Mittwoch, 4. Juli 2018

2008 - Obama und die Finanzkrise der Banken - Portishead bis TV On The Radio

In den USA wird mit dem Demokraten Barack Obama erstmals ein Afro-Amerikaner zum Präsidenten gewählt. Er ist Hoffnungsträger vieler fortschrittlicher Amerikaner, wird aber an den Strukturen des konservativen Amerika verzweifeln, die meisten Hoffnungen nicht einlösen können und vor Allem Politik und Gesellschaft der USA in unversöhnliche Lager spalten. Die Olympischen Spiele finden dieses Jahr in China statt und werden von Protesten gegen die chinesische Regierung begleitet. In Österreich wird der Inzestfall des Josef Fritzl aufgedeckt, der seine Tochter 24 Jahre in seinem Keller gefangen hielt und sieben Kinder mit ihr hatte. Seit 2007 belastet die von spekulationswütigen Banken eingeleitete Finanzkrise die Weltwirtschaft – diejenigen, die dafür zahlen sind diejenigen, die am wenigsten Schuld tragen. Der Fluch der Globalisierung eben: Risiken lohnen sich für Konzerne und Banken, Lasten werden von diesen aber nicht getragen... Auch der Klimawandel wird immer deutlicher erkennbar. 2008 war das neunt-wärmste Jahr seit Beginn der Wetterstatistik und auch Europa wird von Orkanen heimgesucht, in Süd-China sterben bei einem Erdbeben 70.000 und bei einem Zyklon in Myanmar kommen 80.000 Menschen um. Musikalisch ist 2008 geprägt von der triumphalen Rückkehr einiger etablierter Acts (Portishead, Sigur Ros, Randy Newman etc.) und einigen hervorragenden Debütalben. Bands wie Vampire Weekend oder Foals bringen Disco und afrikanische Einflüsse in die alternative Popmusik. Die Fleet Foxes hingegen machen Americana in memoriam The Band wieder salonfähig. Auch 70er Disco-Sound kommt in Verbindung mit elektronischer Musik wieder zum Vorschein. Verlangsamte extreme Musik in Form von Drone, Funeral Doom, Black Doom etc. ist dieses Jahr mit etlichen ganz großen Alben vertreten. Der „The-Bands“ Hype incl. Vereinfachung des Indie Rock mag vorbei sein, aber es tauchen immer noch Bands auf, die dem Post-Punk neue Facetten abgewinnen. Freak Folk ist etabliert, James Blackshaw lässt American Primitivism mit reinen Gitarrenklängen neu erstrahlen, Fucked Up paaren Punk und Pink Floyd... Kurz: Es ist ein weiteres Jahr mit einem eklektizistischen Mix an guter Musik – die allerdings in den Charts oder im Radio kaum stattfindet. Musik wird inzwischen hauptsächlich im Netz via Downloads und Streaming konsumiert, aber da gibt es genau die gleiche Menge an schlechter Musik, wie etwa Leona Lewis Konfektionspop mit Casting Stimme oder Paul Potts, das britische „Supertalent“ mit Opernstimme incl. rührendem Schicksal, oder die Teenie Schwärme Jonas Brothers und haufenweise Pop-Produkte a la Rihanna, Pink, Mariah Carey und der ach so entspannte Surfer und Langweiler Jack Johnson... So was VERKAUFT sich eben...

