Donnerstag, 15. Februar 2018

2004 - Facebook, Folter im Irak, EU-Ost-Erweiterung und der Tsunami in Asien - Brian Wilson bis Birchville Cat Motel

2004 wird publik, dass US-Verhör-Spezialisten im irakischen Gefängnis Abu Ghraib Gefangene foltern – und sich damit den dauerhaften Hass der gesamten arabischen Welt sichern. Der Irakische Ex-Diktator Saddam Hussein kommt vor Gericht und die US Regierung muß zugeben, dass es im Irak nie Massenvernichtungswaffen gegeben hat – aber der Krieg ist ja jetzt gelaufen... und George W. Bush wird in den USA trotzdem bzw gerade deswegen zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt – soviel zur Wahrnehmung von Verantwortung oder gar Gerechtigkeit. Im nun „befreiten“ Irak kommen derweil hunderte von Menschen bei Terroranschlägen um. Im russischen Beslan nehmen tschetschenische Terroristen in einer Schule 1128 Menschen, insbesondere Kinder, als Geiseln – im Namen Allah's, der nun wirklich Nichts dafür kann. Bei der „Befreiung“ der Geiseln kommen 320 Menschen ums Leben und die russische Regierung findet das nicht schlimm... Die EU wird um gleich 10 Mitgliedsstaaten (aus dem ehemaligen Ostblock) erweitert, und am 26. Dezember kommt es nach einem Seebeben im indischen Ozean zu einem gewaltigen Tsunami, bei dem mehr als 200.000 Menschen sterben. Es ist ein Jahr der Stürme und Hurricanes, das europaweite Temperaturmittel liegt um 0,5 Grad höher als in den vorherigen Jahren. Der Klimawandel ist inzwischen deutlich erkennbar und sogar ein paar Leugner aus Industrie und Politik bekommen langsam Angst. Und ein gewisser Mark Zuckerberg startet eine Kommunikationsplattform für Studenten mit dem Namen Facebook.... Ray Charles und Kevin Coyne sterben und Panteras Ex-Gitarrist Dimebag Darrell wird auf der Bühne erschossen. Musikalisch ist 2004 eines dieser Jahre, in denen viele Bands und Musiker definitive Platten machen, und in dem Bands wie Arcade Fire, Franz Ferdinand oder TV On The Radio großartige Debütalben veröffentlichen, die immerhin die Musik der kommenden Jahre stark beeinflussen sollen. Ein Jahr, in dem Elektronische Musik, HipHop und Independent Rock nicht langweilig werden, in dem Joanna Newsom und Devendra Banhart den Freak Folk zu neuen Höhen führen. Noise Rock, Black Metal und die Verbindung aus Beidem, Power Pop, Avantgarde dieser und jener Art - überall gute Musik – auch in den Bereichen, die eher sentimental Rückwärtsgewand sind – siehe Brian Wilson's endlich vollendetes Smile. Von Elliott Smith erscheint posthum ein wunderbares und trauriges Abschiedsalbum. Sonic Youth kommen mal wieder mit einem tollen Album und einige britische Bands sind produktiv wie selten zuvor. Die Charts gehören dem Schmuse R'n'B des lackierten Pumpers Usher oder der so ungeheuer talentierten Alicia „Talent“ Keys, sowie Britney Spears' Meisterwerk „Oops... I Did It Again“. Blöd, aber immerhin unterhaltsam. Die Charts, die nun mehr und mehr auf den Downloads kleiner Klangdateien ohne Konzept basieren, sind eine Realität, die Qualität zu nivellieren scheint, aber die völlige Verfügbarkeit aller Musik hat ja irgendwie auch gute Seiten.

Brian Wilson


Smile

(Nonesuch, 2004)

