυψις (= Apokalypsis) - nur ein Abklatsch der früheren PJ Harvey ist... Aber das stimmt genauso wenig, wie der Vergleich zwischen Harvey und Patti Smith. Ja, es GIBT Ähnlichkeiten – schon allein in der Kraft und Ausdrucksweise der Stimme – aber man kann Chelsea Joy Wolfe (so ihr Geburtsname) in diesen postmodernen Zeiten auch mit Grouper, mit Nico, Carla Bozulich oder Siouxie Sioux in Verbindung bringen. Die Versuchung ist groß, wenn man sieht wie sie sich in den folgenden Jahren inszeniert. Aber spätestens dieses Album ist so eigenständig - und gelungen – dass Vergleiche zu kurz greifen und ich es hier empfehlen will. Wolfe hatte schon als Kind Songs komponiert, der Vater hatte als Country-Musiker ein kleines Home-Studio und die junge Chelsea konnte schon frühzeitig ihre eigene musikalische Sprache entwickeln. Ein nicht veröffentlichtes Album 2006, dann 2010 mit The Grime and the Glow ein erster kleiner Underground-Erfolg, aber das Album, mit dem sie berechtigte Aufmerksam bekam, ist eindeutig Ἀποκάλυψις . Was sie hier in erstaunlicher Bandbreite präsentiert, fällt gemeinhin unter die Begriffe Gothic, Darkwave, Ethereal Wave oder Doom , wird erzeugt mit Stilmitteln wie stark verhalltem Gesang, düsteren Drum-, Bass- und Gitarren-Sounds, schleppenden oder majestätisch dahinschreitenden Rhythmen und haufenweise Atmosphäre. Aber Chelsea Wolfe hat auch die Songs, all die Formalien mit Leben und Bedeutung zu füllen, sie vermischt ihre dunklen Farben zu einem eigenen Schwarz. Gothic – ich will es mal so einfach nennen – ist nicht neu, und Ἀποκάλυψις ist kein innovatives Album, aber Chelsea Wolfe klingt, als hätte sie diese Musik neu erfunden, als hätte sie keine andere Wahl, als genau so zu klingen. Und Ja – „Tracks (Tall Bodies)“ könnte ich mir auch als Song aus PJ Harvey's Federn vorstellen, aber das ist ein Lob. Sie kennt natürlich Black Metal und Psychedelic – diese Generation von Musikern ist mit dem Wissen um 50 Jahre (Rock)musik aufgewachsen und hat Alles via Internet zur Verfügung (Man schaue sich ihre YouTube Videos von Burzum und Radiohead-Songs an). Um so größer der Verdienst, wenn aus all dem Wissen ein Song wie „Moses“ oder „Movie Screen“ destilliert wird. Das Album ist überraschend abwechslungsreich, Tracks wie „Friedrichshain“ sind regelrecht catchy und klugerweise kurz gehalten, das darauf folgende „Pale on Pale“ belehnt Siouxie and the Banshees, Sludge und Black Metal. Der Trend zum Gothic begann zwar schon in den 00er Jahren, aber Ἀποκάλυψις ist für mich das erste wirklich bemerkenswerte Beispiel dieser Musik einer neuen Generation von Todessehnsüchtigen.



Kate Bush


50 Words for Snow

(Fish People, 2011)