Portishead


Third

(Island, 2008)

In solch (musikalisch) postmodernen Zeiten war es nicht verwunderlich, dass das beste Album des Jahres nicht von einer neuen Band kam, sondern von Portishead, einer Band aus den Neunzigern, bei der man sich gefragt hatte, ob es sie überhaupt noch gäbe - und ob sie ihre Musik in die 00er Jahre übersetzen kann. Aber dann stellt sich unter dem regen Getrommel der Musikpresse heraus, dass Portishead sich in den Jahren zwischen Portishead und Third offensichtlich mehrfach gehäutet hatten und dass es ihnen sogar gelungen war, ihre bekannten Qualitäten in die heutige Zeit zu übersetzen. Ihr mit geschmackvoll- minimalistischem Coverdesign ausgestattetes drittes Studio-Album nach immerhin elf Jahren Pause ist zwar von denselben Musikern eingespielt, aber die Musik darauf ist definitiv kein altbekannter 90er TripHop mehr, vielmehr changiert Third zwischen Folk, gespenstischen Elektronik-Tracks und düsterem Industrial. Hier ist nichts „freundlich“ (aber das waren Portishead sowieso nie), nichts beugt sich kommerziellen Erwägungen oder ist gar als Hintergrundmusik für Tiefsee-Doku's geeignet (...was man der Musik der wunderbaren Vorgängeralben immer wieder gerne angetan und auch angelastet hatte...). Nun kam mit der ersten Single „Machine Gun“ eine ratternde Kriegs-Kakophonie daher, die alle möglichen Unbequemlichkeiten beinhaltet, aber ganz gewiss keinen „Hitcharakter“ hat, und auf dem Album wird es auch nicht gemütlicher: „We Carry On“ ist Portishead als Joy Division, „Deep Water“ beleiht mit Ukulele sinistre Folk-Musik, die zweite Single „The Rip“ (und der erste „Hit“ des Albums, den die Sender mehr als einmal zu spielen wagten) beginnt ebenfalls als kreiselnde Folk-Weise um dann in reiner Katharsis zu enden und etliche Tracks paaren Krautrock statt Drum'n'Bass (endlich wieder) mit der unglaublichen Stimme von Beth Gibbons. Um es kurz zu halten: Das komplette Album ist meisterlich, aber nicht einfach. Und damit ein kommender Klassiker.

Portishead - The Rip 

Sigur Ros


Með suð í eyrum við spilum endalaust

(EMI, 2008)

Natürlich darf ein jeder der Ansicht sein, das 2008er Album der isländischen Institution Sigur Ros sei besser als Portishead's Rückkehr-Album Third, aber letztlich sind beide Alben nahezu gleichwertig – und man darf sie beide lieben. Portishead waren in ihrer Abenteuerlust nur ein paar Schritte weiter gegangen als Sigur Ros – dabei haben beide Bands ein Feld besetzt, dass scheinbar wenig Variationsmöglichkeiten bietet. Aber so ist das mit ausgezeichneten Bands, die einen ganz eigenen Stil haben – sie können auf dem eigenen Feld gerne mal Haken schlagen und ihre Beobachter überraschen. In den Jahren zuvor waren Sigur Ros sicher nicht für ihr überbordendes Temperament oder gar Albernheiten bekannt. Aber auf Með suð í eyrum við spilum endalaust (Übersetzt: With a Buzz in our Ears, We Play Endlessly) wurde ihre ausufernde Musik, wurden ihre langgezogenen Instrumentalpassagen und die träumerischen Melodiebögen hier und da tatsächlich von so etwas wie Humor und Licht durchbrochen. So ist zum Beispiel der lautmalerische Opener „Gobbeldigook“ ein echter Pop-Song, kommt „Festival“ mit dröhnend marschierenden Drums daher. Das melancholische „All Right“ wiederum basiert auf einfachen, für Sigur Ros so typischen Melodiefiguren, aber man ließ einzelne Instrumente deutlich erkennbar hervorscheinen, statt den Song in rauschhaft ineinander fließenden Soundschichten zu ertränken. Sigur Ros hatten also ihren Sound radikal vereinfacht, waren aber - und das ist vor allem das Verdienst von Sänger/Gitarrist und Bandkopf Jonsi – immer noch eindeutig als sie selbst erkennbar. Das war ein mutiger und richtiger Schritt, um ihr bestes Album seit ( ) zu machen.