Einerseits hatte man 2004 in den USA die polarisierendste und skandalöseste Wahl seit Jahrzehnte, einen Krieg, der das gesamte Land in erbitterte Befürworter und Gegner trennte - und andererseits kam aus diesem Land mit Smile das definitive Statement zum Thema Liebe. An was ich mich eher erinnern werde (und was wichtiger ist) ist wohl klar. Beach Boys Fans hatten Jahrzehnte hierauf gewartet, doch lange schon nicht mehr an eine Veröffentlichung geglaubt, und irgendwie war ja die Tatsache, dass dieses Album bislang nur Legende war, gerade so reizvoll gewesen – man konnte schließlich aus den hier und da verstreuten Einzelteilen seine eigene Version zusammenbauen bzw. -träumen. Und was konnte Smile dann „heute“ als komplettes Album sein? Die Aufnahmen der nun nach Brian Wilson's Vorstellungen hintereinander gestellten Songs sind natürlich neu, die Stimmen der „Original-Beach Boys“ schon wegen des Dahinscheidens einiger Mitglieder nicht herstellbar, aber es sind erkennbar die Songs aus einem anderen, uns glücklicher scheinenden Zeitalter. Und Brian Wilson's Musik wurde inzwischen immer mehr auch im Zusammenhang mit seiner Person und seiner tragischen Geschichte betrachtet, denn beide bedingen einander und geben diesem Grundlagenwerk des Eskapismus die erforderliche Tiefe und Glaubwürdigkeit. So gibt es verschiedene Sichtweisen auf die Musik auf Smile. Man kann es als Brian Wilson's späten Triumph deuten, als seine Erlösung, Wilson selber sah es als die Verwirklichung seiner erträumten „Teenage Symphony to God“, und die Verwirklichung dieses Traumes war seine späte und wohlverdiente künstlerische Befreiung. Da käme eine ernsthafte Diskussion über die „Aktualität“ dieses Albums dem Quälen kleiner Kätzchen gleich. Also: Smile ist schön. Und zwar wirklich und wahrhaftig schön – so wahrhaftig, dass es sofort zeitlos wurde. DAS Album 2004 – ganz ohne Zweifel – wenn man der Realität entfliehen will - und wer will das nicht ab und an? Und dass die Qualität solcher Songs wie „Heroes and Villains“, „Surf's Up“ oder gar „Good Vibrations“ nicht zur Diskussion steht, ist wohl klar, dass sie auch in den Neu-Interpretationen gelingen ist toll und Wilson, Van Dyke Parks und der versammelten Band hoch anzurechnen – und da gibt es kein „Wenn“ – und nur folgendes „Aber“ - 2011 wurden dann die noch originaleren Smile Sessions veröffentlicht. Meiner Meinung nach auch fast noch ein bisschen toller.... 

Brian Wilson - SMILE (2nd Suite) 


The Divine Comedy


Absent Friends

(Parlophone, 2004)

Neil Hannon jedenfalls wollte mit seinem neuen Album auch der Realität entfliehen. Aber nicht im amerikanischen Brian Wilson-Style, sondern eher auf Scott Walker – Weise. Scott Walker in den Sechzigern wohlgemerkt – vor Experimenten und Kunstkacke. Aber ich tue Neil Hannon / The Divine Comedy mit diesen Worten so unrecht, wie es alle anderen tun. Der Vergleich ist längst nicht mehr Rechtens – The Divine Comedy haben den Stab, der seit dem Ende der Sechziger herumlag elegant aufgenommen und auf eigenen Wegen weitergetragen. Zwar war dieses Projekt nun nur noch Hannon selber + Orchester sowie sein kongenialer Arrangeur Joby Talbot, aber die Vision war sowieso immer Hannon's eigene gewesen, der Name war bekannt, und Absent Friends bot nun die logische Fortführung des dereinst so liebevollen Jangle-Pop in orchestrale Gefilde. Aber Orchester alleine macht keine gute Musik: Zu der nun so üppigen und elaborierten Ausführung seiner Musik kam ein wahrer Schub an Inspiration. Hannon war in den letzten drei Jahren Vater geworden, der lange Zeitraum mag viel Material gebracht haben, und aus welchem Grund auch immer – selten hatte er eine so hohe Dichte an hervorragenden Songs abgeliefert. Der Titelsong ist elegant und mitreißend, die zweite Single „Come Home Billie Bird“ lässt Bilder von Reisen in altmodischer 60er Jahre Eleganz entstehen. Das luftige „Charmed Life“ ist der kleinen Tochter gewidmet - und dermaßen schön und heartfelt dass Tränen der Rührung ruhig fließen dürfen, denn da ist ja auch immer ausreichend Selbstironie beigemischt. „Our Mutual Friend“ mit wunderbar lakonisch erzählter Love Story incl. tragischem Ende reißt musikalisch ebenso mit wie textlich. Radiohead-Produzent Nigel Godrich (hier „nur“ als Engineer tätig, Hannon produzierte selber) gibt den Songs wo nötig Dynamik und lässt beim ebenso unglücklichen „The Wreck of the Beautiful“ den Song in düsteren Tiefen untergehen. Und bei „The Happy Goth“ kommt dann wieder mediterranes Flair auf. Das Album ist enorm abwechslungsreich und zugleich aus einem Guß, Hannon's Stimme hält alles zusammen, genauso wie seine Künste als Songwriter und der britische Humor selbst hinter der traurigsten Geschichte. Er macht sich selber mit Absent Friends alle Ehre und reicht locker an die Vorbilder heran – allerdings erreichte er danach selber meiner Meinung nach diese Klasse nicht mehr. 