Eigentlich will ich in diesem Kapitel nicht auf einem Thema herumreiten – aber ich habe herausgefunden, dass die (IMO) besten Alben dieses Jahres durchaus Gemeinsamkeiten haben, von denen die Unwichtigste das Geschlecht der Interpreten ist... Dass PJ Harvey Kate Bush als eines ihrer größten Idole bezeichnete, dürfte immerhin überraschen – ihrer Musik hörte man das lange nicht an – aber inzwischen..? Inzwischen hat Kate Bush den Status einer elder stateswoman, ihre in großen Abständen erscheinenden Alben sind Äußerungen einer Künstlerin, die schon aufgrund ihrer Geschichte Nichts mehr falsch machen kann. Und genau damit könnte sie natürlich in eine Kreativ-Falle treten und sich mit 50 Words for Snow nur auf alten Lorbeeren ausruhen. Aber das macht Kate Bush natürlich nicht. Das Album ist - wie der Vorgänger Aerial - ein ganz eigenständiges Werk, wieder eindeutige Kate Bush und zugleich wieder gan neu. Kurz gesagt kommt mir 50 Words for Snow vor wie ein musikalisches Bild mit der Darstellung der meditativen Atmosphäre, die bei nächtlichem Schneefall entstehen mag. Kate Bush singt mit (inzwischen) tieferer Stimme, die elegischen Songs werden vom Klavier und von Steve Gadd's Percussion getragen, sie beschreibt den Fall einer Schneeflocke aus der Ich-Perspektive, in „Misty“ verbringt sie eine Nacht mit einem Schneemann, im wunderschönen „Lake Tahoe“ sucht eine viktorianische Geister-Frau ihren ertrunkenen Hund „Snowflake“ unter dem Eis (was an die gespenstische Atmosphäre ihres einstigen Hits „Wuthering Heights“ erinnert) und beim exzentrischen Titeltrack zählt Stephen Fry besagte 50 Worte für Schnee auf. Das Album hat eine entspannende Wirkung (im Gegensatz zu den beiden vorher beschriebenen Alben von PJ Harvey und Chelea Wolfe), Bush verzichtet auf Drama, auf komplizierte Beziehungs-Geschichten, und betrachtet die Natur, wie man eine Schneeflocke durch ein Mikroskop in all ihrer Komplexität bestaunen könnte. Dem langsamen Fall der Schneeflocken entsprechend sind manche Songs über zehn Minuten lang, und genau so muss es dann auch sein. Mit Elton John hat sie für „Snowed in at Wheeler Street“ einen prominenten Duett-Partner, der dem Song und dem Konzept nicht schadet. Das einzige, was ich bedaure ist, dass seither kein neues Album mehr zustande kam. Immerhin wurde 50 Words for Snow inzwischen auf Vinyl veröffentlicht.


Bon Iver


Bon Iver, Bon Iver

(4AD, 2011)

Jetzt würde – wollte ich mich an das unfreiwillige Thema halten – Annie Clark aka St. Vincent mit ihrem 2011er Album Strange Mercy passen – aber der Hinweis soll reichen und ich wende mich dem konventionelleren Indie Folk von Bon Iver, Bon Iver zu. Bon Iver sind/ist Justin Vernon, eine Band bzw. inzwischen ein Musiker, der 2007/8 mit seinem wunderschönen Debüt For Emma, Forever Ago die damals virulente Sehnsucht nach bärtigen Folk-Naturburschen mit-befriedigen konnte, der sein Album stilecht in einer einsamen Hütte im Wald per Hand zusammengebaut hatte – und der mit seiner Kopf-Stimme als intelligenter Freigeist schon schnell weit über die Grenzen des „Folk“ hinweg musizierte (worin er den Fleet Foxes ähnelt, deren 2011er Album Helplesness Blues hier genauso stehen könnte...). Bon Iver, Bon Iver hat eine ähnliche Atmosphäre wie der Vorgänger, hier herrscht Ruhe und Introspektion, alles schwebt sanft und manchmal ein bisschen gespenstisch dahin, Sounds von Steel-Guitar, Vernon's gedoppelter Gesang und sanfte Akustik-Gitarren gemahnen an den rustikalen Vorgänger – aber Vernon hatte nun eine ganze Band im Hintergrund, der Sound schwillt nun mitunter zu einem ruhigen Sturm an, der Experimental-Jazzer Colin Stetson und Vernon's Kollege Mike Lewis dürfen die Songs mit einem Haufen Bläser aufpumpen, Steel-Legende Greg Leisz lässt so manchen Song in Sonnenuntergangs-Rot erstrahlen – das Album ist so üppig, dass es manchem Konservativen Geist zu viel wurde und Klagen kamen, dass Justin Vernon hier irgend etwas verraten hätte. Ich sage: Seit For Emma, Forever Ago waren vier Jahre vergangen, der kommerzielle Erfolg und der Hype um jenes Album hatte Justin Vernon neue Möglichkeiten eröffnet (immerhin hatte er sich ein eigenes Studio in einer ehemaligen Tierklinik aufgebaut) und ein klug ausgedachte Sound, der viel Entwicklungs-Potential bietet, kann nicht verkehrt sein – zumal hier mit „Holocene“, „Michicant“ oder dem Opener „Perth“ feinstes Songwriter Handwerk geboten wird. Bon Iver, Bon Iver bietet keinen leidenschaftlichen Ausbruch, keinen Sturm-und-Drang, es fließt ruhig dahin – mit ein paar kleinen Stromschnellen – aber mir gefällt es gerade besser als besagtes 2011er Album der Fleet Foxes. Immerhin: Morgen könnte ein anderes Album seinen Platz übernehmen.