 Sigur Rós - All Alright


Have A Nice Life


Deathconsciousness

(Enemies List, 2008)

Es sind inzwischen für mich oft die Unbekannten, die Studiotüftler, die ihre Alben dann kleinen Stückzahlen veröffentlichen, die wirklich Großes zuwege bringen - gerade weil sie ihre Kunst nicht generalstabsmäßig planen. So wie Tim Macuga und Dan Barrett aus Middletown, Connecticut. Die existieren seit ca. 2000 als Have a Nice Life und haben sich und ihr Label Enemies List ausdrücklich gegen die ihrer Definition nach toten Major- Labels und deren Mechanismen positioniert. Sie erschaffen ihre Musik mit den heute zur Verfügung stehenden technischen Mitteln im privaten Umfeld und geben sich (und Label-Genossen) dafür unbegrenzte künstlerische Freiheit und Zeit. Da kann natürlich obskurer Mist herauskommen – aber mit ihrem ersten Album Deathconsciousness entstand aus dieser Freiheit ein echtes Meisterwerk. Es ist ein Doppel-Album, aufgeteilt in zwei Teile - The Plow That Broke the Plains und The Future – die musikalisch die persönlichen Vorlieben der beiden Musiker wiedergeben: Einflüsse aus Post-Punk + Gothic (Joy Division, Bauhaus), Post-Rock, Shoegaze, Industrial und Black Metal vereinen sich auf's organischste. Die Produktion mag „Bedroom“, oder Lo-Fi sein, aber ich höre das nicht. Hier ist alles so ausgefeilt und durchdacht, wie es die Idee hinter der Kunst verspricht. Sie trauen sich an ein Konzeptalbum a la Pink Floyd (The Wall) oder Mars Volta (De-Loused in the Comatorium) – und verheben sich damit nicht ! Die Story um den obskuren mittelalterlichen Häretiker Antiochus wird in einem beigefügten 70-seitigen Buch erklärt, sie mag schwierig (zu verstehen) sein, aber die Atmosphäre aus finsterem Mittelalter, religiösem Fanatismus und Mord und Totschlag wird musikalisch vielfarbig und modern abgebildet. Sie spielen mit Dynamik, bersten vor Kraft und Wut, haben lyrische Passagen in ihrer Musik – und sind dabei manchmal sogar auf gewisse Weise poppig. Der erste Teil des Albums ist fast perfekt, besonders „The Big Gloom" ist epischer Shoegaze mit dunklen und hellen Schattierungen, erhebend und finster zugleich. Das über 11-minütige „Earthmover“ beendet die Songkollektion auf ähnliche Art mit einer letzten, vier-minütigen Chord-Progression von majestätischer Monotonie. „Holy Fucking Shit - 40,000” klingt wie ein abgedrehter Flaming Lips-Outtake, hat einen nervösen Zusammenbruch eher er in fröhlichem Akustik-Gitarren Geklingel endet. Deathconsciousness ist abwechslungsreich, anstrengend, atmosphärisch, zu lang, reichhaltig und überkandidelt – und all das muss so sein. Aber - das muss man hören, das kann man nicht wirklich beschreiben. Also: siehe Bandcamp...

Have A Nice Life - The Big Gloom 


Deerhunter


Microcastle/Weird Era Continued

(4ad, 2008)