The Divine Comedy - Our Mutual Friend 

The Arcade Fire


Funeral

(Rough Trade, 2004)

Auf einmal war das kanadische Musikerkollektiv Arcade Fire in Aller Munde. Bowie fand sie toll, David Byrne wurde bei ihren Konzerten gesehen, die Musikpresse ging steil. Und in der Tat gibt es etliche Gründe für diese Begeisterung – Gründe, die das Debütalbum Funeral (nach einer auch schon wunderbaren EP im Vorjahr...) bis heute mit dem Begriff „zeitlos“ belegen. Dass hier eine noch unbekannte Band arbeitet, dass keine jahrzehntelange Erfahrung dahinter steht, scheint unglaublich. Die Musik ist eine Synthese aus Post-Punk Energie, orchestraler Pop-Schönheit und dunkler lyrischer Tiefe, die der Tatsache geschuldet ist, dass während und nach den Aufnahmen gleich drei Todesfälle in den Familien der Bandmitglieder zu betrauern waren. Dass die Basics dieses barocken Werks in nur einer Woche aufgenommen wurde, scheint ebenso unglaublich – das Studio muß vor Energie vibriert haben. Bandkopf Win Butler klingt entweder getrieben oder als würde er bald in Tränen ausbrechen, er würde in jede Emo-Kapelle passen, ist aber nie peinlich. Es gelingt ihm, immer glaubwürdig zu bleiben. Es war insbesondere seine überwältigende Personality, die Arcade Fire die Aufmerksamkeit der Rock-Prominenz bescherte – Das, und die Tatsache, dass Arcade Fire zugleich auch noch eine verschworene Einheit zu sein schienen, in der neben Win Butler seine Lebensgefährtin Régine Chassagne die Wortführer in einem basis-demokratischen Konstrukt waren, machte Arcade Fire zu etwas Besonderem. Aber natürlich braucht es auch Songs, um diesen Hype zu rechtfertigen. Und da sind etliche Meisterstücke zu finden: die vier „Neighborhood...“ benannten Tracks, das fast unerträglich pathetische „Wake Up“, der von Régine Chassagne gesungene Closer „In the Backseat“ mit den wunderbaren, von Owen Pallett so herrlich unkitschig arrangierten Streichern - dem ganzen Album unterliegt eine Romatik, ein liebevolles Pathos, das man einfach nicht belächeln kann, das überwältigt – es sei denn, man hat kein Herz. Die Gefühligkeit könnte Funeral lächerlich wirken lassen, und das große Kunststück von Arcade Fire ist, dass es ihnen gelingt, bei allem Pathos immer glaubwürdig zu bleiben. Die „Aktualität“ von Funeral mag im Laufe der Jahre von denjenigen vergessen worden sein, die eifrig den Trends folgen - aber im Kern ist Funeral genau so „zeitlos“ wie Music from Big Pink von The Band, Unknown Pleasures von Joy Division oder Dog Man Star von Suede – um ein paar Koordinaten zu nennen.

Arcade Fire - Wake Up 

Wilco


A Ghost Is Born

(Nonsuch, 2004)

Das Genre, in dem Wilco 2004 noch immer verortet werden, gilt nicht als besonders innovationsfreundlich. Und das heisst, es gibt entweder auch abenteuerlustige Americana-Hörer, oder Wilco sind in Country-Nähe inzwischen ganz falsch platziert. Ich sag' mal, das minimalistische Cover mit Ei auf weissem Grund verweist in die richtige Richtung. Wilco hatten schon mit dem Vorläufer Yankee Foxtrot Hotel die Pfade des Americana in Richtung.... ja, in welche Richtung eigentlich ? ... verlassen. YFH war elektronisch verfremdete Rockmusik auf Pop- und Americana Basis, der gelungene Versuch Elektronik, Experimente und Avantgarde über Pop, Rock und meinetwegen auch Country zu gießen, und vermutlich nur die Vergangenheit Jeff Tweedy's bei Uncle Tupelo ließ manchen Hörer oder Kritiker den Wegen folgen, die Wilco auf YFH gingen. Und die Klasse des Materials überzeugte dann (entgegen den Erwartungen der Plattenfirma) eine Menge Leute. Da war man natürlich neugierig, was das nächste Album bringen würde – und gespannt sein zu dürfen ist doch was Schönes – also - was war A Ghost is Born nun? Ganz einfach: Das Album ist Bestätigung und Nachschlag. Bandkopf Tweedy hatte seine Ideen durchgesetzt, auch gegen die Vorstellungen einiger seiner Bandmitglieder, A Ghost Is Born wurde unter dem massiven Einsatz von Pro Tools eingespielt, viele Tracks entstanden im Studio, Tweedy selber setzte seine Gitarre bei jedem Song massiv ein und spielte noisige Soli, beim über 10-minütigen „Kidsmoke“ klingen Wilco nach Krautrock, „Muzzle of Bees“ beginnt als Folk, ehe as zum Ende hin Richtung Prog abgleitet. Man könnte das Album vielleicht oberflächlich als YFH 2.0 abtun, aber den meisten Songs unterliegt doch eine neue Idee, und man stellt fest, dass Jeff Tweedy immer noch - bei aller Experimentierlust - weiss, wie ein guter Song funktioniert. Der Opener „At Least That's What You Said“ gehört zu Wilco's besten, „Handshake Drugs“ beginnt beruhigend poppig mit Tweedy's zögerlicher Stimme, ehe die Band sich wieder in schillernde Klangwände hüllt. Tweedy hatte mit Jim O'Rourke nun einen Freigeist in der Band, der ihm überallhin folgte, und nach Beendigung der Aufnahmen und nach einer ReHa wegen Depressionen und Schmerzmittelsucht holte er sich mit Nels Cline den erforderlichen Free-Jazz Gitarristen und mit Pat Sansone einen Ersatz für den auf A Ghost Is Born so wichtigen Keyboarder Leroy Bach dazu. Die Songs gleiten nicht ohne Haken ins Ohr, aber es lohnt sich, sie wachsen zu lassen. Am Ende mag ich sogar die viertelstündige Elektronik-Orgie „Less Than You Think“.