Matana Roberts


Coin Coin Chapter One: Gens de couleur libre

(Constellation, 2011)

Die gesellschaftliche Relevanz von Jazz tendierte in den letzten Jahrzehnten gegen Null. Fans dieser Musik mögen es leugnen, aber Jazz war spätestens seit den Mitt-Siebzigern nur noch Nischen-Musik für Eingeweihte, bei der komplexe Strukturen und instrumentale Virtuosität die entscheidenden Faktoren bildeten. Dass dazu System-immanente Schwerverdaulichkeit kommt, machte es lange Zeit fast unmöglich, Jazz einem genre-fernen Publikum nahe zu bringen. Aber im neuen Millenium kommen auf einmal Musiker daher, die den Jazz auch als Sprachrohr für Botschaften mit Bedeutung nutzen – und Zack! - Jazz wird (mir) wichtig. Somit ist Matana Roberts' Live Album Coin Coin Chapter One: Gens de couleur libre das erste „echte“ Jazz Album seit Miles Davis 1970er Meisterwerk Bitches Brew an dieser prominenten Stelle. Die '78 geborene Matana Roberts hatte sich in Chicago seit den frühen 00er Jahren in diversen Kunst- und Jazz-Projekten als Saxophonistin, Texterin, und Arrangeurin etabliert, sie war insbesondere im Umfeld von Post-Rock Bands (die bekanntlich sehr Jazz-affin sind) wie Godspeed You! Black Emperor und Tortoise unterwegs, hatte auf deren Alben mitgewirkt und einen Vertrag beim antikapitalistischen Montrealer Post Rock Label Constellation ergattert, auf dem sie nun ein Konzept-Werk veröffentlichte. Coin Coin Chapter One... behandelt in Free-Jazz-Improvisationen, Big Band Arrangements, Spoken Word-Passagen, Noise Ausbrüchen und lyrischen Saxophon-Passagen das Leben der Marie Thérèze Coincoin – einer ehemaligen Sklavin im Louisiana des 19. Jhdt., die als Mutter mehrerer frei geborener farbiger Kinder und als erfolgreiche Unternehmerin zur Symbolfigur gegen Rassismus und für Feminismus steht. Beides Themen, die bekanntermaßen gerade in den USA der 2010er Jahre an Bedeutung gewannen. Roberts plant eine 10-teilige Folge von Alben, die den Rassismus/Feminismus in den USA behandeln, und dieser erste Teil ist musikalisch so spannend, dass man sich schon auf die restlichen neun Teile freuen kann. Aber wäre nur das Thema klug ausgedacht, dann stünde Coin Coin Chapte One... nicht hier. Die Verquickung von Jazz und Post-Rock, der Abwechslungsreichtum, der innovative und furchtlose Umgang mit diversen Stilmitteln, die in jedem Ton spürbare Dringlichkeit und auch die Virtuosität, mit der hier ein brennendes Thema verhandelt wird, macht das Album zu einem, das über alle Grenzen hinweg funktioniert. Dieses Album steht gleichberechtigt neben Klassikern wie Max Roach's We Insist! Und Ornette Coleman's Free Jazz! - WENN das überhaupt Jazz ist.