Das passt irgendwie gut zu Have a Nice Life. Deerhunter – die Band um Bradford Cox aka Atlas Sound – sind auch seit Beginn der 00er Jahre aktiv, auch sie sind musikalisch wenig kompromissbereit – aber sie arbeiten immerhin im Umfeld „normaler“ Labels (4AD bzw. Kranky – soweit die normal sind...). Cox leidet am Marfan-Syndrom, einem Gendefekt, der das Bindegewebe schädigt und der mit bestimmten Deformationen des Körpers einhergeht. Diese Krankheit – und die frühe Trennung seiner Eltern – hatte ihn zu einem Einzelgänger gemacht... der sich insbesondere mit Musik befasst hat, die „heartbreaking or nostalgic or melancholy“ ist. Er muss hunderte von Tapes aufgenommen haben (die er für sein Solo Incognito Atlas Sound nutzt) und gründete mit 20 mit ein paar Interessierten Deerhunter. Seine Art Musik und Texte zu machen beruht auf dem Prinzip des stream of consciousness – was man kaum glauben mag, wenn man ein Album wie Microcastle hört. Er verwendet – wie Have a Nice Life – die Stilistiken, die ihm gerade ins Zeug passen, ob Shoegaze, Noise, Doo-Wop, Psychedelia oder Post-Rock – nur mit Metal hat er's nicht – aber auch ihm gelingt es, all seine Einflüsse zu einem schlüssigen Ganzen zu verschmelzen (Eine Fähigkeit, die in dieser Generation von Musikern oft genug vorkommt). Weil dieses – das dritte Album der Band – zwei Monate vor Erscheinen im Internet geleakt wurde, ergänzten Deerhunter Microcastle um das Zusatzalbum Weird Era Continued – und setzten so ein Doppelalbum in die Welt. Dass hier Musik spontan entstanden ist, ist wie gesagt nicht erkennbar, Cox stellt seinen drei Kollegen seine Ideen vor, und dann setzt eine Magie ein, die aus dem Wirrrwarr konzisen Dream-Pop macht, der sich an die Flaming Lips und an My Bloody Valentine zugleich anlehnen mag, der aber extrem eigenständig ist. Cox beweist auf Microcastle /Weird Era Cont. durchaus Songwriter-Qualitäten - „Agpraphobia“ oder „Twilight at Carbon Lake“ sind versponnen und … angenehm schön... zugleich. Dabei sind seine Lyrics von Gedanken an seine Außenseiter-Rolle und an den Tod durchzogen, machen das Album textlich zu einer finsteren Angelegenheit, die durch die Shoegaze und Dream-Pop Elemente sozusagen in Watte gepackt wird. Das Zusatz-Album fügt dem Ganzen noch einen sympathisch unfertigen Garagen-Charme hinzu und macht das Album nur besser. Bradford Cox hatte einen Lauf – und ich hoffe, dieses Album wird auch in 20 Jahren noch als das Meisterwerk erkannt, als das ich es jetzt sehe.

Deerhunter - Twilight at Carbon Lake 

Grouper


Dragging a Dead Deer Up a Hill

(Type, 2008)

Grouper – das ist die Musikerin Liz Harris, eine junge Künstlerin aus San Francisco, die ihren Moniker ihrer Kindheit in einer Kommune entliehen hat, die sich seit Mitte der 00er Jahre mit anderen experimentellen Freigeistern wie Mayo Thompson, Roy Montgomery oder Xiu Xiu verlustierte und in dieser Zeit eher Musik gemacht hatte, die den Prinzipien von Noise und Drone verpflichtet war. Aber dann kam Dragging a Dead Deer Up a Hill und aus einer obskuren Unbekannten wurde eine immer noch obskure Berühmtheit. Dabei ist der Wechsel von der durch Feedback und Drones übertönten Stimme zu dieser regelrecht folkigen Stimme – und Musik - durchaus logisch nachvollziehbar. Sie nutzte auf ihrem ersten Album für's Type-Label Einflüsse aus British Folk und Gothic, um ihre Stimme und ihr akustisches Gitarrenspiel im Songformat zu präsentieren. Das könnte man als kommerzielles Zugeständnis werten – aber mitnichten – dazu ist ihre Musik zu unbequem, zu unheimlich, sind die Erfahrungen und Kunstgriffe aus Drone und Noise zu präsent in diesen ruhigen Tracks. Und Liz Harris' hier oft gedoppelt und ge-dreifachte Stimme IST hörenswert, ihr Songwriting hat es verdient, aus dem Geräusch-Dickicht der vorherigen Alben hervorzutreten – auch wenn die Songs manchmal so verschreckt wirken, wie das titelgebende Reh kurz vor seinem Tod. Harris erschafft mit geringsten Mitteln mitunter eine Atmosphäre, die dem Hörer den Hals zuschnürt. Die knapp drei Minuten von „Heavy Water/I'd Rather Be Sleeping“ sind so luftig arrangiert, dass es fast verschwinden will – man nennt solche Musik auch ganz treffend Dream-Pop/ Ethereal Wave (ätherisch...) - nur dass die Romantik hier düster ist – und das, ohne dass man die Lyrics verstehen würde - oder müsste. Ein Album, das auch wieder als Ganzes funktioniert und auf Atmosphäre aufbaut. Ein Kunstwerk – mit einem passend unheimlichen Covershoot.