Wilco - Muzzle of Bees 

Rufus Wainwright


Want Two

(Geffen, 2004)

Rufus Wainwright's drittes Album, Want Two (tatsächlich der zweite Teil, Want One war im Vorjahr erschienen – und nicht viel schlechter, nebenbei gesagt), beginnt mit „Agnus Dei“, dem „Lamm Gottes“ also, einem seiner besten Songs, und von dessen sakralen Klängen wird man sofort mit der erforderlichen Theatralik in Wainwright's Welt hineingeführt. Der Sohn von Loudon Wainwright und Folk-Schwester Kate McGarrigle scheute sich nie seine persönlichen Erfahrungen, sein Leben und insbesondere seine Homosexualität in Songs zu thematisieren, und auf den beiden „Werken“ Want One und Want Two macht er genau das besonders explizit. Auf dem Cover stellt er sich in klassischer Pose als Frau, sozusagen als weibliche Version seiner selbst dar - in Anlehnung natürlich an das Vorgängeralbum, auf dessen Cover er als gefallener Ritter dahindrapiert ist. Und im zentralen Stück dieses Albums, auf „Gay Messiah“ ironisiert er die schwule Pop Kultur und beklagt zugleich den Umstand, von ihr vereinnahmt zu werden - und bedient dann auf dem Album all ihre Klischees, wenn er über seine Sexualität, seine diversen Beziehungen und sein Image in den Medien singt. Und das auch noch mit seiner an Klassik geschulten Stimme, mit einer Musik, die üppig und barock klingt, die an Brian Wilson, Harry Nilsson oder Randy Newman genauso erinnert, wie an Operette und Musical, die aber zugleich über die Vorbilder hinausweist. Denn konzeptuell und textlich ist er inzwischen vollkommen autark. Und beim Duett mit Anthony Hegarty auf „Old Whore's Diet“ hat er einen der Wenigen ausgewählt, die an ihn heranreichen. Auf Anhieb klassisch.

Rufus Wainwright - Gay Messiah 

Devendra Banhart


Rejoicing The Hands

(XL, 2004)

Devendra Banhart


Niño Rojo

(XL, 2004)