Oneohtrix Point Never


Replica

(Software, 2011)

und die Bedeutung der sog. „elektronischen“ Musik für die Weiterentwicklung der populären Musik kann auch nicht unterschätzt werden – zumal nicht im neuen Millenium. Entweder werden Klänge aus Synthesizer oder Sampler inzwischen immer mehr und immer besser von konventionell arbeitenden Künstlern in ihre Musik integriert (siehe Radiohead), oder Einzelgänger bzw. Projekte wie Aphex Twin, Four Tet, Burial, Boards of Canada etc. schieben die Grenzen dessen, was man ohne das altbekannte Rock-Instrumentarium macht, weiter voran. So hat der Amerikaner Daniel Lopatin aka Oneohtrix Point Never bis 2011 etliche gelungene experimentelle „Electronic“ Alben eingespielt, irgendwo zwischen den Polen Ambient und progressive Electronic pendelnd, immer mit dem geliebten Roland Juno-60 als tragendes Instrument. Das letzte Album Returnal hatte von purem Noise bis zu lyrischen Sound-Passagen ein breites Feld abgedeckt, aber auf Replica baut Lopatin nun seine schlauen Tracks um Samples und Loops von Werbe-Jingles aus den 80ern und 90ern von alten VHS-Cassetten. Da ist ein Track wie „Up“, der um dieses eine Wort herum tanzen, dann folgt „Child Soldier“, bei dem nur der kurze Ausruf einer Kinderstimme die Basis für rhythmisch komplexes Dauerfeuer bietet. Bei „Sleep Dealer“ werden Melodie und Klänge um ein kurzes „t...“ und Atemgeräusche gewickelt, der Roland Juno-60 unterstützt nur noch mit schwebenden Sounds, die sympathisch altmodisch klingen, mich an Klaus Schulze und die Berlin School erinnern. Opatin hatte bislang einen Hang zu Retro-Electronic, der Gebrauch von Voice-Samples bricht seine Musik auf, erweitert das Spektrum und macht Replica zu einem einzigartigen unter den vielen Alben dieses Jahres. Vielleicht hatte ihn die Zusammenarbeit mit Antony Hegarty (Antony & the Johnsons) zur Verwendung menschlicher Laute inspiriert, aber er verwendet und verfremdet hier eher die Pausen und Brüche, die entstehen, wenn man Stimmen aus beliebigen Quellen lauscht, setzt sie neu zusammen, verbindet sie zu Musik, die innovativ, aber auch seltsam nostalgisch erscheint. Replica ist Innovation mit bekannten Mitteln. Kein Wunder, dass es zu einem der am meisten gelobten Alben des Jahres wurde – und dass ich es hier beschreibe...


Andy Stott


Passed Me By/We Stay Together

(Modern Love, 2011)