Grouper - Heavy Water/I'd Rather Be Sleeping 


Fleet Foxes


Sun Giant EP

(Sub Pop, 2008)

Fleet Foxes


s/t

(Sub Pop, 2008)

Für die weniger experimentierfreudigen - oder sagen wir's doch: die älteren - Hörer sicher die beste(n) Alben dieses Jahres: Die Fleet Foxes kamen irgendwie aus dem Nichts und wurden mit ihrem an The Band, Brian Wilson, CSN&Y, Apallachian Folk und Indie-Rock angelehnten Americana-Sound überraschend aber verdient im Rolling Stones/Mojo Segment der 30-50 jährigen Musikhörenden erfolgreich. Ihre Musik ist herzlich altmodisch, die Songs gemahnen in Struktur und Instrumentierung an die Siebziger, und ihr melodischer Reichtum spiegelt sich durchaus treffend im Computer-Historienspiel-Cover der EP und im Hieronymus Bosch Abdruck des LP-Covers wieder. Das Herausragende und meiner Meinung nach Zeitlose an Fleet Foxes - und an der bald mit der LP zum Doppelalbum ergänzten EP Sun Giant - ist das hörbar symbiotische Zusammenspiel der Musiker, sind die wunderschönen Gesangsharmonien und insbesondere die klare Stimme von Lead-Sänger Robin Pecknold, dessen Gesang mich an den von Jim James von My Morning Jacket erinnert. Eine Referenz, die gut zur Musik der Fleet Foxes passte. Auch bei der Band aus Seattle sind diese frei fließenden Melodiebögen wiederzufinden, kann und soll man eine gewisse Sehnsucht in den Songs fühlen. die Fleet Foxes neigen nur nicht ganz so dazu ihre Musik ins Unendliche ausufern zu lassen wie die Psychedeliker My Morning Jacket. Und all die Stilistik wäre akademisch ohne die gelungenen Melodien. Die EP hat mit „Mykonos“ einen der besten Songs der Band an Bord – und es ist allein schon wegen dieses Tracks sinnvoll, nach dem Doppelalbum zu suchen - auch wenn die Band zu diesem Zeitpunkt ihr Sound-Konzept noch nicht zur Vollendung gebracht hat. Aber auf Fleet Foxes sind es dann der pastorale Hit „White Winter Hymnal“ oder das ebenfalls wunderschöne „Your Protector“ die herausragen – zum Glück nicht so weit, dass sie den Rest des Albums überstrahlen. Man könnte höchstens beklagen, dass die Musik der Fleet Foxes ZU schön ist – aber sie schaffen es, Schönheit und Anspruch auf's trefflichste zu verbinden. Nur wirklich gewagt oder experimentell – und damit „modern“ – ist hier nichts.