Über das „neue seltsame Amerika“ habe ich schon im 2003er Artikel/Post geschrieben und dort Pelt's Pearls for the River als Beispiel empfohlen. Ein Album dessen Verquickung von indischem Raga, american Primitivism und avantgardistischem Folk sicher nicht jedermanns Sache ist. Hätte Devendra Banhart sein erstes echtes Studioalbum ein paar Monate früher veröffentlicht, dann hätte er dort statt Pelt sein Review erhalten – und damit wäre der bekannteste Vertreter dieses Trends exponiert worden. Der Grund für seinen Erfolg mag ja zum Teil in seinem blendenden und exotischen Aussehen liegen, in seiner Exzentrik, in seiner klischeehaften Vita – als Hippie-Kind in Venezuela aufgewachsen, benannt nach einem indischen Mystiker - aber was letztlich wirklich zählt, ist sein virtuoser, visionärer und singulärer Umgang mit dem ältesten Genre der Populärmusik. Michael Gira, selber Charismatiker und Swans-Kopf hatte ihn „entdeckt“ und auf seinem Young God Label aufgenommen, zwei Jahre zuvor ein erstes Album mit Demo-Aufnahmen veröffentlicht und ließ ihn mit Rejoicing the Hands nun seine ersten Studioaufnahmen machen. Die Produktion wurde einfach gehalten, Banhart nahm in einem kleinen Heimstudio 57 (!) Songs auf, die dann mit ein paar geschmackvollen Overdubs auf zwei Alben verteilt wurden. Schon beim ersten Ton springt einen die ungewöhnliche Stimme Banhart's an. Mit kehligem Vibrato, ungeschult natürlich und einzgartig, unterlegt von geschicktem Gitarrenspiel, die Songs mit seltsamen Temposprüngen, die Lyrics so surreal wie das selbstgemalte Cover des Albums. Banhart kombiniert fröhlich Apallachian Folk, Blues, keltische und amerikanische Folkmusik mit lateinamerikanischen Einflüssen – und tut das mit scheinbar naiver Selbstverständlichkeit. Einzelne Songs hervorzuheben ist schwierig, das Album funktioniert prima als Einheit, ich nenne mal „Poughkeepsie“, das mit seinen Streichern und seinen lautmalerischen Lyrics klingt, als wäre Nick Drake von seinen Depressionen geheilt und freundlich bekifft zurückgekehrt. Oder das mit der Muse Vashti Bunyan eingesungene Titelstück (Eine englische Folkmusikerin der Sechziger, der er zu einer erfreulichen zweiten Karriere verhalf). Rejoicing the Hands ist ein sehr individueller Hinweis auf die Wichtigkeit und Zeitlosigkeit von „Folk“. Und es ist psychedelisch, kindlich, ein bisschen unheimlich und völlig authentisch – was man dann mit Recht genau so über den Nachfolger Niño Rojo sagen konnte. Die Basic Tracks waren wie oben gesagt schon 2003 aufgenommen worden, aber Niño Rojo ist beileibe keine schnöde Resteverwertung, da war wohl schon Banhart's Anspruch an sich selber vor - er mag wie ein spinnerter Hippie wirken, aber Musik war bei ihm zweifellos Leidenschaft. So ist das Album eben (und auch am Cover erkennbar) ein companion piece, mit der selben ungewöhnlichen Struktur und der selben unverstellt persönlichen Ästhetik. Es ist sicher auch Michael Gira zu danken, der Banhart nicht zu verbiegen versuchte, denn seine Songs mögen labyrinthisch aufgebaut sein, aber sie haben manchmal regelrechte Ohrwurmqualitäten – sie erinnern nicht umsonst oft genug an Kinderlieder – mit psychedelischen Lyrics und unheimlichen Unterströmungen. Daher beginnt Niño Rojo auch mit dem traditionellen Kinderlied „Wake Up, Little Sparrow“, das Banhart zur Beschreibung eines spirituellen Erwachens umformt. Und seine eigenen Lyrics? Aus der Zeit gefallene Hippieträume, Visionen von Unschuld:("...we belong to the floating hand that was made by animals / we dance so, we let go / we'll remove clothes and we'll trade lobes....") Ist das Eskapismus? In diesen Zeiten wäre es nicht verwunderlich – oder? Devendra Banhart wurde schnell zum Posterboy des „New Weird America“, und die ähnlich eigenwillige Harfenistin Joanna Newsom zu seinem weiblichen Widerpart...

 Devendra Banhart - Poughkeepsie

 Devendra Banhart - Wake Up Little Sparrow

Bark Psychosis


/// Codename: Dustsucker

(Fire, 2004)