Kann sein, dass es so erscheint, als wäre mir Musik egal, die für den Dancefloor geeignet ist – mag sogar sein, dass das manchmal so ist – aber wenn Musik, die zum Tanzen geeignet ist auch in anderen Belangen interessant ist, nicht ein-dimensional bleibt, dann kann ich nicht an ihr vorbei. Die Revolution, die dereinst durch Techno stattfand, hat mich fasziniert – aber das übliche „Format“, in dem Techno seine Hörer erreichte, war nicht das Album... und das ist es, über was ich hier schreibe. Mindestens seit den 90ern hat sich das geändert. Künstler wie Orbital, Underworld, Aphex Twin oder davor Robert Hood, Jeff Mills haben mit Musik, die für die Tanzfläche gedacht ist, auch das 40-80-minütige LP-Format befriedigend bedient, während Techno in diverse Spielarten ausgefächert ist. Jetzt gibt es IDM, Acid House, Glitch, Minimal Techno, Ambient Techno oder z.B. Dub Techno – und all diese Versionen von Dance oder Non-Dance Music haben ihre großen Momente auch im Longplay-Format. DAS Dub-Techno Alben ist IMO diese Compilation aus zwei EP's (dem Format, das mir für Techno trotz Allem das bessere scheint) vom Mancunian Andy Stott. Die beiden EP's Passed Me By/We Stay Together sind 2011 in Abständen erschienen, wurden dann aber auf der hier genannten CD gemeinsam veröffentlicht und passen so gut zusammen, dass ich sie als EIN Album wahrnehme. Andy Stott ist – wie ein paar andere seiner Zunft – ein Künstler, der konzeptuell an seine Version von Tanzmusik herangeht. Er hat eine bestimmte Sprache, bestimmte wiederkehrende Stilmittel und Elemente, die er immer wieder in den Tracks verwendet, die er sich zusammenbaut. Aber er betont mal dieses, mal jenes Element, er wandelt ab und ich würde die Veränderung als eines seiner Stilmittel bezeichnen. Die beiden dann Ende 2011 zur Doppel-CD zusammengefassten EP's bauen aufeinander auf, auf Passed Me By erklingt auf „New Ground“ etwa sogar Gesang, seltsam traurig und zugleich maschinenhaft, Bässe wollen Speaker zertrümmern, kratzende Sounds geben Struktur, die Beats sind langsam – mit 90 oder gar 80 BpM viel zu langsam für den Dancefloor, hier wird Post-Millenial Techno definiert, in einer grauen, menschenleeren Landschaft, in der marode Maschinen das einzige sich bewegende Element sind. Man kann andere Musiker aus dieser Ecke zum Vergleich heranziehen: Gas, Burial, Actress etc. aber Andy Stott's Musik ist mit ihren dunklen Rhythmen und den zerfledderten Resten irgendwelcher Industrial und Techno-Tracks sehr charakteristisch. Mit We Stay Together folgte sechs Monate später die Vertiefung des Themas, die Atmosphäre wird ein bisschen heller, „Posers“ könnten sogar - ganz langsam - tanzbar sein, aber wer tanzt im Dunkel? Passed Me By/We Stay Together ist also eigentlich keine Musik für den Club (...ich kann mir jedenfalls keinen Club vorstellen, wo das hier läuft) aber die beiden EP's wie alles, was Stott's bislang gemacht hat - baut auf Techno auf. Eines der beeindruckendsten Alben des Jahres 2011...


Tim Hecker


Ravedeath, 1972

(Kranky, 2011)

Tim Hecker


Dropped Pianos EP

(Kranky, 2011)