 Fleet Foxes - Mykonos

 Fleet Foxes - Your Protector


Fennesz


Black Sea

(Touch, 2008)

Irgendwie habe Ich den Österreicher Christian Fennez – Gitarrist und „elektronischer“ Musiker - als moderne Version von Klaus Schulze im Kopf. Ist aber natürlich Unsinn. Beide haben allerhöchstens gemeinsam, dass sie Mittels elektronischer Instrumente recht ausgedehnte Klanglandschaften entstehen lassen – aber die Mittel, die Fennesz nutzt sind inzwischen technisch so weit fortgeschritten, dass Schulze in einer Ahnenreihe mehrere Generationen vor Fennesz steht. Der Österreicher hatte an der Hochschule Kunst studiert, und sich auf Klangkunst konzentriert, er hatte 2001 mit Endless Summer ein ähnlich gelungenes Album gemacht, mit diversen namhaften Musikern kooperiert (Jim O'Rourke, David Sylvian, Sakamoto etc...) mit dem '04er Album Venice ein bisschen gelangweilt – aber jetzt veröffentlichte er mit Black Sea eines DER instrumentalen, elektronischen Drone- Ambient- Glitch- whatever Alben seiner Art. Seine Musik basiert auf gesampelten Gitarren-Sounds, elektrisch und akustisch, diversen Percussion-Mustern, die aber nie zum durchgehenden Rhythmus werden und breiten Klangflächen. Ich könnte mir vorstellen, dass er seine Tracks eher als Klang-Skulpturen denn als „Songs“ begreift, das Ergebnis jedenfalls ist reduziert, warm und durchaus erzählerisch – was mich bei Musik dieser Art immer am meisten begeistert. Der titelgebende Opening Track wäre Black Sea als Mikrokosmos – oder eher Makrokosmos, da er über zehn Minuten dauert: Es beginnt mit Schichten aus Feedback, die langsam tröpfelnden melodischen Klängen weichen um in mäandernde Gitarrenmelodien auszulaufen. Dabei werden durch Fennesz geschickten Umgang mit Dynamik Brücken über alle Stimmungen von goßer Ruhe über kathartische Ausbrüche bis zu regelrechter Euphorie geschlagen. Und insofern mag Fennesz wieder etwas mit Klaus Schulze gemein haben – der ebenfalls meisterlich mit Dynamik umging und mit seiner Musik Stimmungen solcher Art zu erzeugen wusste.

Fennesz - Perfume for Winter 

Flying Lotus


Los Angeles

(Warp, 2008)

Dem Los Angelino Steven Ellison aka Flying Lotus (auch noch aka Captain Murphy – als HipHop-Künstler) wurde die Musik wohl in die Wiege gelegt. Er ist der Großneffe von Alice Coltrane und Enkel der Songwriterin Marilyn McLeod (die u.a. für Diana Ross Hits geschrieben hat) – und er geht seit dem '06er Debüt-Album 1983 seine eigenen musikalischen Wege. Beeinflusst durch Jobs beim HipHop-Label Stones Throw, durch asiatische Musik und die Geschichte seiner Verwandten hatte er nach Kunst- und Musik-Studium zuerst in Heimarbeit besagtes Debüt fabriziert, welches das ehrenwerte Warp-Label veranlasste, ihn unter Vertrag zu nehmen. Spätestens nach der letztjährigen EP Reset war klar, dass Warp wieder einen Stein für das Fundament des guten Geschmacks eingebaut hatte. Flying Lotus liegt auf Los Angeles musikalisch und soundmäßig irgendwo zwischen dem abstrakten Techno von Autechre und Aphex Twin – oder meinetwegen auch zwischen Madlib und Dilla's schlauen Beats. Er verschmilzt all seine Einflüsse zur Musik der Zukunft ohne sich um Genre-Grenzen zu scheren. Und weil er tatsächlich hoch-musikalisch ist, gelingt all das so mühelos, so dynamisch, so eigenständig, dass keine Langeweile aufkommen kann, dass nichts bemüht wirkt oder gar akademisch. Los Angeles ist tatsächlich wie die Stadt, nach dem es benannt ist – Ein Schmelztiegel. Dass – wie bei J Dilla – für das Album 17 kurze Tracks mit hunderten von Ideen aufeinander folgen, machen Los Angeles zu einem sehr kurzweiligen Vergnügen. Da werden dubbige Bas-Linien mit nervösen Beats und harten Breaks kombiniert, „Roberta Flack“ ist moderner, verträumter Soul, „Beginners Falafel“ hüpft mit Dance-Grooves voran, Los Angeles ist die Zukunft, und die ist scheinbar sehr bunt. Und Ja – man KANN dem Album eine gewisse Zerrissenheit nicht absprechen. Manchem Hörer mag der durchgehende Faden fehlen. Aber den kann man dann auf den nachfolgenden Alben Cosmogramma (2010) und beim Future-Free-Jazz von You're Dead (2014) aufnehmen. Zum Abschluss hier (wieder) der Hinweis, dass es 2008 durchaus noch einigen Alben vergleichbarer Art und Klasse gibt. Aber es wird ein egens Kapitel geben, dass die anderen wichtigen Alben mit Minimal House, IDM, Glitch Hop, Synth-Pop etc behandelt. 