Die Londoner Band Bark Psychosis hatte sich Mitte der Achtziger gegründet, hatte neben einigen EP's 1994 mit Hex ein revolutionäres, aber völlig untergegangenes Meisterwerk mit einer innovativen Mischung aus minimalistischem Post Punk, Elektronik, Psychedelia, und Cool Jazz hingelegt. Nach Veröffentlichung und kommerziellem Misserfolg des Albums brach die Band auseinander, Bandchef Graham Sutton machte als Boymerang, mit dem Projekt O'rang und als Produzent weiter und begann Ende der Neunziger mit diversen Kollaborateuren wieder Tracks aufzunehmen, die er dem alten Bandnamen zuordnete. Es ist ganz passend, dass Lee Harris, Ex-Kollege bei O'rang und Percussionist der späten Talk Talk einen Gastauftritt beim meisterlichen zweiten Album von Bark Psychosis hat. Schließlich sind sowohl Bark Psychosis als auch die viel bekannteren Talk Talk Schlüsselfiguren bei der „Erfindung“ des Post Rock – mindestens insofern, als Kritiker 1994 bei der Suche nach einem Begriff für die Musik dieser Bands diesen Begriff ins Spiel gebracht hatten. 10 Jahre später wird mit dem Begriff Post Rock allerdings eher die Musik solcher Bands wie Mogwai, Sigur Ros oder Godspeed You Black Emperor verbunden – Musik, die von ihrer Dynamik und einem gewissen Pathos lebt, während der klarere, „stillere“ Sound von Talk Talk und Bark Psychosis das Ergebnis eines brillianten, aber irgendwie auch zufälligen Zusammentreffens von Können und Vision gewesen zu sein schien - und ///Codename: Dustsucker ist schlagender Beweis dafür, dass damals doch Nichts Zufall war. Sutton hatte nun zwar andere Mitarbeiter, aber das neue Album ist die perfekte Fortschreibung der Musik auf Hex. Immer noch ist Stille eines der wichtigsten Elemente in dieser Musik, immer noch scheinen die Puzzelteile ihrer Musik wie zufällig an ihren Platz zu fallen – aber inzwischen ist deutlich, dass hier nichts Zufall ist. Der Horizont der Band (bzw. Sutton's) hat sich merklich erweitert, die Arbeit bei den diversen Interims-Projekten schlagen sich nieder, aber bei allen Veränderungen – der Tatsache, dass es hier Gastsängerinnen gibt, den klareren Jazz-Passagen – ist ///Codename: Dustsucker eindeutig Bark Psychosis. Und Worte für diese Musik zu finden ist immer noch so schwer, wie vor zehn Jahren. Die organische Verbindung von Jazz, Post-Punk, Elektronik und Stille? Keine Wand aus Sound, sondern zum Luftzug gewordener Klang? Ein Meisterstück jedenfalls, das mindestens soviel Beachtung verdient, wie Spirit of Eden – und Talk Talk haben ihre Reise früher beendet als Bark Psychosis. Wenn Hex die Möglichkeiten des Post Rock aufgezeigt hat, realisiert ///Codename: Dustsucker sein Potential. Ich sag's mal so: ///Codename: Dustsucker steht zu Hex wie Massive Attacks Mezzanine zu Blue Lines.. 

Bark Psychosis - From What Is Said To When It's Read 


Madvillain


Madvillainy

(Stones Throw, 2004)

Unter dem Namen Madvillain haben sich seit 2002 die zwei HipHop Künstler der 00er Jahre mit der maximalen credibility zusammengetan. Madlib hat als Quasimoto mit Unseen (2000) eines der ersten herauragenden Alben der neuen Dekade gemacht, er gilt als einer der besten und innovativsten DJ's und Produzenten seiner Generation – und sein Partner MF Doom (eigentlich Daniel Dumile) ist als MC und DJ unter diesem und diversen anderen Namen (Viktor Vaughn, King Gedoorah) einer der aufregendsten Underground Künstler des HipHop. Die Tatsache, dass er immer mit der auf dem Cover abgebildeten Maske auftritt, hat in Deutschland vermutlich auch den Einen oder Anderen beeinflusst – aber das sollte keine falschen Vorstellungen erwecken. Madvillainy ist das erste HipHop-Album, das Abstract HipHop, Avantgarde, Experimental HipHop – oder sagen wir einfach HipHop mit Intellekt und Anspruch - in die Charts bringt. Man kann sich aussuchen, was hier mehr beeindruckt. Da sind die Instrumentals - die hat Madlib zum Teil in Brasilien zusammengebaut, er „sampelt“ richtig – was in den letzten Jahren wegen der komplizierten Urheberrechte immer schwierig war, benutzt Gesprächsfetzen von der Straße, Jazz Aufnahmen von Sun Ra und aus den 40ern, Sound-Schnipsel mit Hammond Organ Jazz, von B-Horror Streifen und alten Krimi's und macht daraus einen dunklen Teppich, auf dem MF Doom seine charakteristischen Rhymes auslegt. Der ist durch seinen Flow, seinen Rhythmus und seine Stimme immer erkennbar und erzählt frei assoziierte Lyrics über sein Leben, Die Freuden von Marihuana (das die beiden während der Produktion vermutlich in Mengen rauchten) und einen dubiosen Mad Villain... die Lyrics könnte man stundenlang genüsslich zerpflücken – oder man hört einfach zu. Madvillainy ist so großartig, weil es innovativ ist, weil es mit Tracks, die nie weit über die 3-minuten Marke gehen, extrem kurzweilig ist, weil es einen Sound hat, der weder zuvor noch danach imitiert wurde, weil hier alle Teile des Puzzles, aus avantgardistischem, meinetwegen „abstraktem“ HipHop perfekt an ihren Platz fallen. Es ist innovativer HipHop voller inspiration und heraus kam eines der ganz großen HipHop Alben, das gleichberechtigt neben 3 Feet High and Rising, Enter the 36 Chambers und Illmatic stehen kann. 