Dieses Album hier ist den beiden EP's von Andy Stott atmosphärisch durchaus ähnlich, aber Ravedeath, 1972 vom Kanadier Tim Hecker ist für mich eines der besten Alben dieses Jahres, und es gehört somit hier hin. Hecker hatte seit Beginn des Milleniums auf der Basis von Ambient, Drone, Minimal Music konzeptuell und musikalisch enorm spannende Alben gemacht. Er kam vom Minimal Techno, hatte als Jetone drei IDM-Alben gemacht, hatte sich aber durch die Limitierungen des Genre's eingeengt gefühlt und wollte mehr Bedeutung in seine mit gefundenen Samples, Drones, Loops und „normalen“ Instrumenten wie Piano und Gitarren zusammengebauten Tracks bringen. So entstanden seit dem 2001er Haunt Me, Haunt Me Do It Again mehrere Alben, die eher Klangkunst als Techno oder Ambient waren. Für sein neues Album ging Hecker nach Island, traf sich mit dem dort arbeitenden Kollegen Ben Frost, der ihm eine Kirche nahe Reykjavik als Aufnahme-Ort vorschlug. Dort wurden an einem Tag die Basis-Sounds – basierend auf Kompositionsideen von Hecker - auf der dortigen Kirchenorgel, unterstützt von Piano und Gitarre, aufgenommen. Ben Frost's 2009er Album By the Throat mag Hecker überzeugt haben, mit ihm zusammen zu arbeiten Ravedeath, 1972 ist atmosphärisch aber kaum vergleichbar - Hecker hat eine ganz eigene Sprache, die eher auf Klassik, Ambient und Drone beruht – nicht auf Death Metal und Harsh Noise. Hecker ging mit den Basic-Tracks zurück ins eigene Studio in Montreal und bearbeitete und veränderte sie teils bis zur Auslöschung. Ravedeath, 1972 könnte man eher mit William Basinski's epochalen Disintegration Loops verglichen - auch bei Hecker ist die Auflösung von Musik - und ihre gleichzeitige so tröstliche Unendlichkeit und Unzerstörbarkeit - das Thema. Allerdings formuliert Hecker diese Gedanken in der kürzeren Form von drei bis sechs-minütigen Takes. So lässt er beim zweiteiligen „Hatred of Music“ den Raumklang der Kirchenorgel als Grundlage stehen - ähnlich wie es dereinst My Bloody Valentine mit ihren Gitarren machten, und lässt darüber Schwaden von Synthesizer-Sounds, Piano-Samples und Geräuschen fliessen. Die abschliessende dreiteilige „In the Air“ Suite gibt nur noch den Hall der Orgel unter verwaschenen Klavier-Akkorden wieder - die Musik versinkt im Vergessen, bleibt nur noch gerade so präsent. Dieses Motiv wurde von Hecker auf der ebenfalls 2011 erschienen EP Dropped Pianos – auch Bezug nehmend auf das Covermotiv – weitergeführt. Hier ließ er nur noch das Klavier in Raum und Zeit verschwinden, die Aufnahmen zu der EP mögen als „Grundlage“ für die Tracks, die Hecker in der Kirche in Reykjavik aufnahm, gedient haben. Und tatsächlich hatte er die für Dropped Pianos zusamengestellten „Sketches 1-8“ vor dem Aufenthalt in Island aufgenommen. Die EP ist minimalistischer, weniger verfremdet im Klang, auch weit weniger bombastisch – und meiner Meinung nach eine nette, aber nicht ganz so faszinierende Ergänzung zu Ravedeath, 1972. Wer nicht genug davon bekommt... Die vorherigen und nachfolgenden Alben Hecker's sind immerhin allesamt höhrenswert...


The Weeknd


House of Balloons

(Self Released Mixtape, 03-2011)

The Weeknd


Thursday

(Self Released Mixtape, 08-2011)

The Weeknd


Echoes of Silence

(Self Released Mixtape, 12-2011)