Flying Lotus - Beginners Falafel 


Erykah Badu


New Amerykah Part One (Fourth World War)

(Motown, 2008)

Gegen die vorherigen beiden Innovatoren ist die Neo-Soul Queen Erykah Badu eine Veteranin. Sie hat Mitte der Neunziger zusammen mit Kollegen wie D'Angelo, Common und den Roots begonnen, Soul wieder mit Inhalt und Bedeutung zu füllen, sie musste zu Beginn der 00er Jahre eine fiese Schreibblockade überwinden um dann mit HipHop Produzenten wie Questlove, Madlib, J Dilla und Q-Tip neue Tracks zu entwickeln, die sie dann endlich Ende Februar 2008 unter dem Beziehungsreichen Titel New Amerykah Part One (Fourth World War) veröffentlichte. Und es ist alles da, was Baduizm und Mama's Gun vor Jahren so einzigartig gemacht hat... und ein bisschen mehr. Noch immer bezaubert ihre coole, samtige Stimme, noch immer bezieht sie auf ihre ureigene Weise gesellschaftliche, politische, feministische Positionen, noch immer sind es Soul und HipHop in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen, die das musikalische Setting bestimmen – und natürlich reagiert sie auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit. Sie klingt dabei wieder zugleich angepisst, aggressiv und halb-bekifft. Und der „Konzept“-Titel des Albums ist durchaus schlüssig – Kosmology, Die Verehrung des Ankh, Afrozentrismus – all das verbindet sich organisch mit Kritik an den Verhältnissen innerhalb und ausserhalb der black community. "The Cell" reflektiert über Sucht in der eigenen Familie („Momma hopped up on cocaine / Daddy on space ships with no brain / Sister gone numb the pain the same / Why same DNA cell?"). „The Healer“ preist die Kraft des HipHop und der schwarzen Identität, die hinter ihm steht, bei „Soldier“ nähert sie sich Lauryn Hill an, ihre politischen Aussagen sind zwar verschlüsselt, aber immer präsent, der Sound des Albums ist die logische Weiterentwicklung ihrer vorherigen Alben – die acht Jahre Pause seit dem letzten „echten“ Album mit eingerechnet. Erykah Badu hatte mit diesem Album ihre Relevanz erneut bewiesen. New Amerykah ist ein bewegendes Album, gesättigt mit Kraft und Engagement. Und es belebt Soul (wieder einmal) als relevante Musik neu. Dass sie am Ende den Ausblick auf das folgende Album – die Fortsetzung - Part Two (Return of the Ankh) gewährt ist ein tatsächlich willkommenes Versprechen.