Madvillain - America's Most Blunted 

Esoteric


Subconscious Dissolution Into the Continuum

(Season of Mist, 2004)

Zugegebenermaßen: Dies ist eine „persönliche“ Wahl – ein Album der – meiner Meinung nach – besten Band aus dem Mini-Metal-Genre „Funeral Doom Metal“ in eine Reihe zu stellen mit Brian Wilsons nunmehr vollendetem Meisterwerk Smile oder den intellektualisierten Ex-Americana Koryphäen von Wilco... Da rauft sich der distinguierte Checker die Haare. Aber ich bin auch einer aus dieser erlesenen Schar und ich werde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass das Metal-Genre weit mehr zu bieten hat als Nietenhosen und Twin-Gitarren-Soli. Death- und Black Metal sollten inzwischen auch eine gewisse Anerkennung bekommen haben, und je extremer Metal wird, desto interessanter scheint er auch zu werden. Da besteht natürlich die Gefahr, dass das 50ste Grindcore-Album keine neuen Dimensionen mehr eröffnet – mag es noch so schnell, hart und laut sein. Aber das hier...!! Esoteric spielen einen Metal, der nah an den Drone-Metal von Earth, SunnO))) oder Boris etwa heranreicht, der aber immer noch Vocals a la Death Metal hat – es wird also „gegrowlt“. Es ist Doom-Metal, der eine psychedelische Melodik hat, die aber so sehr verlangsamt wird, dass sie nur noch mit viel Geduld hörbar bleibt, der so sehr auf kraftvollen Giterrenchords incl. Rückkopplungen (= Noise) basiert, dass man manchmal meint, einer der New Yorker Institutionen wie den Swans oder Sonic Youth zu lauschen. Es gibt auf Subconscious Dissolution Into the Continuum vier Songs, von denen zwei über eine Viertelstunde andauern und einer nur knapp davor endet, es gibt – das macht Esoteric zur besten Wahl innerhalb dieses Genres – tasächlich eine gewisse halluzinogene Schönheit in Songs wie dem Opener „Morphia“, eine Atmosphäre, die Pink Floyd meist maximal fünf Minuten beibehalten haben, gepaart mit der knochenerschütternden Härte solcher Bands wie Neurosis oder Napalm Death. Solche Musik lässt sich nicht nebenbei hören, ist nicht für den Hintergrund gedacht. Das ist keine Klangtapete, sondern eine Wand aus Noise. Derjenige, der das zum ersten Mal erlebt, ist zu beneiden – oder zu bedauern. Aber Musik kann man ja dummerweise immer auch leiser machen und sogar ausstellen. Für mich ist dieses Album ein Meisterwerk der extremen Musik, ...und es gibt neben den anderen Alben von Esoteric tatsächlich noch ein paar vergleichbar großartige Alben anderer Bands dieser Provenienz: Ist man auf den Geschmack gekommen, so höre man weiter – etwa bei Skepticism, Ea, Evoken oder Mournful Congregation...

Esoteric - Morphia 



Birchville Cat Motel


Beautiful Speck Triumph

(Last Visible Dog, 2004)

Birchville Cat Motel


Chi Vampires

(Celebrate Psi Phenomenon, 2004)

Birchville Cat Motel


With Maples Ablaze

(Scarcelight, 2004)