In der Einleitung habe ich es erwähnt - R'n'B bekommt in der neuen Dekade die Relevanz, die ihm bislang mitunter fehlte. Zu Beginn der 10er Jahre sind es Frank Ocean (dessen Mixtape Nostalgia, Ultra genau so gut an dieser Stelle stehen könnte) und Abel Makkonen Tesfaye aka The Weeknd, die der Musik, die sich lange Zeit nur um sich selbst drehte, einen interessanten neuen Twist geben. Da ist der gefeierte Frank Ocean, bei dem es meist um Toleranz, romantisches Verlangen, endlose Liebe geht, der Musik zum Beischlaf macht und dabei immer die Sehnsucht nach Respekt und Intimität mitdenkt – und dann ist da The Weeknd mit seinem Mixtape House of Balloons, bei dem es nur um kalten, unromantischen Sex geht. Er macht Musik, zu der man Drogen einwirft und dann fickt, bei der es um Geld, Parties, und den unromantischen Austausch von Körperflüssigkeiten geht. „Wicked Games“ und „Loft Music“ sind Songs für eine Nacht, die mit Pillen und Sex befeuert wurde, grundlegende menschlichen Emotionen kommen nicht vor – und diese Kälte ist das Thema seiner Musik. Entsprechend kalt ist vor Allem die Produktion. Future Garage klingt an, genau wie gerade angesagter Kokain-geschwängerter HipHop aber auch Sounds aus Post Punk und Dream Pop, wenn beim Titeltrack etwas Siouxie & The Banshees und bei „The Knowing“ die Cocteau Twins gesampelt werden. House of Baloons ist spannend, gerade WEIL es die Anti-Thesis zu dem ist, was man als R'n'B kannte. Es ist ein R'n'B-Album das unzweifelhaft sexy, aber eiskalt ist - und das ist eine bewusste, vermutlich eine rein ästhetische Entscheidung. Tesfaye's Stimme allein könnte mit ihrer Nähe zu der Michael Jackson's auch Alles anders machen. House of Balloons wurde noch im selben Jahr gefolgt vom nächsten Mixtape Thursday, der Fortsetzung, die das gleiche Thema mit noch besserer Produktion, aber auch ein paar weniger ausgefeilten Songs bot. Dass The Weeknd in so kurzer Zeit ab und zu die Puste ausgehen würde, scheint mir logisch und verzeihlich, zumal das mit Glanzlichtern wie „Life of the Party“,„The Zone“ (in Kollaboration mit Drake) oder dem von Distortion zerschossenen „The Birds Pt.2“ einhergeht . Die Produktion auf Thursday ist komplexer, die Sounds übereinander geschichtet, ohne je an Sinnhaftigkeit zu verlieren, Thursday ist ein würdiger, ebenso düsterer Nachfolger eines der besten Debüt's des Jahres – und es kam mit dem dritten 2011er The Weeknd Mixtape Echoes of Silence noch besser: Hier wurde direkt beim ersten Track „D.D.“ Michael Jackson, der Übervater des (sinnentleerten) R'n'B gecovert. („D.D.“ = „Dirty Diana“ - got it?) - und Tesfaye war den stimmlichen Anforderungen locker gewachsen. Echoes of Silence war musikalisch ein weiterer Schritt voran, das Songwriting womöglich noch eine Spur besser, die Produktion noch ausgefeilter. Dass Zeitgenosse Drake auch hier mitmachte, fiel nicht auf, dafür war Tesfaye's Gesang zu leidenschaftlich, seine Persönlichkeit, die hier mit Stimme und Lyrics deutlich abgebildet wurde, viel zu prägend. Immer noch war die Grundstimmung kalt und depressiv, aber Echoes of Silence ist persönlicher als House of Balloons, Tesfaye gab sich als Person, die neben den Drogen die Liebe als das größte Problem erkannt hatte. Diese drei Mixtapes waren eine so gelungene Einführung in die Welt des gerade mal 21-jährigen The Weeknd, dass es unmöglich wurde, die bald als Trilogy veröffentlichten drei Alben zu übertreffen. Die gelungenen Cover Design's, die Tatsache, dass hier eine innovative, kühle, extrem stylishe Form des R'n'B mit einem ganze Paket großer Songs geboten wurde, macht diese Trilogie für mich zwar „erwähnenswerter“ als Frank Ocean's Mixtape Nostalgia, Ultra, ich will aber ausdrücklich darauf hinweisen, dass dessen 2011er Album nicht schlechter ist. Er hat aber u.a. wegen des naheliegenden Vergleiches zum im nächsten Jahr kommenden Channel Orange die Nase etwas weiter hinten.