Erykah Badu - The Cell 


Ein Paar Worte zur Auswahl der Alben


So leicht es in den 60er, 70ern und sogar 80ern für mich ist, die 10 besten und wichtigsten Alben eines jeweiligen Jahres zu erwählen, so schwer finde ich das in den 00er und 10ern. Ich kann nur vermuten, dass die hier oben empfohlenen Alben wirklich auch in 20 Jahren noch gehört werden – und als „wichtig“ empfunden werden. Ich versuche da ja tatsächlich - auch – den Trend hin zur sog. "elektronischen" Musik von vereinzelten Laptop-Künstlern zu berücksichtigen und die Breite der Stilisiken zu erfassen, ich finde Erykah Badu's Neo-Soul-Wiederbelebung aus Prinzip zukunftsweisend, ich halte Portishead und Sigur Ros für zeitlos – und damit „klassisch“... aber in diesem Jahr z.B. bin ich unsicher - weil 2008 nicht SO viele Alben bereithält, die mich völlig begeistert haben. Have a Nice Life sind ja schon recht speziell, und dass die altmodischen Fleet Foxes nur von 40+-jährigen als interessante Innovatoren abgefeiert werden, halte ich für wahrscheinlich. So wähle ich jetzt voller Zweifel ein zehntes Album, das ich in einer Woche gegen ein anderes austauschen könnte. Aber – und das ist tröstlicher als man meinen könnte – ich darf das, ich kann es ändern wann immer ich will und die hier beschriebenen Alben für 2008 sind bis auf Third, Með suð í eyrum við spilum endalaust und Deathconsciousness ganz einfach nur vorläufig als Klassiker zu bezeichnen – und das finde ich gut so.


TV On The Radio


Dear Science

(4AD, 2008)

das ist also so ein Fall. TV On The Radio's Sound stellte 2008 die modernste Art „Rock“-Musik dar. Nun – 10 Jahre später – ist Rockmusik per se irgendwie alt(modisch) – und die sehr variantenreiche sog. Elektronische Musik ist DAS Ding. Die Musik, gegen die wie auch immer geartete Vereinigungen von Musikern mit den traditionellen Kenntnissen an Bass, Drums, Keyboards/Synth's und/oder Gitarren nicht ankommen. Die althergebrachte Form des Herstellens von populärer Musik hat sich durch die Möglichkeiten der digitalen Klangerzeugung und Manipulation völlig verschoben – und jeder, der die früheren Methoden anwendet wird zum Artefakt. Daher erscheint Dear Science von TV On The Radio heute kaum noch so beeindruckend, wie seinerzeit – und auch 2008 war dieses Album keine Überraschung mehr – der perfekte postmoderne Sound von TV On The Radio war auch da schon nicht mehr so neu wie auf dem Debüt oder dem '06er Album Return to Cookie Mountain. Dennoch ist Dear Science ein Beispiel für den extrem eigenständigen und modernen Sound der New Yorker. Sie gelten als Band für's 21. Jahrhundert und ihre extrem dynamischen Dance Punk Tracks sind durchzogen von hippen elektronischen Sounds. Auf Dear Science wird noch Afro-Beat und HipHop integriert, es entsteht ein Crossover-Sound, der Nichts mit dem gleichnamigen, aus HipHop, Hardcore und Metal zusammengebauten Genre der 90er zu tun hat. „Stork and Owl“ extrahiert die Reste eines R&B Songs, überlagert ihn mit einer Neo-klassischen Aura und setzt einen Touch Indie obenauf.. „Love Dog“ und „DLZ“ sind vielleicht die besten Beispiele für das makellose – und mitunter durchaus auch nachvollziehbar poppige Songwriting von TV on the Radio. „Love Dog“ ist das klagendere, expressivere Stück, „DLZ“ ist der explosivere, feurigere Song, einer der besten des Jahres. Ich stelle eben nur immer wieder fest, dass diese Musik die Kälte hat, die bei zu großer Perfektion eintritt. TV On The Radio sind wie der Klassenprimus im Gymnasium, der sogar im Sport glänzt – und der irgendwie ZU cool ist, um sich wirklich ein echter Freund zu sein. Dear Science ist ein perfektes Amalgam aus hunderten von Bands – ich muss es aber immer wieder anhören um es zu durchschauen... und ich muss in der Stimmung für Rrrrrockmusik sein.






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