Je näher ich mit den Jahreszahlen in diesem Blog an das aktuelle Datum komme, desto weniger kann ich mir sicher sein ob die hier vorgestellten Alben die Zeitlosigkeit und Wichtigkeit haben, die ich ihnen zubillige. Und – desto obskurer und zugleich extremer sind einige der von mir geliebten Alben an dieser Stelle. Und ich finde das richtig, ich kann so den Platz nutzen, um auf (meiner Meinung nach) interessante und mir wichtige Musik hinzuweisen, die nicht annähernd „Mainstream“ ist. Das waren The Velvet Underground seinerzeit schließlich auch nicht. Also: Hier kommt Birchville Cat Motel, hinter dem sich der Neuseeländische Noise-Terrorist Campbell Kneale verbirgt. Der legt seine Gitarre auf den Tisch und beginnt sie mit Effekten, Händen, Werkzeugen etc zu malträtieren und holt die unterschiedlichsten Geräusch aus dem Instrument heraus. Das kombiniert er mit Field Recordings, seltsamen Sounds und Rhythmen – und was dabei am Wichtigsten ist: Er hat dabei ein Konzept und bleibt (für mich) wiedererkennbar. Im Grundsatz erinnert seine Musik an weit erfolgreichere Elektronik-Acts wie Stars of the Lid, aber die Herangehensweise ist deutlich kompromissloser, „analoger“ und weniger dem Schönklang verpflichtet. Diese Beschreibung soll die Musik der Minimal Techno Meister nicht herabwürdigen, sie soll Campbell Kneale's Musik aufwerten. Beautiful Speck Triumph gilt als eines seiner besten Alben – und er macht seit Mitte der Neunziger an die 30 Alben unter dem Namen Birchville Cat Motel... von denen einige durchaus auch schwer erträgliche Rückkopplungs-Bombardements sind. Auf zwei CD's bekommt man sechs Tracks, die sich mit einer Ausnahme zwischen knapp 20 bis zu 36 Minuten aufbauen, die erste CD ist vielleicht etwas leichter verdaulich, mit dem halb-stündigen „White Ground Elder“, einem Kampf zwischen Gitarrenfeedback und „gefundenen“ Umwelt-Sounds, den diese gewinnen, über „Trembling Forest Spires“ (gute Songtitel übrigens) und das ambient-haften „Speck Fears“. Da werden entfernte Gespräche, das Klirren von Gläsern, das Rauschen des Windes mit Tönen vermischt, die aus der Gitarre hervorgezwungen wurden – der entlockt er sub-sonisches Brummen, Klirren, Kreischen – aber Campbell Kneale ist Könner genug, um Langeweile oder Unwohlsein zu verhindern – wenn er will. Für Beautiful Speck Triumph hat er fünf Tracks als Vorbereitung auf einen Höhepunkt zusammengebaut. Letztlich hat jeder Track seinen eigenen Charakter, aber sie alle dienen dazu, auf den 36-minütigen Titeltrack vorzubereiten, bei dem nach Grillenzirpen und Waldgeräuschen ab Minute Acht ein Gitarren Feedback zum krachenden Drone wird, der in einem Nachhall verblüht, den man nirgendwo anders mehr zu hören bekommen wird. Man muss freilich Geduld aufbringen um auf diesem Sound-Meer zu navigieren, aber davon geht Campbell Kneale eben aus. Noch im gleichen Jahr lässt er das weit dissonantere Chi Vampires auf dem eigenen Label folgen, eine weit weniger romantische Veranstaltung, mit einem Titektrack,der an den super-verlangsamten Doom-Drone von Esoteric erinnern könnte und mit einer Härte, die er den kommenden 20+ Alben gerne mal angedeihen lässt... Eine Härte übrigens, die einem breiteren Publikum gefiel - und die er mit dem Projekt Black Boned Angel bis ins Extremste auslotete... Aber um die massive Produktivität des Campbell Kneale zu dokumentieren – er macht noch im selben Jahr mit With Maples Ablaze ein weiteres wirklich erwähnenswertes Album (neben einer Kollaboration mit dem Argentinischen Drone-Ensemble Reynolds). Hier erfindet er sich mal eben neu, spielt seine Version von Musique Concrete mit einem interaktiven Orchester, bestehend aus per Mail oder Post zugesandten Soundbeiträgen von Gesinnungsgenossen wie Dead C's Bruce Russell, Neil Campbell vom Vibracathedral Orchestra, Peter Stapleton von den doch eher „rockistischen“ Landsmännern The Terminals' oder von Tomutonttu und Sami Sänpäkkilä (beide von der finnischen Free Folk Institution Kemialliset Ystävät) und – neben weiteren - vom japanischen Free Improvisation Artist Tetuzi Akiyama. So groß die Anzahl der Teilnehmer, so weit die Bandbreite der Musikformen auch ist - With Maples Ablaze bleibt eindeutig Campbell Kneale mit seiner Art, die Drones seiner Gitarre mit Umweltgeräuschen, Wind, klappernden Töpfen und fernen Gesprächen zu einer Art Erzählung zu collagieren. With Maples Ablaze ist nicht so beeindruckend wie Beautiful Speck Triumph – DAS Album ist der Grund für dieses kombinierte Review, aber diese drei Alben zeigen in einem Jahr die erstaunliche musikalische Bandbreite, die Campbell Kneale mit seiner Musik erreichen kann. Diese Musik zu beschreiben ist schwierig. Man muss sie hören... bzw. physisch erleben – dazu gibt es den wunderbaren link zu Campbell Kneale's Bandcamp-Seite. Da kannst du all seine Alben streamen.

Birchville Cat Motel - Beautiful Speck Triumph 

Birchville Cat Motel - Chi Vampires (Bandcamp) 





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