Danny Brown


XXX

(Fools Gold, 2011)

Daniel Dewan Sewell aka Danny Brown aus Detroit war - nach eigener Aussage – schon als Kleinkind entschlossen, Rapper zu werden. Er hatte Credibility und street knowledge als Dealer gesammelt, ehe er sich nach entsprechendem Konflikt mit dem Gesetz entschloss, seinen Kindheitstraum zu verwirklichen. In den 00er Jahren veröffentlichte er diverse Mixtapes, ehe er 2010 mit The Hybrid sein erstes „offizielles“ Album bei einem Label zusammenstellte. Das war zwar noch nicht der große Durchbruch, aber hier bekam man erstmals Brown's typisch grelle Stimme und den aggressiven Flow zu hören, der ihn von anderen unterscheiden würde. 2011 fand er bei Fools Gold In Brooklyn eine neue Heimat und zum 30. Geburtstag wurde XXX (lateinische Schreibweise von 30, wer's nicht gewusst haben sollte...) – zunächst als freier Download - veröffentlicht. Es ist ein langes Album, 19 Tracks in fast 55 Minuten, damit ein bisschen ein Anachronismus, zumal dann, wenn diese Zeit mit Inhalt und „Song“ gefüllt werden will, aber Brown hat genug erlebt, er hat inzwischen einen eigenen und faszinierenden Stil, er hat Texte, die zu hören (bzw. zu lesen) lohnt. Er ist vulgär, er ist offensiv, er ist verrückt, seine Tracks sind dunkel, aber nicht depressiv, da ist der leicht wahnsinnige Humor davor. Er spuckt anstößige Texte über Hochgeschwindigkeits-Beats, und zur Hälfte der 55 Minuten geht er vom Gaspedal um dann bei „Nosebleed“ mit weniger extremer Stimme die Story einer Kokain-Süchtigen zu erzählen. Er braucht nicht die inzwischen so oft störende Armee von Gast-Rappern, nur Chips und dopehead, Freunde aus alten Tagen helfen mal kurz. Der Titeltrack ist eine Ode an den Suizid, „Die Like a Rockstar“ name-checkt Stars wie Heath Ledger, und John Belushi und ihre Abstürze und wenn er politische Unkorrektheiten wie „Make Sarah Palin deep throat 'til she hiccup“ rappt, oder boshaft vorschlägt „How about me and your girlfriend, you with it?“, dann steht er dabei dennoch via Humor ein bisschen über purer Aggression. Mag sein, dass die mechanische Detroit-Produktion - vom Techno beeinflusst – der Wut die Hitze nimmt, letztlich ist Danny Brown offensichtlich so erfahren, hat zugleich einen so einzigartigen Stil, dass man an diesem Album 2011 nicht vorbei kam. XXX ist das beste HipHop Album des Jahres, besser als undun von The Roots und Oneirology von den CunninLynguists (ich wollte sie immerhin erwähnen...)


und noch einmal ein paar Worte zur Auswahl der Alben hier...


Wieder sehe ich, dass ich zu Beginn der meisten Beschreibungen hier erklärende Worte suche, warum ich das spezielle Album so exponiere. Wie vorher schon gesagt – ob all die Alben auch in 10-15 Jahren noch den Stellenwert haben, den ich ihnen hier mit Worten gebe, weiss ich noch nicht. Ich glaube es, aber ob Tim Hecker's Ravedeath, 1972 oder The Weeknd's drei Mixtapes im Jahr 2025 noch gehört und als stilprägend, befriedigend, gar zeitlos bezeichnet werden...? Kein Ahnung, aber ICH könnte es mir vorstellen, auch wenn gerade elektronische Musik eine seltsam kurze Halbwertzeit zu haben scheint.. Gerade in dieser Zeit ist die Anzahl an Veröffentlichungen in den diversen Formaten CD, LP, Download, Stream, wasauchimmer, so gewaltig, dass mir garantiert so mancher kommender Klassiker entgeht, aber was soll's – ich kann ergänzen, wegnehmen, revidieren so oft und so viel ich will, und 2025 weiss ich dann, ob mir Danny Brown's XXX immer noch wie eines der GANZ großen HipHop-Alben erscheint.

















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